Traumerzählungen - Harald Dastis - E-Book

Traumerzählungen E-Book

Harald Dastis

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Beschreibung

Märchen sind lebendige Traumerzählungen, die plötzlich in uns erwachen, wenn wir sie in unserer Seele bewusst erfahren. Vielen entgeht jedoch dieser Schlüssel zur Magie und Vision, weil sie sich nicht in allen Teilen ihres Wesens bewusst sind. Diesen Mangel zu schließen ist die höchste Aufgabe des Künstlers, und er darf sich als solcher auch nennen, wenn es ihm zumindest einmal in seinem Leben gelungen ist, dem märchenhaften Traum zur Wirklichkeit zu verhelfen.

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"Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.- Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgendwo ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft."

NOVALIS

"We are such stuff as dreams are made of, and our little life is rounded with a sleep.

SHAKESPEARE

"Le rêve est une seconde vie. Je n'ai pu percer sans frémir ces portes d'ivoire ou de corne qui nous séparent du monde invisible."

GERARD DE NERVAL

Inhaltsverzeichnis

Die Geburt des Märchens

Es war vollbracht!

Eine Adlergeschichte

ERSTER STEIN. DIAMANT. WEISS.

ZWEITER STEIN. SAPHIR. BLAU

DRITTER STEIN. RUBIN. ROT

VIERTER STEIN. SMARAGD. GRÜN.

FÜNFTER STEIN. TOPAS. GELB.

SECHSTER STEIN. GRANIT. GRAU.

SIEBTER UND LETZTER STEIN. QUARZ. WASSERHELL.

Jeder, so behaupte ich, wird einmal einen Traum gehabt haben, in dessen magischem Spiegel er sich in allem und über allem mit dem Kosmos auf das Engste verbunden und verwoben sah. Und dieser Traum, der uns vorzüglich schon im unschuldigen Kinderbett in seine seligen Arme nahm, ließ in uns eine tiefe, unauslöschliche Musik zurück, die unser eintöniges Leben manchmal reicher und farbiger in Klang setzte, als wir es heute noch zu ahnen vermeinen.

O geheimer Leser, ich frage dich nun, was war damals geschehen, als du plötzlich mitten in der Nacht erwachtest und die dunkle, undurchdringliche Ruhe dich ringsumher zu verschlingen drohte?

Alles um dich her schlief seinen tiefen, todähnlichen Schlaf. Nur du allein warst wach, ängstlich besorgt, den Traum, der dich in diese ungewöhnliche, seltsame Lage gebracht hatte, dir wieder vollständig vor die Augen zu führen.

Schien er nicht in jeder Zelle deines Körpers zu schlummern, magnetisch leuchtend wie eine unsichtbare Schlange, die nun, als sie deinen Appell vernahm, mit einer geschmeidigen, wonneschaurigen Bewegung in dein Stirnzentrum huschte und dir dort die Bilder deines kosmischen Traumes eines nach dem andern blütengleich und unermesslich reich enthüllte? Welche unbekannte Dimension gewann nicht dadurch dein Traum, welche unbeschreibliche Wonne, welche sternenleuchtende Rätsel offenbarten sich dir nicht in diesem einen geheimnisvollen Augenblick, wo dein riesenhafter Leib das ganze All zu umfassen schien, und wo das All dir die ganze Herrlichkeit deines kosmischen Leibes in lichtwogender Klarheit vor deinen beseligten Augen erschloss!

Doch so viel Fülle Flutendes, selten verwindet es der Mensch und seine Verschlossenheit vor dem Unbekannten, seine Scheu vor dem Rätselhaften, seine Ängstlichkeit vor dem Urgewaltigen, seine Verzagtheit vor dem Unendlichen und seine Unentschlossenheit vor dem Erneuernden hüllen ihn wieder schnell in die schützenden Schleier des Vergessens. Nichtsdestotrotz werde ich nun eine märchenhafte, wenn nicht zauberhafte Begebenheit erzählen, die mich auf einer meiner Wanderungen so wundersam und überraschend in ihre Arme nahm, als ich es schlichtweg am wenigsten erwartete. Der eine mag in ihr Bekanntes wieder entdecken, ein anderer mag sich an dem Unbekannten ergötzen, ein dritter mag schließlich in ihr alles wiederfinden, was er vielleicht schon einmal zutiefst in seinem irdischen Leben erlebte.

Es war im Herbst, in einem jener goldenen Oktober, die mir unvergesslich in ihrer reinen Schönheit und Fülle geblieben sind. Durch die klare Luft sirrte das herbstliche Licht, das so golden und nektarisch im Munde schmeckte.

Alles tönte, alles klang, alles Vergängliche schien von einem unbekannten Elixier erfüllt zu sein, das Leben und Tod in eine gleiche, ausgewogene Schale goss. Es tropfte wie Honig von den Bäumen. Überall sprühte und funkelnde es.

Regenbogen wanderten, umschlangen sich, kreiselten in sich immer höher wölbende Bogen, bis sie in dem pfeilenden Sonnenlicht zerbarsten.

Kaskaden, aus leuchtenden Farben ergossen sich über diese taumelnde, gaukelnde, an allen Enden dennoch festverankernde Welt. Feinste, leichteste Lichtpartikelchen tanzten und wogten, Schwärme von sonnentrunkenen Mücken und Eintagsfliegen sogen im wilden Rausch an der noch wärmeflutenden Luft. Hie und da fiel langsam niedertrudelnd ein welkes Blatt wie ein zärtlich losgelöster Stern auf die dampfende und duftende Erde. Jeder Schritt im verzaubernden Wald war ein schweigender Genuss, jeder Atemzug eine unaussprechliche Wonne. Die Lunge dehnte mächtig ihre Flügel. Die Nase weitete ihre Nüstern. Der ganze Körper schien sich in diese letzte Fülle schmiegen zu wollen, um eine vollkommene Einheit mit ihr zu bilden. Und wenn plötzlich aus den blauen, dunklen Fernen ein starker Wind aufblies, verwandelten sich mit einem Mal die Bäume in riesenhafte Orgeln; er riss förmlich aus ihren Ästen und Zweigen Schwärme von ungeahnten Tönen, jagte und wirbelte sie durch die fächelnde Luft, verwehte sie in die dichten Wälder. Doch die Erde war noch ruhig und gelassen genug und trieb in alle Dinge, vielleicht zum letzten Mal, die nährende, milchige Essenz aus dem Schoß ihrer abgrundtiefen Mütterlichkeit. O unsägliche Metamorphosen des Herbstes! Wie lange widerstehst du noch der eisigen Hand, die dich schon jetzt in das weiße uniforme Leinengewand des Winters hüllen will?

Ein schriller Pfiff schreckte mich plötzlich aus meinen Träumereien. Verdutzt blickte ich umher, konnte jedoch den Ursprung des Pfiffes nirgendwo ausfindig machen. Ein Kichern, dessen sprudelnde Helle noch heute in meinen Ohren klingt, verwirrte mich zusehends, zumal ich es in unmittelbarer Nähe vernahm. Noch einmal prüfte ich die Umgebung, suchte hinter Bäumen und Ästen, im Glauben, dass mir jemand vielleicht einen Schabernack spielen wollte. Da ich aber trotz eingehender Inspektion des Ortes nichts Verdächtiges finden, noch irgendeine Spur des rätselhaften Pfeifers entdecken konnte, setzte ich zögernd, fast widerstrebend meinen Gang fort, als ich plötzlich eine Kinderstimme über mir hörte, die "he du da! " rief. Instinktiv blickte ich nach oben und sah zu meinem großen Erstaunen in den unzähligen Ästen und Zweigen einen Knaben sitzen, dessen Schönheit in mir wie ein Blitz einschlug!

Seine goldenen, sonnenversponnenen Haare, seine blauen, leuchtenden Augen, sein rosiger, feingeschwungener Mund, seine pausbäckigen, lichtgeröteten Wangen, seine ganze Erscheinung traf mich wie ein unbeschreibliches Wunder.

"Schon von weitem habe ich dich gesehen und deine Schritte im Wald gehört. Jeder Mensch, so wie jedes Tier, hat seinen eigenen Schritt und Rhythmus, an denen man sie sofort erkennen kann. Doch die meisten laufen, ohne es zu wissen, immer nur im Kreis herum und verlieren sich. Nur wenige kehren in sich ein, tun den ersten wahren Schritt", sagte es auf einmal.

"Selten kommen hier Menschen vorbei und verharren schweigend in der Mitte", fuhr es mit ernster Miene fort, die aber nicht lange währte.

Bald schon strahlten seine Augen wieder in ihrer ursprünglichen Heiterkeit, und das Kind fragte mich ermunternd, wie ich heiße.

"Harald", antwortete ich ihm. "Und wie heißt du engelhaftes Kind?" Es blickte mich seltsam fragend an, und ich weiß nicht, warum ich meine Frage auf einmal so tief bereute.

"Eigentlich habe ich keinen Namen, aber wenn du mich unbedingt mit einem Namen bekleiden möchtest, so nenne mich einfach Aleph", sagte es und sah mich dabei forschend an. Etwas schien in ihm zu geschehen, das offensichtlich mich allein betraf, und zu meiner eigenen Überraschung begann ich plötzlich innerlich zu beten, dass ich mir dieses wundersame Kind nicht irgendwie abhold gemacht hatte.

Noch einmal blickte es mich prüfend an und schien endlich zufrieden. Ein schelmisches Lächeln glitt über seine Lippen, als es mich erneut fragte:

"Kannst du auch schreiben?"

"Natürlich! "rief ich begeistert aus und war dankbar, dass ich ihm so voll und aus ganzer Seele Antwort geben konnte.

"Warte", sagte es mit einem verheißungsvollen Klang in der Stimme." Ich komme schnell zu dir herunter!"

Ich weiß nicht, wie es geschah, das es urplötzlich vor mir stand. Ich schien in einem Traum zu sein.

Was auch in der Folge noch an Rätselhaftem geschehen mochte, sprach ich immer beschwörender auf mich ein, du darfst jetzt, so sehr es dich auch danach dürstet, nicht nach Erklärungen heischen. Die Antworten wirst du gewiss zu einem gegebenen Zeitpunkt erhalten.

Gedulde dich und fasse unerschrockenen Mut!

"Setz dich!", befahl mir nun das Kind.

Und schon saß ich! Ja ich genoss es geradezu, dem göttlichen Knaben, was er mir auch späterhin noch an abstrusen Befehlen auftragen sollte, zu gehorchen Wie hätte ich auch das Gegenteil tun können! Immer unwiderstehlicher zog er mich in seinen Bann, immer enger schlossen sich die Bande, die mich an das zauberhafte Kind fesselten.

"Hast du vielleicht etwas zum Schreiben da?", fragte es mich."

Jetzt erst wurde mir langsam klar, worauf es eigentlich hinauswollte. Erschreckt fuhr ich mit meinen Händen durch sämtliche Taschen, stülpte verzweifelt das Futter nach außen, doch alles, was ich fand, war ein alter, zerflatterter Notizblock und als einzige Schreibutensilien ein verkrüppelter, zernagter Bleistift. Ich wurde bis über beide Ohren rot. Verschämt zeigte ich dem Kind das magere Resultat meiner schriftstellerischen Berufung, wobei es in ein schallendes Lachen ausbrach. Mir war jedoch ehrlich gesagt zum Weinen zumute.

Ein schriller Pfiff ging mir erneut durch Mark und Bein. Was sollte nun das bedeuten? Wen rief Aleph herbei? Behutsam legte das Kind seinen Zeigefinger auf meinen Mund und flüsterte mir leise zu: "Psst." Dann tat es einige Schritte nach vorne und begann wie angestrengt zu lauschen.

Die ganze Welt schien plötzlich still geworden zu sein und begann, wie der Knabe, zu lauschen. Ich selbst war ganz Ohr geworden, horchte nach einem erlösenden Laut in der urplötzlichen Urstille.

Ein Blatt, das sich gerade von einem Baum löste, schien in der Luft zu levitieren, fiel schließlich in einem Schwung auf die Erde hinab und blieb dort, wie alles um es her, in voller Erwartung liegen.

Ein Geigenbogen schien durch die strahlenden Saiten des Taglichts zu gehen. Ein alldurchdringender Ton schwebte beängstigend heran. Etwas Unsägliches schien sich anzubahnen. Meine Augen waren plötzlich wie geblendet von dem großen, weißen Vogel, der geradewegs auf uns zugeflogen kam. Ich warf mich bäuchlings auf die Erde, im festen Glauben, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. Eine geflügelte Ewigkeit, ein Äon schien sich neben uns niedergelassen zu haben. Bald jedoch vernahm ich, wie im Unterbewusstsein, die vertraulichen Worte des Kindes, das mit dem fabeltierartigen Flugwesen aus unbekannten Ätherregionen (man vergebe mir diese umständliche, verzerrende Beschreibung, aber genauso spukte es mir damals durch den Kopf) in einer mir völlig unbekannten Sprache zu verhandeln begann. Ihre Unterredung, soweit ich es damals überhaupt beurteilen konnte, dauerte nur wenige Sekunden, und ich vernahm nur noch den rauschenden Flügelschlag des riesenhaften Vogels, als unverhofft eine urvertraute Hand unendlich sanft durch meine Haare fuhr. Noch nie bedurfte ich der Zärtlichkeit eines Lebewesens so sehr wie in diesem Augenblick. Ein neuer Lebensstrom durchflutete meine ermatteten Glieder. Voller Dank blickte ich in das heitere Antlitz des Kindes, das mir ermunternd zulächelte. Triumphierend hielt es mir nun in seiner rechten Hand eine weiße Feder entgegen.

Ich brachte es jedoch nicht über mich, diese makellose, leuchtende Feder in meine zitternde Hand zu nehmen. Noch zu sehr wirkte in mir das zuvor Geschehene. Heimlich warf ich auf einmal dem Kinde vor, mich derartig und auf so unmenschliche Weise zu quälen.

"Nimm sie an dich! ", forderte es mich nun energisch auf. "Wie sonst willst du meinen Traum wortgetreu wiedergeben können? " Ich gab mir einen Ruck und ergriff die kostbare Feder. Und siehe da, sie lag sie so leicht und schwerelos in meinen Händen, dass ich meine ganze Kraft und Konzentration aufwenden musste, um ihrer nicht verlustig zu werden.