Wer ist Charlie? - Emmanuel Todd - E-Book

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Emmanuel Todd

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Mittwoch, 7.Januar 2015: Zwei Maskierte dringen in das Büro des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ ein und schießen einen Großteil der Redaktionsmitglieder nieder – als Rache für Mohammed-Karikaturen. In den folgenden Tagen verkünden Millionen solidarisch „Ich bin Charlie“. Der französische Soziologe Emmanuel Todd gehörte nicht zu diesen Charlies. Sein provozierender Befund, der in Frankreich zu hitzigen Debatten geführt hat: Unter dem Deckmantel eines Kampfes für die Freiheit haben sich Demokraten und Antidemokraten untergehakt, um gegen den Islam zu demonstrieren. Nicht um die Freiheit generell ging es, sondern um die Freiheit, den Islam zu verhöhnen. Diese These bildet den Auftakt dafür, eine höchst aufschlussreiche Landkarte der aktuellen politischen Mentalitäten in Frankreich und Europa zu zeichnen. Fremdenhass, Antisemitismus, Islam-Verteufelung, Europa-Skepsis, autoritäre Politikvorstellungen, Putin-Verehrung, Israel-Kritik und Amerika-Feindschaft: Das sind die Zutaten, die je nach Region und religiöser Prägung ganz unterschiedliche, aber stets gefährliche Mischungen ergeben. Emmanuel Todd zeigt, welche wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Faktoren die Demokratie an den Rand des Abgrunds führen, und ruft dazu auf, zu den wahren Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückzufinden. „Todd wird seinem Ruf als Querdenker gerecht und analysiert das wahre Gesicht hinter der schönen nationalen Empörung.“ Marguerite Baux, LUI „BLASPHEMIE“ Schlagzeile in Libération zum Erscheinen des Buches „Hier findet man den Todd, den man seit vielen Jahren mit Vergnügen liest: den Wissenschaftler, der immer weiter nachfragt, den Spezialisten für lange Kontinuitäten …“ Patrice Trapier, Le Mond

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Emmanuel Todd

Wer ist Charlie?

Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens

Aus dem Französischen von Enrico Heinemann

C.H.Beck

Zum Buch

Mittwoch, 7. Januar 2015: Zwei Maskierte dringen in das Büro des Satiremagazins «Charlie Hebdo» ein und schießen einen Großteil der Redaktionsmitglieder nieder – als Rache für Mohammed-Karikaturen. In den folgenden Tagen verkünden Millionen solidarisch «Ich bin Charlie».

Der französische Soziologe Emmanuel Todd gehörte nicht zu diesen Charlies. Sein provozierender Befund, der in Frankreich zu hitzigen Debatten geführt hat: Unter dem Deckmantel eines Kampfes für die Freiheit haben sich Demokraten und Antidemokraten untergehakt, um gegen den Islam zu demonstrieren. Nicht um die Freiheit generell ging es, sondern um die Freiheit, den Islam zu verhöhnen.

Diese These bildet den Auftakt dafür, eine höchst aufschlussreiche Landkarte der aktuellen politischen Mentalitäten in Frankreich und Europa zu zeichnen. Fremdenhass, Antisemitismus, Islam-Verteufelung, Europa-Skepsis, autoritäre Politikvorstellungen, Putin-Verehrung, Israel-Kritik und Amerika-Feindschaft: Das sind die Zutaten, die je nach Region und religiöser Prägung ganz unterschiedliche, aber stets gefährliche Mischungen ergeben. Emmanuel Todd zeigt, welche wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Faktoren die Demokratie an den Rand des Abgrunds führen, und ruft dazu auf, zu den wahren Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückzufinden.

«Todd wird seinem Ruf als Querdenker gerecht und analysiert das wahre Gesicht hinter der schönen nationalen Empörung.» Marguerite Baux, LUI

«BLASPHEMIE» Schlagzeile in Libération zum Erscheinen des Buches

«Hier findet man den Todd, den man seit vielen Jahren mit Vergnügen liest: den Wissenschaftler, der immer weiter nachfragt, den Spezialisten für lange Kontinuitäten …» Patrice Trapier, Le Monde

Über den Autor

Emmanuel Todd, einer der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs, arbeitet seit 1984 am Institut national d’études démographiques. Weltbekannt wurde er, als er 1976 in «La chute finale» den Zusammenbruch der Sowjetunion voraussagte. Seine Bücher «Weltmacht USA. Ein Nachruf» (2002) und «Die unaufhaltsame Revolution» (mit Youssef Courbage, 2008) wurden in Deutschland unmittelbar nach Erscheinen zu Bestsellern.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

I. Eine religiöse Krise

Die tödliche Krise des Katholizismus

Religiöser Zusammenbruch und der Vormarsch der Xenophobie

Das katholische und das säkulare Frankreich: 1750–1960

Die beiden Frankreichs und die Gleichheit

Vom einzigen Gott zur einzigen Währung

François Hollande, die Linke und der Zombie-Katholizismus

2005: Die verpasste Chance zum Klassenkampf?

Der schwierige Atheismus

II. Charlie

Charlie: Führungskraft, Vorgesetzter und Zombie-Katholik

Der Neorepublikanismus

1992–2015: Vom Europäismus zum Neorepublikanismus

Die neorepublikanische Realität: Der Sozialstaat der Mittelschicht

Charlie ist beunruhigt

Laizismus gegen linke Positionen

Katholizismus, Islamophobie, Antisemitismus

III. Die unglückliche Gleichheit

Die Krise des säkularen und egalitären Frankreich

Anthropologie des Kapitalismus in der Krise

Das Europa der Ungleichheit

Frankreich, die Deutschen und die Araber

Deutschland und die Beschneidung

Das große europäistische Happening des 11. Januar 2015

Der russische Sonderfall

Das Mysterium Paris

Das Gedächtnis der Orte

Eine Krise in vier Schritten

IV. Die rechtsextremen Franzosen

Der langsame Marsch des Front National  ins Zentrum des Hexagons

Eine Perversion des Universalismus

Republikanischer Antisemitismus

Le Pen, Sarkozy und die Gleichheit

Die PS und die Ungleichheit: Das Konzept der objektiven Xenophobie

Mélenchon und die Ungleichheit

Die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen und die gewaltige Macht der Ideologien

V. Die französischen Muslime

Die Auflösung der maghrebinischen Kulturen

Jüdische und muslimische Mischehen

Die Ideologen und die Exogamie

Die erdrückende Benachteiligung der Jugend  und die Dschihad-Fabrik

Schottischer Fundamentalismus

Die Religionsphobie überwinden

Der Islam und die Gleichheit

Die Ungleichheit der Geschlechter

Der Antisemitismus in den Problemvierteln

Schluss

Die echte republikanische Vergangenheit

Die neorepublikanische Gegenwart

Zukunft 1: Die Konfrontation

Zukunft 2: Die Rückkehr der Republik: Das Einvernehmen mit dem Islam

Die absehbare Verschärfung

Die Geheimwaffe der republikanischen Erneuerung

Karten, Grafiken und Tabellen

Regionen und Départements in Frankreich

I.1a: Die religiöse Praxis 1960

I.1b: Der Eid auf die Verfassung 1791

I.1c: Die religiöse Praxis 2009

I.2: Gleichheit in den Familienstrukturen

I.3: Gleichheit im Gesamtergebnis

I.4: Referendum zum Maastricht-Vertrag 1992

I.5: Referendum zum EU-Verfassungsvertrag 2005

I.6: Stärke der Kommunistischen Partei Frankreichs 1973

II.1: Mobilisierung bei Demonstrationen

II.2: Anteil der Arbeiter an der Erwerbsbevölkerung

II.3: Die gehobene Mittelschicht

II.4: Der Zombie-Katholizismus in den Städten

Grafik 1: Mobilisierungsquote bei Demonstrationen

Grafik 2: Zahl der Häftlinge (jeweils am 1. Januar)

III.1: Schulische Probleme

III.2: Arbeitslosigkeit

IV.1: Der Front National und die Gleichheit 1993

Grafik 3: Stimmen für Le Pen im 1. Wahlgang 2012

Grafik 4: Stimmen für Sarkozy im 1. Wahlgang 2012

IV.2: Stimmen für Le Pen 2012

IV.3: Stimmen für Sarkozy 2012

Grafik 5: Stimmen für Hollande im 2. Wahlgang 2012

IV.4: Stimmen für Hollande im 2. Wahlgang 2012

IV.5: Stimmen für Mélenchon 2012

Grafik 6: Stimmen für Mélenchon im 1. Wahlgang 2012

V.1: Maghrebinischer Migrationshintergrund

V.2: Schwarzafrikanischer Migrationshintergrund

[Die Entwicklung im Abstimmungsverhalten der Muslime im 1. Wahlgang 2002, 2007 und 2012*]

Grafik 7: Lebenserwartung mit 60 Jahren

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Für meinen Vater

And all must love the human form,

In heathen, Turk, or Jew;

Where Mercy, Love, und Pity dwell

There God is dwelling too.

William Blake, The Divine Image, 1789

Ein Jeder muss das Menschliche lieben

Im Heiden, Türken oder Juden,

Denn wo Erbarmen, Liebe und Mitleid weilen,

da weilt auch Gott.

(Letzte Strophe des Gedichts)

Vorwort zur deutschen Ausgabe

In allen westlichen Gesellschaften schlummert ein Charlie, eine kollektive Gestalt, die bestimmte Werte verkörpert und zu der sich Millionen Franzosen im ganzen Land bei Großdemonstrationen am 11. Januar 2015 bekannten. In all diesen Gesellschaften gibt es einen dominanten Block, der sich aus Menschen höherer Bildung und Älteren, die von der Globalisierung profitieren, zusammensetzt, eine Mittelschicht, bereit, ihre Privilegien und insbesondere ihr gutes Gewissen gegen Ausgeschlossene, alteingesessene Arbeiter oder Kinder von Einwanderern zu verteidigen. In allen hat die Entwicklung der akademischen Bildung dazu geführt, dass sich die Homogenität der Gesellschaft auflöste, während der Freihandel dafür sorgte, dass die Schere zwischen den Einkommen immer weiter aufklaffte. In allen verwandelt sich die freiheitliche Demokratie schrittweise in ein oligarchisches System, in dem sich effektive Teilhabe als Staatsbürger auf höchstens die Hälfte der Bevölkerung beschränkt. In allen westlichen Gesellschaften breiten sich in der teilhabenden und privilegierten Bürgerschicht Verunsicherung, Besorgnis und Angst aus, weil die wirtschaftlichen Unsicherheiten wachsen und Leere in einer Kultur herrscht, in der Börsenkurse und ein Währungsidol an die Stelle religiöser Werte getreten sind. Charlie herrscht überall, aber ohne Orientierung, was seine Zukunft angeht. Während er sich bewusst auf positive universelle Werte beruft, sucht er unbewusst nach einem Sündenbock. Die Xenophobie, einst typisch für die unteren Schichten, ist überall in der oberen Hälfte des sozialen Gefüges auf dem Vormarsch, wo sie sich bald in einer Islamophobie, bald in einer Russophobie äußert. Folglich ist in allen westlichen Gesellschaften ein kollektiver Anfall von Hysterie nach französischer Art möglich, sobald eine terroristische Wahnsinnstat den «universellen» Charlie jäh in die Realität der ungerechten und Gewalt ausübenden Welt zurückholt, die er beherrscht und billigt.

Der Autor dieses Buchs ist über die Gesellschaft in seinem Land verzweifelt. Er geht erbarmungslos mit einem Frankreich ins Gericht, das sich törichterweise in der Illusion wiegt, es sei Erbe der Großen Revolution von 1789, der Werte von Freiheit und Gleichheit sowie der Vorstellung des universellen Menschen, gerade zu einer Zeit, da das konkrete inegalitäre und antiliberale Verhalten seiner vorherrschenden Schichten an die finstersten Zeiten der französischen Geschichte gemahnt: an die der Affäre Dreyfus oder des Vichy-Regimes. Dieses Buch zelebriert keine blauäugige Islamophilie, wenn es für ein Einvernehmen mit dem Islam plädiert, sondern macht vielmehr auch deutlich, dass sich in den französischen Problemvierteln unter der Jugend mit arabischen Wurzeln vielfach ein echter Antisemitismus ausbreitet. Tatsächlich zeigt es den perfiden Mechanismus auf, der vom sich auflösenden Katholizismus, dem «Zombie-Katholizismus», zur Islamophobie und in einem nächsten Schritt von einem sich auflösenden Islam zum Antisemitismus führt. Es weist auch darauf hin, dass der Antisemitismus, sollte die Entwicklung anhalten, an seine gesellschaftliche Quelle zurückkehren und wieder in die Mittelschicht einziehen wird – mit noch viel gefährlicheren Folgen. Und dies keineswegs nur in Frankreich. Um einem groben Missverständnis vorzubeugen: Der Autor sieht alle diagnostizierten Rückwärtsentwicklungen keineswegs als ein typisch französisches Phänomen an. Frankreich zeichnet weder eine besondere Niedertracht aus, noch trifft es mehr Schuld als andere. Es ist nur ein durchschnittlicher Fall. In anderen Ländern mag die Entwicklung in verschärfter oder abgemilderter Form in Erscheinung treten, abhängig davon, ob ihre anthropologische Basis egalitär oder inegalitär ausgerichtet ist oder ob diese Länder katholisch oder protestantisch geprägt sind.

Tatsächlich bilden die Anthropologie der Familienstrukturen und die Soziologie der Religionen hier den Grundstock für eine Analyse der Verhältnisse und ermöglichen es, sich über die Feststellung der Universalität der regressiven Phänomene hinaus auch mit deren unterschiedlicher Ausgestaltung in den einzelnen westlichen Ländern zu befassen. Eine Studie zu Frankreich ist nicht deshalb unverzichtbar, weil dieses Land einen Extremfall darstellte, sondern weil sich dessen anthropologische und religiöse Zweiteilung in den Verhaltensunterschieden niederschlägt, die zwischen seinen zentralen und seinen peripheren Regionen zu beobachten sind: Die ersten sind von egalitären Familienstrukturen und seit langem von einer laizistischen Gesinnung geprägt, während in den zweiten Inegalitarismus und Zombie-Katholizismus vorherrschen. Die Unterschiede innerhalb Frankreichs öffnen den Blick für eine differenzierte Betrachtung der westlichen Welt: Unterschiedliche Werte, die den Familienstrukturen zugrunde liegen, erklären typische Neigungen der angloamerikanischen, germanischen oder lateinischen Welt. Das Abdriften des französischen Systems weg von seinen Wurzeln ist nur Teil einer umfassenderen Bewegung, welche das westliche oder, genauer gesagt, das europäische System erfasst hat. Und abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Frankreich, wie wir sehen werden, auch nicht das Epizentrum der europäischen Islamophobie bildet. Dieses liegt vielmehr in der ursprünglich protestantischen und insbesondere lutherischen Welt, der unglücklichen Erbin der inegalitären Prädestinationslehre. Diese Feststellung entspringt nicht etwa einem Ressentiment von katholischer Seite, da der Autor dieses Buchs kaum eine katholische Prägung erfahren hat.

Mir war wichtig, dieser Darstellung die letzte Strophe eines Gedichtes von William Blake voranzustellen: nicht nur wegen seiner Worte zum Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Göttlichen, sondern auch, weil mir sein Werk stets Mut einflößte. Überdies war mir wichtig, dass diese Strophe in der französischen Originalausgabe auf Englisch erschien, um die Franzosen daran zu erinnern, dass sie nicht allein auf der Welt sind.

Einleitung

Aus dem zeitlichen Abstand heraus ist inzwischen deutlich geworden, dass Frankreich im Januar 2015 von einer Art Massenhysterie erfasst wurde. Das Massaker an Redakteuren des Satiremagazins Charlie Hebdo, an Polizisten und Kunden eines jüdischen Supermarkts löste eine in der Geschichte des Landes einzigartige Reaktion aus. In der Hitze des Augenblicks über diese zu reden wäre unmöglich gewesen. Einhellig geißelten die Medien den Terrorismus, feierten den bewundernswerten Charakter des französischen Volkes und hoben die Freiheit und die Republik in den Himmel. Charlie Hebdo und seine Mohammed-Karikaturen wurden geheiligt. Die Regierung kündigte staatliche Zuschüsse an, um dem Wochenmagazin nach den Todesschüssen zur Wiederauferstehung zu verhelfen. Die von der Regierung zusammengerufenen Massen, die mit Bleistiften aus Papier als den Symbolen der Pressefreiheit durch ganz Frankreich zogen, jubelten Bereitschaftspolizisten und auf Dächern postierten Scharfschützen zu. Schwarz auf Weiß hatte das Logo «Je suis Charlie» – Ich bin Charlie – die Bildschirme, die Straßen und die Speisekarten in den Restaurants erobert. Mit einem großen C auf der Hand kamen Jugendliche aus dem Collège nach Hause. Sieben- oder Achtjährige, die ihre Grundschule verließen, mussten Rede und Antwort stehen, was sie von den schrecklichen Ereignissen hielten und wie wichtig es sei, frei Karikaturen zeichnen zu dürfen. Per Dekret verfügte die Regierung Sanktionen. Die Weigerung eines Gymnasiasten, die verordnete Schweigeminute einzuhalten, galt als stillschweigende Billigung des Terrors und als mangelnde Bereitschaft, sich der nationalen Gemeinschaft anzuschließen. Und wie Ende Januar bekannt werden sollte, setzten manche auf merkwürdige Maßregelungen: Acht- oder Neunjährige mussten sich bei der Polizei einem Verhör unterziehen. Ein Aufblitzen des Totalitarismus.

Ununterbrochen hämmerten TV und Presse den Franzosen ein, dass sie einen «historischen» Augenblick der Einhelligkeit erlebten: «Wir sind ein Volk, Frankreich ist im Unglück vereint, wiederauferstanden durch und für die Freiheit.» Und natürlich äußerte sich allenthalben eine obsessive Angst vor dem Islam. Politische Journalisten begnügten sich nicht mit der Versicherung der Imame und französischen Muslime, dass Gewalt inakzeptabel sei und es sich bei den Terroristen um gewissenlose Täter handele, die ihre Religion verrieten. Wie alle hatten sie die rituelle Formel «Ich bin Charlie» zu sprechen, die inzwischen zum Synonym für «Ich bin Franzose» geworden war. Zum Zeichen ihrer vollständigen Integration in die nationale Gemeinschaft mussten sie sich dazu bekennen, dass Blasphemie in Form von Mohammed-Karikaturen zur nationalen Identität gehörte. Sie war sogar Pflicht. Auf den TV-Bildschirmen erklärten Journalisten in pädagogischer Manier gelehrt den Unterschied zwischen dem (schlechten) Akt, der zum Rassenhass anstachelt, und der (guten) Verspottung der Religion. Es schmerzte, Jamel Debbouze, einer herausgehobenen Figur der französischen Kultur, zuzuhören, der sich auf TF1 dieser Weisung unterwarf. Er sei gekommen, um sich zum Islam zu bekennen, zu seiner Treue zur Jugend in den Vorstädten, seiner Liebe zu Frankreich, zu seiner nichtmuslimischen Frau und zu seinen Kindern aus gemischter Ehe, die die Zukunft Frankreichs darstellten. Freundlich und gequält versuchte er seinem Inquisitor zu erläutern, dass Blasphemie für einen Muslim schwierig sei, weil sie nicht zu seiner Tradition gehöre. Der Franzose jedoch darf nicht nur blasphemisch werden, er muss es sogar. Voltaire dixit. Ich fühlte mich unwillkürlich an die Verhöre erinnert, in denen die Inquisitoren nachhakten, ob bekehrte Juden wie echte Christen auch wirklich Schweinefleisch äßen.

Der Neustart von Charlie Hebdo mit staatlicher Unterstützung stellte den Höhepunkt der nationalen Reaktion auf die Tragödie dar. Wieder war auf dem Titelblatt Mohammed zu bewundern, diesmal mit penislanger Nase und einem zweigeteilten Turban, der an Hoden erinnerte. Diese elegante Zeichnung prangte auf einem Hintergrund aus Grün, der Farbe des Islam, aber einem stumpfen, matten Grün, so ganz anders als die prachtvollen und erhabenen Grüntöne, die muslimische Sakralbauten zieren.[1]

Jeder Historiker der Langzeitperspektive, der mit – bilderfreundlichen oder ikonoklastischen – religiösen Krisen ver-traut ist, muss zwangsläufig erkennen, dass eine historische Wende vorliegt, wenn der französische Staat der bildhaften Darstellung Mohammeds in Form eines Penis Kultstatus verleiht. Tatsächlich durchlebt Frankreich eine religiöse Krise in der Tradition all jener, die in seiner Geschichte und der Europas nach dem Untergang des Römerreichs aufeinander gefolgt waren. In diesem Punkt können wir uns durchaus den Medien anschließen, die die Demonstration vom 11. Januar als «historisch» bezeichneten: Diesen Begriff bemühten sie eindringlich, repetitiv, obsessiv und beschwörend – also auf religiöse Weise.

Damals lehnte ich jedes Gespräch und jede Debatte über die Krise ab.

Nicht hinterm Berg hielt ich mit meiner Meinung allerdings 2005, als in den Problemvierteln die große Revolte tobte. Damals machte ich deutlich, dass diese Jugendlichen, die allenthalben Autos in Brand setzten, absolut französische Wesensart verkörperten. Ihre offiziell strafbaren Aktionen waren für mich nur das Einfordern jener Gleichheit, die einen der beiden französischen Grundwerte darstellt. Auch hob ich das vorbildliche Verhalten der Polizei hervor, die sich mit dem Einsatz von Schusswaffen gegen die Kinder der Vorstädte ebenso zurückhielt wie einst im Mai 1968, als sich der Zorn der bürgerlichen Jugend entladen hatte. 2005 war Frankreich tolerant und frei, auch wenn die Krawalle natürlich und gerechtfertigterweise feindliche Reaktionen auslösten. Reden nützte. Weder die Regierung noch die Journalisten oder die Masse der Gesellschaft ließen sich zu Panikreaktionen hinreißen. Ein Hang zur Hysterie war nicht zu erkennen. 2005 waren wir als ein Volk noch zu bewundern. Emotionen blieben Privatsache. Die Älteren behielten ihre Ängste für sich, ohne dass dadurch die freie Meinungsäußerung unmittelbar bedroht wurde, was 2007 zur Wahl von Nicolas Sarkozy zum Präsidenten führte. Das Durchschnittsalter seiner Wähler lag höher als dasjenige von allen anderen rechten Präsidenten vor ihm.

Dagegen hätte im Januar 2015 eine kritische Analyse der Vorgänge kein Gehör gefunden. Wie hätte man sagen können, dass die nun wirklich nicht «bewundernswerte» Mobilisierung der Massen einen Mangel an Besonnenheit und Würde im Umgang mit der Tragödie offenbarte? Dass man Charlie Hebdo nicht in den Himmel heben musste, um deutlich zu machen, dass man den Terroranschlag verurteilte? Dass das Recht, die eigene Religion zu verhöhnen, nicht mit demjenigen auf Verhöhnung der Religion anderer zu verwechseln sei, vor allem nicht im schwierigen sozioökonomischen Umfeld der gegenwärtigen französischen Gesellschaft: Eine wiederholte systematische Blasphemie, die sich gegen Mohammed, die zentrale Figur der Religion einer schwachen und diskriminierten Gruppe, richtet, müsste unabhängig von dem, was die Gerichte meinen, als das bewertet werden, was sie ist: als Aufstachelung zum religiösen, ethnischen oder rassistischen Hass.

Wie gegen den Marsch der tugendhaften Ignoranz angehen, zu sagen wagen, dass die Demonstranten mit ihren Stiften aus Papier als Freiheitssymbole insofern die Geschichte beleidigten, als in antisemitischer und nationalsozialistischer Zeit Karikaturen von Juden mit dunkler Haut und Hakennase die Vorboten der physischen Gewalt waren? Wie ganz ruhig, und mit der gebotenen Zeit für eine Beweisführung, erklären, dass die französische Gesellschaft im Jahr 2015 keine Reflexion über den Islam, sondern eine Analyse über ihren globalen Stillstand benötigte? Wie deutlich machen, dass die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly durchaus Franzosen waren, Produkte der französischen Gesellschaft, und dass der Rückgriff auf die Symbole des Islam denjenigen, der sie benutzt, noch nicht zum echten Muslim machte? Dass die Attentäter nur die seitenverkehrte und in gewissem Sinn pathologische Widerspiegelung der moralischen Dürftigkeit unserer gewählten Führer waren, die sich eher um maximale Ruhestandsgehälter kümmern als darum, die Jungen vor exzessiver Ausbeutung durch Niedriglöhne zu schützen oder sie aus der marginalisierenden Arbeitslosigkeit zu holen?

Wie in der Hitze des Augenblicks darauf hinweisen, dass sich François Hollande mit seiner verordneten Großdemonstration in die Gefahr begab, die Brüder Kouachi zu glorifizieren und einer Tat, die eher psychiatrisch zu deuten gewesen wäre, einen ideologischen Sinn zu geben? Tatsächlich kommen Wahnsinn und Realitätsverlust nicht ohne gewöhnliche Sozialsymbolik aus: Der Schizophrene hält sich für Napoleon oder Jesus, während sich der Paranoide von der Sonne durchbohrt oder vom Staat verfolgt fühlt. Keine Beachtung schenken und der Sache keinen Sinn geben, wäre möglich gewesen. Diese Option schloss keineswegs eine soziologische Analyse der islamistischen Psychose in Frankreich aus. Aber sie wurde zurückgewiesen. Stattdessen erteilte uns die Staatsmacht das Recht, das Böse zu erhöhen, was dazu führte, dass sich die religiösen Spannungen in unserer Gesellschaft und unseren Beziehungen zur Welt verschärften. Diesen Weg war 2001 auch George W. Bush gegangen, allerdings auf der Grundlage deutlich schwerwiegenderer Fakten. Entsprachen die 17 Toten des 7. Januar wirklich den 2977 Opfern des World Trade Center? Mehr noch als das wegen seiner emotionalen Exzesse so oft verspottete Amerika übte sich Frankreich in einer Überreaktion. Wo blieb am 11. Januar 2015 der rational denkende und spöttische französische Geist?

Wie Frankreich dazu bringen, dass es in seiner Masse, in seiner Mittelschicht, und nicht an den Rändern, eine Krise durchlebt, die nicht allein wirtschaftlicher, sondern auch religiöser oder quasireligiöser Art ist, weil das Land seinen Kompass verloren hat? Das Problem der französischen Gesellschaft ist nicht auf die Vorstädte beschränkt, die den islamistischen Terror ausbrüten, es ist deutlich umfassender. Die Fokussierung auf den Islam offenbart in Wahrheit ein pathologisches Bedürfnis in den mittleren und oberen Schichten nach einem Objekt des Abscheus. Dahinter steckt nicht die schlichte Angst vor einer wachsenden Bedrohung aus dem sozialen Untergrund, auch wenn die Frage, warum so viele junge Männer nach Syrien oder in den Irak in den Dschihad ziehen, ebenfalls einer soziologischen Analyse bedürfte. Die Xenophobie, die sich gestern noch auf die unteren Gesellschaftsschichten beschränkte, hat sich in den oberen Rängen der Sozialstruktur ausgebreitet. Die Mittel- und die Oberschicht suchen nach ihrem Sündenbock.

An den Kommentaren ebenso beunruhigend war, wie sehr die antisemitische Dimension dieser Anschläge unterschätzt wurde, denen die Massaker in Brüssel im Mai 2014 und in Toulouse im März 2012 vorangegangen waren. Beim eigentlichen Problem Frankreichs geht es nicht um Karikaturen, sondern um den Vormarsch des Antisemitismus in den Problemvierteln der Städte. Der Rassismus breitet sich zeitgleich in den oberen und den unteren Etagen der sozialen Hierarchie aus.

Zu viel Komplexes, Widersprüchliches und sich dem intuitiven Verständnis Entziehendes hätte erklärt werden müssen. Dies war in dem Augenblick, in dem sich Nation und Republik selbst feierten, schlichtweg unmöglich. Die Staatsgewalt verteilte in dieser Zeit möglichst gleichmäßig Polizeiwagen und bewaffnetes Militär an Orten, an denen das Risiko für Angriffe praktisch bei null lag. Tatsächlich schlägt der neue Terrorismus nicht blindlings zu, sondern wählt gezielt seine Opfer: islamophobe Religionslästerer, Polizisten und praktizierende Juden. Drei an der richtigen Stelle postierte Ordnungskräfte hätten das Massaker an den Redakteuren von Charlie Hebdo, einer längst ausgemachten Zielscheibe, durchaus verhindern können. Gleichwohl konnte sich der an seiner Aufgabe gescheiterte Innenminister aufplustern, ohne Kritik zu ernten. Kurz, das Verhalten der Staatsgewalt hatte im Januar 2015 etwas Lächerliches an sich, dessen Entlarvung aber angesichts der einhelligen Verurteilung des Terrors geradezu als dessen Verteidigung erschienen wäre.

Ich erinnere mich, dass ich die Nachricht von einem neuerlichen Streik der Lastwagenfahrer als ein erstes Signal für die Rückkehr zur Normalität aufnahm, als Beleg dafür, dass das Frankreich, um das uns die Welt beneidet, überlebt hatte: das individualistische und egalitäre, das keinen Weisungen von oben gehorcht.

Ich bedaure nicht, dass ich mich erst jetzt zu Wort melde. Was ein Forscher in eine öffentliche Debatte Nützliches einbringen kann, ist weder eine reinere Moral noch eine bessere Ideologie, aber eine objektive Deutung von Fakten, die den Akteuren entgangen sind, weil sie von Emotionen überwältigt oder durch nebulöse oder ganz unbewusste Vorlieben befangen waren. Ob die Parole «Ich bin Charlie», die in diesen Wochen umging, nun den Willen der Masse kundtat oder einer rein medialen Logik entsprang, in der Mitte unserer postindustriellen Gesellschaft brachte sie jedenfalls auf symptomatische Weise ein falsches Bewusstsein zum Vorschein.

Die Demonstration vom 11. Januar wurde als das Wiedererwachen eines geeinten und willensstarken Frankreich gedeutet: Die Republik bekräftigte ihre Werte und bemühte dabei sämtliche Bilder der Marianne, der Symbolgestalt Frankreichs, nämlich Stärke, Größe, Wiedergeburt: unmöglich, sich dem Drang zum Kollektiven, zur nationalen Aufwallung, zu entziehen, die sich hier offiziell in Abgrenzung zur religiösen Intoleranz definierte. Natürlich hatten die Massen des 11. Januar ein sympathisches Erscheinungsbild. Sie marschierten inmitten von Flaggen aller Nationen für die Achtung der Freiheiten, bekräftigten laut und deutlich den Unterschied zwischen dem zurückzuweisenden radikalen und dem gewöhnlichen Islam, der wie der Katholizismus akzeptiert wird, solange er das französische Prinzip des Laizismus respektiert. Bei den Demonstrationen unter den Tisch fiel freilich das Thema «Gleichheit». Dass der Front National ausgeschlossen blieb, verlieh den Demonstrationen das «GNX»-Siegel: «Garantiert nicht xenophob». Sie verliefen friedlich und wohlwollend. Im Übrigen waren genaue Begründungen, warum sie in dieser Menge mitmarschierten, von den Teilnehmern schwer zu erfahren. Vorherrschend war offenbar das Bedürfnis, nach den Schreckenstaten «zusammenzustehen» und grundlegende «Werte» zu bekräftigen.

Folglich wäre die Annahme verkehrt, in der Menge des 11. Januar eine ebenso große Homogenität zu vermuten wie in den sich einhellig äußernden Medien. Erbitterte Verfechter des laizistischen Prinzips, Pfaffenhasser, Rabbiner und Imame marschierten in Einklang mit der größeren Gruppe derer, die ihre Teilnahme damit begründeten, dass sie allgemein für Meinungsfreiheit einträten und ein Ideal der Toleranz verteidigten. Nach zahlreichen Diskussionen gelangte ich zu der Überzeugung, dass sich bestimmt Zigtausende, wenn nicht sogar Hunderttausende Teilnehmer am nächsten Tag oder in den Tagen nach dem «republikanischen Marsch» fragten, wofür sie eigentlich demonstriert hatten und eingetreten waren. Viele hatten «Ich bin Charlie» als Vereinnahmung, als eine vorübergehende Entpersönlichung erlebt, die in ein ideologisches Labyrinth führte, und das Ereignis anschließend unter der Rubrik very bad trip im Gedächtnis abgespeichert.

Aber hier beschreiben wir die bewusste, explizite Ebene. Im nächsten Schritt müssen wir uns die Frage stellen, wie sich diese Massen im Zustand der spirituellen Kommunion soziologisch zusammensetzten.

Während ein Teil Frankreichs an diesem 11. Januar fehlte, schien der andere, der mitwirkte und darauf bedacht war, sich als dessen Gesamtheit auszugeben, sich seiner Werte gar nicht so sicher und auch gar nicht so großmütig zu sein. Die unteren Schichten waren so wenig Charlie wie die Jugendlichen aus den Vorstädten, ob Muslime oder nicht, oder wie die Arbeiter aus der Provinz. Überproportional mobilisiert war dagegen die gehobene Mittelschicht, die an diesem Tag ihre Fähigkeit zeigte, die Schicht direkt unter ihr einmal mehr dadurch mitzuziehen, dass sie ihre Emotion zum Ausdruck brachte. Dabei ist die heutige französische Mittelschicht, anstatt die «positiven Werte der Nation» hochzuhalten, grundlegend egoistisch, autistisch und repressiv eingestellt. Sogar das Prinzip der Gleichheit hat sie aufgegeben. Und wie wir sehen werden, steht sie der alten französischen katholischen Vergangenheit häufig näher als der laizistischen Tradition. Kurz, sie mag das Frankreich von heute vertreten, steht aber gewiss nicht in der revolutionären Tradition.

Dazu fallen einem das marxistische Konzept des falschen Bewusstseins und der Freud’sche Begriff des Unbewussten ein. Vor allem aber ist hier an Émile Durkheims Definition der Soziologie zu erinnern: Letztere, so Durkheim, wird erst dann zur Wissenschaft, wenn sie einräumt, dass die Menschen zuweilen von außenstehenden sozialen Kräften angetrieben werden. Die bewusste Deutung, die sie ihren Handlungen geben, ist nicht immer die richtige. So weist er zu Beginn von Der Selbstmord, dem Gründungswerk der modernen Soziologie, Erklärungen, die manche Selbstmörder hinterlassen, oder die von den aufnehmenden Beamten registrierten Motive für eine derartige Tat zurück. Stattdessen sucht Durkheim in der objektiven statistischen Verteilung selbstmörderischer Handlungen – in Bezug auf die Zeit, den Raum, die familiäre Situation und die Religion – nach der Bedeutung oder besser: den Bedeutungen des Phänomens. Eben diesen Ansatz benötigen wir, um das Phänomen «Ich bin Charlie» zu verstehen. Auf die Art kommen wir ohne die Auskünfte der Demonstranten aus, die ihre Motive häufig selbst nicht darlegen konnten, und auch ohne die Kommentare der politischen Journalisten, die sich im Nachahmungstaumel einer übersättigten Berichterstattung dazu hinreißen ließen, «den Sinn der Dinge» erklären zu wollen.

Zu weit sollten wir bei der Freisprechung durch das Unbewusste freilich nicht gehen. Feigheit und Zynismus waren auch mit dabei. Die politische Klasse versuchte die Demonstration bewusst zu instrumentalisieren, um ihre schwachen Popularitätswerte aufzubessern. Zahlreiche Journalisten, denen die Lage klar war, verzichteten auf eine kritische Berichterstattung, die ihre Pflicht gewesen wäre. Und die Massen, die zwar vielfältig zusammengesetzt, unsicher und sympathisch waren, können nicht a priori nur deshalb freigesprochen werden, weil ihnen ein Bewusstsein fehlte. Wenn Unwissenheit nicht vor Strafe schützt, kann sich auch niemand darauf berufen, dass er nicht wusste, wofür er auf die Straße ging. Frankreich belügt sich selbst. Während es sich oft groß wähnt, wenn es klein ist, macht es sich zuweilen auch wider besseres Wissen groß. Dieses Buch ist auch ein Essay über die Lüge. Ist Charlie ein Betrüger?

Aus welchen sozialen Schichten setzten sich die Demonstranten zusammen? Woher kamen sie? Wenn wir diese beiden einfachen Fragen beantworten, stoßen wir auf das Frankreich, das am 11. Januar auf die Straße ging, und erkennen darin einen altbekannten Feind, der dabei ist, sich zu radikalisieren, und auf seine Art fundamentalistisch ist.

Es ist also an der Zeit, diesen Januar 2015 ernsthaft unter die Lupe zu nehmen, wobei aber nicht das Massaker vom 7. Januar, sondern die emotionale Reaktion der französischen Gesellschaft im Mittelpunkt stehen muss. Zur zentralen Demonstration am Sonntag, dem 11. Januar, wurden hastig vorgenommene, wahrscheinlich übertriebene Hochrechnungen der Teilnehmerzahlen vorgelegt, die sich zwar nicht immer deckten, statistisch jedoch trotzdem verwertbar sind. Die ermittelten 3 bis 4 Millionen Demonstranten repräsentierten 4,5 bis 6 Prozent der Bevölkerung. Da auch Kinder mitmarschierten, kann man die Teilnehmerzahlen nicht ins Verhältnis zur Erwachsenenbevölkerung setzen. Dagegen ist es legitim, sie nur auf die städtische Bevölkerung der 85 größten Ballungsräume zu beziehen, für die sich dann ein außerordentlich hoher Mobilisierungsgrad zwischen 7 und 10 Prozent ergibt. Die Demonstration (kollektiv begriffen, in Paris und den verschiedenen Provinzen) bildet damit gewissermaßen spontan ein soziologisches Objekt. Ihre kartografische Darstellung verrät uns, was es mit ihr auf sich hatte.

In den Jahren 1981, 1988 und 2011 hatte ich jeweils eine kartografische Analyse der französischen Gesellschaft vorgenommen. Als ich mir nun die Karte anschaute, welche die Libération am 12. Januar veröffentlichte, wurde mir intuitiv klar, dass die Emotionen auf dem französischen Territorium nach den Anschlägen ganz ungleich verteilt waren. Anhand einer geeigneten statistischen Auswertung ließen sich Aussagen darüber treffen, welche sozialen und religiösen oder kryptoreligiösen Kräfte so viele Menschen auf die Straßen getrieben hatten. Ist es nicht schlicht verblüffend, dass die hastig vorgenommenen Schätzungen zu den Teilnehmerzahlen, die gleich am Tag nach der Demonstration veröffentlicht wurden, zu Statistiken führten, denen aus Sicht der Demoskopie so hohe Aussagekraft zukam? Wie dem auch sei: Die von den Medien beschworene Einhelligkeit in den Reaktionen war jedenfalls eine Fiktion. Daraus müssen wir allerdings nicht den enttäuschenden Schluss ziehen, dass alles nur eine Illusion war und nichts übrigbleibt. Im Gegenteil: Wenn wir verstehen, wieso ein Teil der Gesellschaft der Gesamtheit der Bevölkerung ein falsches Bild von der Realität vorspiegeln konnte, legen wir die Realität unseres Gesellschaftssystems offen. So gesehen bietet uns die Demonstration vom 11. Januar, ein Augenblick kollektiver Hysterie, einen herausragenden Einblick in die Mechanismen der ideologischen und politischen Macht in der gegenwärtigen französischen Gesellschaft.

Ziemliche Überraschungen erwarten uns da. Wir werden feststellen, dass die aktuelle Diskussion um den Laizismus nicht in der Kontinuität der laizistischen Werte steht und die Kräfte, die sich heute auf die Republik berufen, die Werte der Republik gerade nicht vertreten, kurz, dass Marianne, die Symbolgestalt der Franzosen, nicht mehr die liebenswerte Frau ist, die wir kannten. Wir werden die tiefgreifende Zerrüttung des politischen Systems im Kern erfassen, nachvollziehen, warum die Sozialistische Partei (PS) inzwischen im rechten Spektrum verankert und die Rechte in Frankreich ins Schwimmen geraten ist und selbst nicht mehr so genau weiß, was sie eigentlich ausmacht. Wir werden versuchen, die starken, einflussreichen und durchaus verachtenswerten Kräfte auszumachen, die Frankreich unter ein Joch politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen gezwängt haben, die einen Teil seiner Bevölkerung zugrunde richten. Und wir werden einräumen müssen, dass Frankreich nicht mehr es selbst ist, uns aber auch fragen, ob es eine Chance hat, eines fernen Tages mithilfe – warum auch nicht – des Islam und der Wähler des Front National wieder es selbst zu werden.

Aber ehe wir uns mit möglichen Heilmitteln beschäftigen, müssen wir die Krankheit diagnostizieren, die den Fieberschub ausgelöst hat. Wir müssen wissen, welche Art Gesellschaft es vermochte, 3 bis 4 Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen, um Solidarität mit einer Zeitschrift zu zeigen, die mit einer Mohammed-Karikatur identifiziert wird und sich auf die Stigmatisierung einer Minderheitsreligion spezialisiert hat: auf den Islam und seine Darstellung als Frankreichs Problem Nummer 1.