Traust du dir das zu? Mein Leben in der Altenpflege. Eine ungewöhnliche Biographie. Mit Infokästen zu Ausbildung, Pflegeversicherung, Hintergründen. - Doris Röhlich-Spitzer - E-Book

Traust du dir das zu? Mein Leben in der Altenpflege. Eine ungewöhnliche Biographie. Mit Infokästen zu Ausbildung, Pflegeversicherung, Hintergründen. E-Book

Doris Röhlich-Spitzer

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Beschreibung

Mit vier Jahren zog sie in ihr erstes Altenheim: Die Lebensgeschichte der Kölnerin Doris Röhlich-Spitzer ist so sehr mit der Altenpflege verbunden wie kaum eine andere. Sie kennt die "Sterbe- und Siecheneinrichtungen", die gehobene Seniorenresidenz mit Fünf-Sterne-Hotelcharakter und alles dazwischen. Lebhaft erzählt sie vom Aufwachsen zwischen Ordensschwestern und Pflegebedürftigen und vom Hereinwachsen in den anspruchsvollen Beruf der Altenpflege. Vor allem aber erzählt sie von Herausforderungen: Doris Röhlich-Spitzer musste mit den Schicksalen der Pflegebedürftigen umgehen lernen sowie in festgefahrenen Hierarchien um die Interessen ihrer SeniorInnen und MitarbeiterInnen kämpfen. Sie berichtet vom Segen moderner Inkontinenz-Produkte und vom Schrecken der Heiminspektionen. Mit ihren MitarbeiterInnen hat sie sich tapfer durch Hochwasser, Feuer und den ersten Corona-Lockdown gekämpft. Nicht zuletzt schildert sie auch ihre persönliche Emanzipation – sie befreite sich von den Erwartungen des Elternhauses und von überholten Rollenklischees. Sie nimmt die LeserInnen mit in ihr Leben als Powerfrau auf der beruflichen Überholspur, in die plötzlicher Arbeitslosigkeit und den Neuanfang als Beraterin und Interimsmanagerin. Ihre Geschichte gewährt umfassende Einblicke in die Pflegelandschaft, die sie kritisch, aber konstruktiv kommentiert. Sie fordert Bedingungen, die eine menschliche, ganzheitliche Pflege ermöglichen. Sie möchte AltenpflegerInnen Mut machen, trotz schwieriger Umstände empathisch zu bleiben und die Aufgaben täglich neu anzunehmen. Sie wirbt mit viel Herzenswärme für ihren Beruf und möchte Neu- und QuereinsteigerInnen dafür begeistern. Angehörige und Interessierte erhalten einen Blick hinter die Kulissen einer Pflegeeinrichtung. Die Biographie wird ergänzt durch zahlreiche Fotos und aktuelle Hintergrundinfos zu Ausbildung, Pflegeversicherung, Pflegegraden, Gesetzen und Rahmenbedingungen der Pflege.

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Doris Röhlich-Spitzer

mit Stefan Lieder

Traust du dir das zu?

Mein Leben in der Altenpflege

Impressum

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk inklusive aller Inhalte wurde unter größter Sorgfalt erarbeitet. Der Verlag und die AutorInnen übernehmen jedoch keine Gewähr und Haftung für die Aktualität, Korrektheit und Vollständigkeit der bereitgestellten Informationen. Für die Inhalte von den in diesem Buch abgedruckten Internetseiten sind ausschließlich die Betreiber der jeweiligen Internetseiten verantwortlich. Diese geben den Stand der Veröffentlichung zum Zeitpunkt des Abrufes wieder. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen.

© 2021 edigo Verlag GmbH, Köln

1. Auflage 2021

Co-Autor: Stefan Lieder, Köln

Umschlaggestaltung: Irina Rasimus, Köln

Umschlagfotos: Ludolf Dahmen Fotografie, Köln; BlurryMe/shutterstock.com

Alle anderen Abbildungen: siehe Bildnachweis auf Seite 254

Lektorat: Redaktionsbüro Susanne Völler, Köln

Satz: jo seibt kommunikationsdesign, Leverkusen

Druck: oeding print GmbH, Braunschweig

ISBN: 978-3-949104-05-3

ISBN e-Book: 978-3-949104-06-0

www.edigo-verlag.de

Die Zertifizierung mit dem V-Label garantiert ein 100 % veganes Druckprodukt.

Alle Bestandteile wie Papiere, Farben, Lacke und Klebstoffe sind frei von tierischen Inhaltsstoffen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Immer mit der Ruhe

Kindheit und Jugend

Mein erstes Altenheim

Riehler Heimstätten

Republikflucht

Meine ersten „eigenen“ Alten

Eifel

Riehl

Ins kalte Wasser

Altenpflegeausbildung

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Auf einmal geht es ganz schnell

Das Dorf wächst

Hinter verschlossenen Türen

Neuanfang, aber richtig

Südstadt

Traust du dir das zu?

Mein Heim ist „‘ne nette Kneipe“

Satt und sauber 2.0

Wie im Flug

Studium im Kloster

Katastrophen

Doch dann wurde alles anders

Pflegeversicherung

Pflegestufen / Pflegegrade

Medizinischer Dienst der Kranken­versicherung (MDK)

Time-out

Sicherer als ein Atomkraftwerk

Wohn- und Teilhabegesetz (WTG)

Tue Gutes und rede darüber

Ein Plateau ist erreicht

Qualitätsmanagement

Märchenschlösser

Der Geruch des Geldes

Abschied aus der Südstadt

Schneller Aufstieg und tiefer Fall

Ganz unten

Selbstständig

Die Bank gewinnt immer

Die Burgenkönigin

Intermezzo

Müngersdorf

Zurück an die Spitze – na ja, nicht ganz

Clarenbachwerk

Zurück an die Spitze – diesmal richtig

Mein Heim ist bunt und gemütlich

Ruhestand

Lebensabend in der Dienstwohnung

Ruhestand auf Probe

Das eigene Päckchen

Aber dann kam die Pandemie

Ausklang – vielleicht

Wohin soll es gehen, Altenpflege?

Generalistische Pflegeausbildung

Pflegestärkungsgesetze

Altenpflege aktuell

Und bei dir, Doris?

Danksagung

Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Vorwort

oder: Wie sich eine Buchidee plötzlich verändert – und mich ganz anders herausfordert

Eigentlich wollte ich ein Buch über die gegenwärtige Situation der Altenpflege schreiben. Das ist mein Element, damit kenne ich mich aus. Es gibt viel darüber zu erzählen und wichtig ist es auf jeden Fall. Die Menschen werden immer älter, der Pflegebedarf wird weiter steigen, und es hat in den letzten Jahrzehnten einige fachliche und gesetzliche Novellen gegeben, die die Altenpflege zum Teil deutlich verändert haben. So wie heute war es nicht immer – im Guten wie im Schlechten. Das wollte ich darstellen, wollte verständlich machen, wo die Altenpflege meiner Ansicht nach heute steht und wie sie dorthin gekommen ist. Wie sich der Beruf verändert hat. Was das Arbeiten in diesem Beruf schwer macht und was nötig wäre, um es wieder zu erleichtern. Gemeinsam mit meinem Mann wollte ich das Buch schreiben. Wir arbeiten beide seit Jahrzehnten in der Altenpflege, leiten und verantworten seit über 30 Jahren Pflegeeinrichtungen und sind aktuell – statt so richtig in den Ruhestand zu gehen – selbstständig in der Beratung für Einrichtungen in der Altenpflege. Wir hätten wirklich einiges zu berichten. Ein Sachbuch sollte es werden.

Die Idee dazu nahm langsam Konturen an. Wir saßen zu einem Vorgespräch mit dem Verleger zusammen und sollten erzählen, was wir uns vorstellten. Also legte ich los: Ich erzählte, wie ich die Pflege erlebt habe, als ich meine Eltern bei der Arbeit beobachten und allererste Eindrücke sammeln konnte. Wie die Pflege in den 1980ern war, als ich mir meine Sporen verdienen musste. Wie sie später war, als ich auf meiner ersten Leitungsposition auf die Gründung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen reagieren musste. Immer wieder erzählte ich auch von meinen eigenen Erlebnissen. Immerhin hatte ich die Veränderungen selbst erlebt. In einer meiner zugegeben recht kurzen Sprechpausen fragte der Verleger zu meinem blanken Erstaunen: „Wie wäre es denn, wenn Sie eine Biografie schreiben?“ Die Idee traf mich völlig unvorbereitet, das musste ich erst einmal sacken lassen.

Ich war mir unsicher, es erscheinen ja meist Biografien von wichtigen Persönlichkeiten, hohen Politikern, erfolgreichen Sportlern und sonstiger Prominenz – in dieser Reihe sehe ich mich nun wirklich nicht. Andererseits war ich beim Erzählen schon so weit in meine eigene Lebensgeschichte gerutscht, es lag eigentlich auf der Hand: Mein Leben ist unglaublich eng mit der Altenpflege und ihrer Entwicklung verknüpft. Vielleicht wäre es gut, aus einer sehr persönlichen Brille darauf zu schauen. Eigene Erfahrungen zu berichten, die Leserschaft sozusagen in die Praxis mitzunehmen. Bei der Ausbildung junger Pflegekräfte habe ich auch immer Wert auf die Praxisnähe gelegt, so gefiel mir das mit der Biografie eigentlich nicht schlecht. Und noch etwas schien mir damit besser zu erreichen als durch ein eher theoretisches Buch. Der Altenpflegeberuf hat nach wie vor kein gutes Ansehen und keine akzeptablen Rahmenbedingungen – das hat sich im Laufe der Jahrzehnte leider nicht wirklich geändert. Dabei ist es ein so vielseitiger, so schöner, so anspruchsvoller Beruf. Teilweise ist er eben durch die bestehenden Rahmenbedingungen gebeutelt, teilweise entsteht in den Medien ein katastrophales Bild von ihm. Dem wollte ich meine Per­spektive entgegensetzen. Es gibt sicher Einrichtungen und Dienste in der Altenpflege, die mehr für ihre Klientel tun könnten und auch sollten. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber es gibt auch diejenigen, denen es wirklich um den Menschen geht. Die Ideale haben und leben. Die selbst unter widrigen Bedingungen versuchen, die Situation zu verbessern – für die Alten und für die Pflegenden. In dieser Reihe sehe ich mich. Und ich würde gerne einen Beitrag dazu leisten, dass noch viele junge Menschen diese Richtung einschlagen.

Okay, eine Biografie ... Traue ich mir das zu? Es wird ein Rollentausch – sonst habe ich die Lebensgeschichten der alten Menschen gehört, die ich gepflegt habe, jetzt erzähle ich meine eigene. Ich werde an schwierige Punkte kommen. Ich werde nicht aussparen können, wie es für mich war, in den Nachkriegsjahren aufzuwachsen, als junge Frau nicht den Erwartungen an eine gute Schwiegertochter zu entsprechen, teilweise einfach zu viel zu arbeiten oder beruflich auch mal eine richtige Bruchlandung hinzulegen. Das alles gehört zu mir. Aber zu mir gehört eben auch, dass ich selbst bei Schwierigkeiten alles versuchen und weitermachen möchte. Mein Leben zu erzählen, wird ungewohnt sein und sicher nicht einfach. Aber dass etwas nicht leicht wird, hat mich noch nie davon abgehalten, es zu tun.

Immer mit der Ruhe

oder: Wie ich beinahe mein ganzes Leben in der Altenpflege verbracht habe – und immer noch Überraschungen erlebe

Als Beraterin für Einrichtungen in der Altenpflege habe ich 2020 einen Auftrag angenommen, der über eine Beratung eigentlich hinausgeht: Ich leite zurzeit vorübergehend eine Altenpflegeeinrichtung in der Nähe von Neuss, gar nicht weit von Köln. Der Träger der Einrichtung kam auf mich zu, weil es wohl Schwierigkeiten in der Leitungsetage gab, es sollte ein neues Leitungsteam zusammengestellt werden. Drei Monate führe ich also die Einrichtung und versuche gemeinsam mit der Zentrale, passende neue Leute zu finden und so viele Verbesserungen anzustoßen, wie in dieser Zeit eben möglich ist. Das Haus ist sehr schön, modern, nach außen hin sieht alles top aus. Aber innen, im System, herrscht Chaos. Die MitarbeiterInnen sind wie von der Tarantel gestochen und haben einen unglaublichen Gesprächsbedarf. Mit den BewohnerInnen konnte ich mich bisher kaum beschäftigen. Eigentlich wollte ich in meinem Alter nur noch drei Tage in der Woche arbeiten. Aber das kann ich hier vergessen.

Viele MitarbeiterInnen sind neu, viele erst vor Kurzem gegangen, es herrscht eine unglaubliche Fluktuation – nicht nur bei der Belegschaft. Was mir vorher niemand gesagt hatte: Ich bin in einem Zeitraum von drei Jahren die neunte Einrichtungsleitung, einschließlich wechselnder Pflegedienstleitungen. Die neunte! Das ist mir in meiner langen Laufbahn noch nicht begegnet. Jetzt verstehe ich die Unruhe ein bisschen besser. Für einen Moment versuche ich, das mit meiner ersten Leitungsstelle zu vergleichen – mein Haus in der Kölner Südstadt habe ich 18 Jahre lang geführt. Hier läuft es ganz anders, und schon am dritten Tag kam noch ein gutes Pfund Aufregung dazu: Ich startete gerade in den Dienst, da lief mir auf dem Flur schon eine Mitarbeiterin entgegen. Es sei alles furchtbar, alles schrecklich. Das wollte ich nicht auf dem Flur besprechen, bat sie in mein Büro und hörte ihr zu: Am Sonntag, vom Nachmittag bis in den Abend, sei eine Situation eingetreten, die acht Mitarbeiterinnen gegen einen Pflegedienstleiter auf den Plan gerufen habe. Dieser war erst seit drei Monaten im Haus und wirkte auf mich eigentlich wie ein gestandener junger Mann. Die Damen erhoben den Vorwurf, er gehe sehr distanzlos und respektlos mit ihnen um. Die Pflegekraft, die gerade vor mir saß, zückte einen Stapel Papier. Darauf waren Chatverläufe, die ich so noch nicht gesehen hatte und eigentlich auch nie sehen wollte. Die waren unstrittig – und mussten zur Kündigung führen. Ich habe ihn damit konfrontiert, er hat aus dem Stand alles zugegeben. Es gab nicht mehr viel zu überlegen oder zu diskutieren, die nächsten Schritte waren klar. Der Mann war noch in der Probezeit, ich musste eine entsprechende Kündigung vornehmen. Ich bin kaum da und muss schon jemanden entlassen. Das ist mir bisher auch noch nicht passiert.

Na gut, denke ich bei mir, wieder eine neue Situation. Ich habe schon viel gesehen in den mittlerweile 52 Jahren, die ich schon in Altenheimen arbeite. Mal sehen, wie ich ein bisschen Ruhe in den Laden bekomme. Mit drei Tagen die Woche ist das jedenfalls nicht zu machen, ich bin mal wieder ganz gefordert. Packen wir es an. Aber eins nach dem anderen ...

Kapitel 1

Kindheit und Jugend

Mein erstes Altenheim

oder: Vom Abenteuerspielplatz mit „Pinguinen“ zur ersten Frühschicht

Tatsächlich bin ich nicht erst seit 52 Jahren in Altenheimen unterwegs, sondern seit 62. Mit vier Jahren zog ich in mein erstes: Meine Eltern hatten Arbeit bei den Riehler Heimstätten in Köln gefunden – mein Vater als Oberpfleger und meine Mutter in der Großküche – und eine Dienstwohnung auf dem Gelände bekommen. Also lebten wir, meine Eltern, meine ältere Schwester, mein jüngerer Bruder und ich, tagein tagaus zwischen SeniorInnen und pflegebedürftigen Menschen. Die Riehler Heimstätten waren auf einem riesigen Gelände mit vielen Gebäuden angesiedelt. Ursprünglich handelte es sich um Kasernen, alles war groß, dazwischen Grünflächen, Bäume, Landwirtschaft, es war wie ein Dorf mitten in der Stadt, ruhig und weit. Für meinen Bruder und mich war es ein Eldorado, wir konnten uns in alle Richtungen ausbreiten, das Gelände entdecken und erkunden. Als meine Familie dort einzog, im Jahr 1958, waren noch längst nicht alle Kriegstrümmer aufgeräumt. Manche Gebäude standen noch halb, es lagen Schuttberge herum, die wir Kinder natürlich auch prompt zu unserer Spielfläche erklärt haben. Wir waren viel auf dem Gelände unterwegs, kamen uns vor wie Abenteurer, der Ort gehörte uns.

Unseren Eltern war das nur recht. Einerseits, weil sie mit ihren Schicht- und Wochenenddiensten alle Hände voll zu tun hatten, andererseits, weil es in unserer kleinen Dienstwohnung nach ihrem Geschmack am liebsten ruhig zugehen sollte. Nur waren wir nicht ruhig, sondern voll Tatendrang. Wir suchten uns ständig neue Schleichwege, machten dabei auch vor den sorgsam gehegten Gemüsebeeten des Gärtners nicht halt, kletterten auf die Obstbäume. Und nahmen uns auch gleich etwas Proviant mit. Mal gab es eine Birne, mal einen Apfel auf die Hand, mal Nüsse. Man kann sagen, dass der Gärtner uns Kinder nicht sehr geliebt hat. Er kam oft schimpfend zu meiner Mutter und wollte, dass sie interveniert. Das tat sie auch, aber anders, als er sich das vorgestellt hatte: Sie marschierte wie der Racheengel persönlich auf ihn zu und verwies ihn auf seinen Platz. Was wir kaputt gemacht hatten, wusste ich nicht immer ganz genau, aber so schlimm kann es nicht gewesen sein – sonst hätte meine Mutter uns das schon mitgeteilt.

Auf unseren Streifzügen sind wir immer wieder auch den BewohnerInnen begegnet. Alte Menschen spazierten gemächlich über das Gelände. Menschen im Rollstuhl wurden von Pflegekräften geschoben. Psychisch erkrankte Menschen sprachen laut mit sich selbst oder gestikulierten seltsam. Was am Anfang noch befremdlich für mich war, gehörte aber schnell zum gewohnten Bild und war bald ganz normal. Einige BewohnerInnen haben sich gefreut, uns zu sehen, haben zurückgewunken, wenn wir ihnen zugewunken hatten. Etliche ältere Leute fanden es natürlich nicht gut, dass wir dort herumgetobt sind – sie wollten lieber ihre Ruhe haben. Aber wenn Beschwerden kamen, hat meine Mutter die Dinge gerichtet. Mein Vater hat sich da eher bedeckt gehalten.

Am spannendsten fanden wir die Ordensschwestern, die auf dem Gelände unterwegs waren. Für uns ganz erstaunliche Gestalten: Sie gehörten zum Orden der Vinzentinerinnen und trugen weiße Flügelhauben über ihrer schwarzen Ordenstracht, riesige spitze weiße Hüte. Die Damen waren meist von zarter Statur und hießen bei meinem Bruder und mir „die Pinguine“. Wenn wir einen „Pinguin“ entdeckten, sind wir eben mitgewatschelt. Ich kann auch nicht ausschließen, dass wir ihnen mal etwas hinterhergerufen haben, so genau weiß ich das nicht mehr. Das führte dann ebenfalls zu mittleren Dramen, meine Mutter musste antanzen, hat sich aber wieder sehr für uns eingesetzt. Eigentlich waren wir brave Kinder, andernfalls hätte sie uns schon gemaßregelt. Aber man kann ja nicht immer brav sein, und mein Bruder war es noch ein gutes Stück weniger als ich. Den musste ich dann zur Ordnung rufen, im Namen meiner Mutter. Dazu muss ich sagen, es war ein großes Glück, dass er so viel mit mir draußen unterwegs sein konnte. Er ist nur elf Monate jünger als ich, hatte es aber in den ersten Jahren deutlich schwerer als andere Kinder. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte er wegen schwieriger Geburtsumstände im Krankenhaus, musste vieles aufholen, war aber dennoch ein fröhlicher und auch frecher kleiner Kerl. Meine Schwester war schon älter, sie hat lieber ihr eigenes Ding gemacht als uns „Kleine“ auf unseren Streifzügen zu begleiten.

Meine Mutter hat uns Kinder morgens immer mit in die Zentralküche genommen. Ihre Schicht begann schon früh, lange bevor der Riehler Kindergarten die Türen öffnete. So saßen wir, meine Geschwister und ich, an den Wochentagen um fünf Uhr morgens dort und schälten Kartoffeln. Ich erinnere mich gern an diese Morgenstunden. Während es draußen noch dunkel und abgesehen von den Morgenrufen der Vögel noch still war, herrschte drinnen schon ein geschäftiges Treiben. Außer meiner Mutter gab es noch andere Angestellte und die Ordensschwester, die die Küche leitete, und natürlich uns Kinder. Wir bekamen jedes ein Marmeladenbrot und eine Tasse warme Milch, dann eine Schüssel mit Kartoffeln und einen Schäler in die Hand gedrückt. Und dann haben wir geschält, so gut es eben ging. Das wird mir mit vier oder fünf Jahren nicht immer perfekt gelungen sein, trotzdem war ich stolz darauf, mitarbeiten zu dürfen. Ich habe meinen kleinen Beitrag dazu geleistet, dass die BewohnerInnen mittags etwas Gutes zu essen bekamen. So genau habe ich das in dem Alter nicht verstanden, aber es war ein gutes Gefühl, dabei zu sein. So bin ich schon früh mit Arbeit in Berührung gekommen. Für meine Mutter bedeutete der Morgen eher Stress. Sie musste noch vor Dienstbeginn dafür sorgen, dass drei Kinder angezogen waren, uns dann in die Zentralküche mitschleifen und anschließend beschäftigen. Gegen acht Uhr machte sie ihre erste Pause, hetzte mit meinem Bruder an der linken und mir an der rechten Hand zum Riehler Kindergarten. Dieser lag nicht auf dem Gelände der Heimstätten, aber zum Glück auch nur eine Viertelstunde entfernt. In ihrer zweiten Pause am frühen Nachmittag hetzte sie dann wieder los, um uns abzuholen. Später übernahm meine ältere Schwester diese Wege auch öfter nach der Schule.

Einerseits war es eine sehr schöne Zeit für uns Kinder. Wir hatten unseren Abenteuerspielplatz direkt vor der Tür, es war wunderbar, dort unterwegs zu sein. Es gab eine starke Verbundenheit mit dem Arbeitsplatz meiner Eltern, wir durften auch unseren Vater in den Häusern besuchen. Er nahm uns manchmal mit bei seinen Gängen, und wir haben über die herumwuselnden Pflegekräfte gestaunt und vieles aus dem Pflegealltag selbstverständlich mitbekommen. Wir waren bekannt auf dem Campus, wir waren „die Röhlichs“, gehörten zu dieser dörflichen Gemeinschaft dazu. Andererseits hatten wir auf dem Gelände keine Freunde – außer uns lebten dort leider noch keine Familien mit Kindern. Die kamen erst später, als ich acht oder neun war. Darum war ich ungemein froh über den Kindergarten und später über die Schule. Nur haben mich die anderen Kinder recht schnell als Nicht-Kölsche identifiziert, ich sprach irgendwie anders. Mein Vater kam aus dem Osten, von ihm hatte ich ein bisschen das Berlinern übernommen. Wenn ich „Kaffe“ statt „Kaffee“ sagte, kam schon mal Gelächter auf – also habe ich mir solche Begriffe schnell abgewöhnt. Ich hatte also Kontakte, wurde auch mal zu Freundinnen nach Hause eingeladen. Aber Freunde mit nach Hause zu bringen, war bei uns nicht gewünscht, das kannte ich gar nicht. Meine Mutter fand, unsere Wohnung sei zu klein dafür. Das war sicher nicht falsch, wir hatten in den ersten Jahren nur zweieinhalb Zimmer für fünf Personen: Mein Bruder schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, meine Schwester und ich teilten uns ein Bett im kleinsten Zimmer. Meine Eltern hatten ein Schlafzimmer. Und mein Vater arbeitete im Schichtdienst. Wenn er nach einem Nachtdienst ausschlief, mussten alle ruhig sein. Aber wir konnten rausgehen, auf das Gelände, und das war gut.

Zu sagen, in unserer kleinen Wohnung herrschten Zucht und Ordnung, wäre vielleicht etwas zu hart. Aber es lief schon alles sehr geregelt, getaktet und auf eine Weise ungemütlich ab. Meine Mutter hat hart gearbeitet, versorgte daheim die Wohnung, kochte unser Essen, hielt alles sauber. Ich habe sie eigentlich immer beschäftigt erlebt, unruhig, nervös – heute würde man sagen: gestresst. Sie hat ein unglaubliches Tagwerk bewältigt. Nun ja, gemütlich war es nicht zu Hause, fröhlich nur selten, aber ungastlich wäre auch falsch zu sagen. Wir durften zwar keine Freunde einladen, aber meine Eltern haben den Kontakt zur Verwandtschaft sehr gepflegt. Meine Großeltern, Tanten und so weiter kamen regelmäßig zu Besuch, und dann wurde richtig aufgetischt. Es wurde gekocht und gewienert, wir Kinder mussten die Böden bohnern. Die Wohnung blitzte jedes Mal. Auch dabei habe ich selbstverständlich mit angepackt. Ich war immer stolz, wenn ich etwas Neues gelernt hatte, um die Wohnung mitzuversorgen. Ich wollte meine Eltern entlasten, besonders meine Mutter. Das hat mal gut geklappt, mal weniger gut. Mit zehn Jahren wollte ich meinem Vater ein Kotelett braten, das ist mir leider restlos verbrannt. Die Freude darüber hielt sich in Grenzen.

Einmal hat mein Bruder an dieser Hochglanzfassade gekratzt – im wahrsten Sinne des Wortes. Schon bald nach dem Einzug haben meine Eltern, ganz im Stil ihrer Zeit, glänzende Schellackmöbel auf Raten gekauft. Eines Nachmittags, als meine Eltern noch bei der Arbeit und ich mit meinem Bruder alleine zu Hause war, kam er auf die Idee, die Sessellehne mit einem Esslöffel zu bearbeiten. Das hat Spuren hinterlassen, auch bei uns. Als meine Mutter das Unglück sah, ist sie fast in Ohnmacht gefallen. Erst gab es Geschrei, dann eiskalte Blicke. Für ihn, weil er die neuen Möbel demoliert hatte. Für mich, weil ich es zugelassen hatte. Mutter drohte uns mit dem Vater, wenn der nach Hause käme, oh wie furchtbar, oh wie schrecklich ... Wie mein Vater dann am Abend reagiert hat, weiß ich nicht mehr, den meisten Eindruck hat jedenfalls meine Mutter hinterlassen. Mein Bruder war vier und hat die Aktion sicher nicht durchgeplant, aber wenn ich mich daran erinnere, lese ich gerne eine Spur Protest darin. Ein anderes Mal habe ich die geliebte Stille aufgemischt. Ich hatte immer in den Osterferien Geburtstag. Nur einmal nicht, das muss ungefähr mein siebter gewesen sein. Ich war in der Schule, meine MitschülerInnen haben mir gratuliert – und ehe ich mich versah, hatte ich fünf Mädels eingeladen. Zu mir nach Hause. Am selben Nachmittag. Wie habe ich gebrütet, als ich dann nach Hause kam: Was habe ich mir da eingebrockt? Wie erkläre ich das meiner Mutter? Ich war todunglücklich, und eine Stunde vor Eintreffen der Gäste konnte ich nicht mehr. Ich fasste mir ein Herz und habe es ihr gesagt: „Du, Mutti, ich habe fünf Kinder eingeladen, die kommen um drei.“ Ihr blieb die Spucke weg, für einen Moment herrschte absolute Stille. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit: Sie deckte in Windeseile den Tisch, rannte los zum Bäcker, besorgte einen Kuchen und Schokoküsse. Sie hat es möglich gemacht. Und es war ein sehr, sehr schöner Nachmittag. Ich habe mich das nie wieder getraut, aber an dem Tag hatte ich Besuch. Zu Hause. Zu meinem Geburtstag.

Meine Mutter war eine strenge Frau, aber die Familie stand für sie an erster Stelle. Unsere Kleinfamilie bedeutete ihr alles. Sie war fleißig, unglaublich fleißig. Mein Vater war ein großherziger, zuverlässiger Mann. Auch für ihn war die Familie wichtiger als alles andere, wir waren sein Ein und Alles. Er stand immer zu uns Kindern, auch wenn wir mal Mist gebaut hatten. Meine Mutter hat immer wieder versucht, uns mit Druck zu erziehen: „Das sage ich Vati, wenn er nach Hause kommt. Da kommt noch was.“ – Das kam aber nicht.

Mein Vater hat dann abends vielleicht mal böse geguckt, das war es aber auch. Er hat da nicht mitgespielt. So wichtig die Familie für meine Eltern war, so wenige Kontakte hatten sie außerhalb. Sie lebten in ihrer kleinen, familiären Riehler Welt. Das reichte ihnen. Und sie waren sparsam bis äußerst sparsam. Jede Mark wurde mehrmals umgedreht, jede Ausgabe hinterfragt. Nur nicht bei den Möbeln. Die waren wichtig, die Wohnung musste was hermachen. Aus irgendeinem Grund haben sie darauf großen Wert gelegt. Eine weitere Ausnahme war das Auto. Mein Vater war ein Autofreak, es musste immer mindestens ein guter Mittelklassewagen sein. Mit der Zeit kamen auch gehobenere Modelle vor die Tür – und blieben da auch meistens stehen. Ein gutes Auto zu haben, war wichtig. Dass es gesehen wurde, wohl auch. Nur gefahren hat mein Vater seine Wagen kaum. Auch Kleidung spielte eine große Rolle. Wir Kinder sollten immer gut ausgestattet sein. Dafür nahmen meine Eltern tatsächlich Kredite auf. Zweimal im Jahr ging meine Mutter mit uns in die Stadt, im Frühjahr und zum Winter, dann wurden wir für einen vorher festgelegten Betrag eingekleidet. Auf dem Weg aus den Geschäften hat sie uns immer zugezischt: „Nicht Vati sagen, wie viel das gekostet hat, bloß nicht Vati sagen.“ Dabei hat ihn das gar nicht interessiert.

Riehler Heimstätten

Die Leiterin des Kölner Wohlfahrtsamtes, Hertha Kraus, entwickelte das Konzept einer „Altenstadt“ für das ca. 25 Hektar große Gelände der früheren Pionierkaserne an der Boltensternstraße im Kölner Norden. Formell gegründet wurden die Riehler Heimstätten 1926 und nach siebenjähriger Bauphase fertiggestellt. Die Einrichtung gliederte sich in ein Wohnstift für vermögensschwache Senioren, ein Pflegeheim sowie einen Versorgungsbereich für Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Mit insgesamt 2150 Wohn- und Pflegeplätzen war sie die größte Einrichtung dieser Art im Deutschen Reich.

Rund die Hälfte der Gebäude, teilweise noch als Behelfskrankenhaus genutzt und nicht vollständig evakuiert, wurde während des Zweiten Weltkrieges bei Luftangriffen auf die Mülheimer Brücke zerstört. Beim Neu- und Wiederaufbau wurden Vierbettzimmer statt der bisher genutzten Sechsbettzimmer angelegt. Die Pflege übernahmen bis 1974 die Ordensschwestern der Vinzentinerinnen. Seit 1995 gehören die Riehler Heimstätten den Zentren für Senioren und Behinderte der Stadt Köln an (später: Sozial-Betriebe-Köln (SBK) gGmbH).

Im Lauf der Jahre kamen u. a. eine Kirche, eine Bibliothek, modernere Häuser mit Wohneinheiten, ein Bewegungsbad, ein Seniorenkrankenheim, zwei Cafés, ein Konferenzzentrum, ein seniorengerechtes Fitnessstudio und ein Internetcafé hinzu. Die Sozial-Betriebe-Köln bieten heute vielfältige Pflege-Versorgungsleistungen für ältere und beeinträchtigte Menschen an. Hierzu gehören ambulante, teilstationäre und stationäre Angebote, die durch ein vielfältiges Beratungs- und Unterstützungsangebot ergänzt werden.

Quellen und weitere Informationen zu den Inhalten der Infokästen finden Sie im Anhang.

Republikflucht

oder: Wie ich singend in den Westen kam

Ursprünglich komme ich aus Warin, das ist ein verschlafenes kleines Städtchen zwischen Schwerin und Wismar, ziemlich nah an der Ostsee. Bis heute liebe ich den Norden mit seinem rauen, windigen Wetter. Ob das mit meinen ersten Lebensjahren zu tun hat, kann ich nicht sagen, denn tatsächlich habe ich an den Ort nur eine Erinnerung: wie ich mit dem Dreirad vor unserem kleinen, roten Backsteinhaus herumgeradelt bin. Wir hatten einen kleinen Vorplatz aus Kopfsteinpflaster, die Straße war von Bäumen gesäumt und ruhig, es fuhren so gut wie keine Autos, man hörte die Kirchenglocken läuten. Auch an meine Ausreise aus der DDR habe ich nur wenige Erinnerungen. Es war 1958 und muss im Herbst gewesen sein. Mein Vater hatte schon sechs Monate vorher rübergemacht. Die Gründe dafür waren nicht schön, aber die erfuhr ich erst später. Er hatte drüben erste Kontakte geknüpft und Arbeit gesucht. Eine Stelle als Laborant bei einem großen Chemiekonzern im Rheinland musste er wegen einer schweren Allergie wieder aufgeben. Im Krieg hatte er eine Sanitätsausbildung gemacht, mit dieser Qualifizierung bewarb er sich dann bei den Riehler Heimstätten – und wurde genommen. Daher fuhr meine Mutter eines Tages mit uns los, am späten Nachmittag, es dämmerte schon. Wir nahmen den Zug nach Berlin, um Verwandte zu besuchen, wie es hieß. Jedes Kind hatte ein kleines Köfferchen dabei, darin jeweils sechs Bilder von früher. Wozu wir diese eingepackt hatten, verstand ich erst im Nachhinein. Anschließend sind wir dann mit dem Flugzeug nach Köln geflogen, das war natürlich etwas Besonderes für mich. Später erzählte mir meine Mutter, ich hätte die anderen Passagiere während des Fluges mit Schlagertexten unterhalten – also daran habe ich beim besten Willen keine Erinnerung. Aber die Leute hätten ihre Freude gehabt.

Deutlich erinnere ich mich an die erste Zeit hier im Westen. Meine Tante, die jüngste Schwester meines Vaters, besaß schon ein kleines Häuschen in Höhenhaus, im Kölner Nordosten, in das sie uns aufnahm. Hier lebten wir drei Monate, bis wir die Dienstwohnung beziehen konnten. Das Wiedersehen mit meinem Vater war so schön, die Familie war wieder zusammen. Und die Hütte war voll: Außer meiner Tante, ihrem Mann, ihren beiden Kindern und uns fünfen lebten noch die Großmutter und eine Tante im Obergeschoss. Es war eng, aber unglaublich gemütlich. Wir haben viel zusammen gelacht, ich besitze sehr schöne Erinnerungen an diese Zeit. Vor allem aber erinnere ich mich an meine Tante. Sie war eine wundervolle Frau, bildschön, interessant, lebendig. Sie hatte zu der Zeit einen deutlich älteren Ehemann, der immer ein bisschen streng war – und eben alt. Sie war das komplette Gegenteil von ihm. Meine Tante arbeitete lange Jahre beim Kölner Opernhaus als Schließerin. Sie liebte die Musik, hat auch selbst gesungen. Und sie muss bemerkt haben, dass auch mir das Freude machte. Darum nahm sie mich kurzerhand mit zu den Vorstellungen. Seit ich sieben war, habe ich immer wieder Opern mit ihr gehört, angefangen mit der „Zauberflöte“. Sie besaß damals schon ein Auto, holte mich in Riehl ab und brachte mich anschließend wieder zurück. Am stärksten war aber, dass ich mit ihr hinter die Kulissen gehen durfte. Meine Güte, war das cool.

Einmal in der Woche fuhr ich meine Oma besuchen, die mittlerweile in Holweide wohnte. Die Fahrt war ein Abenteuer, schon mit sechs Jahren haben meine Eltern mich allein in die Straßenbahn gesetzt und ich kreuzte den Rhein über die Mülheimer Brücke. An diesem Tag hatte ich meine Oma ganz für mich. Die alte Dame war eine Oma, wie sie im Buche steht: faltig, hager, dunkel gekleidet, mit kleinem Dutt und einer liebevollen, warmen Ausstrahlung. Sie konnte wunderbar, ja begnadet kochen – und tat das einmal die Woche nur für mich alleine. Dabei kochte sie gar keine besonders ausgefallenen Gerichte, aber deren Geschmack habe ich bis heute auf der Zunge. Ihre Tomatensuppe war absolute Weltklasse, mit Fleischbrühe und frischen Tomaten. So etwas Gutes habe ich nie wieder gegessen. Meine Tante behauptete, sie würde die Suppe genauso gut kochen, aber das stimmte nicht – das bekommt niemand hin, auch ich nicht. Es war eine Wonne, bei meiner Oma zu sein. Sie las mir Geschichten vor und erzählte immer wieder Dinge aus dem Leben meiner Eltern. Die waren, was das anbelangte, sehr verschlossen, bis zuletzt konnte ich sie kaum nach ihrer Vergangenheit fragen. Von meiner Oma erfuhr ich, dass mein Vater nach dem Krieg einen hohen Posten in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft innehatte – und dort wohl mit seiner großen Klappe aufgefallen ist. Er tat sich schwer mit den ganzen Vorgaben und setzte sich lieber für die Rechte seiner MitarbeiterInnen ein. Das ist ihm nicht gut bekommen, er saß wohl während meiner ersten Lebensjahre schon im Gefängnis. 1958 setzte er sich dann ab.

Meine andere Oma war nicht so lieb. Als Kind sagte ich manchmal „meine böse Oma“ zu ihr, dabei war sie nicht böse. Nur streng, wie meine Mutter. Eine mollige kleine Frau, die fast immer einen harten Gesichtsausdruck hatte. Ich bin nicht sicher, ob ich sie mal lächeln gesehen habe. Alle paar Wochen kam sie zu uns zu Besuch und schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, mein Bruder musste dann zu uns, und es wurde noch enger in der kleinen Dienstwohnung. Die alte Dame sagte nie viel, wenn sie da war. Aber sie war fleißig, eben wie meine Mutter. Sie war immer beschäftigt, nahm meiner Mutter Arbeit ab und kochte für uns – aber das war kein Vergleich zu den Kochkünsten meiner anderen Oma. Und sie hat nicht diese Wärme ausgestrahlt.

Meine Grundschulzeit habe ich eigentlich in schöner Erinnerung. Meine Lehrerin war eine liebe, warmherzige Frau, die mir sehr zugetan war. Wahrscheinlich auch allen anderen. Der Stoff fiel mir nicht schwer. Je sicherer ich Kölsch verstand und sprach, umso weniger fiel ich als Zugezogene auf. Gelächter gab es dennoch: Mein Bruder und ich hatten immer wieder mit Mittelohrentzündungen zu kämpfen. Alle paar Wochen lag mindestens einer von uns mit Schmerzen und Fieber flach. Meine Mutter musste arbeiten, in den Pausen kam sie schnell in die Dienstwohnung und versorgte uns. Nach dem Dienst natürlich auch. Sie packte uns dicke Wattebäusche auf die Ohren und band diese mit einem Kopftuch fest, damit sie nicht herunterfielen. Aber sie war schon darauf bedacht, dass wir schnell wieder in die Schule gehen konnten. Sobald es gerade so vertretbar war, schickte sie uns in den Unterricht – wie wir eben waren, mit unseren Mickey-Maus-Ohren aus Watte. Und wie wurde ich dafür ausgelacht. Die Dinger habe ich dann schnell abgenommen, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Meine Lehrerin ermahnte die anderen sanft, aber nachdrücklich.

Meine ersten „eigenen“ Alten

oder: Wie man mit 14 Jahren eine halbe Etage satt und sauber bekommt

Mit 14 Jahren habe ich dann angefangen, in der Altenpflege zu arbeiten. Zuerst nur an den Wochenenden. Ich wollte mir etwas Taschengeld dazuverdienen, und die Riehler Heimstätten zahlten unglaubliche fünf Mark Stundenlohn! Eine Ordensschwester hat mich angeleitet, mir die wichtigsten Handgriffe gezeigt. Manches davon kannte ich schon von meinem Vater. Ich durfte bei der sogenannten Grundpflege mitmachen: Waschen, Versorgen, Lagern, Toilettengänge. Die Schwester signalisierte mir, dass ich das alles toll machen würde. Dann haben wir zusammen eine Etage geschmissen: Sie hat im Zimmer ganz links angefangen, ich ganz rechts. Wir haben Mensch für Mensch versorgt und uns dann in der Mitte getroffen. Na ja, etwas weiter auf meiner Seite. Aber ich bekam viel Anerkennung, von der Schwester und auch von den Alten. Das beflügelte mich, ich war zu Höchstleistungen motiviert. Die älteren Kolleginnen schauten mir schon sehr auf die Finger und schoben mir zuerst nur unbeliebte Arbeiten zu, so musste ich endlose Reihen von Bettpfannen reinigen. Aber auch das habe ich gut hinbekommen, nach und nach erwarb ich mir ihre Anerkennung. So kam es, dass ich schon bald auch in den Ferien gearbeitet habe und angerufen wurde, wenn jemand vom Pflegepersonal krank geworden war. Meine Güte, was habe ich mich gebauchpinselt gefühlt! Und es war ein nettes Taschengeld – von dem ich mir mit 18 den Führerschein und ein kleines Auto geleistet habe.

Damals wehte noch ein deutlich anderer Wind in der Pflege. Die Riehler Heimstätten waren nach ihrer Gründung die größte Sterbe- und Siecheneinrichtung Deutschlands – und der Name war Programm. Die BewohnerInnen hießen noch „Insassen“ und wurden versorgt, um nicht zu sagen „aufbewahrt“, bis sie eben starben. Die meisten von ihnen verbrachten ihre gesamte Zeit im Bett, Tag und Nacht. Dort wurden sie gewaschen, versorgt, „gefüttert“ – so hieß es damals noch. Die Aufgabe der Pflegekräfte bestand darin, die BewohnerInnen satt und sauber zu bekommen. Das war die Maxime, fast schon ein geflügeltes Wort: „Hast du gut gemacht, Doris! Die Leute sind satt und sauber.“ War mir das gelungen, sahen die BewohnerInnen auch einigermaßen zufrieden aus. Die Leute satt zu bekommen, war schon schwer genug. Viele hatten keine Zähne mehr, auch keine Zahnprothesen. Darum gab es grundsätzlich Brot ohne Rinde, so mussten sie nicht kauen. Je nach Gebisssituation wurde das Brot sogar noch in warmer Milch eingeweicht. Das Angebot war insgesamt nicht so üppig, morgens gab es Marmeladenbrot, sonst Milchsuppe, Haferflocken (auch lange eingeweicht), Ei oder auch mal Reis mit viel Zucker. Das Mittagessen kam von der Zentralküche und oft schon in Breiform. Man konnte eigentlich gar nicht sehen, ob man gerade Fleisch aß oder Gemüse oder womöglich etwas ganz anderes. Manche BewohnerInnen waren richtig abgemagert. Bei ihnen habe ich versucht, hier noch ein Ei drunterzuschlagen, da noch Rotwein oder viel Traubenzucker einzurühren, um sie etwas aufzupäppeln.

Die Rückmeldungen von der Ordensschwester waren schön für mich, aber viel mehr hat mich die Resonanz der BewohnerInnen motiviert. Ich kam auf ein Zimmer und wurde mit einem Strahlen im Gesicht begrüßt: „Wie schön, dass du wieder da bist, ich habe dich vermisst.“ Da ging mir das Herz auf. Dann wusste ich, es ist gut für die Leute, wenn ich hier bin. Die Zeit, die ich mit den BewohnerInnen verbrachte, wollte ich auch intensiv für sie da sein. Das ging in meiner Anfangszeit noch etwas leichter – weil immer vier Betten in einem Zimmer standen. Heute ist das anders, die meisten SeniorInnen haben Einzelzimmer, schon Zweibettzimmer sind selten. Das halte ich für eine wunderbare Errungenschaft, die Privatsphäre eines Menschen ist sehr wichtig. Doch hatten die Vierbettzimmer einen großen Vorteil: Man konnte sich unterhalten, während man schon die Nächste oder den Nächsten versorgte, die BewohnerInnen unterhielten sich untereinander, ein kleines Radio lief für alle vier. Ich war sichtbarer für die Menschen, länger im Zimmer, besser mit ihnen in Kontakt. Das tat ihnen gut. Die Zimmer waren damals übrigens recht spartanisch eingerichtet. Die Schränke waren uneinheitlich, vermutlich hatte immer wieder mal jemand einen mitgebracht, der dann einfach stehen blieb. Sie rochen nicht wirklich muffig, aber hatten einen deutlichen Eigengeruch. Die Betten waren aus Eisen, ebenso die eierschalenfarbigen Nachtschränke. In der Zimmermitte stand ein kleiner quadratischer Tisch mit vier Stühlen. Da hätten die BewohnerInnen zusammensitzen können – wenn denn jemand auf die Idee gekommen wäre, sie aus den Betten zu holen. Aber „Mobilisierung“ und „Aktivierung“, wie man das später nannte, waren noch nicht angesagt.

Meine alten Herrschaften waren also satt und sauber, aber ich dachte mir, da geht noch mehr. Angefangen hat es damit, dass ich ihre strubbeligen Köpfe nicht mehr sehen wollte und anfing, sie zu kämmen. Oder ich brachte Lippenstift mit und machte die Damen damit ein bisschen hübsch. Oder ich trug ihnen einen Duft auf. Das waren Kleinigkeiten, aber was für einen Unterschied das gemacht hat – sie fanden das toll, bei manchen hat sich richtiggehend der Blick verändert. Das gab es alles nicht mehr in ihrer Welt, die nur noch aus Bett und Brei bestand. Dann begann ich, ihnen nette Nachtkleidung zu besorgen. Die Nachthemden und Schlafanzüge waren so oll, grau und abgenutzt … Alle BewohnerInnen bekamen ein kleines Taschengeld, und das sollte schließlich nicht in der Schublade liegen bleiben, während die Alten aussahen und sich fühlten wie Kartoffelsäcke. Mit ihrem Ein­verständnis bin ich losgetapert und habe ihnen von dem Taschengeld hübsche Sachen gekauft: Nachthemden, Bettjäckchen, alles in netten Farben. Irgendwann habe ich angefangen, Obst mitzubringen, neben den Mahlzeiten. Oder ein paar Blumen aufgestellt. Ich wollte es immer ein kleines bisschen fröhlicher, freundlicher machen. Und meine Alten haben das genossen. Diese zusätzliche Arbeit machte mir viel Spaß. Vielleicht spielte da auch schon mein Pflichtbewusstsein eine Rolle – ich war immerhin die, die um fünf Uhr früh Kartoffeln geschält und später die Wohnung in Ordnung gebracht hat, bevor meine Mutter nach Hause kam. Aber am wichtigsten war für mich immer: Es ist gut, wenn du die Dinge selbst in die Hand nimmst. Ich habe meine BewohnerInnen angesehen und überlegt: Was brauchen sie? Was kann ich verbessern? Es wäre falsch zu sagen, alle waren glücklich. Das waren sie bestimmt nicht. Aber ich wollte immer, dass sie so zufrieden waren, wie es die Situation eben hergab. Und ich glaube, ich bin ihnen mit Freundlichkeit und Wärme begegnet. Das haben sie angenommen. Ihr Strahlen im Gesicht habe ich geerntet.

Neben der Arbeit bin ich weiter zur Schule gegangen: nach der Grundschule auf die Hauptschule. Nach der neunten Klasse besuchte ich die Fachoberschule in Ehrenfeld. In dieser Zeit habe ich auch meine beste Freundin Irmgard kennengelernt. Ihre Familie war auch geflüchtet, ihr Vater hatte schon ein Bauunternehmen auf einen guten Weg gebracht. Und die Familie war groß, sehr groß sogar. Ihr Haus war geräumig und gastlich, die Großeltern lebten auch dort. Sie hatten einen Esstisch, eher eine Tafel, mit bestimmt 20 Plätzen. Die war stets sehr gut besetzt, es herrschte immer Leben in der Bude. Und es war wunderbar, mittendrin zu sein. So oft es ging, besuchte ich Irmgard. Das war mein Kontrastprogramm. Meine Mutter war immer ein bisschen eifersüchtig. Meine Leistungen waren gut, nur für Mathematik musste ich Extraschichten einlegen. Irmgards damaliger Freund und späterer Ehemann griff mir unter die Arme, mit seiner Hilfe konnte ich auch Mathe ordentlich abschließen. Die Freundschaft mit Irmgard hält bis heute.

Eifel

oder: Wie die erste Liebe mich aus Riehl fortbrachte – aber nicht so lange

Meine Lieblingstante aus Höhenhaus hatte sich von ihrem alten, strengen Mann getrennt und ein neues Leben angefangen. Sie lernte einen neuen Mann kennen, mit dem sie in einen Kurort in der Eifel zog und ein Hotel eröffnete. So kam es, dass wir als Familie an den Wochenenden aus Riehl in die Eifel gefahren sind, um ihr zu helfen. Ich war gerade 16 und fand es total spannend, wie sie den Betrieb aufbaute. Alles lief gut. Meine Mutter arbeitete in der Küche mit, meine Schwester und ich halfen je nach Bedarf in der Küche oder als Bedienung aus. Das fand ich klasse. Zum Hotel gehörte eine Gaststätte, in der sich die Leute aus dem Dorf trafen. Im Gastraum bemerkte ich die jungen Männer – und die mich offenbar auch. Mir wurde viel Interesse zuteil, ich war wie ein kleiner Star für die Dorfjugend. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Dabei war ich eigentlich sehr schüchtern und habe lieber an der Theke alles blitzblank geputzt, als mit den Gästen zu schäkern. Besonders eine Jungenclique hatte einen Narren an mir gefressen, von denen haben mir gleich mehrere schöne Augen gemacht. In einen von ihnen habe ich mich dann verguckt: ein starker Typ, fünf Jahre älter als ich. Seine Eltern besaßen im selben Kurort ein Hotel und eine Metzgerei. Sie lebten in einem großen Haus, in dem es lebendig und gesellig zuging. Er selbst hatte eine fröhliche Art, war ein stattlicher, gemütlicher Kerl. Das gefiel mir. Meine Eltern ließen die Freundschaft zu, er durfte zu uns nach Köln kommen, um mich zu besuchen. Er hat dann auch bei uns geschlafen, natürlich nicht mit mir im selben Zimmer. Wenigstens hatten wir zu dem Zeitpunkt schon eine größere Dienstwohnung. Aber meinen Eltern war schon an einer baldigen Regelung der Beziehung gelegen. Es gefiel ihnen nicht, dass ständig ein junger Mann auf dem Campus auftauchte. Das gehörte sich nicht. Seine Eltern wollten „geregelte Bahnen“ noch viel mehr. Ich will nicht sagen, dass ich dazu gedrängt wurde – aber um die Beziehung erhalten zu können, war es dringend geboten zu handeln. Wir würden also heiraten.