Traurige Moderne - Emmanuel Todd - E-Book

Traurige Moderne E-Book

Emmanuel Todd

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Beschreibung

Familienstrukturen sind der unbewusste Motor der Geschichte. Von dieser bahnbrechenden Erkenntnis aus erzählt Emmanuel Todd die Geschichte der Menschheit neu: Vom frühen Homo sapiens, der in Kleinfamilien lebte, über die großen Kulturen des Altertums mit ihren immer komplexeren Großfamilien bis zur Rückkehr des Homo americanus zur Kernfamilie der Steinzeit. Wer die Lage der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstehen will, sollte dieses luzide Buch des großen französischen Querdenkers lesen. Westliche Waren und Lebensstile dringen bis in die letzten Winkel der Welt vor, und doch sind wir von einer globalen Einheitskultur weit entfernt. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen. Wo diese tief verankerten Unterschiede bei der Lösung der gegenwärtigen Krisen nicht berücksichtigt werden, da gerät die Demokratie unter die Räder. «Unsere Moderne», so Todd, «erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft.»

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Emmanuel Todd

Traurige Moderne

Eine Geschichte der Menschheitvon der Steinzeit bis zum Homo americanus

Aus dem Französischen von Werner Damson und Enrico Heinemann

C.H.Beck

Zum Buch

Familienstrukturen sind der unbewusste Motor der Geschichte. Von dieser bahnbrechenden Erkenntnis aus erzählt Emmanuel Todd die Geschichte der Menschheit neu: Vom frühen Homo sapiens, der in Kleinfamilien lebte, über die großen Kulturen des Altertums mit ihren immer komplexeren Großfamilien bis zur Rückkehr des Homo americanus zur Kernfamilie der Steinzeit. Wer die Lage der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstehen will, sollte dieses luzide Buch des großen französischen Querdenkers lesen.

Westliche Waren und Lebensstile dringen bis in die letzten Winkel der Welt vor, und doch sind wir von einer globalen Einheitskultur weit entfernt. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen. Werden diese tief verankerten Unterschiede bei der Lösung der gegenwärtigen Krisen nicht berücksichtigt, gerät die Demokratie unter die Räder. «Unsere Moderne», so Todd, «erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft».

«Eine Gegen-Vision der Welt, abseits der dominierenden Erklärungsmodelle.» Libération

«Todd überblickt nicht mehr und nicht weniger als die letzten hunderttausend Jahre Menschheitsgeschichte … überzeugend und immer anregend.» Le Figaro

Über den Autor

Emmanuel Todd, geboren 1951, einer der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs, arbeitet seit 1984 am Institut national d’études démographiques. Weltbekannt wurde er, als er 1976 in «La chute finale» den Zusammenbruch der Sowjetunion voraussagte. Seine Bücher «Weltmacht USA. Ein Nachruf» (2002) und «Die unaufhaltsame Revolution» (mit Youssef Courbage, 2008) wurden in Deutschland zu Bestsellern. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt «Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens» (2015).

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im Einklang mit der deutschen Historischen Schule

Familienstrukturen und die Öffnung einer abgeschotteten Welt

Einführung: Die Entwicklung der Familienstrukturenund die Umkehr der Geschichte

Es gibt kein Mysterium der Ökonomie

Die Krise der entwickelten Länder

Bewusstes, Unterbewusstes und Unbewusstes der Gesellschaften: Wirtschaft und Politik, Bildung, Familie und Religion

Die Entwicklungszeit des Bewussten, des Unterbewussten und des Unbewussten

Die Familiensysteme werden komplexer und neigen zur Differenzierung

Ein «Umkehrmodell» der Geschichte

Geschichte gut beschreiben, nicht erklären

Das Divergenzprinzip

Imperialismus und Feminismus

Unmögliche Zukunftsszenarien

Die Anglosphäre im Zentrum der modernen Geschichte

Deutschland und Japan: Die Rolle von Stammfamilie und Primogenitur in der Geschichte

Vorwärts in die Vergangenheit

1.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Eurasien

Die Neolithische Revolution

Von der Kernfamilie zur kommunitären Familie in Eurasien

In Europa, Japan und Korea tauchte die Stammfamilie erst spät auf

2.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Das indigene Amerika und Afrika

Das indigene Amerika

Neuguinea

Afrika südlich der Sahara: Eine Frage der Methode und der Ideologie

Murdocks ethnografischer Atlas

Die kommunitäre Familie in Westafrika

Die Formen der unvollständigen Stammfamilie im ostafrikanischen Hochland

Archaische Formen im Süden: Der «matrilineare Gürtel» und eine gehobene Stellung der Frau

Die Polygynie und ihr Nordwest-Süd-Gefälle

Patrilinearität gegen AIDS

Die patrilineare Innovation in jüngerer Zeit im äußersten Südosten

Als Schlussfolgerung: Kernfamilie und Flexibilität des ursprünglichen Homo sapiens

3.: Homo sapiens

Das Urehepaar

Lager, Gruppen, Dörfer und Völker

Flexibilität der lokalen Gruppe

Exogame Familien, endogame Völker

Gemäßigte familiäre Exogamie

Das Inzesttabu als Teil des ursprünglichen anthropologischen Systems: Der Westermarck-Effekt

Undifferenziertheit als allgemeines Konzept

Frühe Kelten, Germanen und Slawen

Die Trennung der Völker: Der Begriff der relativen Identität

4.: Judentum und frühes Christentum: Familie und Alphabetisierung

Die ursprüngliche jüdische Kernfamilie

Die neuassyrische und die neubabylonische Epoche: Primogenitur und Patrilinearität

Die hellenistische und die römische Epoche: Rückkehr zur Bilateralität

Die nur scheinbare Matrilinearität des Judentums

Die Patrilinearität in der jüdischen Erziehung

Bilinearität

Die gemäßigte Exogamie des Judentums

Die eigentliche Innovation des jüdischen Familiensystems: Der Schutz der Kinder

Das frühe Christentum

Christliche Innovation 1: Radikale Exogamie

Christliche Innovation 2: Feminismus

Christliche Innovation 3: Sexualfeindlichkeit

Christliche Innovation 4: Armut als Grenzerfahrung

Ist das Paradies die wahre Belohnung?

Die beiden monotheistischen Religionen und ihre Familiensysteme

Zwei Stufen des Universellen

5.: Deutschland, der Protestantismus und die Alphabetisierung

Vom Protestantismus zur Massenalphabetisierung

Die Stammfamilie und die Schrift

Von der Stammfamilie zum Protestantismus und umgekehrt

Von der Stammfamilie zur Alphabetisierung

Alphabetisierung und Verstärkung des patrilinearen Merkmals in Deutschland

Die Entwicklung in Schweden und in Russland

6.: Der große geistige Wandel in Europa

Das «westliche Heiratsmuster»: Später Sieg der christlichen Sexualfeindlichkeit

Die Wege der Disziplin

Zerstörung des undifferenzierten Verwandtschaftssystems

Der schwindelerregende protestantische Blick ins Innere und das Zerreißen des Verwandtschaftsnetzes

Der protestantische Militärstaat und die frühen Nationalismen

Der Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung

Der Anteil der Stammfamilie in historischer Sicht oder: Familienstruktur als kontinuierliche Variable

7.: Bildungsaufschwung und Wirtschaftsentwicklung

Warum England und nicht Deutschland?

Die Stammfamilie und die Industrialisierung

8.: Säkularisierung und Krise des Übergangs

Der Katholizismus ohne Gleichheit: 1800–1965

Der Zusammenbruch des Protestantismus: 1870–1930

Der Absturz der Religion und die Ära der Ideologien

Die Krise des Übergangs und die Ideologien

Familienstrukturen und Ideologien

Religion und Ideologie

9.: Die englische Matrix der Globalisierung

Die essentialistische Sackgasse

Familie und Gemeinschaft in England

Staat und Familie

Zyklen in der englischen Geschichte

Noch weiter zurück in die Vergangenheit: Die Spur Roms in den ländlichen Gebieten

Das englische Lehnsgut

Von der undifferenzierten zur absoluten Kernfamilie

Der Wandel in den Jahren 1550–1650

Verinnerlichung im Individualismus

Familiäre Freiheit und politische Herrschaft in England

10.: Homo americanus

Zurück zur reinen Kernfamilie

Die absolute Kernfamilie als Idealtypus: 1950–1970

Die Kernfamilie als Ideal und ein Schub in der Religiosität

Die moderate Wirkung der Einwanderung

Die Exogamie in den Vereinigten Staaten

Homo americanus, Homo sapiens

Homo americanus in seiner schwarzen Version

11.: Die Demokratie trägt immer noch Züge ihres Ursprungs

Die Dezentrierung der Demokratie

Fortbestand und Entfaltung repräsentativer Institutionen in Westeuropa

Von der englischen Oligarchie zur amerikanischen Demokratie: Das Gefühl, zu einer Rasse zu gehören

Das Konzept der ethnischen Demokratie

Das konkret Universelle Amerikas und das abstrakt Universelle Frankreichs

Die Demokratie trägt immer Züge ihres Ursprungs

12.: Das Hochschulwesen untergräbt die Demokratie

Die zweite Bildungsrevolution: 1900–1940

Der demokratische Höhepunkt

Die dritte Bildungsrevolution und ihr Abbruch

Die historische Bedeutung der Stagnation

Die Rückkehr der Ungleichheit im Bildungsbereich

Über die Ungleichheit in England und Amerika

Der Vietnamkrieg als Indikator: «Working-class war»

Academia: Eine Maschine, die Ungleichheit produziert

Die ökonomische Ungleichheit ist die Folge

Wandel der Ideologie, Krise der Politik und Anstieg der materiellen Ungleichheit

Der Freihandel und die «schicksalhafte» Entwicklung zur Ungleichheit

13.: Eine Krise in Schwarz und Weiß

Die Aufhebung der Rassentrennung

Die Demokratie der Weißen wird erschüttert

Menschen mit Haupt- und Sekundarschulabschluss haben weiterhin ein Rassenbewusstsein

Dog whistles gegen den Sozialstaat: Die Republikaner

Die Anpassung der Demokraten: Der Jazz und das Gefängnis

Die Masseninhaftierung von Schwarzen als pathologische Dimension der rassischen Reaktion

Die Schichtung der schwarzen Gemeinschaft

Der liberale Gulag in Schwarz und Weiß

14.: Donald Trump als Wille und Vorstellung

Die Rationalität des Wählervotums für Trump

Bildungsmäßige Schichtung und politische Wahl

Die Zitadellen der Elite: Silicon Valley und Academia

Der ökonomische Konflikt tritt an die Stelle des Rassenkonflikts

Der rassische Triumphalismus und Clintons imperiales Projekt

Clintons Kontrolle über die schwarze Wählerschaft: Ein weiterer Verrat der Eliten

Die Demokratische Partei und ihr Problem mit den Hispanics

Der demokratische Aufbruch hat immer noch fremdenfeindliche Züge

Globales Projekt gegen nationales Projekt

Die absolute Kernfamilie schwindet, und die junge Generation kommt nicht raus

Der Widerstand der amerikanischen Jugend gegen die Fremdenfeindlichkeit

15.: Das Gedächtnis der Orte

Meine erste Konzeption: Konvergenz der Kernstrukturen nach einer Übergangskrise

Einwanderung in den 1990er-Jahren: Die Divergenz im Westen

Die verschiedenen Arten von Kapitalismus

Die Unterschiede innerhalb Frankreichs bestehen fort

Abschied von Freud

Schwache Werte und das Fortbestehen der Nationen

16.: Gesellschaften mit Stammfamilie: Deutschland und Japan

Niedrige Geburtenraten in Deutschland und Japan: Eine Langzeitfolge der patrilinearen Stufen

Frauen ohne Kinder

Der zweite demografische Übergang als Teil der Globalisierung: Eine Fehlanpassung der Gesellschaften mit Stammfamilie?

Unterschiede im Bildungswesen von zwei Stammfamiliengesellschaften

Patrilinearität in Deutschland und Japan, Feminismus in Schweden

Widerstand eines kollektiven Bewusstseins: Der Zombie-Nationalismus

Ökonomischer Vorsprung und demografische Krise

Extrovertiertheit in Deutschland, Introvertiertheit in Japan

17.: Die Metamorphose Europas

Vielfalt der Familienstrukturen am Rande Eurasiens

Die Vielfalt der religiösen Einflüsse

Der Triumph der Ungleichheit in Europa

Industrieller Blitzkrieg im Westen

Die demografische Zerstörung von Osteuropa, dann von Südeuropa

Deutschlands «demografische» Außenpolitik

Der Drang nach Osten

A Bridge Too Far: Patrilineare und endogame Migrationsgemeinschaften

Das postdemokratische Europa – ganz normal

18.: Gesellschaften mit kommunitärer Familie: Russland und China

Von der exogamen kommunitären Familie zum Kommunismus

Kontinuität regionaler Differenzierungen: Putin und Lukaschenko

Trendwende in Russland: Die Demografie als Beweis

Die Geburtenrate in Russland

Eine Veränderung des Verwandtschaftssystems?

Die Antithese zur angloamerikanischen Welt

Spezialisierung auf militärischem Gebiet

China als Gegenstand der Ideologie

Skeptische Haltung der Demografen

Die fortdauernde patrilineare Dynamik in China und anderswo

Das Gedächtnis der Orte: Autorität und Gleichheit in China

Russland als Zufall und Notwendigkeit

Anstoß

Postskriptum: Die Krise der westlichen Demokratie

Großbritannien, USA, Frankreich

Drei Grade der Vermittlung

Japan und Deutschland

Das Unbehagen der deutschen Eliten: Das grundlegende Dilemma der Gesellschaften mit Stammfamilie

Karten

ANHANG

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einführung: Die Entwicklung der Familienstrukturenund die Umkehr der Geschichte

1.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Eurasien

2.: Die Differenzierung der Familiensysteme: Das indigene Amerika und Afrika

3.: Homo sapiens

4.: Judentum und frühes Christentum: Familie und Alphabetisierung

5.: Deutschland, der Protestantismus und die Alphabetisierung

6.: Der große geistige Wandel in Europa

7.: Bildungsaufschwung und Wirtschaftsentwicklung

8.: Säkularisierung und Krise des Übergangs

9.: Die englische Matrix der Globalisierung

10.: Homo americanus

11.: Die Demokratie trägt immer noch Züge ihres Ursprungs

12.: Das Hochschulwesen untergräbt die Demokratie

13.: Eine Krise in Schwarz und Weiß

14.: Donald Trump als Wille und Vorstellung

15.: Das Gedächtnis der Orte

16.: Gesellschaften mit Stammfamilie: Deutschland und Japan

17.: Die Metamorphose Europas

18.: Gesellschaften mit kommunitärer Familie: Russland und China

Die Krise der westlichen Demokratie

Für Laurent

Karten

Karte 1.2: Die wichtigsten Familiensysteme Eurasiens

Karte 2.1: Kommunitäre und unabhängige Familie in Afrika

Karte 17.1: Die Familientypen in Europa

Karte 17.2: Autorität und Ungleichheit in Europa

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Es ist mir eine große Freude, ein Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Buches zu schreiben, denn Deutschland nimmt in ihm einen besonderen Platz ein. Dieses Land spielte im Verlauf der Geschichte eine einzigartige Rolle, im Guten wie im Schlechten. Beginnen wir mit einem hellen Kapitel. Deutschland war durch Luther und den Protestantismus der Ausgangspunkt einer Massenalphabetisierung, die erst Europa und dann die ganze Welt erfasste. In einer Weltgeschichte, die der Bildung den Vorrang vor der Ökonomie einräumt, steht Deutschland daher am Beginn eines Aufschwungs mit den uns bekannten Phasen der Alphabetisierung und Industrialisierung, des Geburtenrückgangs und der anschließenden Entwicklung des Hochschulwesens. Allerdings war England Pionier der Industrialisierung, Frankreich Pionier der Geburtenkontrolle, und die USA waren Pionier der Massenbildung im Sekundar- und Hochschulbereich. Das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte, das völlige Versinken in den Nationalsozialismus, ist eine Grenzerfahrung, die Deutschland ebenfalls zum Fokus allen Nachdenkens über die Universalgeschichte macht.

Das Buch beginnt zwar mit dem Auszug des Homo sapiens aus Afrika und untersucht das Aufkommen unterschiedlicher Familientypen seit dem Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr., doch im Vordergrund steht das Verständnis unserer Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt daher weniger auf dem Nationalsozialismus als auf dem weniger dramatischen Misserfolg der europäischen Einigung, seitdem Deutschland in diesem Prozess die führende Rolle übernommen hat. Für die kafkaeske Verwandlung der Europäischen Union ist Deutschland bei Weitem nicht allein verantwortlich, doch die ihm eigene Dynamik ist dafür ein gewichtiger Faktor, weil sich Deutschland an universalistischen Wertvorstellungen orientiert, die es gleichzeitig leugnet und die daher gewissenlos und ungehemmt ihre Wirkung entfalten.

Ich bin Franzose, aber anders als viele meiner Mitbürger orientiere ich mich als Wissenschaftler nicht an dem Postulat eines abstrakten universalen Menschen. Der Mensch ist zwar universal, aber die englische Sozialanthropologie, die meine Ausbildung entscheidend geprägt hat, hat mir gezeigt, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen und religiösen Systeme sind, die sein konkretes Leben bestimmen. Dabei stellt jedes einzelne System eine mögliche Lösung für die Unsicherheit der menschlichen Existenz dar, und jedes hat Vor- und Nachteile.

Im Einklang mit der deutschen Historischen Schule

Ein weiterer Grund, warum ich mich über ein Vorwort zur deutschen Ausgabe freue, hängt mit meinem Beruf zusammen. Die hier vorgelegte Darstellung der Menschheitsgeschichte legt den Akzent zwar auf die Dynamik der angloamerikanischen Welt seit dem 17. Jahrhundert, ähnelt dabei aber historischen Modellen, wie sie in Deutschland vor dem «Dritten Reich» dominierten. Es ist seltsam: Indem ich in meinen empirischen Studien die Faktoren der französischen Annales-Schule und der historischen Anthropologie von Cambridge – familiäre und religiöse Strukturen, Bildung, demografischer Übergang, Säkularisierung und Ideologien – miteinander verbunden habe, bin ich zu einem historischen Modell gelangt, das einer bestimmten deutschen Tradition sehr ähnlich ist. Die Logik, die meinem Modell zugrunde liegt, grenzt die Regionen und Nationen nach ihren unterschiedlichen Beiträgen zur Geschichte der Menschheit voneinander ab und schließt damit – vorwiegend in der sehr nüchternen und wenig gefühlvollen Sprache der Statistik – ein wenig an Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte an. Vor allem aber stimme ich mit dem methodischen Ansatz der deutschen «Historischen Schule der Nationalökonomie» überein, wenn ich in den Tiefenschichten des sozialen Lebens nach den Ursachen unserer ökonomischen Schwierigkeiten forsche und den ökonomischen Sektor als bewusst, den Bildungsbereich als unterbewusst und die religiöse und familiäre Dimension als unbewusst bezeichne.

Die Historische Schule lehnte den abstrakten Homo oeconomicus der britischen Nationalökonomen ab und trat dafür ein, auch die kulturellen und ethischen Rahmenbedingungen des ökonomischen Handelns in den einzelnen Nationen zu berücksichtigen. Sie sind die entscheidenden Faktoren der ökonomischen Entwicklung, und die Ökonomie muss historisch und empirisch erforscht werden und nicht von universell gültigen Axiomen aus. Diese differenzierte Auffassung von Ökonomie und Geschichte herrschte in Deutschland vor, bis der Nationalsozialismus das intellektuelle Leben zerstörte. Von den vielen Repräsentanten dieser Schule seien hier Wilhelm Roscher, Karl Knies, Gustav von Schmoller, Georg Friedrich Knapp und Werner Sombart genannt; in ihr Umfeld gehören der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und der österreichisch-deutsch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter; zu ihren Vorläufern zählen Adam Müller von Nitterdorf und Friedrich List.

Ich gehe methodisch ähnlich vor, aber in meinem Modell spielen die Familienstrukturen die zentrale Rolle. Max Weber, der die Tradition der deutschen Nationalökonomie vollendet und überwunden hat, wollte ebenfalls die tieferen mentalen Schichten des ökonomischen Handelns ergründen, blieb dabei aber bei der Religion stehen. Immerhin enthält sein gewaltiges Werk einige wesentliche Überlegungen zur Familie. Aber die Historische Schule der Nationalökonomie berücksichtigte nicht nur die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, sondern dachte zugleich universalistisch, weil sie die Eigentümlichkeiten bestimmter Bevölkerungsgruppen immer weltgeschichtlich verortete.

Die Vereinbarkeit meines Modells mit der klassischen deutschen Auffassung von der Geschichte – insbesondere im Verständnis der Ökonomie – ist kein Zufall. Während der Vorarbeiten zu meinem Buch Die neoliberale Illusion: über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften (1999) war ich tief beeindruckt von Friedrich List und seinem Werk Das nationale System der politischen Ökonomie aus dem Jahr 1841. Ich sorgte für eine französische Neuausgabe dieses Klassikers und verfasste ein ausführliches Nachwort dazu. List beschreibt zu Beginn konkrete Bevölkerungsgruppen – Italiener, Hanseaten, Flamen und Holländer, Engländer, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Deutsche, Russen und Nordamerikaner – und nimmt erst dann eine ökonomische Analyse vor, die die kulturelle Infrastruktur der Nationen berücksichtigt. Von hier aus legt er dar, welche Maßnahmen im Interesse der einzelnen Bevölkerungen sind und vom jeweiligen Staat wirtschaftspolitisch umgesetzt werden sollen. Ein vernünftiger Protektionismus etwa sollte es Amerika, Frankreich und Deutschland ermöglichen, wirtschaftlich zu Großbritannien aufzuschließen. Ich bin ein Bewunderer von Friedrich List, dessen Modell mir dabei geholfen hat, meine eigene Konzeption der Ökonomie als einer bewussten Superstruktur auszuarbeiten, die von unterbewussten und unbewussten Vorgängen abhängig ist.

Ein Problem der Historischen Schule in Deutschland ist allerdings die Tendenz, die Nationen, die Volksseele oder sogar die Rasse zu essentialisieren. Friedrich List wurde deshalb eine gewisse Mitverantwortung für das Aufkommen des Nationalsozialismus zugeschrieben. Dadurch war nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer liberalen Grundordnung die differenzielle historische Darstellung von Bevölkerungsgruppen mit einem Tabu belegt. Im Bereich der Ökonomie ging man wieder von universell gültigen Gesetzen aus, schwächte den westlichen Liberalismus aber durch das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ab. Es ist noch spürbar von den ethischen Überlegungen der Historischen Schule geprägt und betont die soziale Einbindung der Ökonomie.

Familienstrukturen und die Öffnung einer abgeschotteten Welt

Mein Modell bedeutet keinen Verzicht auf eine Betrachtungsweise der Geschichte, die universal und differenziell zugleich ist. Doch seine Verankerung in der Analyse von Familienstrukturen befreit es in der Wahrnehmung der Nationen und Völker von jeder essentialistischen Versuchung. Ich unterscheide lediglich drei, vier, sieben, acht oder auch mal fünfzehn Familientypen voneinander, wenn es die typologische Feinjustierung erfordert. Durch einfache algebraische Operationen kristallisieren sich damit soziale und historische Typen heraus, die keinerlei Mythen oder romantische Träumereien über die Nation oder das Volk zulassen. Die Typologie der Familie trennt natürlich Deutschland von England und Russland, sie unterscheidet Schweden von den USA. Da aber ein Familientyp zu mehreren Nationen gehören kann, isoliert dieses Modell keine von ihnen durch eine besondere Wesenszuschreibung. Vielmehr nähert es manchmal überraschend Länder einander an und beseitigt die Mauern, die sonst die Weltgeschichte zu bestimmen scheinen.

Die Stammfamilie ist dafür das wichtigste Beispiel, denn gerade dieser Familientyp führt in den Regionen, wo sie verbreitet war und ist, zu einer Selbstwahrnehmung der ansässigen Bevölkerung als verschieden von anderen und einzigartig. Die Stammfamilie verkörpert in Japan, in Katalonien und dem Baskenland ebenso wie in Deutschland und der alemannischen Schweiz eine autoritäre und inegalitäre soziale Ordnung mit einer starken Integration der Individuen. Wir finden 2018 in diesen fünf Regionen immer noch dieselben Kompetenzen vor, was Organisation und ökonomische Dynamik betrifft, und dieselbe Neigung zum Ethnozentrismus. Die Stammfamilie kurz vor der Modernisierung: Das ist ganz ohne transzendente Wesensmerkmale die Eigentümlichkeit dieser Regionen. Um jede rassistische Anwandlung im Keim zu ersticken, könnte man noch die polygynen Stammfamilienformen der Bamileke in Kamerun oder der Hutu und Tutsi in Ruanda erwähnen, um für Afrika zu zeigen, dass es eine enge Verbindung zwischen diesem Familientyp und einer spezifischen kulturellen und ökonomischen Dynamik gibt. Auch hier findet sich eine ethnozentrische Einseitigkeit, die in Ruanda bis zum Völkermord aus rassischen Gründen geführt hat.

Im Hinblick auf Deutschland ermöglicht dieser Ansatz eine realistische Einschätzung seiner Rolle in der Geschichte und seiner ungeheuren Leistung, im Guten wie im Bösen, ohne das Land durch die unnötige Hypothese von einem deutschen Wesen von der übrigen Welt zu isolieren. Deutschland ist wie Japan nur ein demografisch besonders markantes Beispiel für die Stammfamilie. Ein Vergleich der beiden Nationen in Kapitel 16 stellt gleichwohl fest, wie sich die Länder trotz ihrer anthropologischen Ähnlichkeit geopolitisch voneinander unterscheiden.

Alle meine Bücher wurden ins Japanische übersetzt, wahrscheinlich weil mein Familienmodell es Japan ermöglicht, sich in seiner Eigentümlichkeit zu verstehen, ohne isoliert zu werden. Mit seiner Stammfamilie nähert es sich mehreren europäischen Ländern an. Vor allem erklärt ein solches Modell den Japanern ihre eigene Affinität zu Deutschland. Die Japaner haben nichts erlebt, was mit dem Nationalsozialismus vergleichbar ist, und bestehen anders als die Deutschen auf ihrem Recht, sich als «verschieden» zu betrachten. In Japan gibt es nach Ansicht von Yuichi Shionoya immer noch ein wohlwollendes Interesse an der deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie. Deutschland dagegen ist gezwungen, sich mit einem abstrakten Westen zu identifizieren, der das Dogma des Individualismus verteidigt und an universell gültige ökonomische Gesetze und Rezepte glaubt.[1]

Die universalistische Abstraktion hatte katastrophale Folgen für Europa. Die plötzlich zunehmende Bedeutung Deutschlands, die nicht das Ergebnis eines bewussten Projekts war, sondern die automatische Folge seiner ökonomischen Effizienz, brachte einem Land, das sich selbst nicht mehr verstand, die Führungsrolle in der Europäischen Union ein. Deutschland war gleichzeitig von zwei abstrakten Vorstellungen geblendet, dem angloamerikanischen ökonomischen Universalismus und dem französischen politischen Universalismus. So konnte es seinen europäischen Partnern nichts anderes vorschlagen als seine eigenen ökonomischen Maßnahmen. Aber in Italien und Griechenland ergibt die «Soziale Marktwirtschaft» keinen Sinn. In Frankreich wird das Wort Ordoliberalismus mit der deutschen Wirtschaftspolitik in Verbindung gebracht und ist jetzt so negativ besetzt wie das mit Amerika verknüpfte Wort Ultraliberalismus. Der Versuch, das in Deutschland erfolgreiche Wirtschaftskonzept Ländern mit anderen anthropologischen Grundlagen aufzuzwingen, konnte die Unterschiede zwischen den Nationen nur vergrößern. Ich habe diese Mechanismen mit schonungsloser Offenheit in Kapitel 17 analysiert. Es wäre für alle besser gewesen, wenn Deutschland, gestützt auf seine eigene intellektuelle Tradition, die zugleich differenziell und universell ist, in maßvoller Form eine vernünftige Perspektive für die unterschiedlichen Nationen entwickelt und eine flexible Führungsrolle übernommen hätte, welche die anthropologischen und kulturellen Unterschiede auf dem Kontinent berücksichtigt. Für alle die gleiche juristische und ökonomische Norm festzulegen ist von einem moralischen Standpunkt aus sicher untadelig, mündet aber in der Praxis in einen Alptraum für alle. Die Herrschaft einer universellen Norm führt zu Konflikten, die uns letzten Endes an jene Konflikte denken lassen, die der abstrakte Universalismus der Französischen Revolution hervorgebracht hat.

Traurige Moderne ist ein wissenschaftliches Buch, das die Entwicklung der Menschheitsgeschichte beschreiben und besser verstehen will. Gelegentlich ist es ironisch, aber es handelt sich keinesfalls um ein partei- oder sozialpolitisch engagiertes Werk. Auch wenn man die Fähigkeit von Intellektuellen, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, nicht überschätzen darf, so hoffe ich dennoch, dass dieses Buch auf seine bescheidene Weise Deutschland wieder zu einem stärkeren Selbstbewusstsein verhilft. Was wir nämlich brauchen, ist ein luzides Deutschland.

Einführung

Die Entwicklung der Familienstrukturenund die Umkehr der Geschichte

In der westlichen Welt hat sich ein seltsames Gefühl der Ohnmacht ausgebreitet angesichts einer technologischen Revolution, die dem Einzelnen doch eigentlich alle Möglichkeiten in die Hand zu geben scheint. Worte, Bilder und Waren zirkulieren frei und in rasantem Tempo. Wir sehen eine medizinische Revolution, die eine fortschreitende Verlängerung des Lebens verheißt. Die Prometheusträume setzen sich fort. Zwischen 1999 und 2014 stieg der Anteil der Internetnutzer in der Welt von 5 auf 50 Prozent. Länder verwandelten sich in Dörfer, Kontinente in Kantone. In den hochentwickelten Ländern macht sich indes das Gefühl eines unaufhaltsamen Niedergangs breit. So sank im gleichen Zeitraum in den USA das Durchschnittseinkommen von 57.909 auf 53.718 Dollar.[1] Die Sterblichkeit der weißen Amerikaner zwischen 45 und 54 Jahren ist gestiegen.[2] Weiße amerikanische Wähler probten den Aufstand und wählten 2016 einen beunruhigenden Kandidaten: Donald Trump.

In unterschiedlicher Weise scheinen die anderen Demokratien Amerika auf dieser Bahn wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rückschritte zu folgen. Dass die Ungleichheit wächst und der Lebensstandard der jungen Generation sinkt, sind quasi universelle Phänomene. Neuartige Formen des politischen Populismus machen fast überall gegen den Elitismus der oberen Schichten mobil. In der jeweiligen Nachahmung sind jedoch Unterschiede erkennbar. Während Japan den Rückzug auf sich selbst zu proben scheint, verwandelt sich Europa, inzwischen von Deutschland gesteuert, in ein gewaltiges hierarchisches System, das noch fanatischer als die USA auf wirtschaftliche Globalisierung setzt.

Es gibt kein Mysterium der Ökonomie

Für diese Phänomene steht eine bequeme wirtschaftliche Erklärung bereit, von der die kritische Analyse seit Anfang der 1990er-Jahre gern Gebrauch gemacht hat. Der Freihandel und die freien Kapitalflüsse ermöglichen höhere Gewinne, führen aber zugleich dazu, dass die gewöhnlichen Einkommen sinken, die Ungleichheiten wachsen, die Nachfrage, hier im weltweiten Maßstab, hinter dem Notwendigen zurückbleibt und am Ende eines wahnwitzigen Rennens die Wirtschaftskrisen zurückkehren. Weit entfernt davon, dank der Technik emanzipiert zu sein, gerät der Mensch der hochentwickelten Welt erneut unter das Joch der Abhängigkeit: Arbeitsplatzunsicherheit und sinkender Lebensstandard, zuweilen bis an den Punkt, ab dem auch die Lebenserwartung sinkt – unsere Moderne ähnelt einem Marsch in die Knechtschaft. Jeder, der den Traum der Emanzipation der 1960er-Jahre erlebt hat, kann über den Umbruch, der in knapp einer Generation erfolgt ist, nur staunen.

Wer sich für die ökonomische Mechanik dieser Phänomene interessiert, kann auf eine Fülle von Literatur zurückgreifen. Erwähnt seien beispielsweise die Werke von Joseph Stiglitz, Paul Krugman und Thomas Picketty zur Entwicklung der Ungleichheit und ihren wachstumshemmenden Auswirkungen.[3] Halten wir fest, dass manche Volkswirtschaftler ihre Disziplin bis an ihre Grenzen geführt haben: James Galbraith hat dargelegt, dass die Ultraliberalen inzwischen stark auf den Staat setzen, um sich selbst zu bereichern. Pierre-Noël Giraud hat bewiesen, dass die Logik des Homo oeconomicus dazu führen kann, einzelne Menschen für «nutzlos» zu erklären.[4] Wenn es jedoch um Kritik am Freihandel geht, halten sich die meisten Ökonomen aus dem Establishment zurück. Sie scheuen sich vor Ratschlägen, ihn durch Kontrollmechanismen an die Kandare zu nehmen. Zu viel Wagemut könnte ihre Stellung an der Universität gefährden, oder, noch schlimmer, ihre Chancen auf berufliche Auszeichnungen verbauen.[5] Dabei bedeutet ihre Zurückhaltung für die Theorie nicht einmal einen großen Verlust. Zu den realen Auswirkungen des Freihandels finden wir alles Notwendige bereits in Friedrich Lists Werk Das nationale System der Politischen Ökonomie – erschienen 1841. Diesem Klassiker können wir einige Artikel von John Maynard Keynes und ein neueres Buch des Koreaners Ha-Joon Chang hinzufügen, der im englischen Cambridge lehrt.[6] Ich habe schon 1997 in Die neoliberale Illusion die Wirkungsweise des deregulierten Handels hervorgehoben, der eine globalisierte Wirtschaft in die Depression führt.[7] Zu erinnern wäre schlicht auch daran, dass Adam Smith in Der Reichtum der Nationen nicht auf einen entfesselten freien Warentausch zielte, mit dem die Realität der Nationen und ihre übergeordneten Interessen verleugnet würden.

Trotz der Qualität all dieser Forschungsarbeiten ist einzuräumen, dass der Rückschritt der entwickelten Welt – rein ökonomisch gesehen – als Studienobjekt eher uninteressant ist. Was mich dagegen nicht loslässt, ist das Gefühl der Ohnmacht, das sich auch dann hält, wenn man sich um ein Verständnis der Verhältnisse bemüht: Wir haben die Diagnose, greifen aber nicht ein, sondern schauen den wirtschaftlichen Abläufen untätig zu.

Angesichts der großen Rezession ist 2008/09 der Eindruck entstanden, dass es notwendig sei, zu einer Aktionsart keynesianischen Typs zurückzukehren und wieder Zollschranken zu errichten. Tatsächlich gilt der unzulänglichen Nachfrage die Hauptsorge der berühmten Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Und schon ein wenig gesunder Menschenverstand gelangt zu der Schlussfolgerung, dass ohne geschützte Märkte innerer Aufschwung am Ende dazu führt, Nachfrage eher für Nachbarn als für das Inland zu erzeugen. Die amerikanischen, englischen oder französischen Zeitungen feierten kurzzeitig unisono ein Comeback von Keynes. Robert Skidelsky, dessen bedeutendster Biograf, gab seinem Buch sogar den Titel Die Rückkehr des Meisters: Keynes für das 21. Jahrhundert.[8]

Allerdings war schon in den Jahren 2010 bis 2015 festzustellen, dass sich der klare Blick wieder eingetrübt hatte. Folglich überrumpelte die Debatte um Freihandel und Protektionismus, die Bernie Sanders und Donald Trump im amerikanischen Wahlkampf 2016 lostraten, die Journalisten und etablierten Politiker und versetzte die mit Gütesiegel versehenen Wirtschaftswissenschaftler in Rage. So votierten sechzehn Nobelpreisträger und zweihundert Angehörige der angesehensten amerikanischen Universitäten gegen Trump und für den Freihandel, ohne indes das amerikanische Volk zu überzeugen, dessen Lebensbedingungen sich ungeachtet der schönen Theorie verschlechtern. Wie ist der sich hartnäckig haltende geistige Rückstand der Eliteexperten zu erklären, die in den USA und in Europa erst die verheerenden Auswirkungen des Freihandels leugneten und jetzt die Wahl Trumps nicht wahrhaben wollen? Wie ist diese mehrdimensionale Realitätsverweigerung seriöser Leute zu erklären, die hervorragende Studien durchgeführt haben? Das ist das eigentliche Mysterium.

Zwischen 2010 und 2016 setzte sich der Marsch in Richtung Ungleichheit fort, und die weltweite Unzulänglichkeit der Nachfrage nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. In den Schwellenländern sind die Wachstumsraten gesunken, in Brasilien inzwischen bis auf den Nullpunkt. China, die Werkbank der Welt, erstickt in einer von der Industrie verursachten Umweltverschmutzung, die an das Ausmaß des 19. Jahrhunderts heranreicht, schlingert am Rande des Abgrunds und droht in eine Krise mit unkalkulierbaren geopolitischen Folgen zu geraten. Angesichts der strauchelnden Wirtschaft dieser Welt, deren politische Systeme in Auflösung begriffen sind, werden von Tag zu Tag die Warnungen lauter, dass der Populismus unsere «Werte» bedrohe und wir sie verteidigen müssten. Aber welche Werte denn? Gleichheit? Armut? Unsicherheit? Aber nein, pardon: die «liberale Demokratie», ein inzwischen hohles Konzept, bar seiner Grundwerte, die einst in der Volkssouveränität, der Gleichheit der Menschen und deren Recht auf Glück bestanden.

Erklären müssen wir also nicht die Wirtschaftsordnung im engeren Sinne. Was der heutige Historiker vielmehr verstehen muss, ist die Unmöglichkeit einer realen Bewusstwerdung, also einer, auf die auch Taten folgen. Aber dazu müssen wir zunächst einmal einräumen, dass sich der Lauf der Geschichte nicht auf die wirtschaftliche Sphäre beschränkt und dass sich bestimmte entscheidende Veränderungen in tieferen Schichten des sozialen Lebens vollziehen.

Auch wenn die Strukturen, die ich aufzeigen möchte, alltäglich, ja offensichtlich sind, müssen wir erkennen, dass sie das Handeln der Menschen noch stärker bestimmen als die Wirtschaft: nämlich Bildung, Religion, Familie und schließlich Nation, die nur die spät entstandene gegenwärtige Form der Einbindung in eine Gruppe ist, eine Zugehörigkeit, ohne die das Leben des Homo sapiens keinen Sinn ergibt.

Im Folgenden schlage ich eine anthropologische Betrachtungsweise der Geschichte vor, allerdings, so betone ich vorab, ohne jede Geringschätzung für die Ökonomie: Die Unfähigkeit der etablierten Wirtschaftswissenschaftler, Hochschullehrer oder Lobbyisten des Bankenwesens darf nicht dazu verleiten, die ökonomische Analyse zu verwerfen. Behalten wir das so nützliche Postulat vom rational denkenden Individuum, dem egoistischen Homo oeconomicus, unbedingt im Kopf, aber ohne je zu vergessen, dass dieser nicht im luftleeren Raum agiert, sondern mit Fähigkeiten ausgestattet ist und Ziele verfolgt, die von der Gruppe, der Familie, der Religion und der Bildung festgelegt werden. Eine Logik der Märkte gibt es durchaus. Richtig ist sogar, dass der Kapitalismus, wie Bernard Mandeville 1714 in The Fable of the Bees: Or, Private Vices, Public Benefits behauptete, die egoistischsten, die moralisch verwerflichsten menschlichen Antriebe dazu nutzt, um das leistungsstärkste Produktivsystem am Laufen zu halten. Diese Sichtweise, wonach gebündelte egoistische Einzelinteressen die Wirtschaft optimierten, stellte Adam Smith – weniger aggressiv – 1776 in Der Reichtum der Nationen dar. Aber gerade seine moralische Problemstellung muss dazu anregen, die Tiefen eines sozialen Lebens auszuloten, das über das reine Eingebundensein in das Wirtschaftssystem hinausgeht. Interessant ist, wo sich der mentale Wandel vollzieht, der die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt.

Die Krise der entwickelten Länder

Heute lässt sich ganz leicht zeigen, dass die politische Ökonomie nicht in der Lage ist, die sich vor unseren Augen abspielende gewaltige Umwälzung in der Welt zu erfassen. Um dies zu erkennen, halten wir uns an die am weitesten entwickelten Länder. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten Brasiliens und Chinas räumen mit der Illusion auf, die Geschichte werde fortan maßgeblich durch die Schwellenländer geprägt. Die Spielregeln der wirtschaftlichen Globalisierung wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan festgelegt. Diese «Triade» hat seit 1980 die jüngst alphabetisierten Erwerbsbevölkerungen der Dritten Welt in Arbeit gebracht, dadurch die inländischen Arbeitseinkommen gewaltig unter Druck gesetzt und – wie man sagen muss – auf diese Art weltweit die Profitraten erhöht. Wohl noch besser drückt sich die Vorherrschaft der alternden entwickelten Welt in ihrer Fähigkeit aus, anderswo ausgebildete Erwerbsfähige anzulocken, je nach Bedarf von der Peripherie Arbeiter, Techniker, Informatiker, Pflegepersonal, Künstler und Ärzte abzusaugen, um sich durch ein regelrechtes demografisches Raubrittertum das eigene Überleben zu sichern. Diese Ausplünderung von Humanressourcen ist deutlich gravierender als die von natürlichen Ressourcen, weil sie ab einer gewissen Größenordnung die Entwicklung der aufstrebenden Länder gefährdet, indem sie sie ihrer Führungs- und Fachkräfte und damit auch ihrer Mittelschicht beraubt.

Die Machtzentren der Welt haben sich folglich keineswegs verlagert. Im Übrigen hat sich mit Russland, einer alten europäischen Macht, die einzige Kraft behaupten können, die vom globalisierten System unabhängig geblieben ist. Die alten Akteure des Zweiten Weltkriegs sitzen immer noch an den Schalthebeln der Macht in der Weltgeschichte. Aber sie erleben ihrerseits eine Umwälzung, die angesichts ihres Ausmaßes als ein anthropologischer Umbruch gelten muss, der eher mit der Neolithischen als der Industriellen Revolution vergleichbar ist. Wie einst Sesshaftwerdung und Landwirtschaft wälzt der derzeitige Wandel die Lebensweise der Spezies Mensch in all ihren Dimensionen um. Seine wichtigsten Elemente:

Zwischen 1920 und 1960stieg in den USAder Wohlstand aller, aber insbesondere der Mittelschicht und der breiten Volksschichten, massiv an. Zwischen 1950 und 1990 erhöhte sich in Europa und Japan schlagartig der Lebensstandard – mit zahllosen psychologischen Effekten.

Zwischen 1960 und 1980 gingen die Geburtenraten drastisch zurück.

Die Langlebigkeit stieg, einhergehend mit einer Alterung der Bevölkerungen in einem historisch einmaligen Ausmaß. Schwankte das Medianalter[9] der Europäer bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwischen 20 und 25 Jahren, so lag es 2015 bei 41,7 Jahren. Im England der Revolution von 1688 hatte es noch bei rund 25 Jahren gelegen.[10] Durch die Industrielle Revolution sank es bis 1821 auf 20 Jahre ab, stieg bis 1871 auf nur 22 Jahre und betrug 2015 schließlich 40 Jahre. Das Medianalter der Amerikaner hatte um 1900 bei 22,9 und 1950 bei 30,2 Jahren gelegen. Durch steigende Geburtenraten in der Nachkriegszeit sank es um 1970 vorübergehend wieder auf 28,1 Jahre, lag aber 2015 bei 38 Jahren – ein Anstieg um 10 Jahre in knapp 45 Jahren.

Der Bildungsstand stieg auf spektakuläre Weise. Die Entwicklung der sekundären und der höheren Bildungssysteme – seit der Zeit zwischen den Weltkriegen in den Vereinigten Staaten und nach 1950 in Europa und Japan – führte zu einer neuen kulturellen Schichtung, tendenziell mit einem Anteil von 40 Prozent an höher Gebildeten, 40 Prozent mit Sekundarabschluss und 20 Prozent eines «Rests», der in einem Bereich zwischen «ohne Schulabschluss» und «funktionalem Analphabetentum» anzusiedeln ist. Dabei bestehen allerdings zwischen den Nationen bedeutende Unterschiede.

Bei der Bildung überholen die Frauen die Männer, auch hier mit wichtigen Unterschieden im Kreis der entwickelten Nationen. Dies ist aus der Sicht des Experten für Familienstrukturen die eindrucksvollste Veränderung.

Die Religiosität erlischt endgültig, wahrscheinlich auch in den USA.

Das aus den Zeiten der Religiosität überkommene Heiratsmuster verliert an Gültigkeit.

Diese Liste ließe sich um zahlreiche weitere Beispiele für grundlegende Veränderungen verlängern.

Tabelle 0.1:  Lebenserwartung und Alterung der Gesellschaft

Lebenserwartung

2015

Medianalter

Alterung

Männer

Frauen

1950

2015

1950–2015

(in Jahren)

USA

76

81

30,0

38,3

8,3

Vereinigtes Königreich

79

83

34,9

40

5,1

Australien

80

84

30,4

37,5

7,1

Kanada

79

84

27,7

40,6

12,9

Deutschland

78

83

35,3

46,2

10,9

Schweden

80

84

34,2

41,0

6,8

Japan

80

87

22,1

46,5

24,4

Südkorea

79

85

19,0

40,6

21,6

Frankreich

79

85

34,7

41,2

6,5

Italien

80

82

28,6

45,9

17,3

Spanien

80

85

27,5

43,2

15,7

Russland

65

76

23,3

38,7

15,4

China

73

78

23,7

37,0

13,3

Naher Osten

71

76

20,8

26,3

5,5

Quelle: Daten der UNO.

Wenn man diese – hier ungeordnet präsentierten – Veränderungen berücksichtigt, erweitert sich der eindimensionale Blick der Wirtschaftswissenschaftler auf das Individuum in einzigartiger Weise: Wir können die Hypothese eines rationalen Verhaltens des Menschen beibehalten und gleichzeitig danach fragen, wie sich seine existenziellen Ziele verändern, wenn er, statistisch gesehen, wohlhabender, älter, gebildeter, femininer, seltener usw. wird.

Anhand der Beobachtung, wie sich diese realen Individuen weiterentwickelt haben, werden wir die historischen Umstände aufzeigen, unter denen sich das Ohnmachtsgefühl in den am höchsten entwickelten Gesellschaften breitgemacht hat. Dazu müssen wir der Ökonomie drei Untersuchungsfelder hinzufügen, die für Entwicklung bedeutsam sind: Bildung, Religion und Familie. Die nationale Zugehörigkeit ist dabei eine strukturelle Konstante, deren Wirkungsweise wir betrachten müssen, anstatt uns in Fantasien über ihr mögliches Verschwinden zu ergehen, diesen letztendlichen Traum der Globalisierungsideologie. Hier gleich die richtige Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Wenn wir die Vorgänge in der heutigen Welt nicht mehr verstehen, so deshalb, weil die Wirtschaftswissenschaft als vorherrschende Ideologie den Zaubertrick beherrscht, ein falsches Bewusstsein zu verbreiten, das einer vollständigen Beschreibung der Welt im Wege steht und immer dann, wenn die Realität durchsickert, Erstrangiges für zweitrangig erklärt, oder besser: die Ursache als Wirkung und die Wirkung als Ursache betrachtet.

Bewusstes, Unterbewusstes und Unbewusstes der Gesellschaften: Wirtschaft und Politik, Bildung, Familie und Religion

Ein vereinfachtes Modell, das einen freudschen Topos nachahmt, ermöglicht eine geschichtete Darstellung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Veränderung. An der Oberfläche der Geschichte entdecken wir das Bewusste, die Wirtschaft der Ökonomen, die täglich in den Medien präsent ist und deren neoliberale Ideologie in einer merkwürdigen Rückbesinnung auf den Marxismus verkündet, dass sie das Ausschlaggebende sei. Zu diesem Bewussten, dem Schrillen, wie man sagen könnte, gehört natürlich auch die Politik.

Etwas tiefer stoßen wir auf ein Unterbewusstes der Gesellschaft, auf die Bildung, eine Schicht, deren Bedeutung die Bürger und Kommentatoren erkennen, wenn sie an ihr reales Leben denken, während sich die orthodoxe Sicht weigert, vollauf anzuerkennen, wie entscheidend sie ist und wie stark sie auf die darüberliegende bewusste Schicht einwirkt. Eltern wissen sehr wohl, dass das Schicksal ihrer Kinder – Erfolg, Überleben oder wirtschaftlicher Schiffbruch – von deren schulischen Leistungen abhängt. Unmittelbar leuchtet jedermann ein, dass eine Gesellschaft, die in Sachen Bildung leistungsfähig ist, wirtschaftlich reüssieren wird. Die bildungspolitischen Erfolge Finnlands und Koreas erklären deren außergewöhnliche Wirtschaftskraft. Da die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit einiger Zeit in statistischen Vergleichen erfasst, was die einzelnen Nationen im Bildungsbereich leisten, ist dieses Unterbewusste inzwischen ein Stück weit ins Bewusstsein eingedrungen – auch wenn sich dieser fürs Geistige zuständige bürokratische Apparat schwer damit tut einzuräumen, dass der Bildungserfolg mehr von religiösen und familiären Traditionen als von wirtschaftlichen Investitionen abhängt.

In einer noch tieferen Schicht liegt nämlich das wahrhafte Unbewusste der Gesellschaften: Familie und Religion, die sich auf komplexe Weise wechselseitig beeinflussen. Ohne dass sich die jeweiligen Akteure dessen bewusst wären, bedingen die – je nach Land autoritären oder liberalen, egalitären oder inegalitären, exogamen oder endogamen – Familienstrukturen politische Werte und Bildungserfolge. Diese aus zwei Teilen bestehende Hypothese habe ich zu Beginn der 1980er-Jahre in zwei Büchern ausformuliert.[11]

Wie ich damals feststellte, deckte sich die Karte des vollausgebildeten Kommunismus der späten 1970er-Jahre mit der eines besonderen bäuerlichen Familiensystems, das in Russland, China, Vietnam, Jugoslawien und Albanien präsent gewesen war, bestehend aus dem Verbund eines Vaters mit seinen verheirateten Söhnen, autoritär, was die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern betraf, und egalitär in der Beziehung zwischen den Brüdern. Und Autorität und Egalität bilden denn auch den harten Kern der kommunistischen Ideologie, wobei diese Deckungsgleichheit zwischen der Verbreitung einer bestimmten Familienform mit der einer Ideologie unschwer zu erklären ist. Sie resultierte aus einem zeitgleichen historischen und anthropologischen Ablauf: Urbanisierung und Alphabetisierung zersetzen die kommunitäre bäuerliche Familie. Einmal aufgelöst, setzt diese ihre Werte der Autorität und Gleichheit allgemein im gesellschaftlichen Leben frei. Der Verpflichtungen gegenüber dem Vater entbunden, sucht sich das Individuum Ersatz für diese familiären Zwänge, die es in der Einheitspartei, der Eingebundenheit in die zentralisierte Wirtschaft und – im Fall Russlands – in der Kontrolle durch den KGB findet.

Ausgehend von dieser ganz simplen empirischen Feststellung und ihrer Erklärung habe ich das Ergebnis, das sich mit Blick auf den Kommunismus gezeigt hatte, auf die damals, zur Zeit des Bildungs- und Wirtschaftsaufschwungs, konkurrierenden Ideologien verallgemeinert und diese – Sozialdemokratie, Christdemokratie, Anarchismus, ethnozentristischer Nationalismus, angloamerikanischer Liberalismus in Reinform, französischer egalitärer Liberalismus – dann einer jeweils zugrundeliegenden Familienstruktur zugeordnet.

Der Bildungsfortschritt – das modernisierende Unterbewusstsein, ein Hauptfaktor beim Bruch mit dem althergebrachten anthropologischen System – zeigte sich dabei in denjenigen Regionen am deutlichsten, in denen autoritäre Familiensysteme dominierten, die zudem eher frauenfreundlich oder zumindest nicht frauenfeindlich waren: in Deutschland, Schweden, Japan, Korea und Finnland. Allerdings führte unabhängig vom vorherrschenden Familientyp ein Verbreitungsmechanismus überall zu einer Massenalphabetisierung, die sich zwischen der Reformation im 16. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts in ganz Europa vollzogen hat.

Dass ich auf rein empirischem Weg entdeckt hatte, dass das ideologische Leben durch das Unbewusste der Familienstrukturen beeinflusst wurde, stieß zu meiner großen Überraschung unter den Geistes- und Sozialwissenschaftlern, insbesondere in den Gesellschaften mit den größten individuellen und sozialen Freiheiten, auf Widerstand und sogar auf strikte Ablehnung. Die Reaktionen, die meine beiden Bücher auslösten, im französischen Original wie in den Übersetzungen, zeigten mir, dass die prägende Wirkung der Familienstruktur besonders erbittert in den individualistischen Gesellschaften geleugnet wurde, vor allem in Frankreich und der angelsächsischen Welt. In Japan, dem Land der Stammfamilie, wo in der Tradition der Samurai oder Bauern ein einziger Erbe vorgesehen gewesen war, schockierte die Hypothese deutlich weniger oder eigentlich überhaupt nicht. Und auf den zahlreichen Vorträgen, die ich in Frankreich hielt, zeigte sich der Südwesten des Landes für sie deutlich aufgeschlossener. Aber dieser Südwesten ist eben die französische Großregion der Stammfamilie, gewissermaßen ein kleines Japan, mit den besonders starken Polen Béarn und Baskenland.

Für die Ablehnung wie für die Akzeptanz gibt es eine einfache Erklärung. In einer autoritären und inegalitären Familienkultur ist der damit einhergehende kollektive Zwang eine Selbstverständlichkeit, die nicht erst «geoffenbart» werden muss. Dagegen widerspricht in einer liberalen Welt die Hypothese, wonach die Ideologie von der Familienstruktur bestimmt wird, der Vorstellung von einem Individuum, das ohne äußere Zwänge selbständig und frei entscheidet und handelt.

Das Grundparadox einer Theorie, welche die Ideologie aus der Familienstruktur erklärt, liegt darin, dass sie beinhaltet, dass die Identifikation mit dem Ideal der Freiheit ihrerseits determiniert ist. Dieses Ideal entfaltet sich in den Regionen der Kernfamilie, einer anthropologischen Form, die nie mehr als ein Ehepaar und seine Kinder umfasst. In der Kernfamilie herrschen, bis zum Aufkommen politischer Philosophien nach Art Lockes oder Rousseaus, zwischen den Generationen liberale Beziehungen. Als die Bauern in den betreffenden Regionen schreiben und lesen lernen, werden sie politisch aktiv und fühlen sich «von Natur aus» dem Ideal der Freiheit verpflichtet, für das sie freilich vorherbestimmt sind. Die politische und wirtschaftliche Freiheit äußert sich sehr wohl im sozialen Leben und in der Geschichte auf ganz reale und konkrete Weise: Sie wirkt sich höchst förderlich auf das geistige und wissenschaftliche Leben aus. Das ändert nichts daran, dass diese Freiheit eine Illusion ist. Ganz zu Ende gedacht, führt diese Überlegung zu der Behauptung, dass den Männern und Frauen eines Systems der Kernfamilie die Freiheit fehlt, gemeinschaftlich eine totalitäre Gesellschaft zu errichten. Ein Glück für sie, aber eine Tragödie für die Metaphysiker der menschlichen Freiheit.

Das Konzept des Unbewussten, aus dem heraus ein Familiensystem nachwirkt, ist also in vollem Umfang auf die liberalen Gesellschaften anwendbar. Für ein Land wie Japan, wo die ideologische Tradition die Wirkung der Familie mit einschließt, ist die Gültigkeit des Begriffs des Unbewussten eher strittig. Hier gilt er nur in dem Maße, wie das Land noch immer offiziell unter der Vormundschaft der liberalen Ideologie steht, die ihm von den USA aufgezwungen wurde.

Deutschland und mit ihm ein guter Teil Kontinentaleuropas stellen einen Sonderfall dar. Der Nationalsozialismus schöpfte in einer historischen Phase der religiösen und wirtschaftlichen Krise klar das autoritäre und inegalitäre Potenzial einer besonders rigiden Stammfamilie aus. Allerdings wurde Deutschland nach 1945 verpflichtet, sich wieder zu integrieren und nach angloamerikanischem Vorbild ein demokratisches und liberales Selbstverständnis zu übernehmen. Dies gelang dem Land deutlich besser als Japan, weil die unfassbaren Gräuel des NS-Terrors dazu führten, dass das Vergessen familiärer Werte zur Therapie wurde. Im Falle Deutschlands ist das falsche Bewusstsein maximal ausgeprägt, womit das Land in Europa freilich nicht allein dasteht. Italien, wo die kommunitäre Familie, die im Zentrum des Stiefels vorherrscht, zunächst den Faschismus und dann massive kommunistische Wahlerfolge hervorbrachte, befindet sich in ähnlicher Lage. Die liberal-demokratische Sprache der italienischen Führungsschicht spiegelt in keiner Weise das von den althergebrachten Familienstrukturen des Landes ererbte Potenzial wider. Und wie wir im vorletzten Kapitel dieses Buchs noch sehen, erklärt die Rückkehr des antiliberalen europäischen Verdrängten, das zwischen den Weltkriegen Mussolini, Salazar, Hitler, Franco und Pétain hervorbrachte, das merkwürdige und traurige, aber logische Schicksal der Eurozone.

Die Religion gehörte einst in den Bereich des Bewussten. Insbesondere in der jüdischen, christlichen und muslimischen Welt legte sie ausdrücklich den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens fest. Mit dem Schwund des Glaubens (der Säkularisierung) veränderte sie ihren Status insofern, als sie etappenweise in ein fast absolutes Unbewusstes absank. Religion existiert kaum noch für die Bürger, die sich als atheistisch, laizistisch und modern verstehen und besorgt sind, weil sie sich in den Bevölkerungsteilen mit Migrationshintergrund weiterhin hält. Allerdings verrät uns die soziologische Analyse, dass Religion unter den Bürgern der am stärksten säkularisierten Länder weiterhin indirekt, als ein Vakuum, fortwirkt, das wir berücksichtigen müssen, wenn wir die Ängste in den hochentwickelten Gesellschaften nachvollziehen wollen.

Seltsamerweise äußert sich dieses Vakuum nicht überall auf dieselbe Weise, sondern geprägt von deutlichen, unterschiedlichen Spuren gesellschaftlicher Überzeugungen und Lebensweisen, die aus den untergegangenen religiösen Systemen ererbt wurden. In zwei Büchern habe ich die spezifischen gesellschaftlichen Verhaltensweisen der französischen Provinzen thematisiert, in denen der Katholizismus erst in den letzten vierzig Jahren gestorben ist. Um das Phänomen seines Nachwirkens nach dem Tod zu beschreiben, habe ich den Begriff des Zombie-Katholizismus geprägt.[12] Ihren scheinbaren Tod haben neben dem Katholizismus allerdings auch andere Religionen überlebt. Um die anhaltend gute Bilanz in Sachen Bildung und Wirtschaft in Skandinavien oder die besondere Fremdenfeindlichkeit im Norden und Osten Deutschlands zu verstehen, bräuchte man dringend den Begriff des Zombie-Lutheranertums. Im Übrigen sind allenthalben auch umgekehrte Formen des Zombie-Phänomens festzustellen: Obwohl sich in Amerika der Protestantismus und das Judentum lebendig wähnen, sind sie wohl eher schon untergegangen. Gott hat sich in den USA in einen sympathischen Kumpel verwandelt, und die amerikanischen Juden glauben inzwischen ans Paradies![13]

Das familiäre und das religiöse System lassen sich in den seltensten Fällen fein säuberlich voneinander trennen. Fast immer bezieht Religion in irgendeiner Form Stellung zu Sexualität und Ehe, zum Status der Frau, zur Autorität der Eltern sowie zur Gleichheit oder Ungleichheit der Brüder. Das vorliegende Buch bietet Gelegenheit, das Zusammenwirken von undifferenzierter Kernfamilie und Judentum, von egalitärer Kernfamilie und frühem Christentum sowie von Stammfamilie und Protestantismus zu untersuchen. In allen Fällen vertrete ich den Gedanken eines Primats der Familie, die das Aufkommen bestimmter religiöser Formen begünstigen kann. Ich räume zugleich aber auch ein, dass eine in der Entstehung begriffene Religion durch eine autonome Rückkoppelung unleugbar die Fähigkeit besitzt, Merkmale des Familiensystems zu verstärken, das seine Entstehung ermöglicht hat. Mit Fug und Recht kann man hier wohl von einer Koevolution von Familie und Religion reden.

Die Entwicklungszeit des Bewussten, des Unterbewussten und des Unbewussten

Sich die Gesellschaften als Überlagerung bewusster, unterbewusster und unbewusster Schichten vorzustellen, führt zu einer neuen Darstellung von Geschichte, die zwangsläufig schematisch ausfällt, aber ein grundlegendes Paradox aufscheinen lässt und in eine geistige Revolution von kopernikanischer Tragweite mündet.

Das Modell einer Gesellschaft, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer stabilen Struktur ausgestattet sei, ist nur eine Vorstellung. Zeit läuft immer weiter. Jede Ebene der Struktur entwickelt sich fort, allerdings nicht immer im gleichen Tempo. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Entwicklung umso langsamer verläuft und die Formen umso beständiger sind, je tiefer man in die unbewussten Schichten des sozialen Lebens hinabsteigt.

Auf der bewussten Ebene der wirtschaftlichen Globalisierung setzten sich der Freihandel und der weltweite Finanzkapitalismus in nur gut einem halben Jahrhundert durch, wenn man den Beginn dieses wirtschaftlichen Öffnungsprozesses beim amerikanischen Sieg von 1945 ansetzt. In ihre hitzige Phase gelangte die Entwicklung im Westen um 1979/80 mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan und im Osten um 1989/90 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Globalisierung ist auch ein politischer Prozess, der insofern in höchstem Maße bewusst ist, als die Öffnung der Weltmärkte für Waren, Kapital und Arbeit allenthalben von den Vereinigten Staaten mit imperialer Macht vorangetrieben wurde. Diese bewussten Phänomene, darunter Vertragsabschlüsse, Kriege, Handelsbeziehungen und die Eröffnung von Steueroasen, erstreckten sich auf nur wenige Jahrzehnte – sechs, vier oder drei, je nachdem, ob man sich für den Prozess als Ganzes, seine Beschleunigung oder sein Außer-Kontrolle-Geraten interessiert.

Auf der unterbewussten Ebene vergeht die Zeit langsamer. Dass die Gesellschaften sich in Richtung einer universellen Alphabetisierung bewegten, begann in Deutschland im 16. Jahrhundert mit der Reformation, die nach einem direkten Zugang der Gläubigen zur Heiligen Schrift und zu Gott verlangte. Von diesem anfänglichen Pol aus war anschließend eine ringförmige Ausbreitung zu beobachten, die zunächst die zum Protestantismus bekehrten Länder – Skandinavien, den Kern der Niederlande, England und Schottland sowie die Kolonien in Amerika –, dann Frankreich und schließlich den Süden und Osten Europas erfasste. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kann die Massenalphabetisierung des europäischen Kontinents als abgeschlossen gelten. Ausgehend von Amerika, Japan und den großen englischen und französischen Kolonialstädten breitete sich der Prozess überallhin aus. Um 2030 werden schließlich die jungen Generationen weltweit, auch in Afrika, lesen und schreiben können. Bis zu seinem Abschluss wird der Prozess folglich fünf Jahrhunderte gedauert haben, also grob zehnmal so lange wie die wirtschaftliche Globalisierung.

Noch langsamer vollzieht sich auf der unbewussten Ebene die Veränderung der Familienstrukturen. Für Eurasien habe ich sie in meinem Buch über deren Ursprung rekonstruiert.[14] Die Familie hat sich allerdings in historischer Zeit, nicht in einer vorgeschichtlichen Vergangenheit herausgebildet. Um die Mechanismen ihrer Differenzierung und Verbreitung zu verstehen, muss man bei Sumer in Mesopotamien um 3000 v. Chr. und bei Nordchina um 1500 v. Chr. ansetzen. In diesen beiden Epochen wurde jeweils eine Form der Schrift erfunden, eine Neuerung, die per Konvention den Beginn der Geschichte im engeren Sinn markiert. Wenn wir Sumer als den Ort der Stunde Null in der Differenzierung der Familienstrukturen des Homo sapiens betrachten, so haben wir bis heute eine Entwicklung über fünftausend Jahre, also das Zehnfache des zeitlichen Maßstabs, in dem sich die Alphabetisierung, und das Hundertfache des Zeitraums, in dem sich die wirtschaftliche und politische Globalisierung vollzogen haben.

Gerundet kann man also sagen, dass sich die Wirtschaftsentwicklung als das Bewusste in einem Maßstab von fünfzig Jahren, der Bildungsfortschritt als das Unterbewusste in einem von fünfhundert Jahren und die Entwicklung der Familie als das Unbewusste in einem von fünftausend Jahren vollzogen haben.

Die Entwicklung der Religion erfolgte – nicht überraschend – wie die der Familie in Jahrtausendschritten, allerdings im Durchschnitt in nur halb so langer Zeit. Wenn wir die Entstehung der biblischen Texte im 8. vorchristlichen Jahrhundert als den Beginn ansetzen, erhalten wir für das Judentum 2,8 Jahrtausende, für das Christentum 2 Jahrtausende und für den Islam 1,4 Jahrtausende Entwicklung. Die Geschichte des Buddhismus beginnt im vorchristlichen 5. Jahrhundert, wenn man von der Geburt Siddhartha Gautamas als Ursprung ausgeht, zwei oder drei Jahrhunderte später, wenn man die ersten buddhistischen Schriften zum Ausgangspunkt nimmt; somit sind es 2,5 bis 2,1 Jahrtausende Entwicklung. Der Unterschied in den Entwicklungsgeschwindigkeiten zwischen Familie und Religion steht mit der Hypothese eines Primats der Familienstruktur im Einklang.

Wirtschaft, Bildung, Religion und Familie: Erweitert und strukturiert durch die Begriffe des Bewussten, Unterbewussten und Unbewussten, kann die Forschung eine realistische Darstellung der Krise der westlichen Welt im weiten Sinn, also einschließlich Japans und Südkoreas, liefern. So zeigt sich, dass die Atomisierung des Individuums auf wirtschaftlicher Ebene und die Unfähigkeit zum kollektiven Handeln auf politischer Ebene darin begründet sind, dass sich eine höhere Bildung ausgebreitet hat, die Religion untergegangen ist und die Familienstrukturen einen Wandel durchlaufen haben. Die unterschiedlichen Entwicklungen in der angloamerikanischen Welt, in Deutschland, Schweden oder Japan lassen sich ebenso wie der russische Widerstand gegen die Globalisierung auf die Verschiedenartigkeit der ursprünglichen Familienstrukturen zurückführen. Wir können Ordnung in eine vielfältige Moderne bringen, die durch eine Mischung aus wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheiten und einer neuen Gleichheit der Geschlechter, aus steigenden Bildungsniveaus und Zusammenbrüchen der demokratischen Praxis geprägt ist.

Diese erweiterte Analyse ermöglicht es vor allem, den Westen in seiner sich verändernden Stellung zur übrigen, aufholenden Welt richtig einzuordnen. In besonders intensiver Interaktion steht er mit China, heute Werkbank der Welt, und zum Nahen Osten, seinem Energielieferanten und dem Manöverplatz seiner Armeen. Die nordamerikanischen und europäischen Gesellschaften verlangen vom schwächer entwickelten Teil der Welt nicht nur billige Arbeitskräfte und Erdöl, sondern auch Anpassung an ihre Sitten und Gebräuche. Vom Westen aus rollt ein ideologischer Verkaufswagen, beladen mit einem Stapel an Werten und Agenden, die als universell gelten, über den gesamten Planeten: freie Meinungsäußerung, freier Warentausch, freier Verkehr von Arbeitskräften und Kapital, Emanzipation der Frauen, Wahlrecht und eine Neudefinition der Homosexualität als legitimes menschliches Verhalten. In einem losen Durcheinander türmen sich Artikel auf, die das Bewusste des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens erzeugt hat, und andere, die aus dem Unbewussten, der Ebene des Familiensystems, kommen. Und weil der Wandel, der sich in den westlichen Sitten und Gebräuchen vollzieht, die ganze Welt erfassen soll, reagieren unsere Eliten mit Ungeduld auf die laue Begeisterung, auf die ihr Vorbild in China, Indien, im Iran oder in der arabischen Welt stößt, insbesondere wenn es um die Emanzipation der Frauen und um Homosexualität geht. Unser im Grunde sympathisches Bedürfnis nach Universalität (darin stimme ich als gewöhnlicher Bürger des Westens mit unseren Werten voll überein) stützt sich leider auf eine falsche Sichtweise dazu, wie sich die Familienstrukturen und Sitten im historischen Verlauf entwickelt haben. Seit Jahrtausenden sind im Zentrum Eurasiens und an seiner Peripherie unterschiedliche Dynamiken am Werk. Und in jüngster Zeit ist bei diesen Unterschieden sogar eine Verschärfung spürbar.

Dass in der westlichen Welt die Männer von den Frauen in Sachen Bildung inzwischen überholt wurden, führt zu einer matriarchalischen Wende, auch wenn man nicht behaupten kann, dass diese schon ans Ziel gelangt wäre oder überhaupt Erfolg haben wird. Ein derartiges Phänomen wurde in der Geschichte bislang noch nie beobachtet und käme einer anthropologischen Revolution, einem Sprung ins Unbekannte gleich. Im Westen im engeren Sinn, also in der angloamerikanischen, skandinavischen und französischen Welt, fügt sich die matriarchalische Revolution allerdings in die Kontinuität einer Familienstruktur ein, die den Frauen ursprünglich einen gehobenen Status zubilligte. Mit der Kernfamilie stellt dort das einzelne Ehepaar das Grundelement der Gesellschaft dar. Dagegen beinhalten die traditionellen Familienstrukturen in China, Indien, im Iran und in der arabischen Welt eine starke patrilineare Komponente mit einem besonders niedrigen Status der Frau. Dieser Gegensatz zwischen Orient und Okzident ist einigermaßen bekannt. Das eigentliche Problem der liberalen Demokratien bei ihrer Auseinandersetzung mit den patrilinearen Welten liegt hier darin, dass sie auch und vor allem eine falsche Sichtweise auf den historischen Wandel der Familienstrukturen haben. Wir nehmen einen niedrigen Status der Frau als «Rückstand», als eine logische Entsprechung zum wirtschaftlichen Rückstand der nichtwestlichen Welt wahr. Dagegen offenbart die Geschichte der Familiensysteme, dass die östlichen patrilinearen Systeme aus einer langen Entwicklung hervorgegangen sind, die der Westen in wesentlichen Teilen nicht durchlaufen hat. In China wie in der arabischen Welt, im Iran oder in Indien führte eine langfristige, sich über Jahrtausende erstreckende Dynamik zu einer Herabsetzung der Frau. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die «westliche matriarchalische» Revolution im Osten nicht gegen rückständige Familienkulturen anrennt, sondern gegen Systeme, deren – patriarchalische – Entwicklung über Jahrtausende in eine entgegengesetzte Richtung verlaufen ist.

Die patrilineare Wende hatte auch Deutschland und Japan erfasst, ein Faktor, der verständlich macht, warum diese beiden wirtschaftlich besonders hoch entwickelten Länder mit demografischen Schwierigkeiten kämpfen. Zu unserer Überraschung werden wir feststellen, dass Russland als die nach Westen deutende Speerspitze der kommunitären Familie eine matrilineare Wende zu schaffen scheint – teilweise, aber von großer Tragweite –, die aus dem Land im 3. Jahrtausend ein Gesellschaftsmodell machen könnte, das nicht nur wegen seiner autoritären Demokratie, sondern auch wegen seiner weit gediehenen Frauenemanzipation besondere Originalität besitzt.

Es reicht also nicht, das soziale Leben in eine Hierarchie aus bewussten, unterbewussten und unbewussten Schichten zu gliedern. Es reicht auch nicht, festzustellen, dass sich das Tempo des Wandels verlangsamt, je tiefer man in diese Schichtung – von Politik und Wirtschaft über Bildung bis zum religiösen und familiären Leben – hinabsteigt. In einem letzten Schritt muss man akzeptieren, dass der Wandel in den tiefen Schichten anders verläuft als angenommen.

Angesichts der Entwicklung der Familienstrukturen ist man versucht, von einem auf dem gesamten Planeten herrschenden glänzend verdrängten Unbewussten zu reden. Nach dieser Einführung werde ich einige theoretische Konsequenzen unserer Fehleinschätzung zur Entwicklung der Familiensysteme anführen, um aufzuzeigen, dass ein Gutteil der Bemühungen, welche die Geisteswissenschaften in den letzten beiden Jahrhunderten unternahmen, um unsere Geschichte zu verstehen, als vergeblich gelten kann.

Die Familiensysteme werden komplexer und neigen zur Differenzierung

Dem Standardmodell der Geschichts- und Sozialwissenschaften zufolge soll die Entstehung der Kernfamilie und des «Individuums» beim Aufstieg der westlichen Welt die zentrale Rolle gespielt haben. Zu diesem Thema haben Tausende von Autoren Millionen von Seiten verfasst. Und die Befreiung des Individuums, der Urknall der Kreativität, soll in Europa seit dem Mittelalter stattgefunden haben, zu unterschiedlicher Zeit, je nachdem, welche Variante des liberalen Kanons zur Grundlage genommen wird. Wenn auch deutlich vereinfachend, was man mir verzeihen möge, stelle ich dazu hier ein Modell vor. Es wäre doch lachhaft, an einer obsoleten Beschreibung festzuhalten.

In einer lang anhaltenden Phase 1 bildet sich aus der erdrückenden Masse der Großfamilie der Vergangenheit die Kernfamilie heraus. Die einfache, aber stabile Verbindung eines Mannes und einer Frau – Adam und Eva der Moderne – ermöglicht eine erste Form des Individualismus. Dieses Ehepaar bringt Kinder hervor, die, rasch aufgezogen und in die Unabhängigkeit entlassen, als Erwachsene zu «Individuen» werden, die zwar unvollkommene, aber freie Akteure ihres wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens sind.

In einer kurzen zweiten Periode, zeitlich näher und aktueller, da in den 1960er-Jahren beginnend, entsteht schließlich «das Individuum in Reinform», das selbst von der Kernfamilie befreit ist. In dieser Phase 2 des Individualismus weicht das Ehebündnis zwischen Mann und Frau zeitweiligen Verbindungen zwischen Individuen, in denen weder die Dauer – von einer Nacht bis zu einem ganzen Leben – noch das Geschlecht der jeweiligen Partner als wesentlich gelten. Scheidung, Wiederverheiratung, Homosexualität und Geschlechtsumwandlung werden zu strukturellen Elementen des Familiensystems.

Vierzig Jahre Erforschung der Familiensysteme haben mich durch Zufall erkennen lassen, dass die Phase 1 dieses Standardmodells – von der komplexen Familie zum Ehepaar – faktisch irrig war. Die ursprüngliche Familie war eine Kernfamilie als eine anthropologische Form, die im eigentlichen Sinn niemals erfunden wurde, weil sie den Urzustand des Homo sapiens widerspiegelt. Dagegen sind die kommunitären Formen der Familie, in denen das Ehepaar in seine patrilinearen Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden ist und die im Großteil Eurasiens vorherrschen, Schöpfungen der Geschichte. Dass es sie gibt, ist ein Ergebnis von Erfahrungen und Entwicklungen, die sich über fünf Jahrtausende erstreckt haben, eines Prozesses, der in Mesopotamien mit der Geburt der Stadt und der Schrift begann. Ein entsprechender Prozess, der später, aber in gleicher Weise ablief, lässt sich in der chinesischen Geschichte feststellen. Ein Äquivalent ist auch für Afrika auszumachen, hier aber ohne eine Verbindung zur Schrift oder zur Stadt.

Überall führte die Entwicklung der Landwirtschaft offenbar dazu, dass sich Familienverbände durch verstärkte Beziehungen zwischen Männern festigten und Strukturen ausbildeten, ein Phänomen, das sich mit dem Neologismus Patrilinearisierung bezeichnen lässt. Embryonale Formen dieses Mechanismus sind auf dem mexikanischen Hochplateau im Aztekenreich oder in den Anden im Inkareich für den Beginn der spanischen Conquista auszumachen.

Seitdem der Homo sapiens auftauchte, hat sich die Familie vom Einfachen zum Komplexen und nicht in umgekehrter Richtung weiterentwickelt. Dass dabei die Stellung der Frau gesunken ist, erweist sich als ein wesentliches Element der Erstarrung von Familie. Von diesem Wandel blieb der westlichste Teil Europas im Wesentlichen verschont, auch wenn sich in Deutschland und im Südwesten Frankreichs – ebenso wie in Japan – als erste Etappe der Patrilinearisierung die Stammfamilie und in Mittelitalien als deren zweite Etappe die exogame kommunitäre Familie herausbildete. In Nordfrankreich und England waren von dieser Entwicklung nur der mittelalterliche Adel und zuweilen die obere Schicht der Bauernschaft betroffen.

Zu diesem Trend, bei dem der Familienverband dichter und komplexer wurde und sich die Stellung der Frau verschlechterte, gab es auch Ausnahmen. Für unterschiedliche Zeiten ist in der Geschichte vereinzelt ein umgekehrter Prozess der Vereinfachung feststellbar. Eine besondere Entwicklung ist in Nordwesteuropa zu beobachten: In England, Holland und Nordfrankreich trat die Kernfamilie dadurch verstärkt hervor, dass sich das bilaterale Verwandtschaftsnetz[15] auflöste, in das sie in ihrer ursprünglichen Form eingebunden gewesen war. Auszumachen sind sogar regionale Episoden einer Rückentwicklung von der Patrilinearität zur Bilateralität, also von der Komplexität zur Einfachheit. Dieser Umkehrmechanismus ging mit einer Erhöhung der Stellung der Frau einher. Die Fälle, die in diesem Zusammenhang am bedeutendsten sind, werde ich untersuchen, darunter den Mechanismus, der zu Beginn unserer Zeitrechnung in Rom, im hellenistischen Griechenland und in Judäa wirksam wurde. Wie ich in Kapitel 2 zeigen werde, fügt sich auch Afrika, das ich in meiner Untersuchung in Band 1 von L’Origine des systèmes familiaux außen vor gelassen habe, ins Modell ein. Es folgte dem vorherrschenden historischen Prozess, der zu einer Patrilinearisierung geführt und die Familie mit einer komplexeren Struktur ausgestattet hat.

Ein «Umkehrmodell» der Geschichte