Treppe aus Papier - Henrik Szántó - E-Book

Treppe aus Papier E-Book

Henrik Szanto

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Beschreibung

Die Geschichte eines Hauses und der Menschen, die es bewohnen: von der NS-Zeit bis heute, von Leben, Verantwortung und Erinnerung

Das alte Haus erzählt. Denn seine Mauern, Dielen und Ritzen bewahren die Erinnerungen an alle Menschen, die es jemals bewohnt haben. Schon als Kind hat Irma Thon mit ihren nazitreuen Eltern im ersten Stock gelebt. Während die 90-Jährige zurückblickt und immer wieder an die kleine Ruth Sternheim von damals denken muss, erfreuen sie die Gespräche mit Nele Bittner aus dem Vierten. Die Schülerin lernt für eine Geschichtsklausur und beginnt zu verstehen, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern nur wenige Stufen entfernt.

»Szántós Sprache fließt durch dieses Haus und durch die Zeiten, klug und voller Details. Unbedingt lesen!« Markus Thielemann

»Dass die Echos der Geschichte überall sind, wenn man nur hinhört, zeigt dieser originelle Roman.» Raphaela Edelbauer

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch:

Im Treppenhaus eines alten, vierstöckigen Hauses begegnen sich die Schülerin Nele Bittner und die 90-jährige Irma Thon. Sie beginnen ein Gespräch, durch das der trockene Geschichtsstoff für Nele lebendig wird. Ihre Geschichte erzählt das Gebäude selbst, in dessen Mauern, Dielen, Rohren und Ritzen Erinnerungen an alle Bewohner hausen – über ein Jahrhundert hinweg. Zu Irma hat das Haus eine besondere Bindung, denn sie hat schon als Kind mit ihren nazitreuen Eltern im ersten Stock gewohnt. In der obersten Etage lebt Nele in der Wohnung, die einst Familie Sternheim bewohnte, deren Schicksal Irma mitzuverantworten hat.

Für das Haus passiert immer alles zugleich: Während die kleine Ruth Sternheim die Treppe runterspringt, erinnert es sich schon an die SA, deren Knüppel das Schaufenster des Sternheim’schen Uhrengeschäfts im Erdgeschoss Jahre später zerbersten lassen. Während Irma zum Ende ihres Lebens zurückblickt, fördert Nele mit ihren Fragen das Verdrängte in der eigenen Familie zutage.

Der Autor:

Henrik Szántó, geboren1988, ist halb Ungar, halb Finne und lebt als Autor und Moderator in Hannover. Als Spoken Word-Künstler bespielt Szántó Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum. Seine bisherige Arbeit wurde mit diversen Stipendien gewürdigt. Die Kernthemen seiner Arbeit sind Mehrsprachigkeit, Erinnerungsarbeit und kulturelle Vielfalt.

Henrik Szántó

Treppe aus Papier

Roman

Blessing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Autor dankt dem Kulturministerium Niedersachsen für die Unterstützung der Arbeit am Manuskript mit einem Arbeitsstipendium.

Copyright © 2025 by Henrik Szántó

Copyright © 2025 by Karl Blessing Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR.)

www.blessing-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Coverdesign: semper smile, München unter Verwendung von © William Ireland. All rights reserved 2025/Bridgeman Images ©Shutterstock/Tinxi

Lektorat: Friederike Arnold und Irina Bondas

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33714-8V003

auch das schweigen hat seine saison

Wir sind eine Summe aus Rohren

Wir sind eine Summe aus Rohren, sind gestapelter Stein, verputzte Mauer, ein Labyrinth aus Wand und Decke, das in unserem Inneren jede Bedeutung verliert, wir sind Treppen und Toiletten, Fensterglas und Müllversorgung, Tapete und Holz, die Briefkästen mit wechselnder Beschilderung, für uns ein Flimmerbild, wir sind der Mund, in den du deine Säuglinge trägst, aus dem du uns auf Bahren verlässt, das Echo von Sicherheitsschuhen, Sandalen, Sneakern, Socken, Düfte der Kochkunst, das Sonntagsmahl, die Tiefkühlpizza, der Rauchmelder, weil eine Pfanne nicht beschichtet, der Ofen undicht oder das heimliche Rauchen doch nicht so heimlich, in unserem Atem läuten Wecker, in unserem Bauch schellen Türklingeln, entstehen Geheimnisse, ob geteilt oder verborgen, wir erinnern, weil nichts das Innere verlässt, weil es immer ist, kein Ende, nur Fortbestand, in jedem Atemzug Mondlandung, Mauerfall, Sportpalastrede, Schmach von Córdoba, Metropolis, Machtübernahme, Jesse Owens, Fanta, Befreiung, Mauerbau, Benno Ohnesorg, Deutscher Herbst, Sommermärchen, Grillfeten, Familienalben, Tupperware, Porenbeton, Tonziegel, Estrich, Schiefer, Kabel, Polyvinylchlorid, Menschen, die wissen, was Polyvinylchlorid ist, Plattenspieler, Pferdehuf, Straßenbahn, Lastenrad, VW Käfer, Kutsche, Bus, Handkarren, Familie Sternheim, Familie Thon, Stiefel, Schläge, Sterne, Opa, der selbstredend nur unfreiwillig bei der SS war, Opa, als er noch kein Opa war, wir sehen, wir erinnern, wir kennen das Schweigen zu Tisch, die zurückgehaltene Frage, den Wunsch, die eigene Familie aus dem Schneider zu wissen, und auch, dass der Wunsch fromm bleibt, denn wir erinnern der Verschleppten und Vertriebenen, die ebenso am Tisch sitzen, streiten, lachen, planen, wir kennen die Versteckten, die Verstecker und die Spitzel, die Blockwarte und ihre Depeschen am Schwarzen Brett, die Reklamen, die trotz der Aufkleber ungefragt in Briefkästen landen, die maschinell beschriebenen Briefe, bedrohlich in ihrer Sachlichkeit, die klammen Finger beim Öffnen der Umschläge, die Erleichterung, wenn die befürchtete Mahnung lediglich eine Mitteilung ist, wir kennen die ersten Schritte und die letzten Atemzüge, wenn Augen erstmals begreifen, was Raum ist, wenn die Hüfte vor dem Körper in den Ruhestand geht, die durchgelegenen Betten und vakuumverpackten Matratzen, die Namen der Pressspanregale und das heimliche Naschen in der Nacht, wo Mutter ihren Schnaps bunkert, wo Vater seine Blutfettwerte versteckt, die zurückgehaltenen und geäußerten Sorgen, die Blicke auf das Konto, das Überschlagen der Einkünfte, das Budgetieren der Wocheneinkäufe, das Schleppen, den Müll, die Scham, wenn was schlecht wird, wir sind deine erste Wohnung, deine Mietminderung, der Ort, an dem du friedlich entschläfst, deine Antwort auf Zuhause, das Rollfeld der Umzugswagen, das Fluchen beim Transport der Waschmaschine in den vierten Stock, wir wissen, seit wann du in deine Klassensprecherin verliebt bist, aber nicht, wie sie dich findet, denn sie war nie bei uns, und in ihren Kopf haben wir nie geblickt, wir wissen, wonach du das Internet durchsuchst, welche Bücher du aus Bibliotheken leihst und welche du aussortierst, welche du liest, welche du vorgibst zu lesen, welche du versteckst, wenn Besuch kommt, wann du willst, dass dieser wieder geht, wann der es dann tut und wann du beinah deutlich wirst, heute, ja heute wirst du für dich einstehen, schwören Stimmen aus sechs Jahrzehnten im Chor, wir wissen, dass rund ein Viertel aller Schwangerschaften Fehlgeburten sind und kaum wer darüber spricht, wer stirbt, wann, wie und wen das bekümmert und erleichtert, welche karzinogene Substanz das Leben erst erträglich macht, wer die Seifenblasen der eigenen Vorhaben hütet, sie platzen lässt oder gar nicht erst mit Luft füllt, wir wissen, wann du heimlich Leute einlädst, wir kennen die Namen der Soireen, Partys, Einweihungsfeiern, Geburtstage, die heimlich geplünderten Edeltropfen, das Fummeln auf der Toilette, gemeinsam kochen, den ersten Kuss bei günstigem Rotwein, den du in schlecht polierten Gläsern servierst, das erste Mal, das erste Mal nüchtern, Hände auf Körpern, Hände auf Händen, Hände, die an BH-Verschlüssen scheitern, das kurze Erstarren, als dir einfällt, dass du heute diese Unterwäsche trägst, die Neugier der Lippen, die Erleichterung, wenn du eine Grenze bloß nennen und nicht verteidigen musst, weil der Berührung eine Frage vorausgeht, oder eben nicht, und wie du dich rüstest gegen die, die dich wollen, aber nicht dein Bestes, Dienst nach Vorschrift für die Familienplanung, Leidenschaft beim Wiedersehen, das Wechselspiel aus Feuer, Glut und Asche, die Erleichterung nach dem Höhepunkt oder die Scham, als du wieder klar denken kannst, die Begegnung all der Hemmungen und Entdeckungsfreuden mit Komplexen und Offenheiten, das Sortieren der Kondome, den Bedeutungswandel von Spielzeug und wie alle in ihren Muttersprachen aufschreien, sobald es sich lohnt, wir erleben dich gleichzeitig, und wenn du lange genug in uns wohnst, dann bist du für uns Kleinkind und Greis, lernst laufen und verlernst es, trägst Windeln, sie bilden die Klammer des Lebens, und unsere Wahrnehmung ist wie ein Satz, der sich immer weiter windend einem kaum absehbaren, aber unausweichlichen Ende entgegenschlängelt, an dem sich, ist es erreicht, die Gesamtheit der Erlebnisse eimergleich über dich ergossen haben wird, in uns schlagen Besenstiele an Decken und Türen in Rahmen, es kommt alles auf den Tisch, die Diagnosen, Tests, Zeugnisse, Rezepte, der längst übervolle Staubsaugerbeutel und das Wischen per Hand, das Arrangieren der Krümel zum vollwertigen Frühstück, das Zählen von Proteinen und der vergangenen Jahre, seit Pferdebücher keinen Nachmittag mehr füllen, Versailler Vertrag, Kapp-Putsch, Kakao mit Hafermilch, Weltwirtschaftskrise, Blitzkrieg, Montanunion, H-H-H-Hier i-i-i-ist d-d-d-das d-d-d-deutsche F-F-F-Fernsehen m-m-m-mit d-d-d-der T-T-T-Tagesschau, es ist immer laut, lass dir Zeit, wir haben sie.

1

Heute haben die Bittners Essen bestellt. Ein hart schuftender, in der Scheinselbstständigkeit verhafteter und verkehrsbedingt leicht verspäteter Kerl trägt Pizzen ins oberste Stockwerk. Thomas öffnet und gibt Trinkgeld. Das finden wir angemessen. Häufig kommen Fahrradkuriere und Paketboten zu uns, und wir wissen, wer geizt, nachdem der ein oder andere schwer beladen durch Hitzewarnung oder Minusgrade und gefrorenen Schneematsch gestrauchelt ist, um die Ente süß-sauer noch warm zu überreichen. An solche Arbeitsbedingungen denkt Thomas nicht, während er sein Portemonnaie verstaut – Kunstleder, ein thermoplastisches Polymer verkettet aus Vinylchlorid –, nein, Thomas möchte einfach nicht, dass die Kuriere sich seinen Wohnort als geizigen Haushalt merken.

Er trägt die Pizzen in die Küche, legt den Stapel auf die Arbeitsfläche und reicht Martina den kreisförmigen Schneider. Während ihr Mann sich für einen Moment zurückzieht, mischt Martina aus Gewürzen, Schmand, Mayonnaise und Knoblauch noch einen Dip für den Rand und schneidet die Pizzen in gleichmäßige Stücke, die sie auf im Ofen vorgewärmte Teller verteilt.

Nele deckt den Tisch, faltet hastig Papierservietten und platziert sie auf Tellern. Immer wieder starrt sie kurz auf ihr Handy und stirbt innerlich, weil Laura nicht antwortet. Den Blick ihrer Mutter bemerkt sie nicht, ist ganz bei Laura, zupft an einer Serviette und legt sie schließlich einfach hin. Balu wittert sein nahendes Abendessen und streift umher, sich fragend, wann er wieder gekrault wird. Nele sieht zu ihrer Mutter, die ein paar Kräuter auf den Dip streut. Martina drückt den Rücken durch, schließt einen Moment die Augen und atmet tief ein. Als sie bemerkt, dass Nele sie ansieht, lächelt sie, klatscht in die Hände und sagt »So!« und deutet fragend auf Balu.

Nele huscht an ihrer Mutter vorbei, füllt die Futterschale des Hundes auf, fährt ihm über die Ohren und denkt an ihre Hausaufgaben. Deutsch, Erdkunde, Geschichte, da hat sie nichts auf, aber lernen muss sie, Physik, Laura aus dem Weg gehen, Stand jetzt, Besteck verteilen, Chemie, mit Balu vor die Tür gehen, weinen, das neue BTS-Album hören, Frauenarzt, Wäsche waschen, Englisch, das Fake-Bewerbungsgespräch am Ende der Berufsschnupperwoche, das echte Bewerbungsgespräch am Ende des Schuljahres, wenn Nele endgültig vom Gymnasium fliegt und mit mittlerer Reife durchkommen muss, Mathe, Geburtstag feiern! Sechzehn werden ist anstrengend, jeden Morgen wirft der Hormonhaushalt eine Münze, und mit Glück landet diese nicht auf der falschen Seite. Münzen werfen, jeden Morgen Münzen werfen. Einkaufen, Bad putzen, mit Mama ums Taschengeld verhandeln, Kunst, es ist derbe Oberstufe, wenn du Kunst-Hausaufgaben hast, Politik-Wirtschaft, Zukunft, einen Plan machen, nicht verhungern, nicht verdursten, vielleicht FSJ und dann Abendschule bis zum Abi, Biologie, die Blutuntersuchung, vielleicht heimlich kiffen, Führerschein, Segelschein, Latein. Das Heft ist voll mit Aufgaben, und wenn sie über den Rand der Seite blickt, wartet da die Unendlichkeit eines Kreislaufs, die Zukunft, die Arbeitswelt, Steuern und Einsamkeit. Warum hat Nele Laura bloß kommentarlos ein Video von zwei kuschelnden Hunden geschickt, denn solche Leute sterben natürlich alleine, das Deutsch-Referat, ein Rettungsring als Ausgleich für die Fehltage, ein Buch besprechen, das die Klasse vor lauter Lehrplan doch nicht lesen kann, aber um das zu besprechen, muss Nele das Buch trotzdem lesen, und dann, dann würde sie einfach sterben mit einem Haufen unausgefüllter Steuererklärungen und in Einsamkeit, Balu müsste dann alleine raus und – »Essen!«, ruft Mama, und Neles Blick rast zum Handy.

»Süß«, schreibt Laura, und Neles Herz macht einen Satz, und schon sitzt sie am Tisch und mampft Pizza. Zwischen den Bissen schaut sie auf das Handy auf ihren Oberschenkeln.

Thomas findet den Rand zu kross. »Vielleicht können wir das ja mal selber machen«, sagt er zu Martina und meint sie statt wir. Martina ignoriert ihren Mann, tunkt ihren Rand in den Dip und legt ihrer Tochter die andere Hand auf die Schulter, woraufhin diese das Telefon zwischen den Schenkeln verschwinden lässt.

»Wie war’s in der Schule?«, fragt sie, und bei der Frage dröhnt Nele das Blut in den Ohren, und sie beginnt schon, sich eine Antwort zurechtzulegen, bevor sie schließlich das bereits erprobte »Gut« brummt, denn mit ihren Eltern sprechen Teenager im Morsedialekt. Viel kurz, wenig lang. Martinas Blick verrät ihr, dass sie kein Wort glaubt, und das bedeutet viel, wenn es nur eines ist.

»Was hattest du heute?«, fragt Thomas. Er sieht nicht zu Nele, sondern auf den Teller. Mit der Gabel verteilt er die Ananasstücke gleichmäßig auf alle Pizzaecken um.

»Englisch, Mathe, Geschichte.«

Nele zieht mit jedem Wort die Silben ein wenig länger, als wäre es Arbeit, dem zweiten noch ein drittes hinzuzufügen. In der Stille verkrampft sich ihr Magen, denn sie weiß, was ihre Mutter gleich fragen wird, und Martina weiß, dass ihre Tochter keine Freude an diesem Gespräch hat, also besinnt sie sich für einen Moment auf ihren Atem und umfasst mit den Fingerspitzen den Stoff des Tischtuchs. Ein Geschenk ihrer Eltern, zum Einzug. Thomas kaut.

»Was schreibst du als Nächstes?«, fragt Martina schließlich.

»Geschichte«, antwortet Nele.

»Und dann?«

»Mathe.«

Martina sieht sie lange an.

»Dann Englisch und Deutsch«, sagt Nele.

Martina nickt, lässt das Tischtuch los und isst weiter. Löst ihren Blick von Nele und lässt ihn durch den Raum wandern. In der Ecke steht noch die Sporttasche, und darauf gestickt: Thomas Bittner. Das Trainingsoberteil hängt aus der Öffnung, der Schweiß ist beinah getrocknet. Polymere mit Esterfunktionen in ihrer Hauptkette, darauf Wasser, Salze, Lactate, Säuren und Zucker, pH-Wert 4,5. Die langkettigen Fettsäuren sind bereits abgebaut, man riecht somit die Liegestütze, die Kniebeugen, die Hampelmänner. Spuren eines straffen Programms. Bis heute stärkt er sich nach dem Vorbild seines Vaters.

»Hast du deine Sachen in die Wäsche getan?«, fragt Martina ihren Mann.

»Was macht ihr gerade in Geschichte?«, fragt Thomas. »Die Hitlerei?«

Nele will antworten, als Martina ihre Frage wiederholt.

»Noch nicht, Schatz«, antwortet Thomas.

Martina verdreht die Augen und richtet ihren Blick wieder auf Nele. Wir kennen diesen Blick, mit dem Martina Nele bedeutet, die Wäsche zu übernehmen und sie von den verschwitzten Sportsachen zu erlösen, und auch Neles aufsteigende, stumpfe Wut.

»Also?«, fragt Thomas, der sich nicht von den Details der Hausarbeit beirren lassen möchte und dem die Schwere von Neles Stoff keinesfalls den sorgsam erliegegestützten Appetit verdirbt. Nele nickt schließlich. Thomas wirkt zufrieden.

»Und? Wie findest du’s?«

»Spannend«, lügt Nele. Eigentlich sind sie mit 1945 schon durch und behandeln gerade die Gründung der BRD, aber Nele spart sich die Korrektur und isst stattdessen schneller.

»Wie schon mein alter Herr gerne sagte: Das waren andere Zeiten«, sagt Thomas und faltet sein Pizzastück.

Als niemand reagiert, hören wir Teig auf Keramik, kullernde Maiskörner und Ananasquader, eine Gabel spießt eine Tomatenhälfte auf, Martina kaut bis zum Rand, tunkt diesen in Knoblauch-Dip, spricht mit Thomas über das Wochenende und den Lüfter im Bad. Nele kapituliert nach dem dritten Stück. Selbst zerlaufener Käse kann ihren Appetit nicht hervorlocken.

»Darf ich aufs Zimmer? Ich muss noch lernen«, sagt sie.

»Möchtest«, korrigiert Martina sie automatisch und wirft einen uneindeutigen Blick auf die zwei Drittel übrig gebliebener Pizza.

»Aber räum noch den Tisch ab«, fügt sie hinzu, und das Rauschen verklingt in Neles Ohren. Sie stellt hastig die Teller in die Spüle und leert die Sporttasche ihres Vaters in die Waschmaschine. Thomas erinnert sich wieder an seinen Vater und beginnt zu erläutern, was Opa sonst noch für Sprüche draufhatte.

»Danke, Mäuschen«, hört sie ihren Vater noch sagen und zieht leise die Tür hinter sich zu.

»Süß«, hat Laura geschrieben. Nele liest die Nachricht elfmal, dann wird Balu unruhig, und sie holt die Leine.

Martina hat noch ein Onlineseminar inklusive Stil- und Typberatung und gestaltet den Hintergrund ihrer Couch nach dem Prinzip inszenierter Gemütlichkeit. Sie klemmt Nele die leeren Pizzakartons unter den Arm und möchte später nicht gestört werden.

Im Treppenhaus pulsiert das Vergangene am stärksten. Eine Parade aller jemals in uns getanen Schritte. Die Bittners wohnen im obersten Stock, und als Nele mit den Pizzaschachteln unter dem Arm aus der Tür tritt, steht da für uns noch immer der Pizzabote, daneben Martina Bittner, die jeden Morgen zweimal abschließt, die Sanitäter, die 2003 gerufen wurden, lange bevor die Bittners hier lebten, und obendrein der Kerl, der besagte Sanitäter rief, aber dann war es bloß Sodbrennen und kein Infarkt. Etwas abseits steht Herr Sternheim und lobt Ruths Zeugnis. Ihn und die Sanitäter trennen 68 Jahre. Seine Frau begrüßt ihn mit einem Kuss auf die Wange. Herr Sternheim blickt mit wachsender Sorge auf seine Uhr. Ruth putzt ihre feinen Schuhe. Die Wohnung wird verplombt. Kisten säumen den Flur. Auf unserer Treppe ist immer Umzug, da wird stets eine neue Tür hoffnungsvoll aufgeschwungen oder die vertraute endgültig geschlossen. So wie in der Wohnung gegenüber, die gerade leer steht und wo Nele die Nachbarn mochte.

Sie setzt ihre Kopfhörer auf und federt die Treppe abwärts. Wägt ab, welches Video sie Laura als Nächstes schicken könnte. Im dritten Stock schiebt sie ihre Kopfhörer nach hinten, um zu lauschen, ob in der WG was steigt. Dabei steigt nur Özlems Blutdruck, denn sie hadert mit ihrer Bewerbung zum Auslandsmaster, von zu Hause ausziehen war schon so eine große Sache, aber Mira regelt gerade ihr Erasmus-Semester in Dublin und ist deshalb eine große Hilfe in diesen Dingen. Suji sollte der bevorstehende Ortswechsel ihrer Freundinnen eigentlich stressen, aber eine frische Liebe schenkt ihr zum Ausgleich Ablenkung und Gelassenheit. Nele kennt die Namen der drei jungen Frauen nicht, aber jede von ihnen grüßt freundlich, und Nele findet das schon interessant, wie diese erwachsenen Studentinnen ihre Zeit verbringen, völlig zu Recht, immerhin birgt deren Wohnung Sedimente studentischen Lebens aus vier Jahrzehnten, und wir bedauern, dass Nele nie Gelegenheit hatte, die Physikstudentin so richtig kennenzulernen, die gern das Konzept linearer Zeit erklärt, bei der legendären Fete 1986, drei Mannschaftswagen samt Polizeihündin, und ein Blauer kommen nach der Schicht noch privat zum Stampfen vorbei, denn ihre Erklärung begleitet uns zuverlässig, und die Polizeihündin hieß, da müssen wir aus biologischen Gründen leider die Vergangenheitsform wählen, Siduri, was der Hauptmieter lustig findet, weil er gerade zu Gilgamesch promoviert. Zwei Jahre später bricht er das Studium ab.

Für Nele gibt es heute im dritten Stock wenig zu hören außer Motorgeräusche aus der Wohnung des alten Mannes gegenüber der WG. Vielleicht ist er beim Fernsehen eingeschlafen. Raivis, besagter Herr, nimmt mächtig Anstoß an der Zuschreibung »alt«, und tatsächlich ist er nicht eingeschlafen, sondern studiert seine Audiokassetten aus vergangenen Tagen, auf denen er die Geräusche verschiedener Autorennstrecken gesammelt hat, und überlegt, welche neue Leidenschaft ihm wohl gut zu Gesicht stünde, jetzt, da er nicht mehr so viel reisen kann, aber das weiß Nele nicht, und ihren Hund, der ein bisschen zieht, obwohl er weiß, dass er nicht soll, interessieren Autos und Kassetten nicht, sondern die kleinen Sträucher vor unserem Eingang.

Vielleicht wittert Balu auch noch die Polizeihündin. Hunderte Male ist er mit Nele die Treppen hinauf- und hinabgestiegen. Die, die höher wohnen, durchfließen uns im steten Strom. Auf den Treppenstufen geht es immer auf- und abwärts. Umgeben von sich selbst passiert Nele das Vorangegangene. Nele schneidet der viel zu große Ranzen in die kleinen Schultern, dann wieder federt sie, ihren Patagonia-Rucksack lässig über die Schulter geworfen, den Abenteuern der Pubertät entgegen, bevor Hormone und Zweifel an einer komplexer werdenden Welt ihr Werk verrichten. Wir sehen sie mit blau gefärbten Haaren, nach dem Schwimmen, und mit ihrem Vater, der sie als Säugling in weißen Flausch gehüllt die Stufen emporträgt, die Augen müde und faltenfrei, der seine Frau stützt, der mit drei Koffern beim Erklimmen der Stufen scheitert, und Neles Mutter, die einen Tobsuchtsanfall erträgt und mit starren Zügen die zeternde Nele hinter sich herzieht. Auf ihrem Weg nach unten trifft Nele sich selbst, voller Hoffnung, die Grundschule gerade abgeschlossen und stolz auf das Übergangszeugnis. Wir sehen ihre Freundinnen, die nach der Schule zum Essen vorbeikommen, bis sie es nicht mehr tun. Nele streift an sich vorbei, weinend auf der Treppenstufe, weil ein Streit mit Mama eskaliert ist, und überholt sich selbst, als sie den gepackten Rollkoffer mit Mühe herunterwuchtet, um zu Oma und Opa zu ziehen. Wenig später schleppt sie wimmernd den Koffer wieder hinauf, weil ihr der Weg nicht mehr eingefallen ist. Ihre Eltern haben sie nicht gesucht. Nele durchquert die Zeit, allein im Zentrum der Aufmerksamkeit, ein Wunschkind auf dem Thron in Mutters Schoß. Diese Zeit ist kurz. Als Arbeit und Alltag sie vom Sockel stoßen, sucht Nele oft zwischen den Streben unseres Geländers nach Beschäftigung, hält Ausschau nach den Großeltern, die ihr Dasein noch gebührend zu feiern wissen. Wir sehen sie um die Beine ihres Opas tänzeln oder artig innehalten, während Oma ihre Schleife geraderückt. Nele unterstellt ihren Eltern nicht, sich einen Sohn gewünscht zu haben, aber ihr fällt auf, dass ihr Papa besser mit Jungen kann. So wie ihr auffällt, dass Mama schrecklich nervös wird, sobald ein Kind schreit. Auch in der Erinnerung bleiben Oma und Opa nicht ewig. Doch auf der Treppe ist die Zeit mit ihnen nicht zur Gänze verblasst, und die vergangenen Momente schwirren an Nele vorbei, auf ihrem Weg nach unten.

Uns freut es immer, wenn Nele und Ruth Sternheim sich streifen, denn uns tröstet der Gedanke, sie hätten sich vielleicht gemocht. Vielleicht hätten sie sich über die Mieter der vergangenen Jahre ausgetauscht: die Frau, die gern mit Kohle zeichnet, der Mann, der viel zu lange Blickkontakt hält und Angst vor tiefen Gewässern hat, der Steuerfachangestellte, der nicht von der Existenz der Mondlandung zu überzeugen ist, und der Silberlöffelsammler, der Lieder am liebsten schnalzt und im Juli 1969 vor dem Fernseher sitzt. Wir wissen, wie die Familien hinter den Türen zusammen am Tisch sitzen und durch Verschweigen und Verschönern im Wechselspiel ihre Legenden weben. Wir wissen, wie viele Stunden der Vorbereitung wirklich für eine Weihnachtsgans nötig sind und worin die geheimen Zutaten bestehen. Wir kennen die Hausmittelchen und die einander anvertrauten Geheimnisse. Die kleinen und die belastenden. Wir wissen, wie überzeugt viele sind, die eigenen Großeltern, Eltern, Onkel, Tanten seien im Widerstand gewesen. Zumindest im Stillen, und wenn sie es nicht waren, dann hätten sie nur sehr widerwillig mitgemacht, denn ihnen habe ja auch Gefahr gedroht, und wer nicht mitmachte, wurde eben kaltgemacht. Wer zu uns zieht, nimmt die eigene Familie mit, sei es in den Urlaubsbildern am Kühlschrank, in den Notfallkontakten der Smartphones oder als bloße Erinnerung. In den Fragezeichen, den unausgesprochenen Vorwürfen oder im vergessenen Dank. Kinder werden Männer, Frauen oder entscheiden selbst, was sie werden wollen, werden Väter, Mütter, Eltern, pflegen ihre Väter, Mütter, Eltern, wenn Ohrläppchen und Nasenhaar lang werden, das Gewicht der Jahre Furchen zieht. Sie alle schlurfen mit gesenkten Köpfen an Türen vorbei, unter deren Fußmatten Schlüssel liegen.

Nele geht durch Polizisten, Amazonboten, Bestatter, den Sachbearbeiter, der bei der Gestapo war, und GIs. Menschen umtanzen sie mit Wäschebergen und Einkäufen. Die Verwaltungsangestellten schwitzen in ihren Stangenanzügen, während sie Wohnungen zeigen und Nebenkosten aufschlüsseln. Daneben fallen Schneematschreste aus Stiefelritzen, Regennässe mischt sich mit Dürrestaub, und Frau Georgiadou präsentiert noch im Türrahmen den ersten Thermomix. Vor den Türen das Altglas der Jahrzehnte. Tüten aus der Zeit vor dem Pfand, dazwischen die, die es sammeln und hoffnungsvoll hinausziehen, auf der Suche nach intaktem Mehrweggut.

Durch den zweiten Stock geht Nele mit Eile. Links ist viel Bewegung, häufig wechselnde Mieter. Am längsten dort gewohnt hat ein Junge mit seiner Mutter, der bei der Weltmeisterschaft 2006 zum ersten Mal laut und hörbar schwarze Menschen beschimpft, und jetzt ist dort noch eine WG, ganz neu, zwei Männer, ruhig. Hier lebt Doru mit Peter, der seinen alten Freund nach der Herztransplantation auf keinen Fall alleine irgendwo wohnen lassen möchte.

Rechts wohnen Patrick und Yvonne, deren Streitereien oft durch uns dröhnen und so laut werden können, dass Nele selbst im vierten Stock früher davon aufgewacht ist. Einmal hat ihre Mama zurückgebrüllt, und ihr »Reißt euch sofort zusammen, oder ich ruf die Polizei, Herrgott noch mal!« hallt noch immer in uns wider, denn wenn Martina ihren Agnostizismus zugunsten himmlisch angereicherter Drohungen beiseiteschiebt, gilt es.

Freundinnen und Freunde, Romanzen und Begegnungen, Fehler und Feindselige mischen sich unter Dauergäste und Schlüsselbewahrer, die Vertrauten mit freiem Zugang und deren letzte Tage, die Abschiede, die zufliegenden Türen, die unerwiderten Liebesbriefe und abgelegten Friedenssträuße. Die Anzahl ihrer Schritte bestimmt die Lautstärke ihrer Leben, und wir hören jedes, auch das einzelne, zaghafte, verborgen im Rauschen des Alltags.

Im ersten Stock riecht unser Atem nach Zwiebeln. Hier kocht Irma jeden Mittwoch ihre Zwiebelsuppe, und Nele kennt den Mittwoch nur mit diesem Aroma. Jedes ihrer Flimmerhärchen erinnert den Geruch. Er hebt und senkt die Dielen. Regelmäßig öffnet Irma Thon die zwischen unsere Rippen gespannten Fenster, und manchmal flucht Thomas Bittner unterm Dach und holt ausnahmsweise die Wäsche vom Flur. Irma kocht ihre Zwiebelsuppe seit sechsunddreißig Jahren. Einmal beschweren sich die Schreihälse aus der zweiten Etage, und Irma kocht eine Woche lang jeden Tag Zwiebelsuppe und serviert allen Hausbewohnern eine Kostprobe in den guten Tellern. Alle finden sie köstlich, und danach ist Ruhe. Auch Hausmeister Torsten bekommt was ab. Er steht auf einer Leiter und repariert die Lampe im ersten Stock, die zu tief hängt und deshalb bei jedem Umzug von einer Schrankwand, einem Besen oder einem Regalbrett erwischt und zerstört wird. Eine Kugel aus Milchglas, ständig zerdeppert und frisch ausgetauscht, an, aus, heil, kaputt – eine Lampe, die in beiden Zuständen existiert und unter der Torsten, Schraubenzieher zwischen den Zähnen, schwitzt. Einmal pinkelt jemand auf dem Heimweg an unser Tor und wird von Torsten dabei erwischt. Kurz vergisst er die Atemübungen aus seinem Antiaggressionstraining, und wir befürworten Gewalt nicht, wohl aber Konsequenzen. Erfreulich, wenn ein Mann mit Hose auf Halbmast vor der personifizierten Konsequenz namens Torsten türmen muss. Rechnen wir Torsten alles hoch an. Einer muss ihm ja was anrechnen, bei allem, was er wiedergutzumachen hat. Wenn Nele ihn trifft, umweht sie beim Anblick seiner tätowierten Arme ein Hauch der Angst, aber Balu mag ihn, und Torsten fragt stets, ob er streicheln darf.

Gegenüber von Irma wohnt eine junge Familie, die selten da ist, denn die Schwiegereltern wohnen in der Nähe und haben einen Garten. Weil sie nichts für Hunde übrighaben, hat Nele auch nichts für sie übrig und ist immer ein bisschen erleichtert, wenn sie sie nicht zusammen mit Balu trifft.

Nele lässt die Treppe hinter sich und läuft in ihre erste physische, tatsächliche, gleichzeitige Begegnung. An den Postkästen, gerade von ihrem Abendspaziergang zurückgekehrt, steht Irma, eine Hand am Stock, die andere zittert mit dem Schlüsselbund um die Wette. Nele fragt sich angesichts dieses Zitterns, wie die Frau sich so perfekt schminken kann. Wir wissen es: mit Geduld. Irma umweht ein dezenter Parfumhauch, die Bluse mit gestärktem Kragen ist genau gebügelt. Balu hechelt freundlich. Nele hebt die Kopfhörer und legt ihren Kartonstapel ab.

»Guten Abend«, grüßt sie, und: »Kann ich helfen?«

Irma nickt, und Nele öffnet den Briefkasten, klappt ihn auf und findet nichts, während eine Parade von Postbotinnen und Postboten Myriaden von Briefen, Prospekten, Postkarten, Paketen, Katalogen, Luftpolsterverpackungen in Schlitze stopft. Irma steht geduldig da, die zehnte Dekade ihres Lebens in vollem Gange, neben ihrem Kinderselbst. Ein neugieriges Mädchen, nach dem streng ein »Irmgard!« aus dem ersten Stock bellt. Irma, adrett und zerzaust, gesammelt und verzweifelt, trotzig und kleinlaut. Irma, das Kind, und Irma, die Greisin. Nele verschließt den Briefkasten, und Irma sieht ihren geliebten Vati, der ihr Bonbons in dem Falz seiner Zeitung mitbringt, der immer zuerst seine Lederhandschuhe auszieht, bevor er Irma die Zuckerchen reicht, der die Briefe verteilt und die der Sternheims vorher öffnet. Ihr Vater, der mutlos durchs Haus schleicht, der stolz das Kinn hebt, mit frisch gewichsten Stiefeln innehält und sich an die langen Tage bei der Post erinnert, der Alte Kamerad, der die Neuen auf das Geschäft in unserer Fassade ansetzt, geläutert im Eifer an seinen Führer, und daneben der Kollege, der während des Krieges erscheint, um Meldung zu machen.

»Kam wohl nix«, sagt Nele und legt den Briefkastenschlüssel auf Irmas rissige Handfläche.

»Besser ist das«, antwortet Irma. Die Augen wach, dünn die Stimme. »In meinem Alter verheißt Post nichts Gutes.«

Nele lächelt, obwohl sie der Satz traurig macht, und Balu zieht an der Leine und damit Nele aus ihren Gedanken.

»Schönen Abend noch!«, ruft sie, ein bisschen zu laut, und Irma, die sehr glücklich ist über ihr dänisches Hörgerät, lächelt, wünscht dasselbe und bleibt am Fuße der Treppe allein zurück.

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In dem Augenblick, den du Gegenwart nennst, leben in uns sechzehn Personen, aufgeteilt auf acht Parteien. Raivis schiebt sich die Lesebrille auf die Nase und studiert einen Katalog mit Küchenmessern. Gegenüber macht Suji gerade mit ihrem neuen Schwarm Facetime, während Özlem einen weißen Umschlag beschriftet, in den sie ihre Bewerbung schiebt. Peter räumt Kisten aus, Dorus Reha wurde verlängert, was ihn freut, so kann er den Fleißbolzen davon abhalten, mit noch verheilender Narbe eine Küche einzurichten. Yvonne telefoniert mit ihrer Mutter, Patrick hat Schicht, und Mira sucht nach einem Dankesgeschenk für ihren Erasmus-Koordinator im Laden im Erdgeschoss. Dort gibt es eine Buchhandlung mit stetig wechselnden Nebenprodukten. Zu den Grußkarten, Kalendern, Malbüchern und Kartenspielen gesellten sich zuletzt Tassen, neuerdings ist auch Wolle im Angebot. In uns lebten bislang zweihundertsiebzehn verschiedene Personen, hier sind neun Menschen verstorben, es wurden zweiundzwanzig Kinder gezeugt, aber nur drei hier geboren. Eines dieser drei, Irma, lebt wieder hier und wird mit ihren neunzig in diesem Jahr die längste Zeit mit uns verbracht haben. Irma, unser Jahresring mit fehlender Mitte. Das erste Kind heißt Ruth. Das dritte ist auf dem Weg. Das mag klingen wie eine Textaufgabe, aber keine Bange.

Wir, gerade noch das 19. Jahrhundert gestreift, treten ab 1899 in Erscheinung. Die Dokumente sind akribisch, sofern erhalten, man führt den Nachnamen und den Beruf auf. In den ersten Dekaden wohnten in uns unter anderem Bädergehilfen, Uhrmacher, Postmeister, Wagenführer, Straßenbauer, Schlachter, Metalldreher, Versehrte, Heizer, Bierfahrer, Kolonialwarenhändler, Graveure, Vorrichter, Fuhrunternehmer, Hundedresseure, Kontoristinnen, Feuerwehrwachtmeister, Elektromonteure, nach den Kriegen immer mehr Invalide, Transportunternehmer, Angestellte, Schriftsetzer, Revisionsbüromitarbeiter, Ofensetzer, Speiseeisverkäufer, Autoschlosser, Helfer in Steuersachen, bis dann die ersten italienischen Arbeiter in den Registern erscheinen, ohne Beruf, aber dafür mit Vor- und Nachnamen, was seltsam klingt, aber sie mussten ohnehin so vielen Tätigkeiten nachgehen, das hätte niemals in so ein kleines Feld gepasst. Ab den Siebzigern verschwinden die Berufsbezeichnungen, und alle tauchen mit ihren Vornamen auf. Das gilt auch für die nicht alleinstehenden Frauen, die davor einfach zusammengefasst im Haushalt ihres Gatten unsichtbar blieben. Bis die Vornamen wieder verschwinden, weil als Frau sichtbar alleinstehend zu wohnen auch ein Risiko bedeuten kann. Es ist, und das sagen wir mit Bedauern, nicht leicht. Auch nicht, wenn du zugewandert bist. Manche haben einen kurzen Weg, kommen vom Dorf aus einer Nachbarstadt, andere reisen Hunderte bis Tausende Kilometer. Wir empfangen alle: Familien aus Polen, der Türkei und, über drei Generationen hinweg, aus Griechenland. Wir begrüßen ein Ehepaar aus Marokko und einen Studenten aus Japan, und heute beherbergen wir Raivis aus Lettland, Suji aus Indien und Doru aus Rumänien. Uns freut jedes mitgebrachte Land, jede bewanderte Erinnerung und jede neue Sprache, denn auch nur ein kurzes Bewohnen erweitert unsere Welt um kostbare Facetten. Wir betrachten die Außenwelt mit Neugier. Manches bekommen wir mit, das Meiste nicht. Wir sind nur ein Ort unter vielen, und die Feinheiten und Schicksale, die dich so einzigartig machen, in deinem Erleben und Begreifen, wissen uns höchstens zu streifen. Genau deshalb bist du hier so willkommen und wir ganz neugierig auf deine Schätze.

Wir sind renoviert. Unsere Fassade gilt als dezent, aber wir fühlen uns prächtig. Unsere Rohre führen in zufriedenstellender Fließgeschwindigkeit die Überreste in die Kanalisation. Es ist ein Ausatmen, und wenn das Abwasser den Bereich unserer Wahrnehmung verlässt, entspannt sich der Bauch. Den Strom atmen wir ein. Da strömt die Spannung aus den unsichtbaren Leitungen und erfüllt uns mit der Energie, die aus den Schaltern rast. Solltest du also erwägen, in uns zu wohnen, sei versichert: Es ist günstig. Die Lage gut, die Leute redlich, sobald man sie kennt. Die Hausverwaltung ist bemüht, das dänische Immobilienkonglomerat diskret. Am Monatsanfang wird der Müll sauber getrennt.