Traut euch, träumt! - Dieter Bachmann - E-Book

Traut euch, träumt! E-Book

Dieter Bachmann

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Beschreibung

Der Lehrer, von dem du gerne gelernt hättest (und deine Eltern wären froh gewesen, hättest du so einen Lehrer gehabt) Ein ganz und gar ungewöhnliche Lehrer schreibt über die Erkenntnisse aus der jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern. Die wichtigsten Dinge hat Dieter Bachmann nämlich nicht im Studium gelernt, sondern von seiner Oma, einer streunenden Katze oder eben den Kindern selbst. Von Hern Bachmann können wir wiederum lernen, wie man Kindern Vertrauen schenkt, wie man im Umgang mit ihnen authentisch bleibt, Haltung und Mitmenschlichkeit zeigt und dabei Kreativität, Toleranz und Kommunikation in den Mittelpunkt stellt. Eine Schale Äpfel kann manchmal mehr bewirken als vier Stunden Matheunterricht. Der Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse" hat zahlreiche Preise gewonnen, unter anderen den silbernen Bären der Berlinale und den Deutschen Filmpreis. »Dieter Bachmann ist kein gewöhnlicher Lehrer.« ZEIT

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Traut euch, träumt!

Der Autor

DIETER BACHMANN, geboren 1952, ist studierter Pädagoge, entschied sich nach dem Referendariat aber für ein Leben als Steinbildhauer. Später wurde er doch noch Lehrer und unterrichtete bis 2019 in Stadtallendorf in Hessen an einer Gesamtschule. Er hat selbst drei Kinder und macht heute vor allem Musik – gerne auch mit seinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern zusammen.

Das Buch

Was macht einen guten Umgang mit Heranwachsenden aus? Es kommt auf jedes einzelne Kind an, alle haben besondere Bedürfnisse. Dieter Bachmann versammelt hier die Erfahrungen aus seinem langen Lehrerleben, lässt auch persönliche Krisen und Umwege nicht aus. Er erzählt anschauliche und berührende Geschichten, von seiner Ruhrpott-Oma, aus dem bewegten Studentenleben der frühen 70er in Berlin oder davon, wie er einmal eine Gruppe Schülerinnen weinend im Gebüsch fand. Hinter jeder Anekdote versteckt sich eine erstaunliche Erkenntnis – und so entsteht das Bild eines warmherzigen und humorvollen Lehrers, in dessen Klassenzimmer sich alle, Groß und Klein, wohlfühlen konnten.Der Dokumentarfilm »Herr Bachmann und seine Klasse« hat zahlreiche Preise gewonnen, unter anderen den Silbernen Bären der Berlinale und den Deutschen Filmpreis.

Dieter Bachmann

Traut euch, träumt!

Lektionen eines Lehrers, den man gerne gehabt hätte

Ullstein

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Aus dramaturgischen Gründen wurden einige Ereignisse und Erlebnisse in diesem Text komprimiert und zusammengeführt. Zum Schutz der Privatsphäre wurden außerdem viele der handelnden Personen verfremdet oder fiktionalisiert.

1. Auflage April 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2023Unter Mitarbeit von Astrid Herbold und redaktioneller Unterstützung von Hannah GolinUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotive: © Maria Speth; FinePic®, MünchenE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2959-8

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

1   Etikettenschwindel

2   Meine Strasse, meine Heimat – aber nicht meine Schule

3   Oma ist die Beste

4   Antiautoritäres Intermezzo

5   Lernen von den Meistern

6   Du musst brennen, um andere entzünden zu können

7   Verträumte Motorradmärchen Teil I

8   Goethe, Potter und die Leseteppiche

9   Kräfte bündeln und Teams bilden

10   Nachts im Klassenzimmer

11   Bis alle satt sind

12   Motorradmärchen Teil II Der Traum vom bunten Leben

13   Musik ist der kürzeste Weg zum Glück

14   Apfelbaum-Pädagogik

15   Kaninchen in der Dämmerung

16   Neinsagen als Liebeserklärung

17   Rituale – ein Echo des Lebens

18   Motorradmärchen Teil III Charlie

19   Lebt lieber gefährlich

20   Mein Lehrer-Blues

21   Das summende Klassenzimmer oder die Liebe zu unserem Blauen Planeten

22   Ein herrlicher Albtraum

23   Frau Wiese oder die Magie des Lobes

24   Noten, die harte Währung der Schule

25   Der Samowar im Klassenzimmer

26   Die Kinder von Stadtallendorf

Ein paar Schlussgedanken

Nachwort

Dank

Anhang

Von Liedern und Bienen

Bilder

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für meine Schülerinnen und Schüler, die mir in dreißig Jahren Lehrersein ihre Lebensfreude geschenkt und mir geholfen haben über mich hinauszuwachsen.

Vorwort

Ich wollte eigentlich nie Lehrer werden.

Alles andere schon eher: Soziologe. Musiker. Steinbildhauer. Künstler. Aber doch nicht: Pädagoge.

Ich bin da irgendwie so reingerutscht.

Dann weggerannt.

Zehn Jahre später zurückgekommen. Immer noch skeptisch.

Anfangs war ich kein guter Lehrer. Ich wusste ja gar nicht, was das ist, ein guter Lehrer. Als Schulkind in den 1950ern, 1960ern hatte ich jedenfalls keinen getroffen.

Aber ich habe es rausgefunden. Langsam, im Laufe vieler Jahre.

Dank meiner Schülerinnen und Schüler. Sie haben mir den Weg gezeigt.

Ich sah, ich lernte, ich verstand.

Am Ende fand ich mein Glück – und den tollsten Beruf der Welt.

Als die Rente kam, mussten sie mich praktisch aus dem Klassenzimmer raustragen. Ich wollte nicht gehen!

Ich dachte: Es gibt doch noch so viel zu tun. In- und außerhalb der Schule.

So viel, wovon wir gemeinsam träumen können.

Das folgende Buch liefert kein fertiges Konzept, keine pädagogische Theorie. Es versammelt lediglich Puzzlestücke aus meinem Leben. Geschichten, Bilder – kleine Fotografien, mit denen ich die Ahnung verbinde, dass sie vielleicht für das Gesamtbild des Lehrers Bachmann wichtig sind und dem einen oder anderen etwas über den Umgang mit Kindern verdeutlichen. Ich weiß noch nicht, welches bunte Gemälde sich daraus ergibt. Ich werde jetzt einfach mal loslegen mit dem Erzählen. Und dabei immer an meine Schüler denken:

»Herr Bachmann, wir hören Ihnen gerne zu. Hauptsache, es ist nicht langweilig.«

1   Etikettenschwindel

Ende August, das neue Schuljahr hat begonnen. Mein erstes mit festem Arbeitsvertrag, seit ich dem Schulsystem vor vielen Jahren den Rücken gekehrt habe. Ich bin also wirklich zurück. Diesmal sogar als Beamter – wer hätte das gedacht. Ich darf mich jetzt offiziell Klassenlehrer einer siebten Klasse im Hauptschulzweig einer Gesamtschule in Mittelhessen nennen. Die Lehrer-Neulinge an unserer Gesamtschule kriegen immer automatisch die Hauptschulklassen zugeteilt, weil die sonst keiner unterrichten will. Macht mir persönlich aber nichts aus, ich fühle mich in der Hauptschule wohler als am Gymnasium.

Schwungvoll betrete ich das karge Klassenzimmer. Zehn Schritte bis zum Pult, Tasche hinstellen, in Gedanken noch mal die Kennenlernspiele für heute Vormittag durchgehen. Ich freue mich.

Viele der 13-jährigen Schülerinnen und Schüler, die ich nun jeden Tag in Deutsch, Mathe und Sport unterrichten soll, kenne ich schon vom letzten Schuljahr, von meinen Vertretungsstunden als Aushilfslehrer. Alles nette Kinder, wach, lebhaft, neugierig. Jetzt lastet allerdings deutlich mehr Verantwortung auf mir: Werden wir als Gruppe zusammenwachsen, werde ich jedem und jeder gerecht werden? Einige Jahre gemeinsamen Lebens und Arbeitens beginnen heute um 8:00 Uhr, ein wahrlich großer Moment für uns. Mir kommt Rod Stewart in den Sinn: The first cut is the deepest. Und ich will als Klassenlehrer meiner neuen Klasse keinen Kummer machen, sondern einen guten ersten Eindruck hinlegen.

Während ich reingekommen bin, haben mich die anwesenden Jungs, viele von ihnen mit türkischen, arabischen oder osteuropäischen Wurzeln, schon freundlich begrüßt. Ihre pubertären Stimmen rangieren von dunkel tief bis hell-kieksig:

»Morgen, Herr Bachmann!«

Vom Sehen kenne ich sie fast alle. Mit den meisten habe ich vor den Sommerferien schon auf dem Schulhof Fußball gespielt. Ich bin ein begeisterter Straßenkicker – und nutze in der Schule jede Gelegenheit, um bei den Kindern mitzuspielen. Nicht immer halte ich mich dabei ganz korrekt an die Pausenzeiten.

»Morgen«, nicke ich.

Noch ein paar Sekunden bis zum Unterrichtsbeginn.

Aber Moment mal. Ich stutze. Irgendwas stimmt hier im Raum nicht.

Irgendwas – fehlt.

Im ersten Moment komme ich nicht direkt drauf. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen:

»Hey, Jungs! Wo sind denn die Mädchen?«

Die Hälfte der Plätze ist leer. Die Schüler schauen sich erst verlegen gegenseitig an, dann blicken sie zu mir. Bis einer schließlich gesteht:

»Herr Bachmann, die Mädchen sind im Gebüsch. Die wollen nicht kommen.«

»Im Gebüsch? Die wollen nicht kommen?«

Ich verstehe gar nichts mehr.

»Die haben keinen Bock auf Hauptschule«, erklärt mir Harun, dessen Cousine laut meiner Klassenliste eigentlich auch hier sitzen sollte.

Ich zögere keine Sekunde.

»Okay, Harun, zeig mir das Gebüsch.«

Den Rest der Jungs schicke ich auf den Schulhof, eine Runde kicken. Die erste Schulstunde muss warten.

Dann mache ich mich auf die Suche nach den verlorenen Mädchen.

Jetzt muss ich kurz ein bisschen ausholen: An der Georg-Büchner-Gesamtschule in der kleinen, industriell geprägten Kreisstadt Stadtallendorf in Hessen, an der ich unterrichte, gibt es für Fünft- und Sechstklässler eine sogenannte Förderstufe. Im Grunde genommen ist das eine erweiterte zweijährige Grundschulzeit, in der Kinder mit unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammengewürfelt sind. In manchen Bundesländern, Berlin etwa, dauert die Grundschulzeit grundsätzlich sechs Jahre, dort ist das also ganz normal.

Am Ende der sechsten Klasse fällt dann eine schwerwiegende Entscheidung: Die Kinder werden in die Haupt- oder Realschule oder in den Gymnasialzweig eingestuft. Die Klassen werden entsprechend neu geteilt. Ab der siebten Klasse ist also klar, in welcher Schublade man steckt. Zwar kann theoretisch auch ein Hauptschüler später in der zehnten Klasse noch einen Realschulabschluss schaffen und danach in die gymnasiale Oberstufe wechseln. Praktisch kommt das aber so gut wie nie vor.

Wir Lehrer wissen das – und die Kinder wissen es auch.

Harun hat mich mittlerweile quer über den Schulhof zu einer Reihe von Sträuchern geführt. Ich gehe in die Knie und luge zwischen den Zweigen hindurch. Tatsächlich, da zwischen den Blättern hocken sie auf der staubigen Erde, die Knie angezogen, die Köpfe auf die Arme gelehnt. Sechs türkische Mädchen, die eigentlich fröhlich in meinem Klassenzimmer sitzen sollten.

Harun und ich setzen uns vor die schluchzende Gruppe und können es beide nicht fassen. Unmerklich rückt Harun noch ein paar Zentimeter näher an mich heran, als wolle er sich anlehnen. Ohne dass er etwas sagt, spüre ich, dass auch er Trost braucht. Der sonst so coole Junge ist kurz davor, ebenfalls die Fassung zu verlieren. Später wird er mir sagen, dass er seine Cousine Sibel, die lustige, vorlaute, aufgeweckte Sibel, noch nie so traurig gesehen hat.

Lange passiert nichts.

Wir sitzen einfach da. Schauen uns an.

Was soll ich auch sagen? Der Kloß in meinem Hals ist auf die Größe eines Fußballs angeschwollen. Sind das wirklich dieselben selbstbewussten und intelligenten Mädchen, die ich vom Schulhof kenne? Die Freundinnen, bei denen sonst eine die andere an Energie und Lebensfreude überstrahlt? Aus ihren geröteten Augen schaut mich nun pure Verzweiflung an. Und langsam steigt die Wut in mir auf.

Eine sehr große Wut.

»Harun, hol auch noch die Jungs her! Alle!«

Harun versteht nicht, worauf ich hinauswill, rennt aber sofort los.

Kurz darauf sitzt die gesamte 7c mit mir im Gebüsch.

Ich weiß natürlich, was die Kinder umtreibt. Sie haben heute, an ihrem ersten Schultag der siebten Klasse, zum ersten Mal die volle Härte des deutschen Schulsystems erlebt. Sie haben kapiert: Da ist ein System, das sortiert und aussortiert. Ein System, das ihnen unmissverständlich mitgeteilt hat: Du bist akademische Resterampe. Mehr als einen Hauptschulabschluss traut dir niemand zu. Wenn du Glück hast, wirst du eines Tages einen Job finden, bei dem du Mindestlohn verdienst. Wenn du Pech hast, braucht dich überhaupt niemand.

Eine brutale Botschaft.

Daher bin ich ja auch so wütend.

Und ich wundere mich im Stillen: Warum sind diese Mädchen überhaupt in meiner Hauptschulklasse gelandet? Eigentlich sind sie alle sehr aufgeweckte Schülerinnen. Und uns im Kollegium ist bewusst, dass Mädchen die Herabstufung auf Hauptschulniveau meistens persönlicher nehmen als die Jungs. Viele Mädchen definieren sich über ihre Schulleistungen – und zweifeln umgekehrt schneller an ihren Fähigkeiten. Der Mehrheit der Jungs, so habe ich es jedenfalls oft erlebt, ist es eher egal, was die Lehrer von ihnen halten. Oder jedenfalls tun sie so.

Meine Devise als Lehrer lautete immer: Diese Kinder sind nicht dumm! Sie brauchen nur ein bisschen mehr Zeit und sollten möglichst lange zusammen lernen. Denn worin bestehen die gängigen Probleme, mit denen die Schülerinnen und Schüler an unserer Schule kämpfen? Meistens sind es lediglich sprachliche Hürden. Viele der Kinder stammen aus türkischen Familien, die in zweiter oder dritter Generation in Hessen ansässig sind. Ihr Dilemma: Sie sind weder in der einen noch in der anderen Sprache richtig zu Hause. Die Kinder sprechen Deutsch fehlerhaft – aber sie sprechen auch nur schlecht Türkisch. Außerdem müssen sie permanent zwischen zwei Sprachen (und zwei Kulturen) hin und her wechseln.

Was macht das mit einem Menschen, wenn er keinen sicheren sprachlichen Boden unter den Füßen hat? Keinen verlässlichen Code der Verständigung besitzt? Wenn Kommunikation immer mühsam ist?

Die daraus entstehende Abstiegsspirale, die nun auch Sibel und ihre Freundinnen zu erfassen droht, habe ich im Laufe meines Berufslebens oft beobachtet: Bei Schülern, die aus bildungsfernen Schichten kommen, akkumulierten die Defizite in den Hauptfächern Jahr um Jahr. Parallel werden die Noten immer schlechter. Logisch, was dann passiert: Die Motivation sinkt, das Selbstbewusstsein leidet, und bald glauben die Kinder selbst, dass sie zu blöd seien, um mit den anderen mithalten zu können. Wer einmal dermaßen ins Rutschen kommt, kann am Ende froh sein, überhaupt noch halbwegs glimpflich aus der Schule herauszukommen.

Dazu kommt: Meine Schüler haben in der Regel null Hilfe zu Hause. Es gibt keine privat bezahlten Nachhilfelehrer. Auch keine Eltern oder Großeltern mit akademischen Abschlüssen, die mal etwas hätten erklären können.

Und noch eine Entwicklung benachteiligt diese Kinder: Der Unterricht in fast allen Fächern wurde in den letzten Jahrzehnten extrem versprachlicht. Auch für Mathe braucht man beispielsweise sehr gute Deutschkenntnisse. Die Kinder sollen ständig mathematische Abläufe in Worten erklären können: So lauten die neuen Kompetenzbestimmungen. Wir Lehrer sind deshalb verpflichtet, neben Rechen- auch Rechtschreibfehler anzustreichen. Auch wenn es eigentlich gerade um die Beantwortung einer mathematischen Sachaufgabe geht. Die Rechenkünste der Kinder sind dabei fast zweitrangig.

Grundsätzlich ist das eine gute Entwicklung des Fachs und stärkt sicher auch das tiefere mathematische Verständnis. Für Kinder nicht deutscher Herkunft ist es aber ein Problem. Trotzdem kann man mit Zuwendung und binnendifferenzierter Förderung viel auffangen. Man braucht dafür aber Zeit – und darf die Kinder eben nicht durch zu frühe Selektion entmutigen.

Sibel und ihre Freundinnen hatten, wie sie da im Gebüsch weinend vor mir saßen, keine Worte für das, was ihnen gerade widerfuhr. Aber sie spürten genau, was die Hauptschuleinstufung für ihr weiteres Leben bedeuten könnte. Darunter kam nur noch die Förderschule. Früher: Hilfs- oder Sonderschule. Das war absolute »Endstation« und »Müllhalde« in den Augen der Kinder. Die Eltern, egal wie bildungsfern, sahen das oft ähnlich.

Dazu passt eine kleine, traurige Geschichte, die ich einige Jahre später erlebte: Die Georg-Büchner-Gesamtschule liegt nur rund 800 Meter von der städtischen Förderschule in Stadtallendorf entfernt. Auch von unserer Schule wechselten immer wieder mal Kinder auf die Förderschule. Das betraf oft die, die bei uns bereits inklusiv beschult worden waren, also Mädchen und Jungen mit Förderstatus und Lernschwierigkeiten.

Einmal lief ich zufällig an der Förderschule vorbei und sah auf dem Schulhof einen ehemaligen Georg-Büchner-Schüler.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich ihn erstaunt.

Der Junge zuckte zusammen.

»Herr Bachmann, erzählen Sie bitte niemandem, dass ich hier bin.«

In dem Moment gesellten sich zwei seiner Freunde zu uns, ich kannte sie ebenfalls vom Sehen. Auch ihnen war es sichtbar unangenehm, mich hier zu treffen.

»Herr Bachmann, wir schämen uns so, deshalb gehen wir jeden Morgen schon um sieben Uhr von zu Hause los.«

»Warum denn das?«

»Weil doch der Weg von der Bushaltestelle zur Förderschule an der Georg-Büchner vorbeiführt! Und wir wollen nicht, dass uns jemand sieht.«

Sie erklärten mir, dass ihre ehemaligen Freunde, die mittlerweile alle auf ihren Haupt- oder Realschulabschluss zusteuerten, nicht mitkriegen sollten, wo sie gelandet waren.

»Die machen uns sonst fertig.« Und auch ihre Familien seien dann entehrt.

Nachdem der Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth 2021 in die Kinos gekommen war und zahlreiche Preise gewonnen hatte, wurde ich oft zu Interviews eingeladen. In der ZDF-Kultursendung aspekte fragte mich die Moderatorin sinngemäß: »Wie bügelt man diese soziale Benachteiligung und die fehlende Chancengleichheit aus?«

»Das kann man nicht ausbügeln«, antwortete ich. »Aber man kann den Kindern Räume geben.«

So habe ich meine Rolle als Lehrer immer verstanden: Ich möchte die Kinder dazu bringen, dass sie ihr Leben und die (möglicherweise wenigen) Chancen, die es ihnen bietet, in die eigene Hand nehmen. Dass sie mutig werden und voller Zuversicht in die Zukunft blicken. Dass sie ihr eigenes Potenzial erkennen. Manchmal bin ich damit trotz aller Anstrengungen gescheitert: Die Kinder fanden keinen Zugang zu ihren Fähigkeiten. Aber sehr viele meiner Schülerinnen und Schüler, denen man anfangs nur die Hauptschule zugetraut hatte, schafften am Ende den Realschulabschluss.

Aber jetzt noch mal zurück ins Gebüsch, wo ich immer noch mit der 7c sitze.

Zwei Dutzend intelligente Augenpaare sind auf mich gerichtet. Was wird Herr Bachmann sagen? Wie will er uns trösten?

Man sollte Kinder nicht anlügen. Und ihnen auch nichts versprechen, was man nicht halten kann. Ich überlege lange, wühle tief in meiner inneren Zauberkiste.

Bis mir schließlich eine Idee kommt:

»Ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin ja eigentlich studierter Gymnasiallehrer. Nicht so wie die meisten anderen Lehrerinnen und Lehrer an der Georg-Büchner-Schule. Die sind von der Ausbildung her Haupt- und Realschullehrer. Ich aber nicht.«

Skeptische Blicke. »Na und?«, scheinen sie zu sagen.

Ich lege nach: »Also, was ich damit meine: Ich kann alle Schulformen unterrichten. Ganz, wie es mir gefällt.«

Noch immer wissen die Kinder nicht genau, worauf ich hinauswill. Aber ich habe zumindest ihre Neugier geweckt.

»Wir könnten«, ich lasse absichtlich eine kleine Spannungspause, »zum Beispiel einfach eine gemischte Haupt- und Realschulklasse sein. Alles unter einem Dach. Im Nachbarort gibt’s das schon. Was haltet ihr davon?«

»Ja!«, jubelt es mir entgegen.

Selbst die Mädchen lächeln wieder. »Gemischt« und »Realschule« klingt in ihren Ohren ziemlich gut.

»Na, dann hätten wir das ja geklärt«, sage ich und klatsche aufmunternd in die Hände.

Gesagt, getan. Nun musste ich die kleine Planänderung nur noch dem Schulleiter mitteilen: Die 7c ist ab sofort eine Hybridklasse, Haupt- und Realschulzweig parallel. Leider konnte er es aus allerlei formalen Gründen offiziell nicht genehmigen. Doch davon ließ ich mich überhaupt nicht beirren, sondern klopfte direkt beim Hausmeister an, mit dem ich mich sehr gut verstand: »Wir brauchen ein neues Türschild. Da muss jetzt stehen: 7c, gemischte Haupt- und Realschulklasse.«

Nach wenigen Minuten war alles erledigt. Und vor mir saßen wieder lauter fröhliche Kinder. Nichts war anders, und doch war alles anders. Das Schild war einfach nur ein Stück Papier, das niemanden außerhalb unseres Klassenzimmers interessierte. Aber für die Schülerinnen hatte es eine große symbolische Bedeutung: Wir hatten die Schublade, in der wir für die nächsten Jahre gemeinsam steckten, eigenmächtig umbenannt.

Das allein reichte schon.

Mein restlicher Unterricht fiel an dem Tag natürlich aus. Stattdessen spendierte ich eine Runde Eis für alle, und wir genossen draußen die Spätsommersonne. Manchmal muss man eben Prioritäten setzen.

2   Meine Strasse, meine Heimat – aber nicht meine Schule

Wie es mit den Kindern der 7c weiterging? Fantastisch!

Einige Jungs und vier der sechs Mädchen schafften am Ende der neunten Klasse nicht nur ihren erweiterten Hauptschul-, sondern ein Jahr später auch noch den Realschulabschluss. Einer ist Polizist geworden, ein anderer hat eine Elektrikerlehre gemacht. Auch die Mädchen fanden ihren Weg. Eine machte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin und arbeitet bis heute in dem Beruf. Aber ganz egal, wo sie mittlerweile als junge Erwachsene gelandet sind – an unseren Vormittag im Gebüsch werde ich mich immer erinnern. Vor allem an den Moment, als Sibel und ihre Freundinnen wieder ihr schönstes Lächeln in den Augen hatten.

Warum hat mich die Szene damals so berührt? Weil ich soziale Selektion selbst früh erlebt habe. Nicht am eigenen Leib, aber bei vielen meiner besten Freunde. Keiner von ihnen bekam am Ende der Grundschulzeit eine Gymnasialempfehlung, keiner schaffte einen höheren Schulabschluss. Der Grund war nicht fehlender Ehrgeiz oder mangelnde Intelligenz – sondern schlechte Deutschkenntnisse. Und das wiederum hatte rein gar nichts mit einem Migrationshintergrund zu tun, im Gegenteil.

Ich bin in den späten 1950er-Jahren in Rottweil, einer Kreisstadt zwischen Schwäbischer Alb und Schwarzwald, zur Grundschule gegangen. Keines der Kinder, die dort aufwuchsen, beherrschte Hochdeutsch. Sie verstanden alle nur breitesten Dialekt, also die Umgangssprache ihrer Eltern und Großeltern. Doch das brach ihnen schulisch das Genick.

Dass ich eine Ausnahme war, der einzige Junge, der zum Gymnasium durfte, das habe ich lediglich einem biografischen Zufall zu verdanken. Geboren und in den ersten Jahren aufgewachsen bin ich in der Kohle- und Industriestadt Bochum, und da spricht man halbwegs ordentliches Hochdeutsch, nur durchzogen von ein bisschen Ruhrpott-Platt.

Als ich sieben Jahre alt war, verwirklichte sich mein Vater einen alten Lebenstraum und siedelte mit der ganzen Familie nach Süddeutschland um. Im Zweiten Weltkrieg war er Soldat der Wehrmacht gewesen, hatte mit den Nazis in Afrika gekämpft, dann etliche Jahre in amerikanischer Gefangenschaft verbracht. Damals muss mein Vater beschlossen haben, dass er auf keinen Fall sein Leben lang im Ruhrgebiet hängen bleiben will. Er sehnte sich wohl nach Bergen und Wäldern. Wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, wurden nicht gefragt.

An meiner Grundschule in Rottweil beherrschten nicht mal die Lehrer Hochdeutsch. Alle schwätzten schönsten alemannischen Singsang. Obwohl der Dialekt allgegenwärtig war, galt er als restringierter Code, als Makel und Sprechweise der Unterschicht. Ich – der Zugezogene – »glänzte« dagegen mit der elaborierten Sprache der Gebildeten. In Mathe waren meine Freunde und ich ähnlich gut, aber in Deutsch heimste ich regelmäßig Zweien und Einsen ein, während meine Banknachbarn nur Fünfen und Sechsen reingeknallt bekamen. Denn fehlerfreie deutsche Schriftsprache fiel ihnen natürlich extrem schwer.

Auch am Gymnasium war ich im Fach Deutsch zunächst noch im Vorteil. Denn am liebsten ließ uns unser Lehrer – ein alter Nazi, unmotiviert und aufbrausend – sogenannte dialektische Aufsätze schreiben. Morgens kam er ins Klassenzimmer reinmarschiert: »Ruhe! Hefte raus!« Wahrscheinlich hatte er sich das Thema auf den wenigen Metern zwischen Lehrerzimmer und Klassenraum überlegt. Viel Mühe in die Vorbereitung seines Unterrichts investierte er jedenfalls nicht.

»Ihr schreibt jetzt einen Aufsatz zu dem Thema: Ferien im Gebirge oder Ferien am Meer? These, Antithese, Synthese.«

So oder ähnlich klang der Quatsch, den wir ohne jegliche Vorbereitung oder Erklärung argumentativ bearbeiten mussten. Heute kann man so zum Glück nicht mehr unterrichten. Die Kinder müssen vorher wissen, was bei einem benoteten Test behandelt wird. Unsere Lehrer griffen ihre Themen oft einfach aus der Luft, vielleicht weil sie zufällig etwas in der Zeitung gelesen hatten. Zack, wurde das halt zum Aufsatzthema erklärt.

Wie man sich denken kann, konnten meine Freunde in der Grundschule zu solchen Themen keinen geraden Satz schreiben. Geschweige denn, dass einer von ihnen jemals Urlaub am Meer gemacht hatte. Über die Schwäbische Alb war niemand in Rottweil je hinausgekommen – so, wie ich es Jahrzehnte später bei vielen meiner Hauptschüler auch erlebte. Auch da fuhren die Familien aus Geldmangel in den Sommerferien nicht weg. Oder wenn, dann nur »nach Hause«, zur Verwandtschaft in die Türkei, in Marokko oder Bulgarien.

Unser Deutschlehrer in der Grundschule hatte nicht das geringste Verständnis für die Lebensumstände seiner Schüler. Im Gegenteil, er machte vor allem die Jungs vor der gesamten Klasse dafür fertig, wie »dumm« sie angeblich waren und wie »schlecht« ihre Aufsätze mal wieder gewesen seien. Er wiederholte das über die Jahre so oft, bis die Kinder selbst daran glaubten, dass die Schule nicht der richtige Ort für sie sei. Über einen Volksschulabschluss kam kaum einer meiner Freunde hinaus. Danach versetzte ihnen das Schulsystem einen Arschtritt, ade, weg mit euch, geht schaffe.

Ich habe früh verstanden, wie ungerecht das alles ist.

Als Kind hat Schule mich nur gelangweilt. Im Unterricht war mir langweilig, es war öde von vorne bis hinten, aber wenn man sich eigenmächtig etwas ablenkte und nicht aufpasste, wurde man geschlagen. Zum Glück gab es meine Klassenkameraden. Von morgens bis abends dachten wir uns irgendwelche Sachen aus, um uns gegenseitig zu amüsieren. Nur dadurch war das Elend der Schulzeit halbwegs erträglich. Untereinander ging es uns Jungs gut, mit den Lehrern war es das Letzte. Ich kann mich an kaum einen erinnern, zu dem wir Schüler ein gutes Verhältnis hatten.

Immerhin hat mir das Land Baden-Württemberg am Ende meiner Schulzeit noch ein halbes Jahr geschenkt. Weil der Schuljahresbeginn von Winter auf Sommer umgestellt wurde, kam ich in den Genuss eines verkürzten Schuljahres und war mit achtzehneinhalb Jahren fertig mit dem Abitur. Ich schaffte es nur ganz knapp, mit einem Vierer-Durchschnitt. Danach arbeitete ich einige Monate lang in einer Fabrik, um eigenes Geld zu verdienen. Das taten viele Schulabgänger damals. Wir wollten bloß schnell weg von der Institution Schule – und nie wieder was mit Lehrern zu tun haben.