Treuer Ungehorsam - Wang Yi - E-Book

Treuer Ungehorsam E-Book

Wang Yi

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Beschreibung

In den schnell wachsenden Städten Chinas entsteht gleichzeitig eine große Anzahl von wachsenden, nicht registrierten Hauskirchen. Angesichts des äußeren Drucks entwickeln diese jungen Gemeinden theologische Perspektiven, die sowohl einzigartig chinesisch als auch zutiefst in den biblischen Lehren des historischen Christentums verwurzelt sind. Um zu verstehen, wie sie trotz der Anfeindung durch die Regierung und dem Abdrängen an den kulturellen Rand überlebt haben, müssen wir sowohl ihre besondere Geschichte als auch ihre Theologie ernst nehmen. In diesem Band werden die wichtigsten Schriften der Hauskirche erstmalig für den deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht. Obwohl sie unter besonderen Umständen entstanden sind, haben sie universelle Bedeutung in einer Welt, in der die Beziehung zwischen Kirche und Staat komplizierter geworden ist. So bietet dieses Buch eine einzigartige Quelle für Fragen des praktischen Glaubenslebens, dem Verhältnis von Glauben und Politik und ist auch für Leser interessant, die sich für internationale Beziehungen, politische Philosophie, Geschichte und interkulturelle Studien interessieren.

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Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wang Yi u. a.

Hannah Nation und J. D. Tseng (Hg.)

Treuer Ungehorsam

Chinas verfolgte Christen

Erste öffentliche Texte der Hauskirchen zu Staat und Kirche

Best.-Nr. 275507 (E-Book)

ISBN 978-3-98963-507-4 (E-Book)

Titel des amerikanischen Originals:

Faithful Disobedience

Writings on church and state from a chinese house church movement

InterVarsity Press, P.O. Box 1400, Downers Grove, IL 60515-1426

ivpress.com, [email protected]

© 2022 by Center for House Church Theology from Urban China

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Außerdem wurden verwendet:NeÜ bibel.heute, © 2010 Karl-Heinz Vanheiden und Christliche Verlagsgesellschaft (NeÜ).

Gute Nachricht Bibel (GNB).

1. Auflage (E-Book)

© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg

[email protected]

Übersetzung: Herrmann Grabe

Fachlektorat: Dr. Wolfgang Häde

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Umschlagmotiv: © Huang Jinhui, CC Wikipedia

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: [email protected]

TREUERUNGEHORSAM

WANG YIu. a.Hannah Nation und J. D. Tseng (Hg.)

CHINAS VERFOLGTE CHRISTEN

ERSTE ÖFFENTLICHE TEXTEDER HAUSKIRCHEN ZUSTAAT UND KIRCHE

„Zum ersten Mal erhalten wir in englischer Sprache Zugang zu einigen der führenden Persönlichkeiten in Chinas nicht registrierten Kirchen. Wir hören von Schicksalen, die von der turbulenten Geschichte des Christentums in China geprägt sind. Bei allen geht es um die schwierige Beziehung der Kirche zum Staat und zur Gesellschaft. Die Christen dort haben sich neu auf eine eschatologische Sichtweise eingestellt. Dieser Einblick in die chinesische Kirche regt zum Nachdenken an und fordert unser Verständnis von einem treuen Christenleben heraus. Das gilt also nicht nur für China, sondern geht weit darüber hinaus.“

Alexander Chow, Universität Edinburgh, Autor von Chinese Public Theology

„Alle Christen leben als Fremdlinge in dieser Welt. Wir, die wir in einem nachchristlichen Umfeld leben, müssen uns erneut fragen, was es für die Kirche bedeutet, Salz und Licht in einer Gesellschaft zu sein, die dem christlichen Glauben feindlich gegenübersteht. Treuer Ungehorsam zeigt uns den Preis, den die Hauskirchen in China für ihre Nachfolge Christi bezahlt haben. Wang Yi und andere liefern uns auch einen klar umrissenen theologischen Rahmen dafür, warum sie dies getan haben. Auch wenn sich nicht alle Hauskirchen einig sind, wie sie sich gegenüber den politischen Behörden verhalten sollen, ist ihr Engagement für die Heilige Schrift und die kommende Welt ein Zeugnis vor der chinesischen Gesellschaft und eine Ermutigung für alle Christen weltweit.“

Timothy Keller (verstorben 2023), Gründungspastor der Redeemer Presbyterian Church in Manhattan

„Pfarrer Wang Yi ist ein chinesischer Theologe im pastoralen Dienst und ein bekannter gesellschaftlich engagierter Intellektueller. Er ist scharfsinnig, wortgewandt und furchtlos. Unter seiner Leitung hat die Early Rain Church den Einfluss der ‚Hauskirchen‘, d. h. der Jiating-Kirchen, auf viele Bereiche der chinesischen Gesellschaft ausgedehnt. Diese Texte-Sammlung zeigt deutlich die Tiefe des chinesischen christlichen Denkens und die Entwicklung ihrer biblischen, historischen, systematischen und praktischen Theologie. Sie ist ein Muss für jeden, der sich für das Christentum in China, die Gesellschaft und Kultur dort interessiert. Außerdem ist sie für alle Christen von Bedeutung, die in der heutigen Welt mit Einschränkungen, Unterdrückung und Verfolgung konfrontiert sind.“

Fenggang Yang, Gründungsdirektor des Center on Religion and the Global East an der Purdue-Universität (Indiana, USA)

„Dieses wichtige Kompendium von Schriften aus der Hauskirchen-Bewegung bietet allen Lesern und auch Wissenschaftlern eine Insider-Perspektive auf die Geschichte der Hauskirchen im Rahmen der chinesischen Kirchengeschichte. Durch eine Kombination von akademischen Aufsätzen, Gottesdienstpredigten und Interviews lenkt der Band die Aufmerksamkeit auf zwei Schlüsselelemente in Wang Yis Schriften, die sein Denken und Wirken bestimmt haben: Da sind erstens die Beziehungen zwischen Kirche und Staat und zweitens seine Theologie des Martyriums mit eschatologischer Dimension.“

Chloë Starr, Professorin für asiatische Theologie und Christentum an der Yale Divinity School

„Die Dinge, die zu unserem Verständnis der Beziehungen zwischen Kirche und Staat beitragen, sind nicht nur im engeren Sinne exegetischer Natur, sondern ergeben sich auch aus unseren Erfahrungen als Christen. Was die Bibel zu solchen Themen sagt, kann sich in unseren Köpfen sehr schnell ein wenig verschieben. Nehmen wir beispielsweise Christen aus den Niederlanden des 19. Jahrhunderts, Stammesleute aus Papua-Neuguinea und Han-Chinesen aus China. Sie alle wollten, wie auch wir, ihr Leben unter der Weisung von Christi Vorsehung in dieser zerrissenen Welt führen. Wang Yi und seine Mitstreiter in diesem herausfordernden Band schreiben in dem vollen Bewusstsein, dass sie nicht die einzige christliche Stimme in China sind, ganz zu schweigen von anderen Ländern, aber sie verteidigen die nicht registrierten Kirchen mit exegetischem Geschick, theologischer Klarheit und pastoraler Sensibilität. Die Kirchen des Westens können viel von ihnen lernen.“

D. A. Carson, emeritierter Professor für Neues Testament, Trinity Evangelical Divinity School

„Wang Yis Treue unter Verfolgung wirft ein Schlaglicht auf das Evangelium, indem sie Ungerechtigkeit und die Tiefe menschlicher Verdorbenheit aufdeckt. Noch wichtiger ist, dass sein Beispiel als leidender treuer Diener Gottes ein Vorbild für alle leidenden Diener Christi darstellt. Durch Gottes Gnade hat sich somit an einem weiteren treuen, unbeugsamen Christen in China gezeigt, wie die Wahrhaftigkeit des Evangeliums in der dunklen und hoffnungslosen Welt aufleuchtet – durch den Dienst dieses leidenden Dieners Jesu Christi.“

David Ro, Regionaldirektor der Lausanner Bewegung Ostasien und Vorsitzender des Kongresses Asien 2022

„Treuer Ungehorsam ist ein Muss für jeden, der die Vitalität, die Gelehrsamkeit, die Ethik und das regimekritische Zeugnis der leitenden christlichen Denker im heutigen China verstehen will. Diese Werke von Wang Yi und anderen verknüpfen sorgfältig die spirituellen und theologischen Wurzeln des Leidens und des Zeugnisses früherer Hauskirchenführer wie Wang Mingdao, um ihr eigenes individuelles, fundiertes und pointiertes öffentliches Zeugnis der Wahrheit gegenüber der Macht im heutigen China zu vertreten. Man kann das gegenwärtige Verhältnis zwischen Christentum und Staat in China auf keine Weise besser verstehen als durch die Beiträge dieser zeitgemäßen Aufsatzsammlung.“

Thomas Harvey, akademischer Dekan des Oxford Centre for Mission Studies und Autor von Acquainted with Grief: Wang Mingdao’s Stand for the Persecuted Church of China

„Das wichtigste Merkmal des globalen Christentums ist das gemeinsame Gespräch, das Christen aus unzähligen verschiedenen Kulturen miteinander führen. Dieses fesselnde Buch bringt eine der dynamischsten christlichen Bewegungen der Welt in die Wohnzimmer von Christen auf der ganzen Welt. Die theologischen Überlegungen von Pastor Wang Yi sind eine unverzichtbare Lektüre für Christen in aller Welt, die über die Zukunft ihres Glaubens nachdenken wollen.“

Todd M. Johnson, Co-Direktor des Center for the Study of Global Christianity am Gordon-Conwell Theological Seminary

„Die Dynamik der Hauskirchenbewegung in China ist trotz all ihrer Schwierigkeiten einer der fesselndsten und inspirierendsten Berichte der Zeitgeschichte. Während die Bewegung als Ganzes meist aus kleineren, unauffälligen Kirchen besteht, ist Pastor Wang Yi eine wichtige Stimme aus größeren, bekannteren Kirchenkreisen. Die ernüchternde Realität seiner derzeitigen Inhaftierung ruft uns umso mehr dazu auf, für ihn (und andere inhaftierte Christen) zu beten und uns ernsthaft mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen.“

Kevin S. Chen, außerordentlicher Professor für Altes Testament am Christian Witness Theological Seminary in San Jose, Kalifornien, und Autor von The Messianic Vision of the Pentateuch

„Dieses fundamental wichtige und einzigartige Buch ist ein Zeitdokument voller Primärquellen und ein Beispiel par excellence nicht nur für nicht registrierte Kirchen in China, sondern auch für die indigenen Theologien weltweit. Seine natürliche Art gibt dem Leser die Möglichkeit, einen Blick auf das zu werfen, was wirklich im Leib Christi auf der ganzen Welt vor sich geht. Dies hilft uns, unser eigenes Selbstverständnis zu schärfen, was wirklich christlich oder was einfach nur unsere Kultur ist. Außerdem hilft es uns als Lernenden, nicht nur zu geben, sondern auch zu empfangen, was der Heilige Geist in der Kirche wirken möchte.“

Allen Yeh, außerordentlicher Professor für interkulturelle Studien und Missiologie an der Biola University und Autor von Polycentric Missiology: Twenty-First-Century Mission from Everyone to Everywhere.

„Die Predigten von Pastor Wang Yi tragen das Herz der neutestamentlichen Briefe in sich, das noch immer durch die Flure der Geschichte hallt. Indem er ein breites Spektrum historischer, politischer, kultureller und geistlicher Themen für seine eigene Early-Rain-Gemeinde behandelt, warnt, ermahnt und bereitet er uns darauf vor, dass die neutestamentliche Realität der Verkündigung einen hohen Preis hat. Das lebt er uns vor. So wie unsere Gebete Pastor Yi in seiner Gefängniszelle stärken werden, wird diese Predigtsammlung Heilige auf der ganzen Welt darin bestärken, Not und Verachtung um des Reiches Gottes willen zu ertragen – auch inmitten unserer eigenen zerbrechlichen Freiheit.“

K. A. Ellis, Direktor des Edmiston Center for the Study of the Bible and Ethnicity

„Treuer Ungehorsam ist eine bemerkenswerte Dokumentation des chinesischen Christentums und der Hauskirchen in China. Es enthält Berichte aus erster Hand über die jüngsten Angriffe auf Hauskirchen, insbesondere auf die Early Rain Covenant Church. Man muss mit Wang Yis Theologie, seiner Charakterisierung der Christen, die zu den Drei-Selbst-Kirchen gehören, oder seiner Art, auf Verfolgung zu reagieren, nicht völlig übereinstimmen, um doch zu erkennen, dass dieses Buch unschätzbare Einblicke in die Kämpfe bietet, die die Early Rain Covenant Church durchgemacht hat. Dieses Buch beschreibt eindringlich das Ringen der Hauskirchen mit der Frage, wie sie inmitten von Verfolgung am wirkungsvollsten Gehör finden können.“

Agnes Chiu, Assistenzprofessorin für Systematische Theologie und Direktorin für Forschung und strategische Initiativen am China Evangelical Seminary North America

FÜR JIANG RONG UND SHU YA

Ich danke meinem Gott bei jeder Erinnerung an euch allezeit in jedem meiner Gebete und bete für euch alle mit Freuden wegen eurer Teilnahme am Evangelium vom ersten Tag an bis jetzt. Ich bin ebenso in guter Zuversicht, dass der, der ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollenden wird bis auf den Tag Christi Jesu.

Philipper 1,3-6

Am Abend kehrt Weinen ein, und am Morgen ist Jubel.

Psalm 30,6

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wolfgang Häde — Hilfsaktion Märtyrerkirche

Vorwort

Ian Johnson

Danksagungen

Einführung

Hannah Nation

Abkürzungen

Zeitleiste mit wichtigen Daten

Teil I: Unser Hauskirchen-Manifest

1.Warum wir eine Hauskirche sind

Wang Yi

2.Das geistliche Erbe der Hauskirche

Jin Tianming

3.Tradition der Hauskirche in China: Nonkonformistisch

Wang Yi

4.Entstehung von Hauskirchen und städtischen Kirchen

Jin Mingri

5.Warum haben wir uns nicht der nationalen DSB angeschlossen?

Sun Yi

6.Die christlichen Rechtsabweichler von 1957

Wang Yi

7.Wir erheben unsere Stimme, um 60 Jahre religiöser Verfolgung zu beenden

Wang Yi

8.95 Thesen

Wang Yi und Early Rain Covenant Church

Teil II: Die eschatologische Kirche und die Stadt

9.Das Missions- und Arbeitslager des Evangeliums

Wang Yi

10.Die Stadt Gottes auf Erden

Wang Yi

11.Der Weg des Kreuzes, das Leben der Märtyrer

Wang Yi

12.Das Kreuz und die Mülldeponie

Wang Yi

13.20 Arten der Verfolgung als Gottes Weise, uns zu weiden

Wang Yi

14.Geschichte ist der großgeschriebene Christus

Wang Yi

15.Eine Gelegenheit für die Gemeinden, den Weg des Kreuzes zu gehen

Wang Yi

16.„Christus ist Herr. Gnade ist König. Trage das Kreuz. Bewahre den Glauben.“

Wang Yi

TEIL III: Verhaftung und der Weg des Kreuzes

17.Eine gemeinsame Erklärung der Pastoren

Die Leitung der Early Rain Covenant Church

18.Was werde ich angesichts von Verfolgung tun?

Wang Yi

19.Meine Erklärung des treuen Ungehorsams

Wang Yi

20.Wie sollte die Kirche der Verfolgung begegnen?

Li Yingqiang

21.Das ist auch mein Standpunkt!

Jin Tianming

22.Brief an alle christlichen Kirchen: Aufruf zum Gebet

Presbyterium Westchina

Fazit

Hannah Nation

Glossar

Weiterführende Literatur

Hilfsaktion Märtyrerkirche – Wir helfen da, wo Christen leiden

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

WOLFGANG HÄDE — Hilfsaktion Märtyrerkirche

Verfolgte Christen warten nicht nur auf unsere tätige Hilfe. Sie haben gleichzeitig für uns als Christen im Westen eine Botschaft. Ihnen zu helfen, aber auch diese Botschaft zu vermitteln ist Aufgabe der „Hilfsaktion Märtyrerkirche“, die vor über 50 Jahren vom verfolgten rumänischen Pfarrer Richard Wurmbrand gegründet wurde.

Allein die Standhaftigkeit vieler Christen in Not ist eine herausfordernde Botschaft an uns. Immer mehr gelangen jedoch auch Zeugnisse theologischer Überlegungen von Verfolgten zu uns. Wenn sie unter großem Druck Antworten in Gottes Wort finden, sollten wir ihrer Stimme aufmerksam zuhören.

Die Texte chinesischer Christen in diesem Buch, besonders von Wang Yi, dem Pastor der Early Rain Covenant Church in der Großstadt Chengdu, sind zuerst einmal Dokumente, die uns teilnehmen lassen an diesen Reflexionen chinesischer Theologen. Nicht alle Schlussfolgerungen, wie etwa die harte Beurteilung der staatlich kontrollierten „Drei-Selbst-Kirche“, die wir als „Hilfsaktion Märtyrerkirche“ so nicht teilen, oder auch das reformierte Gemeindemodell müssen wir vollständig übernehmen.

Doch auf die Fragen, mit denen Pastor Wang Yi sich auseinandersetzt, müssen auch wir Antworten finden. Es geht vor allem um ein dem Reich Gottes angemessenes Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Christen in Deutschland standen und stehen vor sehr ähnlichen Herausforderungen, und das galt nicht nur für die Zeit der Nazi-Herrschaft. Wenn ein Staat Christen einen anderen „höchsten Wert“ neben Christus aufdrängen will, also etwa „Christus und die Nation“ oder „Christus und die Partei“, dann muss die Kirche, so Wang Yi, darin die Gefahr des Götzendienstes erkennen und benennen. Wang Yi hat sein Land immer wieder zur Buße aufgerufen. Wir müssen prüfen, wo auch wir das in unserem Land tun sollten.

Herausfordernd ist für uns auch Wang Yis Theologie der Verfolgung. Die Kirche Jesu Christi muss bereit sein, für Jesus Leiden auf sich zu nehmen. Die größte Gefahr droht in der Verfolgung jedoch nicht den treuen Christen, sondern den Verfolgern, die durch ihr Handeln das Gericht Gottes auf sich und auf ihr ganzes Land ziehen. Das hat Wang Yi unüberhörbar und öffentlich zum Ausdruck gebracht – in dem Wissen, dass die Verfolgung ihn vermutlich bald selbst treffen werde. Seit 2018 ist er in Haft. Er hat sich und seine Gemeinde geistlich und gedanklich bewusst darauf vorbereitet.

Die Mahnung an seine eigene Gemeinde ruft erst recht uns als Christen im Westen zu treuer Nachfolge, auch wenn das bei uns dann „treuen Ungehorsam“ gegen staatliche Einflussnahme bedeuten sollte:

„Wenn ihr nicht für euren Glauben sterben wollt, dann werdet ihr auch nicht dafür leben. Wenn ihr nicht bereit seid, für euren Glauben zu sterben und ganz dafür zu leben, dann ist er nichts wert.“ (S. 244/245)

Möge Jesus Christus die Lektüre dieser Texte an uns segnen!

VORWORT

IAN JOHNSON1

Als ich Wang Yi zum ersten Mal traf, führte er mich in einen Konferenzraum mit Blick auf ein Stadtviertel aus alten, etwas heruntergekommenen Bürogebäuden im Zentrum von Chengdu, der wichtigsten Metropole im Westen Chinas. Es war um das Jahr 2011, und seine Kirche hieß damals noch Early Rain Reformed Church, später wurde sie in Early Rain Covenant Church umbenannt. Wie viele Kirchen, die nicht bei der Regierung registriert waren, war sie in einem Bürogebäude untergebracht. Dieses war ziemlich alt und hatte nur einen funktionierenden Aufzug, der ächzend bis in den 17. Stock fuhr. Ich hatte kurz einen Blick darauf geworfen und dann doch lieber die Treppe genommen.

Ich erklärte, dass ich an einem Buch über das Wiedererwachen der Religion in China arbeitete. Ich hatte viele ländliche Kirchen in den traditionellen christlichen Kerngebieten Chinas besucht, z. B. in der Provinz Henan, aber ich hatte den Eindruck, dass große, städtische Kirchen wie die seine immer wichtiger wurden. Würde er mich bei seinen Gottesdiensten dabei sein und mit den Gemeindemitgliedern sprechen lassen?

Pastor Wang stimmte sofort unter zwei Bedingungen zu: Erstens, nicht in der Kirche zu fotografieren, und zweitens, wenn ich jemanden zitieren wollte, könnte ich das gern tun, bräuchte aber dessen Erlaubnis. Seine Argumentation war einfach: Early Rain hatte nichts zu verbergen. Es war eine öffentliche Einrichtung. Alle waren willkommen, und niemand sollte in dem, was er schrieb, eingeschränkt werden. Wenn ich also seine Kirche besuchen wollte, war das mein Recht. Und wenn ich etwas schreiben wollte, war auch das mein Recht als freier Mensch. Seine Einschränkungen dienten lediglich dazu, die Privatsphäre der Gottesdienstbesucher zu respektieren und den Gottesdienst würdig zu feiern.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich bereits seit Mitte der 1980er-Jahre immer wieder in China. Ich wusste, dass es für mich mit Risiken verbunden war, seine Kirche regelmäßig zu besuchen. Ich fragte ihn nach den Sicherheitsleuten im Erdgeschoss des Gebäudes und ob sie den Behörden melden würden, dass ein Ausländer regelmäßig das Gebäude betrat und in den 17. Stock stapfte.

„Ja“, sagte er. „Aber Ausländern ist es nicht verboten, die Kirche zu besuchen. Wir sind eine offene Organisation. Wir haben nichts zu verbergen. Kommen Sie und feiern Sie mit uns Gottesdienst.“

Wir unterhielten uns noch ein wenig weiter, und mir wurde klar, dass meine Anwesenheit im Vergleich zu den vielen Herausforderungen, mit denen Early Rain konfrontiert war, wahrscheinlich recht unbedeutend war. Und so stimmte ich seinen Bedingungen zu und begann, die Kirche regelmäßig zu besuchen. Ich verbrachte Hunderte von Stunden in Gottesdiensten, Seminaren, Gebetsgruppen und Gesprächen mit Gemeindemitgliedern, von denen fast alle bereit waren, ihre Erfahrungen mit mir zu teilen.

Damit begann für mich eine ungewöhnliche religiöse Erfahrung. Ich war in Kanada als anglikanischer Christ aufgewachsen (in den Vereinigten Staaten heißen sie Episkopale) und fühlte mich ziemlich wohl, wenn ich zur Kirche ging. Aber für mich lag die Schönheit des Gottesdienstes hauptsächlich in der Musik und in der shakespeareschen Sprache der King-James-Bibel oder des Book of Common Prayer. Die meisten Pfarrer, denen ich begegnete, hielten keine wirklich überzeugenden Predigten, und der Gottesdienst der Kirche erschien mir kaum mehr als eine würdige Sonntagmorgenzeremonie, die bestenfalls wichtige Lektionen darüber vermittelte, wie man ein anständiges Leben führen konnte.

In Wang Yis Gottesdiensten zu sitzen war etwas anderes. Seine Predigten waren keine Predigten, die er noch schnell in den Gottesdienst hineinzwängte, damit alle bald zu Kaffee und Donuts in den Gemeindesaal gehen konnten. Es waren schön gestaltete, logisch aufgebaute, lehrreiche Einsichten für das praktische Christentum. Meistens waren sie lang. Es war gar nichts für ihn, eine halbe Stunde zu reden, und die meisten Predigten dauerten sogar 45 Minuten. Und doch wirkten sie nicht langatmig. Er stellte das Christentum nicht als lästige Pflichterfüllung dar, sondern als einen wesentlichen Bestandteil, um der Gesellschaft um uns herum einen Sinn zu geben. Damals war er 38 Jahre alt und hatte sich erst 2005, also sechs Jahre zuvor, bekehrt, und so war auch er auf einer Reise – er lernte die Bibel kennen und lehrte sie gleichzeitig.

Dies ist keine Lobeshymne auf Wang Yi. Wie viele Leiter nicht registrierter Kirchen in China war er ein Autodidakt, der die Bibel auswendig gelernt hatte, aber die Dinge auf eine bisweilen dogmatische Weise sah. Auch seine Ansichten über Frauen (sie durften nicht als Älteste dienen, geschweige denn Pastorinnen sein) waren nicht die meinen. Und er lieferte sich mit Leuten, mit denen er nicht einverstanden war, regelrechte Schlachten, was nicht gerade der christlichste Ansatz zur Problemlösung zu sein schien. Ich glaube, andere Gemeindemitglieder hatten ähnliche Bedenken – einige verdrehten bei seinen Angriffen die Augen oder machten sich über sein feuriges Temperament lustig.

Aber für sie und für mich war der Besuch von Wang Yis Gottesdiensten eine tiefgreifende Erfahrung. Ein Teil davon war, dass die Menschen das Gefühl hatten, an etwas völlig Eindeutigem und Offenem teilzunehmen – etwas, an dem sie sich beteiligen, das sie mitgestalten konnten. Dies ist eine radikale Sache in China, wo in der Regel jemand anderes, meist die Kommunistische Partei Chinas, das Leben der Menschen bestimmt.

Das lag auch an seinem persönlichen Charisma, seiner Redegewandtheit und seinem scharfen Verstand. Seine Predigten waren mitreißend, nicht im Sinne rhetorischer Effekthascherei, sondern wegen der klaren und verständlichen Art und Weise, wie er die Bibel erklärte, sodass sie für das tägliche Leben eines in China lebenden Menschen einen Sinn ergab. Er sprach über reale Probleme und brachte sie mit dieser Religion in Verbindung, die er keineswegs als „westlich“ oder „ausländisch“ ansah, sondern als einen universellen Glauben, der ausgerechnet in dem Teil der Welt entstand war, den wir heute den Nahen Osten nennen.

In meinem Buch ging es auch um andere Religionen, die von ethnischen Minoritäten in China oder den dominierenden Han-Chinesen praktiziert werden, und so verbrachte ich auch Zeit mit Buddhisten, Daoisten und Anhängern von Stammesreligionen. Auch diese waren idealistische Menschen, die versuchten, ihren Anhängern eine moralische Struktur zu geben. Dieses Ziel ist nach wie vor für viele Chinesen wichtig, die sich von der im Grunde amoralischen Welt, die die Kommunistische Partei Chinas seit ihrer Machtübernahme 1949 errichtet hat, bedrängt fühlen. Viele dieser anderen religiösen Führer hatten ebenfalls engagierte Anhänger, die in ihren spirituellen Botschaften Sinn und Werte fanden.

Aber Wang Yi – und andere nicht registrierte protestantische Kirchen – waren am direktesten mit ihren Anhängern verbunden. Sie boten die beste Hilfe und Beratung an und waren ausgezeichnet organisiert, gründeten häufig Schulen, Seminare und organisierten Jugendgruppen. Dies erklärt, warum das protestantische Christentum weithin als die am schnellsten wachsende Religion Chinas angesehen wurde, bis in den 2010er-Jahren ein hartes Vorgehen gegen sie begann.

Wang Yi war sich über diese Risiken im Klaren. Er wusste, dass er jederzeit verhaftet werden konnte, aber er weigerte sich, in die von der Kommunistischen Partei Chinas gepflegte Kultur der Geheimhaltung hineingezogen zu werden. Deshalb lehnte er auch die Bezeichnung „Untergrundkirche“ ab. Seine Kirche war einfach eine Kirche und hatte die gleiche Existenzberechtigung wie die offiziellen Kirchen. Sie war nicht registriert, weil sie sich dafür entschieden hatte, nicht registriert zu sein. Ich fand diese Logik überzeugend und bevorzuge in meinen Schriften den Begriff „nicht registriert“, weil er zutreffender ist als „Untergrundkirchen“, die oft gar nicht im Untergrund existieren, oder „Hauskirchen“, die eigentlich nur kleine Gruppen von etwa einem Dutzend Menschen bezeichnen. Denn es handelt sich bei ihnen oft um Kirchen, die Büroräume mieten und Kindergärten, Seminare und sogar Buchhandlungen betreiben. Sie sind das, was Politikwissenschaftler als Zivilgesellschaft bezeichnen – Gruppen, die unabhängig von staatlicher Kontrolle existieren.

Nicht alle Religionen auf der Welt sind mit diesen Problemen konfrontiert. Einige haben das Glück, in offenen Gesellschaften zu leben, die Religionsfreiheit gewähren. Andere sind staatlich anerkannte Religionen, die die Vorzüge, aber auch die Pflichten der staatlichen Unterstützung genießen. Aber bis zu einem gewissen Grad müssen alle Gläubigen entscheiden, wie sie mit den Behörden umgehen wollen. Wang Yi und andere Leiter der nicht registrierten Kirchen Chinas haben sich darüber Gedanken gemacht und versucht, durch Erklärungen und Manifeste Antworten zu finden. Viele davon sind in diesem Buch dokumentiert.

Diese Aufsätze können als spezifisch für China angesehen werden, spiegeln aber auch eine bemerkenswerte explosionsartige Verbreitung des Glaubens wider, die in vielen Ländern zu beobachten ist. In China war der Glaube lange Zeit verboten. Jetzt aber ist er auf dem Vormarsch, was die Behörden verblüfft. Einige Glaubensrichtungen wurden vereinnahmt, insbesondere der Buddhismus und der Taoismus, Chinas einheimische Religion, die nun staatliche Unterstützung, aber auch strenge staatliche Kontrolle erleben. Andere Religionen, wie z. B. der Islam, werden regelrecht unterdrückt. Hier hat die Regierung vor allem in der westlichen Region Xinjiang eine brutale Kontrollpolitik betrieben. Wieder andere, wie der Katholizismus, waren Teil schwieriger Aushandlungen darüber, wie Bischöfe geweiht werden. Was die Protestanten anbelangt, so ist es das Ziel der Regierung, alle Kirchen in die staatlich kontrollierte Organisation zu zwingen. Denjenigen, die sich weigern – wie die Kirche von Wang Yi –, droht die Zerschlagung oder zumindest eine radikale Verkleinerung.

Viele dieser Kämpfe innerhalb Chinas haben globale Auswirkungen. China ist heute die größte buddhistische Nation der Welt und versucht, dies in Form von „weicher Macht“ in anderen buddhistischen Ländern zu nutzen. Die Unterdrückung des Islams wurde international verurteilt und führte zu einem teilweisen Boykott angesehener Veranstaltungen in China, wie z. B. der Olympischen Winterspiele 2022. Die Verhandlungen der Regierung mit dem Vatikan werden von den rund 1,2 Milliarden Katholiken in aller Welt aufmerksam verfolgt. Inzwischen hat auch das harte Vorgehen gegen den Protestantismus große Aufmerksamkeit erregt, was zum Teil auf die sozialen Medien zurückzuführen ist.

In China wurde diese Kampagne zur Kontrolle der Religion durch neue Gesetze ermöglicht. Diese schützen die Religionsfreiheit nicht, sondern schränken sie ein. Darin spiegelt sich ein genereller Aspekt des Rechtssystems in China wider. Idealerweise sollten die Gesetze über den Launen eines Herrschers stehen – als Rechtsstaatlichkeit, als „Herrschaft des Gesetzes“. Aber in China und in vielen anderen Ländern ist das Gesetz ein Instrument der Unterdrückung – „Herrschaft durch Gesetze“. Es ist diese Art von staatlich kontrolliertem Rechtssystem, das in den letzten zehn Jahren die nicht registrierten Kirchen Chinas ins Visier genommen hat und 2018 zur Verhaftung von Wang Yi führte. Einige sahen das harte Vorgehen gegen Wang Yi und seine Kirche als Sonderfall an und argumentierten, dass er zu forsch gewesen sei. Diese Kritik übersieht jedoch die Tatsache, dass der Staat gegenüber allen Religionen nervös reagiert und dass letztendlich alle ins Visier genommen werden, wie die Ereignisse belegen.

All diese Risiken waren Wang Yi klar, als ich ihn vor einem Jahrzehnt traf. Er schrieb oft über die Gefahr einer Verhaftung und darüber, wie man sich angesichts eines repressiven Staates verhalten solle. Er entschied sich jedoch für den Kurs radikaler Transparenz. Er ließ seine Predigten aufzeichnen und stellte eine Sammlung davon allen Besuchern zur Verfügung – seien es Gläubige oder Polizisten.

Die Menschen der Early Rain Church kamen nicht heimlich durch die Hintertür, sondern trugen ihre Sonntagskleidung und Namensschilder. Sie waren stolz darauf, Yis Kirche zu besuchen, und taten dies auch ganz offen. Dies war ihre Kirche, eine kleine Insel der Selbstbestimmung in einem Meer von staatlicher Kontrolle, geleitet von einem energischen Idealisten.

„Es ist riskant, so öffentlich zu leben“, sagte er mir an diesem Morgen. „Aber im Untergrund zu agieren ist, glaube ich, das größere Risiko. Wir werden keine freie Gesinnung haben, wenn wir nicht frei handeln. Freiheit gehört zur Grundhaltung des Christseins. Aber man kann nicht frei leben, wenn man sich für einen Kriminellen hält. Also versuchen wir, diesen Weg der Offenheit zu gehen.“

Wang Yi hat diesen Weg in gutem Glauben beschritten, bis er verschlossen wurde. Jetzt, da er im Gefängnis sitzt, fällt mir wieder ein, was er einmal in einem Brief an seine Frau Jiang Rong schrieb für den Fall, dass er verhaftet würde:

„Ich bin immer noch Missionar, und Du bist immer noch die Frau eines Pastors. Das Evangelium war gestern unser Leben, und es wird auch morgen unser Leben sein. Denn derjenige, der uns berufen hat, ist der Gott von gestern und der Gott von morgen.“

1Ian Johnson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Journalist, der seit 35 Jahren über den sozialen Wandel, die Politik und das religiöse Leben in China schreibt. Er ist Senior Fellow für Chinastudien beim Council on Foreign Relations und schreibt regelmäßig für die New York Times.

DANKSAGUNGEN

Unser Dank und unsere Anerkennung gelten den vielen Menschen, die dieses Buch mit Rat und Tat unterstützt haben.

Zunächst möchte ich mich bei „Urban Farmer“ bedanken, der die Idee zu diesem Buch gepflanzt und eine frühe Übersetzung des „Unser Hauskirchen-Manifest“ betreut hat. Er hatte die Weitsicht, die Bedeutung des Manifests lange vor den Ereignissen von 2018 zu erkennen und Wang Yis Wunsch zu übermitteln, das Manifest außerhalb Chinas zu verbreiten.

Wir danken den Stipendiaten, Beratern und Mitarbeitern des Zentrums für Hauskirchentheologie für ihre vielfältigen Beiträge und Ratschläge. Besonderer Dank gilt Clara Kim, „Apollos Bell“, „Jin Chen“ und Brandon O’Brien.

Wir danken den vielen Übersetzern, die im Laufe der Jahre treu an diesen Texten gearbeitet haben, insbesondere Ryan, dessen sprachliche Begabung und Führungsqualitäten es ermöglicht haben, die Theologie der chinesischen Hauskirchen weithin zu verbreiten.

Vielen Dank an Trey Nation und Erik Lundeen, die für die Beantwortung theologischer Fragen zur Verfügung standen und dabei halfen, versteckte Hinweise aufzuspüren.

Wir sind Jon Boyd zutiefst dankbar, dass er sich auf dieses Projekt eingelassen hat, und für seine unendliche Geduld mit uns, während wir unzählige Details untersucht haben.

Und zu guter Letzt möchten wir uns bei einer sehr wichtigen Gruppe von Chinesen bedanken, die uns bei der Kommunikation mit den notwendigen Stellen in China geholfen haben. Ihre Namen bleiben anonym, aber die Früchte ihrer Treue sind offensichtlich.

EINFÜHRUNG

HANNAH NATION

Am Sonntag war Wang Yi an der Reihe zu predigen. Er trug ein hellblaues Oxford-Hemd mit kurzen Ärmeln und eine gestreifte Krawatte. Er sprang vorwärts und hielt sich an der Kanzel fest wie an einem Pogo-Hüpfstab. Er sprach über die heutige Bibellese, die Geschichte von der Speisung der 5000 durch Jesus mit nur wenigen Fischen und Broten – also über ein Wunder.

„Genauso sind die Gemeinden in China heute. Man hört so viele Leute sagen, vor allem solche Intellektuelle, wie ich es früher war: ‚Das Christentum kann die wirtschaftliche Entwicklung fördern. Der Kapitalismus wurde vom Christentum eingeführt. Es kann uns zu Nahrung und Kleidung verhelfen. Es kann eine zivilisiertere Form des Handels fördern, die auf Vertrauen basiert.‘

Das Christentum kann zu Demokratie und Menschenrechten führen. Es kann uns zu einem Staat machen, der auf einer rechtsstaatlichen Verfassung basiert. Mit anderen Worten: Wie das himmlische Manna und die Brote im Evangelientext kann das Christentum uns ermöglichen, uns satt zu essen. Das Christentum kann eine wirklich harmonische Gesellschaft hervorbringen.

Aber darum geht es in den Evangelien nicht. Was ist die Beziehung zwischen den Evangelien und dem Kapitalismus? Es gibt keine Beziehung. Was ist die Beziehung zwischen Gott und der Demokratie? Da gibt es keine Beziehung. Was ist die Beziehung zwischen dem Christentum und einem satten Magen? Es gibt keine Beziehung.

Das heißt nicht, dass wir nicht für Freiheit und Demokratie eintreten sollten und dafür, dass die Menschen sich satt essen können. Aber das ist nicht das, worum es in der Bibel geht.“

Stattdessen gehe es darum, dass Gott sich durch Jesus offenbart. Es beginne damit, dass jeder Einzelne Verantwortung für sein eigenes Handeln übernimmt, sagte er, und es beginne mit dem griechischen Verb „sein“. Und dann begann er zu rezitieren.

„Ego eimi“, sagte er auf Altgriechisch. „Ich bin. Ich bin das Brot des Lebens.

Ich bin das Licht der Welt.

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich bin.“2

Am 9. Dezember 2018 wurde Wang Yi (王怡), der Pastor der Early Rain Covenant Church (秋雨圣约教会) in Chengdu, China, festgenommen und inhaftiert. In den darauffolgenden Tagen und Wochen wurden auch die gesamte Leitung von Early Rain und Hunderte von Mitgliedern verhaftet, und das gesamte materielle Eigentum der Kirche wurde zerstört oder beschlagnahmt. Ein Jahr später, im Dezember 2019, wurde Wang Yi zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Diese Ereignisse sorgten weltweit für Schlagzeilen. In den USA berichteten sowohl die New York Times als auch Fox News darüber. Im Vereinigten Königreich berichteten mehrere Sender, darunter die BBC, über Wang Yi und Early Rain.3 Viele nordamerikanische und europäische diplomatische Vertretungen äußerten sich zu seiner Verurteilung und missbilligten das Vorgehen der chinesischen Regierung.

Teilweise wurde diese weltweite Aufmerksamkeit auf Chengdu durch eine Erklärung gelenkt, die Wang Yi vor seiner Verhaftung verfasst hatte und die von Early Rain 48 Stunden nach seiner Festnahme veröffentlicht wurde. „Meine Erklärung des treuen Ungehorsarms“ („My Declaration of Faithful Disobedience“) wurde kurz nach Wang Yis Verhaftung ins Englische und in mehrere andere Sprachen übersetzt und fand im Internet Hunderttausende von Lesern. Obwohl in den letzten zehn Jahren auch mehrere andere prominente Hauskirchen geschlossen und ihre Leiter verhaftet wurden, ist Wang Yis schriftliche Erklärung eine der ersten Erklärungen eines Hauskirchenpastors im 21. Jahrhundert, die weite Verbreitung fand.

In der Medienberichterstattung über die Verhaftung von Wang Yi und über die Schließung von Early Rain blieb die genaue Art des Konflikts zwischen Wang Yi und den chinesischen Regierungsbehörden unklar. Für die Medien außerhalb Chinas war es am einfachsten, die Darstellung von Menschenrechtsverletzungen und politischer Verfolgung aufzugreifen. Diese Darstellung ist zwar nicht falsch, hat aber mehr mit der westlichen Wahrnehmung Chinas und der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) zu tun als mit den Äußerungen und Überzeugungen von Wang Yi selbst. Unabhängig davon, wie der Westen oder die KPC Wang Yis Konflikt mit dem Staat einordnet oder versteht, hat er selbst ein sehr spezifisches und besonderes Verständnis von den Ereignissen.

Für Wang Yi ist der Konflikt zwischen seiner Kirche und dem Staat in erster Linie – und vielleicht ausschließlich – als ein geistlicher Konflikt im Rahmen einer realen, eschatologischen Dimension zu verstehen. Für Wang Yi ist der Konflikt zwischen Early Rain und der KPC ein Konflikt zwischen der Stadt Gottes und der Stadt des Menschen, ein Konflikt darüber, wer die Autorität über die Menschheit und die Schöpfung hat. Indem dieses Buch die Schriften Wang Yis in deutscher Sprache für sich selbst sprechen lässt, versucht es, diese theologische Dimension in die Berichterstattung über Wang Yi miteinzubeziehen. Niemand kann die hochkomplexe religiöse Demografie Chinas und die sich daraus ergebenden politischen Konflikte verstehen, ohne zu versuchen, den vielfältigen theologischen Konflikt der chinesischen Pastoren zu verstehen.

Mit anderen Worten: Um die politischen Konflikte zwischen Kirche und Staat in China aus der Perspektive der beteiligten Kirchen zu verstehen, muss man damit beginnen, die Theologie zu verstehen, die sie erarbeitet haben und als Grundlage für ihre Entscheidungen verwenden.

WAS IST EINE HAUSKIRCHE?

Wenn der Leser kein chinesischer Staatsbürger oder Sinologe ist, wird er sich beim Lesen eines Hauskirchen-Manifests wahrscheinlich zuerst fragen, was genau eine Hauskirche ist. Das Verständnis von der Hauskirche in China ist in der weltweiten Christenheit im Allgemeinen höchst unklar. Wir denken dabei oft an dunkle Räume, in denen sich ein Dutzend Menschen versammelt und flüsternd betet, wo niemals laut gesungen wird, und schließlich einer nach dem anderen leise wieder geht, um nicht aufzufallen. Während dieses Bild vor etwa 30 Jahren auf die Realität vieler chinesischer Christen zutraf, trifft es auf die Hauskirche heute nicht mehr zu.

Lassen Sie mich ein anderes Bild malen. Ich weiß von einer Hauskirche in einer bedeutenden Stadt im Landesinneren, die vor etwa einem Jahrzehnt durch das Evangelium der Gnade nach der historisch reformierten Theologie eine starke Erneuerung erlebte. Der Pastor dieser Gemeinde erlebte eine persönliche Erneuerung durch ein neues Verständnis der Freiheit des Evangeliums, und die Frucht seiner persönlichen Erneuerung war die Erweckung der übrigen Leiter der Gemeinde. Diesen Leitern fielen später dann viele Dinge in dem Wohnblock auf, in dem die Kirche Räume gemietet hatte, ebenso im umliegenden Wohnkomplex. Überall musste aufgeräumt und repariert werden. Sie überzeugten die Gemeinde, sich öffentlich an der Instandsetzung des Gebäudes zu beteiligen: Sie reparierten Lampen in den Fluren, sammelten Müll und trugen so zum Allgemeinwohl des Stadtteils bei. Diese Aktionen fielen nicht nur den unmittelbaren Nachbarn der Kirche auf, sondern auch den Sicherheitsbeamten und Polizisten in der Nachbarschaft, und schließlich wurde der Pastor zu einem Treffen mit diesen untergeordneten Verwaltungsbeamten gerufen. Die örtlichen Behörden beschlossen, nicht einzugreifen, und die Kirche wuchs auf mehr als 500 Mitglieder an, die sich auf mehrere Tochtergemeinden verteilten. Bis 2018 engagierte sich diese große Kirche öffentlich und pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu den örtlichen Behörden. Seit 2018 hat sich die Beziehung zu den Behörden geändert. Dennoch ist die Kirche weiterhin in dem Stadtteil aktiv und wächst weiter. Und trotz all dieser politischen, theologischen und zahlenmäßigen Veränderungen hat sie sich stets als „Hauskirche“ bezeichnet. Dies ist eine der Realitäten des städtischen chinesischen Christentums.

Stellen Sie sich bei der Lektüre von Wang Yis Manifest nicht die ländlichen Hauskirchen der 1960er- und 1970er-Jahre vor – verstreut und Schutz suchend. Denken Sie eher an Chinas schillernde, schnell wachsende Städte, in denen die Menschen ihren materiellen und sozialen Träumen nachjagen und sich mit der Vielzahl von Ideen und Philosophien auseinandersetzen, die auch so viele andere urbane Zentren der Welt prägen. In diesem Licht stelle ich fünf Merkmale heraus, mit denen wir beginnen können, die Hauskirche zu verstehen und zu definieren.

Erstens: Die Hauskirche ist nicht registriert. Am grundlegendsten für die Identität der chinesischen Hauskirchen ist die Weigerung, der Aufforderung der Regierung nachzukommen, sich registrieren zu lassen und sich den offiziellen Strukturen zu unterwerfen, die in der Volksrepublik China (VRC) für die Regulierung und Beaufsichtigung aller religiösen Praktiken bestehen – einschließlich Theologie, Predigt und pastoraler Ausbildung, kurz gesagt, der gesamten geistlichen Leitung einer Gemeinde.

Das Christentum ist in China streng genommen nicht illegal, obwohl es zeitweise stark unterdrückt und in den 1960er und 1970er-Jahren sogar aus der Öffentlichkeit verschwunden war. Vor der kommunistischen Revolution konnte das Spektrum des chinesischen protestantischen Christentums vereinfacht gesagt anhand seiner Beziehung zum Westen beschrieben werden, wobei am einen Ende einheimische unabhängige Gruppierungen wie die Wahre Jesus-Kirche (True Jesus Church) zu finden waren und auf der anderen Seite Kirchen, die zur anglikanischen Gemeinschaft gehörten. Mit der Ausweisung aller westlichen Missionare und dem Abbruch aller konfessionellen Beziehungen durch die Kommunisten in den 1950er-Jahren änderte sich dies jedoch völlig. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die grundlegende Beziehung, die die Unterschiede zwischen Kirchen in China definiert, nicht mehr die Beziehung zum Westen, sondern die zur KPC. Auf der einen Seite dieser neuen Achse steht ein bedeutender Teil des chinesischen Christentums innerhalb der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung (DSB), einer staatlich genehmigten Organisation, die sich der Autorität der KPC unterwirft. Auf der anderen Seite stehen die Kirchen, die sich weigern, sich bei der DSB registrieren zu lassen, und in der historischen Tradition der „Hauskirchen“ stehen. Während der explosionsartigen Ausbreitung des Christentums in China um die Jahrtausendwende schien es jahrzehntelang so, als ob sich ein Mittelweg auftun könnte, der halbstaatlich sanktionierte Kirchen im „grauen Bereich“ zulässt. In den letzten zehn Jahren scheint dieses Phänomen jedoch zunehmend zu verschwinden, da die Regierung die Einhaltung der Vorschriften für religiöse Angelegenheiten durchsetzt, die seit 2018 wirksam sind.

Natürlich ist dies eine einfache Skizze eines Systems, das sehr komplex ist. Wo ordnen wir z. B. eine große nicht registrierte Kirche in Wenzhou ein, die öffentlich Gottesdienst feiert, deren Kreuze aber abgerissen wurden?4 Oder eine neue nicht registrierte Kirche, die sich in einem Ballsaal eines Hotels mitten in Shanghai trifft und deren Pastor sich in den 2000er-Jahren durch einen amerikanischen Missionar bekehrt hat und der seine theologische Ausbildung im Ausland erhielt? Können wir solche Kirchen mit Recht als „Hauskirchen“ bezeichnen?

So sagte mir ein guter Freund, der mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Arbeit mit nicht registrierten Kirchen vor Ort hat:

„Mir fällt keine nicht registrierte Kirche ein, die sich nicht selbst als ‚Hauskirche‘ bezeichnet. Es gibt ein unbestreitbares historisches Erbe, mit dem sich nicht registrierte Kirchen identifizieren. Sogar diejenigen, die am öffentlichsten und offensten waren, haben sich selbst als Hauskirchen deklariert, nicht wegen des Ortes, an dem sie sich trafen, nicht einmal wegen ihres theologischen Hintergrunds, sondern wegen des historischen Erbes der nicht registrierten Kirchen in China.

Ich habe an Gebetstreffen mit Leitern von Wenzhouer, charismatischen, städtischen Reformierten und völlig ungebundenen Hauskirchen teilgenommen. Sie sind alle sehr unterschiedlich, und in gewisser Weise war es für viele von ihnen wie ein Wunder, dass wir alle zum Gebet zusammenkommen konnten. Aber als jemand den Gottesdienst leitete und ein Kanaan-Lied anstimmte, begannen sie alle gemeinsam zu singen, als ob sie aus derselben Kirche kämen. Der Grund dafür ist, dass die Kanaan-Hymnen von Xiaomin ein Erkennungsmerkmal sind, das alle Hauskirchen gemeinsam haben.5

Es gibt ein gemeinsames Erbe der Nichtregistrierten, das als Grenzlinie dient.“

Zweitens: Die Hauskirche ist nicht geheim. Nur weil die Hauskirche nicht registriert und daher nach manchen Auslegungen illegal ist, bedeutet das nicht, dass sie eine Kirche im Verborgenen ist. Im Allgemeinen sind Hauskirchen vorsichtig und versuchen, nach der Weisung Christi zu handeln, klug wie Schlangen und aufrichtig wie Tauben zu sein. Und da die Beschränkungen für nicht registrierte religiöse Praxis seit Anfang 2018 erneut verschärft wurden, haben die meisten Kirchen erhebliche Vorkehrungen getroffen, um ihre Aktivitäten vor unerwünschten Blicken zu schützen und ihre Mitglieder vor gesellschaftlichem und staatlichem Druck zu bewahren. Aber im Allgemeinen sind chinesische Hauskirchen nicht völlig verborgen. Einige können nur durch Mundpropaganda gefunden werden, aber die meisten schrecken nicht davor zurück, ihre Existenz vor Ort bekannt zu machen, und die meisten Chinesen, die in städtischen Zentren leben, haben mindestens eine Person getroffen, die sich zum Christentum bekennt.

Die Hauskirchen sind kein Geheimnis, auch weil die Hauskirchen oft groß sind. Die neue Ausgabe der World Christian Encyclopedia (WCE) schätzt, dass es in China heute 112 030 000 Christen aller Konfessionen gibt (7,9 % der Gesamtbevölkerung), und sie geht davon aus, dass sich diese Zahl bis 2050 fast verdoppeln wird.6

Viele, die in China dienen, bezweifeln diese Zahlen ernsthaft und geben sich mit Zahlen um die 70 Millionen zufrieden.7 Ein Regierungsbericht aus dem Jahr 2018 nennt jedoch 38 Millionen Anhänger innerhalb der protestantischen DSB. Das bedeutet: Wenn die Zahlen der DSB stimmen und die Skeptiker der hohen Zahlen der WCE recht haben, ist die Anteil der nicht registrierten protestantischen Christen an der chinesischen Gesellschaft immer noch so groß, dass sie unmöglich verborgen sein können.8

Drittens: Die Hauskirchen sind theologisch stark engagiert. In dem Maße, wie die Hauskirchen wachsen und sich ihre demografische Entwicklung in Richtung der städtischen Zentren Chinas verschiebt, nimmt auch ihre theologische Arbeit zu. Die Möglichkeiten der theologischen und seelsorgerlichen Ausbildung im In- und Ausland haben in erheblichen Maß zugenommen, und trotz des wachsenden politischen Drucks auf die Hauskirchen ist das Ausmaß der theologischen Reflexion, der Publikationen und der Anwendung auf den eigenen Kontext beeindruckend. Damit verbunden sind ein verstärktes globales Bewusstsein und wachsende internationale Beziehungen. Nach der Isolation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen die Hauskirchen ein stärker werdendes Bedürfnis nach Interaktion und Austausch mit der weltweiten Gemeinde. Ein großer Teil der Hauskirchen, vor allem in den zahlreichen städtischen Zentren Chinas, hat großes Interesse an Kirchengeschichte und systematischer Theologie und bemüht sich sehr darum, sich in den globalen Diskurs über beide Themen einzubringen. Im Gegensatz zu den chinesischen Kirchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die bei diesen globalen Interaktionen auf die Unterstützung westlicher Denominationen und Organisationen angewiesen waren, ist die heutige Hauskirche besser in der Lage, sich als unabhängiges Gegenüber zu positionieren, ohne zu den früheren Strukturen der Abhängigkeit von externen kirchlichen Autoritäten zurückzukehren. In der Praxis liegt dies auch an der Einschränkung von Kontakten und Verbindungen zu anderen Kirchen durch die chinesische Regierung.

Es ist zwar hilfreich, das verstärkte theologische Engagement innerhalb der Hauskirchen wahrzunehmen, doch wäre es falsch, daraus abzuleiten, dass dies etwas völlig Neues sei. Tatsächlich war für Wang Mingdao, die Vaterfigur der Hauskirchen, nach seinem eigenen Bericht der theologische Streit zwischen Liberalen und Fundamentalisten im 20. Jahrhundert der auslösende Faktor. Im Laufe dieses Buches wird der Leser mehrfach auf Hinweise auf seinen Aufsatz „Wir – um des Glaubens willen“ stoßen, der weithin als grundlegendes Dokument für die Entstehung der chinesischen Hauskirchenbewegung gilt. Der 1955 von Wang Mingdao verfasste Aufruf an die chinesischen Christen, sich nicht der patriotischen Drei-Selbst-Bewegung9 anzuschließen, fällt dadurch auf, dass er weder die Kommunistische Partei Chinas noch den Kommunismus oder Regierungen im Allgemeinen erwähnt. Wang Mingdao war ein unabhängiger chinesischer Pastor, ohne denominationelle oder finanzielle Verbindungen zu westlichen Konfessionen oder Missionaren, und als solcher erfüllte er viele der Ideale für religiöse Unabhängigkeit, die die KPC forderte. Auch nach der Machtübernahme durch die KPC sprach er sich nicht gegen die neue Regierung aus. Seine gesamte Argumentation gegen die DSB war theologischer Natur: Er konnte sich nicht guten Gewissens mit denen zusammentun, die nicht an die Grundlagen des Glaubens glaubten – wie die Jungfrauengeburt, die individuelle Erlösung von der Sünde und die Auferstehung der Toten beim zweitem Kommen Jesu. Wang Mingdaos Widerstand gegen die religiösen Organisationen der KPC, der sich allein auf theologische Argumente gegen die liberale Theologie stützte, zeigt, dass das chinesische Christentum schon vor der Machtübernahme der KPC theologisch motiviert war. Es war die Theologie, die seine Reaktion auf die patriotische Drei-Selbst-Bewegung prägte. Wie Frank W. Price 1956 nach der Veröffentlichung von „Wir – um des Glaubens willen“ schrieb, „erschüttert eine akute theologische Kontroverse die chinesische Kirche. Dieses wird sich wahrscheinlich in verschiedenen Formen fortsetzen. Neue Verfechter des Glaubens werden auftauchen, vielleicht aus verschiedenen theologischen Schulen“.10 Die chinesische Kirche des frühen 20. Jahrhunderts war keine ungebildete oder oberflächliche Kirche; in ihr gab es viele tiefgründige Schriftsteller und Prediger, und so ist es auch heute noch.

Viertens: Die Hauskirche ist nicht einheitlich. Um es ganz klar zu sagen: Abgesehen von ihrer besonderen Weigerung, sich der Autorität der KPC zu unterwerfen, gibt es keine einheitliche Theologie oder gar Identität der Hauskirchen. Chinas Hauskirchen sind traditionell dem pietistischen Fundamentalismus zuzuordnen, und dies ist nach wie vor ein wichtiges theologisches Kennzeichen der Hauskirchen. Aber es gibt auch charismatische, im weitesten Sinn evangelikale und reformierte Strömungen innerhalb der Hauskirchen, und man darf die katholische Hauskirche nicht vergessen. Unter diesen vielen Strömungen ist eine gnadenzentrierte Theologie, die sich auf die historische Soteriologie der protestantischen Reformation stützt, in den städtischen Zentren Chinas auf dem Vormarsch. Aber die Hauskirchen und ihre theologischen Überzeugungen sind vielfältig, und das wird wahrscheinlich auch so bleiben, wenn die Hauskirchen sich auf die vielen verschiedenen Formen des Christentums einlassen, die außerhalb der nationalen Grenzen Chinas zu entdecken sind.

Fünftens: Die Hauskirche ist chinesisch. Das klingt wie die Feststellung einer offensichtlichen Tatsache. Aber eine der bemerkenswertesten Facetten der chinesischen Hauskirche ist ihr wirklich einheimischer Charakter. Selbst nachdem sich China Ende des 20. Jahrhunderts wieder dem Westen geöffnet hatte und Hunderte von Missionaren kreative Wege fanden, in das Land einzureisen, ist die Kirche in China nie wieder zu dem zurückgekehrt, was sie vor der kommunistischen Revolution war. Mit dem abrupten Ende der gesamten westlichen Missionsunternehmungen in China wurde die chinesische Kirche zur größten von Einheimischen geführten Bewegung in der gegenwärtigen globalen Kirchengeschichte.

Diese Merkmale sind bei der Lektüre des Werks von Wang Yi zu beachten. Die ersten drei werden von Wang Yi selbst deutlich gemacht, aber die Punkte vier und fünf sind hilfreich, um die Argumente von Wang Yi richtig einordnen zu können. Das Publikum, das er in erster Linie überzeugen will, besteht aus Chinas Christen in den Hauskirchen, ob charismatisch, fundamentalistisch oder reformiert. Obwohl seine Schriften auch außerhalb Chinas wichtig sind, richten sie sich in erster Linie an eine Kirche, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität mit kulturellem und politischem Druck, mit theologischen Auseinandersetzungen und zahlenmäßigem Wachstum ringt.

WER IST WANG YI?

Wang Yi wurde 1973 in Santai, einer kleinen Stadt in der Provinz Szechuan 130 Kilometer nordöstlich von Chengdu, geboren. 1996 schloss er sein Jurastudium an der Universität Szechuan ab und begann, an der Universität Chengdu Rechtswissenschaften zu unterrichten; außerdem engagierte er sich im Bereich der Menschenrechte. Wang heiratete seine Jugendliebe Jiang Rong (蒋蓉), der er über 800 Liebesbriefe geschrieben hatte, während sie in einer anderen Stadt studierte.

Wang Yi begann Ende der 1990er-Jahre, online und für verschiedene chinesische Zeitschriften zu schreiben. Im Jahr 2003 wurde er Kolumnist für China News Weekly und trat dem Independence Chinese Pen Center bei. Außerdem veröffentlichte er zehn Bücher im Internet. Seine Schriften, meist kulturelle und politische Kommentare, verschafften Wang Yi nationale Aufmerksamkeit. Im Jahr 2004 wurde er als jüngste Person in die Liste der „50 einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen Chinas“ des Southern People Weekly aufgenommen.

In den frühen 2000er-Jahren hörten Wang Yi und Jiang Rong das Evangelium von christlichen Freunden. Wang Yi beteiligte sich auch an einem Online-Dialog mit chinesischen christlichen Intellektuellen. Jiang Rong wurde zuerst gläubig und ließ sich 2004 taufen. Im April 2005 organisierte das Ehepaar einen Bibelstudienkreis in ihrer Wohnung in Chengdu, obwohl Wang Yi noch nicht Christ war. Kurz darauf bekehrte sich Wang Yi, wurde getauft und begann, in einer Bibelstudiengruppe namens „Early Rain Fellowship“ (秋雨之福团契) zu unterrichten.

Im Jahr 2006 wurde Wang Yi als Vertreter der christlichen Intellektuellen der chinesischen Hauskirchen zu einem Treffen mit Präsident George W. Bush ins Weiße Haus eingeladen. Wang Yi kehrte 2008 nach Washington D. C. zurück, um an der Konferenz für „Christliche Juristen weltweit“ teilzunehmen, und wurde dort mit dem Preis zur Förderung der Religionsfreiheit ausgezeichnet.

Nach seinem Ausscheiden aus der Universität Chengdu gründete Wang Yi 2008 die Early Rain Reformed Church (Reformierte Kirche des Frühregens) (成都秋雨之福归正教会), die er seither leitet. Diese wurde später, nach einer konfliktbeladenen Kirchenspaltung im Jahr 2018, in Early Rain Covenant Church umbenannt. Im Jahr 2011 wurde Wang Yi von einem der ersten einheimischen Presbyterien der chinesischen Hauskirchen zum presbyterianischen Pastor ordiniert. Vor ihrer erzwungenen Schließung im Jahr 2018 wuchs die Early Rain Covenant Church auf mehr als 600 Mitglieder und rund 800 Teilnehmer an. Man gründete mehrere neue Gemeinden und führte ein Ausbildungssystem ein, das von der Grundschule bis zum Hochschulseminar reichte. Wang Yis Predigten, Schriften und Nachrichten rund um Early Rain wurden landesweit von anderen Hauskirchen übernommen und sorgten oft für Spannungen unter den chinesischen Christen.

Innerhalb Chinas ist Wang Yi oft umstritten, da viele Pastoren und Laien in den Hauskirchen es vorziehen würden, die Fragen rund um Kirche und Staat völlig zu vermeiden. Diese Kritiker sind mit Wang Yis klaren Aussagen gegenüber der KPC nicht einverstanden und wenden sich gegen seine Veröffentlichung theologischer Schriften in politischen Blogs und Zeitschriften. Es gibt auch solche, die nicht damit einverstanden sind, dass Early Rain die presbyterianische Kirchenordnung übernommen und Kirchenzucht und klassisch reformierte Lehren eingeführt hat. Darüber hinaus erlebte Early Rain in den Jahren vor Wang Yis Verhaftung eine schmerzhafte Kirchenspaltung, von der viele Details im Internet veröffentlicht wurden. In vielerlei Hinsicht sind Wang Yis Schriften in diesem Buch sowohl an Kritiker innerhalb der chinesischen Hauskirchen als auch an die chinesische Regierung gerichtet. Er möchte andere Christen von seinen Ansichten über den Staat und die Kirche und über deren letztendliche Bestimmung überzeugen.

Wie alle verfolgten Christen kann auch Wang Yi außerhalb Chinas mythologisiert und heroisiert werden, insbesondere von denen, die mit seinem kulturellen Kontext nicht vertraut sind. Aber das ist weder für ihn noch für die Leser dieses Buches hilfreich. Wang Yi ist ein Mensch wie alle anderen, und wie alle Christen bekennt er sich dazu, ein gefallenes und beschädigtes Abbild des Schöpfers zu sein, jemand, der sein Vertrauen auf Jesus als den Retter der Menschheit und deren einzige Hoffnung auf Erlösung setzt. Man muss nicht mit allen Argumenten von Wang Yi übereinstimmen, um zu erkennen, dass er ein begnadeter Denker und eine wichtige Stimme aus der Hauskirche ist, mit der man sich beschäftigen sollte. Dieses Buch möchte den Lesern in den deutschsprachigen Ländern die Möglichkeit geben, sich selbst mit Wang Yis Gedanken auseinanderzusetzen und dabei tiefer zu blicken als in den üblichen Geschichten über „verfolgte Christen“, die so weit verbreitet sind, dass wir oft nur beschränkt fähig sind, tatsächlich auf die Kirchen außerhalb des Westens zu hören. Der beste Weg, Wang Yi zu respektieren und zu ermutigen, besteht darin, das, was er geschrieben hat, ernst zu nehmen, unabhängig davon, ob man mit ihm übereinstimmt oder nicht.

EINE ANMERKUNG ZU DEN QUELLEN

Wie bereits erwähnt, ist Wang Yi ein produktiver Schriftsteller und war schon vor seiner Bekehrung online sehr präsent. Er schrieb regelmäßig öffentliche Briefe an seine Gemeinde; seine Predigten wurden aufgezeichnet und auf der Website seiner Kirche veröffentlicht, bevor diese abgeschaltet wurde; und er betrieb einen persönlichen Blog. Außerdem veröffentlichte er Artikel in verschiedenen externen Blogs, Magazinen und Zeitschriften. Die Quellen in diesem Buch stammen aus dieser großen Vielfalt an Texten und aus mündlichen Äußerungen. Wie Chloë Starr, eine bedeutende Kennerin der chinesischen Theologie schreibt:

Literarische Form und theologischer Inhalt sind ein untrennbares Ganzes. … Chinesische Theologie ist, wie die Lektüre chinesischer Texte, im Wesentlichen beziehungsorientiert: Es handelt sich nicht um die virtuose Darbietung eines Gelehrten, bei der der Leser oder Student den vorgegebenen Schritten bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung folgt, sondern um einen offeneren Prozess, bei dem der Leser als ebenbürtiges Gegenüber eingeladen ist, selbst Verbindungen innerhalb des mitgeteilten Netzwerkes von Andeutungen herzustellen.11

Wang Yi ist sicherlich keine Ausnahme von dieser Beobachtung – die in diesem Buch dargelegte Theologie ist kein akademisches Werk, das systematisch die Frage von Kirche und Staat behandelt. Es ist die theologische Arbeit eines Pastors, der sich um seine Herde sorgt, der schreibt oder zu anderen spricht, während er für sich selbst Fragen beantwortet.

Kurz vor seiner Verhaftung und Inhaftierung wies Wang Yi die Leiter von Early Rain an, alle seine Schriften als offen zugängliche Quellen online zu stellen. In Übereinstimmung mit dieser Anweisung hat Early Rain in Zusammenarbeit mit einer unabhängigen Gruppe die Wang Yi Resource Library ins Leben gerufen, die alle chinesischen Originaldokumente enthält, die in diesem Buch übersetzt, kommentiert und in einigen Fällen auch auszugsweise wiedergegeben werden.12

Dieses Buch kann auf vielfältige Weise gelesen werden. Jedes einzelne Kapitel kann für sich allein stehen; daher glauben wir, dass dieses Buch ein hilfreiches Werkzeug für Forschung im Bereich globaler Theologie, politischer Theologie, für Chinastudien und andere Bereiche sein wird. Es kann auch fortlaufend gelesen werden, da es die Entwicklung der Theologie von Wang Yi nachzeichnet. Der erste Teil dieses Buches, „Unser Hauskirchen-Manifest“, wurde 2010 von Wang Yi selbst verfasst und von Early Rain im Selbstverlag herausgegeben. Später, im Jahr 2015, wurde es überarbeitet und um die „95 Thesen“ ergänzt. Dieser Teil ist viel dichter als der Rest des Buches, da sein Inhalt ursprünglich für wissenschaftliche Blogs, Zeitschriften und Journale geschrieben wurde und nicht aus mündlichen Kontexten oder Hirtenbriefen übernommen wurde. Die Teile zwei und drei, „Die eschatologische Kirche und die Stadt“ bzw. „Die Verhaftung und der Weg des Kreuzes“, wurden von uns aus Wang Yis zahlreichen Schriften als repräsentativ für seine theologische Entwicklung und seine geistige Vorbereitung auf seine Verhaftung und Inhaftierung ausgewählt. Es gibt zwar keine Brüche in Wang Yis Denken, doch lassen sich so viele Entwicklungen feststellen, dass wir den Leser ermutigen, nicht mit dem Schluss des ersten Teils aufzuhören, sondern den Kapiteln am Anfang und am Ende das gleiche Gewicht beizumessen. Mehrere enge Freunde Wang Yis haben uns gegenüber angemerkt, dass bei ihm ein fortschreitender Übergang vom Denken eines Juristen zum Denken eines Theologen festzustellen sei. Unser Wunsch war es, diese Bewegung im Verlauf des Inhalts aufzuzeigen. Wichtig ist außerdem, darauf hinzuweisen, dass dieselben Freunde einmütig erklärt haben, der wichtigste Einzelaufsatz, den Wang Yi jemals verfasst hat, sei „Geschichte ist der großgeschriebene Christus“ (Kap. 14).

Wir hoffen, mit diesem Buch die Schriften Wang Yis auch für die Leser interessant zu machen, die ihn bisher nicht kannten. Obwohl sein Schreibstil leicht verständlich ist, verweist er häufig auf den chinesischen Kontext. Daher haben wir versucht, jedes Kapitel mit den notwendigen kontextuellen Erläuterungen einzuleiten und es in eine lose Erzählung einzubetten. Außerdem haben wir ein Glossar und ausführliche Fußnoten zur Erläuterung spezifischer kultureller Bezüge eingefügt. Fußnoten wurden im Allgemeinen für einzelne Verweise verwendet. Für die wichtigsten Namen und Ereignisse, die wiederholt genannt werden, finden Sie im Glossar längere Erklärungen. Darüber hinaus enthalten die Kapitel fünf und sechs Bibliografien, die von Sun Yi (孙毅) und Wang Yi selbst zur Verfügung gestellt wurden. Wir haben uns dazu entschieden, ihre Referenzen nicht zu ergänzen.

Wir halten es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass die meisten Texte in diesem Buch ursprünglich entweder für mündliche Kontexte oder als Online-Essays geschrieben wurden. Daher schenkte Wang Yi Quellennachweisen nach akademischem Standard keine besondere Beachtung, zumal viele Quellen aus dem Korpus der unveröffentlichten, nicht katalogisierten und manchmal nicht überprüfbaren Erzählungen und Dokumente der frühen chinesischen Hauskirche stammen. Dies hat unsere Arbeit natürlich zuweilen recht schwierig gemacht, und wir bitten um Nachsicht, wenn es uns nicht überall möglich war, Zitate vollständig nachzuweisen.

Die hier vorliegenden aus dem Chinesischen ins Englische und von da ins Deutsche übertragenen Texte sind das Ergebnis der Zusammenarbeit eines bemerkenswerten Teams von Menschen, die anonym bleiben möchten. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen, und wir sind ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet für ihr Engagement, die Schriften chinesischer Pastoren für uns Deutsche zugänglich zu machen. Ihre sprachlichen Fähigkeiten öffnen die Tore zwischen den weltweit verstreuten Gemeinschaften derer, die einmal im Himmel vereint sein werden.

WARUM SOLLTE EIN CHRIST IM WESTEN ETWAS ÜBER DIE PROBLEME ZWISCHEN KIRCHE UND STAAT IN CHINA LESEN?

Wahrscheinlich werden viele Menschen ein theologisches Werk eines chinesischen Schriftstellers allein aufgrund der geografischen Entfernung einfach übergehen. Man könnte meinen, dass die Unterschiede im kulturellen Kontext zwischen dem demokratischen Amerika und Europa des 21. Jahrhunderts und dem kommunistischen China des 21. Jahrhunderts viel zu groß für einen Dialog sind. Doch beschäftigen sich Christen aus der modernen nordamerikanischen und europäischen Mehrheitskultur bereitwillig mit der 500 Jahre alten Theologie der Reformation in Europa, also einer Zeit und einem Ort, mit denen heutige Amerikaner nicht viel gemeinsam haben. Selbst wenn Europa Amerika geografisch näher ist: Sind wir tatsächlich kulturell näher an der vormodernen, vorindustriellen, vordigitalen, vordemokratischen, präsäkularen und vorkapitalistischen europäischen Christenheit? Ich möchte die Leser nicht davon abhalten, sich mit dem theologischen Erbe des Westens zu beschäftigen, sondern sie vielmehr anregen, darüber nachzudenken, ob sie vielleicht mehr mit dem urbanen China gemeinsam haben, als ihnen bewusst ist. Die städtischen chinesischen Christen kommen sicherlich aus einem ganz anderen historischen, kulturellen und politischen Kontext. Aber wie die europäischen Leser arbeiten und leben auch die chinesischen Stadtchristen in einer Zeit, die von materiellem Profit, Technologie und Säkularismus beherrscht wird. Wir sind nicht so weit voneinander entfernt.

Das Christentum ist gegenwärtig auf dem Vormarsch in der vielleicht größten einzelnen Menschengruppe mit einer gemeinsamen kulturellen Identität in der Geschichte der modernen Zivilisation – und befindet sich zugleich im Konflikt mit den herrschenden Mächten dieser großen Kultur. Man muss nicht mit Wang Yi übereinstimmen, um zu erkennen, dass es wichtig ist, ihn und andere vergleichbar produktive theologische Autoren zu hören und zu verstehen, und sei es nur, um die wichtigen Entwicklungen innerhalb des Christentums im 21. Jahrhundert zu verfolgen. Wenn dieses Jahrhundert wirklich das chinesische Jahrhundert ist, dann ist es jetzt an der Zeit, die theologischen Entwicklungen in China zu verstehen, denn diese Debatten werden im gesamten globalen Christentum Widerhall finden. Wie Wang Yi selbst so oft in seinen Schriften andeutet, sind die chinesischen Hauskirchen die lebenden Erben der älteren theologischen Debatten der westlichen Kirchen, und sie sind bereit, die nächste Frontlinie der Theologie zwischen Kirche und Staat zu bilden. Wang Yi selbst verkörpert dies. Wann ist das letzte Mal ein namhafter, öffentlich anerkannter, säkularer Rechtsgelehrter in Europa Christ geworden und hat sich dann voll und ganz dem heiklen Thema der Theologie zwischen Kirche und Staat zugewandt? In einer Zeit, in der Nordamerika und Europa immer weiter auf den Säkularismus zusteuern, den das moderne China repräsentiert, brauchen wir die Perspektive derer, die den Glauben zunächst von außen betrachtet, sich dann aber für ihn entschieden haben. Die Gedanken eines ehemaligen Menschenrechtsanwalts, der als Pastor und Theologe unter einem autoritären Regime lebt, sind gerade jetzt für diejenigen Kirchen von Bedeutung, die dabei sind, die politischen Allianzen des Christentums zu entwirren.

Wissenschaftler und Akademiker fangen an, Wang Yi in seinem besonderen kulturellen Kontext zu studieren – ein wichtiges Unterfangen, das fortgesetzt werden sollte. Wir müssen die Schriften von Wang Yi jedoch nicht nur als chinesische Texte für den chinesischen Kontext betrachten, sondern sie auch in den weltweiten theologischen Austausch des Christentums einbeziehen. Alle christlichen Texte sind gleichzeitig lokal und global, denn der christliche Glaube war schon immer sowohl lokal als auch global.

In diesem Buch werden drei wichtige Aspekte der Schriften Wang Yis über die Hauskirche hervorgehoben, die über den chinesischen Kontext hinausreichen können. Erstens: Die Geschichte einer Kirche prägt unweigerlich ihre Identität. Zweitens: Die eschatologische Bestimmung der Kirche bestimmt nicht nur ihre himmlische, sondern auch ihre irdische Wirklichkeit. Und drittens ist der Weg des Kreuzes der Weg, den die Kirche gehen muss, wenn sie wirklich mit Christus vereint sein will – dies wird in den Schriften, die dieses Buch zugänglich macht, deutlich werden. Obwohl Wang Yi speziell für den chinesischen Kontext schreibt, sind dies drei Punkte, mit denen sich alle Kirchen zu allen Zeiten auseinandersetzen sollten, egal, zu welchen Schlussfolgerungen sie schließlich kommen.

2Ian Johnson, The Souls of China: The Return of Religion After Mao (New York: Vintage Books, 2017), S. 205–206.

3A. d. V.: Im deutschsprachigen Raum berichteten z. B. am 30.12.2019 der SPIEGEL und die NZZ (Neue Zürcher Zeitung) darüber.

4Wenzhou in der Provinz Zhejiang ist bekannt für große und sichtbare Kirchengebäude, sowohl von DSB-Kirchen als auch von nicht registrierten Kirchen, die in der Regel ihre eigenen Gebäude haben. Dieser Trend traf auf Widerstand, als zwischen 2014 und 2015 die lokalen Behörden rund 1000 Kreuze von Kirchengebäuden in der gesamten Provinz entfernten und dabei in einigen Fällen sogar ganze Kirchengebäude abrissen.

5Lü Xiaomin ist eine bekannte Hymnenkomponistin. Lü begann 1990 mit dem Komponieren und hat mehr als 1800 Kirchenlieder verfasst, von denen viele sowohl in Hauskirchen als auch in Drei-Selbst-Kirchen weit verbreitet sind, wie auch in Taiwan und in der chinesischen Diaspora.

6„China“, in World Christian Encyclopedia, Hg. Todd Johnson und Gina Zurlo, 3. Aufl. (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2019), S. 141.

7Joann Pittman, „How Many Christians Are in China? Preferred Estimates, Part 3“, ChinaSource, March 9, 2020, www.chinasource.org/resource-library/blogentries/how-many-christians-in-china-preferred-estimates-part-3/.

8Joann Pittman, „Religion in China—by the Numbers“, ChinaSource, April 23, 2018, www.chinasource.org/resource-library/blog-entries/religion-in-china-by-the-numbers/.

9A. d. V.: „Drei-Selbst“ bezieht sich auf Selbstständigkeit gegenüber dem Ausland in dreifacher Hinsicht: eigene Organisationsstruktur, finanzielle Unabhängigkeit und eigene Verkündigung und Verbreitung.

10Wang Ming-tao, „We – For the Sake of Faith“, übers. von Frank W. Price, Occasional Bulletin, 15. März 1956.

11Chloë Starr, Chinese Theology: Text and Context (New Haven, CT: Yale University Press, 2016), S. 3.

12See Wang Yi Resource Library, www.wangyilibrary.org.