Tribut der Wahrheit - Jörg Koojers - E-Book

Tribut der Wahrheit E-Book

Jörg Koojers

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Beschreibung

Der mysteriöse Fund in der alten Truhe seiner Mutter liegt Clark seit seiner Kindheit schwer im Magen. Hat der geheimnisvolle Inhalt etwas mit dem Mord an seinem Vater zu tun? Umwittert ein düsteres Geheimnis die Vergangenheit seiner Familie? Lebt ein kaltblütiger Mörder unter ihnen? 16 Jahre lässt Clark sich von derartigen Fragen peinigen. Dann beginnt er heimlich nachzuforschen. Dabei trifft er auf die Liebe seines Lebens und kommt durch sie zu dem Entschluss, die Recherchen einzustellen. Doch es ist zu spät, die Gefahr ist näher als er ahnt …

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jörg Koojers

Tribut der Wahrheit

© 2021 Jörg Koojers

Umschlag, Illustration: Ruth Sinning

Lektorat, Korrektorat: Benita Link

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:     978-3-347-13747-9

Hardcover:     978-3-347-13748-6

e-Book:          978-3-347-13749-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Danksagung

Als erstes möchte ich mich bei allen bedanken, die an diesem Buch mitgearbeitet haben.

Meinen langjährigen Freund Steffen Höfer möchte ich danken, weil er mir mit Rat zur Seite stand und einen großen Einfluss auf den Titel dieses Buchs hat.

Unserer treuen Freundin Ruth Sinning möchte ich danken, weil sie sich nur meinetwegen wieder neu in die Materie Cover-Design eingearbeitet hat und diesen Umschlag kreierte.

Ein Dankeschön auch an meine Schwester Sabine Berghaus. Sie war immer für mich da und hat mit mir unzählige Textstellen beharrlich durchdacht.

Doch vor allem möchte ich meiner Frau Talita und meinen Kindern Domenik, Melody, Sofia, Melissa Ruth, Thais Betty und Noah Samuel danken. Talita gebührt der Dank für die Geduld mit mir während meines Projektes, und meinen Kindern möchte ich danke sagen, dass sie ihren neuen Laptop gegen meinen alten eingetauscht haben, damit ich mein Projekt zu Ende bringen konnte.

Euch allen danke ich von ganzem Herzen für eure Arbeit, Geduld und Treue.

KAPITEL 1

Die dunkelbraunen Augen des zwölfjährigen Clark glitzern wie schwarze Diamanten, als er die Marshmallows-Tüte in den Einkaufswagen legt.

»Wie köstlich« murmelt er, versunken in die weiche und vor Zucker triefende Süßigkeit.

»Wir haben noch Marshmallows zu Hause«, hört er seinen Vater sagen.

Clark lächelt zufrieden in dessen freundliches Gesicht mit dem wuchtigen Schnauzbart, den dunklen krausen Haaren und den klotzigen Augenbrauen.

Beruhigt stellt er den Mäusespeck in das Einkaufsregal zurück und geht mit seinem Papa zur Wursttheke. Brav wie ein Hündchen stellt er sich vor seinen Vater und bettelt nach einer Scheibe Dauerwurst. Doch anders als sonst verschwendet die ältere Dame hinter der Theke nicht einen Blick an Clark! Wie ein Luchs beobachtet er alle ihrer Bewegungen, doch sie stört sich nicht an ihm, so als wäre er gar nicht da. Noch einen kleinen Moment mustert er ihr ungewohntes Verhalten und merkt dann, dass er träumt!

Clark weiß plötzlich, dass er am zweiten Juni 1986 gar nicht mit seinem Dad hier einkaufen war. Man hatte ihm nur erzählt, was in diesem Supermarkt in Québec City geschah. »Dad, bitte lass uns gehen«, hört er sich flehen, in dem Wissen, was nun folgt.

Doch bevor er schweißnass erwacht, will er noch einmal in das liebevolle Gesicht seines Vaters schauen. Sofort nimmt er seine Hand und blickt unter Tränen zu ihm hinauf.

Der Schuss! John-Jay Simon sackt an Clarks kleiner Hand zusammen. Betäubt vom Schock schaut er in die hellblauen Augen des Mörders Harry Zott.

Clark wird aus seinen Träumen gerissen.

»Freitag«, stammelt er atemlos. »Es ist Freitag, der 26.5.2002, und ich bin in Pont-Rouge, Kanada. Ich bin 28 und… und nicht mehr zwölf.«

Müde richtet er sich auf der Bettkante auf.

»Mein Gott«, stöhnt er, mit den vor’s Gesicht geschlagenen Händen.

Fast die ganze Nacht bis früh um Fünf hielt er sich in seinem Stamm-Bistro „The Appletree“ in Québec City auf und ließ sich von dieser Brünetten umwerben.

»Warum habe ich das verdammte Spielchen mitgemacht?«, fragt er sich.

Er wusste doch, dass er heute Frühdienst haben würde und sich für einen One-Night-Stand zu schade ist. Wollte er nicht schlafen, um nicht den immer gleichen Traum zu träumen, der sich einstellt, wenn sich der Todestag seines Vaters nähert? Wollte er das geheime Planen und Recherchieren der letzten Monate nicht mal hinter sich lassen und abschalten, auf andere Gedanken kommen und es einfach nur genießen, wie sie in ihrem Trägershirt und dem knappen Minirock um ihn herumgeschlichen war? Ohne sich die Frage zu beantworten, steht er auf, geht ins Bad und schaut in den Spiegel. Das männliche, herbe Gesicht des großen, muskulösen Typs mit den dunklen Haaren vermischt sich mit den entsetzten Blicken des zwölfjährigen Knaben, als ihm gesagt wurde, was mit seinem Dad geschehen war.

Clark schluckt die Erinnerung wie immer herunter und streift das einzige Kleidungsstück, die Pyjamahose, von seinem sportlichen Körper ab. Er stellt das Wasser in der Dusche auf kalt, um die Schatten des Albtraumes schneller fortzuspülen.

In seinen wiederholten Träumen spielten sich schon vielfältige Szenarien des Tathergangs ab,

doch der Täter Harry Zott erschien ihm heute Nacht das erste Mal.

»Harry Zott«, denkt er.

Dieser verdammte Bastard, dessen Mutter bei seiner Hinrichtung wahrscheinlich deshalb ein Lächeln auf den Lippen hatte, weil der größte Fehler ihres Lebens endlich getilgt war – ihn nicht schon vor seiner Geburt ins Jenseits befördert zu haben.

Nur zweimal wurde Clark mit ihm konfrontiert: einmal auf dem Zeitungsausschnitt, den seine Mutter vor ihm versteckt hatte, und am Tage des Urteilsspruchs im Gericht. Obwohl Zott jünger gewesen war als sein Dad, wirkte er wesentlich älter. Er hatte schwarze Haare, sein Gesicht war aschgrau, voller Falten und zeigte keine Spur von Reue. Doch am schlimmsten waren seine tückischen hellblauen Augen, deren Boshaftigkeit Clark niemals vergessen wird.

Clark dreht das kalte Wasser ab und schiebt die Erinnerung fort. Er steigt tropfnass aus der Dusche, schnappt sich ein frisches Handtuch aus dem Badezimmerschränkchen neben dem Waschbecken und denkt an John-Jay Simon.

Dieser war, wie Clark auch, durch und durch Polizist gewesen. Glück und Trauer werden eins, wenn Clark an seine Kinder und Jugendzeit zurückdenkt, an die vielen Geschichten, die sein Dad am Lagerfeuer oder auf der Veranda erzählte. Wenn er oder eine seiner Schwestern, Caroline und Scarlett, mal Angst bekamen, tröstete er sie sofort. Wenn irgendetwas kaputt war, reparierte er es sofort. Bei Problemen hatte er immer ein offenes Ohr. Wenn Mom mal nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, half er ihr liebevoll. Wie warm und wie schmerzhaft zugleich wird es Clark ums Herz, wenn er daran denkt, was er einst besaß und wie brutal es aus seinem Leben gerissen wurde! Campen, Schwimmen, Federballspielen, Fahrradfahren, Eishockey – es gab fast nichts, was sie in ihrer Freizeit nicht gerne gemeinsam unternahmen! Bis heute ist sein Vater für ihn der Alleskönner geblieben. Eine Woche nach Clarks zwölftem Geburtstag wurde er hinterrücks von dem Ex-Sträfling Zott erschossen. Danach machten alle im Hause Simon eine harte Zeit durch. Schweigen regierte plötzlich in dieser so lebhaften Familie. Keine Gespräche mehr beim Abendbrot. Kein Lachen gab den warmen und lebendigen Farben in ihrem Haus noch einen Sinn. Er war fort. Mom schaffte alle seine Sachen wie lästiges Gerümpel aus dem Haus. Nicht nur seine Kleidung und die persönlichen Sachen, auch alles, was mit ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Ägypten zusammenhing: Fotos, Videos und alle ägyptischen Souvenirs von den vielen Reisen verschwanden spurlos, so als hätte es sie nie gegeben! Drei Monate nach seinem Tod verkaufte sie sogar das Haus und zog fluchtartig mit Clark, Caroline und Scarlett von Québec weg und ließ sich vierzig Kilometer westlich in ihrer Heimatstadt Pont-Rouge nieder. Cassandra erklärte ihren Kindern pflichtschuldig, dass sie ihr vertrauen müssten und sie ihr Verhalten irgendwann verstehen würden. In Gedanken sieht Clark sie immer noch in ihrer Trauerkleidung vor sich stehen und hört, wie sie das sagt. Irgendwie war ihr schönes Gesicht mit den grünen Augen und den schwarzen Haaren dabei verschwunden, sodass sie als krakelige Zeichnung in seinem Gedächtnis zurückblieb. Auf jeden Fall hat er bis heute weder sie noch seine Schwestern verstanden und warum sie diese Geschichte einfach so geschluckt haben. Clark jedenfalls gab sich nicht damit zufrieden – schon gar nicht, nachdem er in den folgenden Monaten immer wieder den Namen Hill gehört hatte. Seinen beiden zwei und fünf Jahre älteren Schwestern fiel das gar nicht auf. Sie schenkten dem deshalb keine Bedeutung. Also beschloss Clark, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Er ging eines Abends in dem neuen Haus bis zum Ende des langen Flures und klopfte an die Schlafzimmertür seiner Mutter. Sie öffnete und ließ ihn rein. Cassandra erblasste, nachdem Clark fragte, wer denn dieser Hill sei. Sie rastete plötzlich aus, riss ihn am Kragen und drohte mit einer deftigen Tracht Prügel, wenn er vor seinen Schwestern oder irgendj emand anderem jemals diesen Ort in Ägypten erwähnen würde! Clark war geschockt und tat, was seine Mom sagte, auch wenn er ihr Verhalten in keiner Weise verstanden hatte. Jedenfalls behielt er ein wachsames Auge und kümmerte sich um sein neues Leben in Pont-Rouge. Er ging mit seinen Schwestern zur Schule und lernte Logan kennen, der sein bester Freund wurde und wie Clark selbst einmal Polizist werden wollte. Nur Logan erzählte er von dem Gespräch mit seiner Mutter und begann mit ihm, heimlich auf ägyptischen Landkarten nach dem Ort Hill zu suchen. Leider blieben sie erfolglos und die Suche fand ihr Ende in kindlichen Detektiv-Spielen.

Für Logan spielte das keine Rolle. Er war schließlich selbst noch ein Kind und konnte nicht verstehen, wie wichtig es für Clark gewesen wäre, jemanden zu haben, der ihn ernst nimmt und daraus kein Spiel macht. Ungewollt verhielt Logan sich wie Clarks Mutter und interpretierte das Verhalten von Caroline, Scarlett und Clark falsch. Dass sie nur selten weinten, bedeutete nicht, dass sie alles gut verarbeiteten. Cassandra war wahrscheinlich so sehr mit dem neuen Haus beschäftigt, dass kein Platz mehr war, um zu verstehen, dass Kinder anders trauern. Manche sind wie Caroline und ziehen sich eine Weile zurück. Andere sind wie Scarlett und Clark. Mehr als zwei Jahre trauerten sie sozusagen auf Raten.

Clark jedenfalls fühlte sich in der Situation mit Logan äußerst unverstanden und es war für ihn einer der Momente, in denen sich Zweifel in sein Herz schlichen, ob es richtig war, Gefühle auszudrücken.

Clark hängt das Handtuch zum Trocknen über den Heizkörper. Im Badezimmerspiegel macht er sich die Haare zurecht und marschiert nackt ins Schlafzimmer. Er öffnet den Kleiderschrank und zieht sich weiße Boxershorts, eine blau verwaschene Jeans und ein weißes T-Shirt an. Er streicht das Bett glatt und geht durch den Flur in die Küche. Dabei streift sein Blick über den Koffer vor der Haustür. Er muss schwer schlucken, weil er alle angelogen hat und glauben ließ, er würde nach Paris fliegen. Niemand weiß, dass er nach Ägypten reist, um heimlich in der Vergangenheit seiner Mutter zu schnüffeln. Seit Wochen quälen ihn deshalb Zweifel, ob es wirklich richtig ist, in sechzehn Jahre altem Dreck zu wühlen, nur weil er als Kind ein paar Dinge herausgefunden hat, die er bis heute nicht versteht. Sollte er es nach so vielen Jahren nicht auf sich beruhen lassen? Warum zermartert er sich seit seinem zwölften Lebensjahr den Kopf? Warum ist er seither der Meinung, dieser Fall sei sein Schicksal und er müsste ihn unbedingt lösen? Hatte seine Mutter als Erwachsene nicht das Recht auf Privatsphäre und darauf, verschiedene Dinge für sich zu behalten? Vielleicht tat es ihr damals wirklich so weh, dass sie nicht mehr daran erinnert werden wollte und deshalb alles verschwinden ließ, was an seinen Vater erinnerte. Möglicherweise hat sie deshalb nicht wieder geheiratet.

Während in der Küche der Kaffee durchläuft, sucht Clark alles für den letzten Arbeitstag zusammen und packt es in den Rucksack. Er denkt an die alte Holztruhe, die in dem neuen Haus vor Cassandras Bett im Schlafzimmer stand. Die betagte Truhe mit der halbrunden Klappe und den eisernen Beschlägen war ein Teil der vielen Veränderungen und hatte, genau wie das Haus, nichts mit dem Haus gemeinsam, das sein Dad in Québec gebaut hatte. Es war nicht aus Stein, sondern aus Holz und fast hundert Jahre alt. war Ein schönes Haus mit drei Stockwerken. Die Fensterrahmen waren weiß von den weinroten Holzpaneelen abgesetzt – ein richtiges kleines Anwesen, das umzäunt wurde von einem verschnörkelten Zaun aus Stahl. Im Dunkeln war es immer ein bisschen gespenstisch, vor allem von innen. Die Türen quietschten und auf den alten Dielen knarrte jeder Schritt – so wie in jener Nacht, als Clark wach wurde und hörte, wie jemand leise die Treppe hinaufstieg und den langen Flur herunterschlich. Clark erstarrte vor Angst und rührte sich so lange nicht, bis die Schritte an seiner Zimmertür vorüber waren. Im Dunkeln sprang er aus dem Bett und tippelte auf Zehenspitzen zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie einen Spalt und sah gerade noch, wie seine Mutter einen großen Koffer in ihr Zimmer hievte. Von diesem Tag an war die antike Truhe mit einem Schloss verriegelt! Clark konnte nicht anders. Er musste herausfinden, was in der alten Kiste war. Schon am nächsten Tag schnüffelte er in ihrem Schlafzimmer, um den Schlüssel zu finden und suchte tagelang vergebens im ganzen Haus, bis er Wochen später zufällig sah, dass das kleine Ding an ihrer Halskette baumelte! Ihm war sofort klar: Es gab nur einen Weg, um an den einzigen Schlüssel zu kommen. »Heute Abend«, sagte er sich, »werde ich herausfinden, was sie in der Truhe versteckt!«

Cassandra ging wie immer spät zu Bett und Clark hatte ziemlich Mühe, nicht vor ihr einzuschlafen. Dann aber hörte er die Schritte auf der Treppe und wie seine Mutter kurz darauf über den weinroten Läufer im Flur schlurfte. Ihre Hand streifte leise über das Holzgeländer. Ihren Schritten nach blieb sie kurz vor Carolines, Scarletts und dann vor seinem Zimmer stehen. Clark hielt den Atem an und wartete, bis er ihre Schlafzimmertür sanft ins Schloss fallen hörte. Ohne das Lämpchen auf dem Nachttisch anzuknipsen, sprang er auf und lief zur Tür. Er schaffte es, diese fast lautlos zu öffnen und schaute den Korridor entlang bis zu ihrem Zimmer. Unter dem Türspalt kroch Licht ins Dunkel und Cassandras Schatten zog unruhig umher. Clark holte einmal tief Luft und machte sich bereit. Als er das Wasser im Bad plätschern hörte, lief er los. Er wusste, dass sie unter der Dusche die knarrenden Dielen und das Öffnen der quietschenden Tür nicht hören würde. Er wusste, dass sie die Halskette immer auf das weiße Nachtschränkchen neben dem Bett legte und dass er nicht viel Zeit hätte. Vorsichtig öffnete er die Tür und schaute zum Badezimmer. Er achtete gar nicht mehr auf die mintgrüne Bettwäsche, den alten beigefarbenen Bauernschrank mit den handgemalten Sommer-Blümchen auf den Türen und den stummen Diener, der ihren Bademantel hielt. Auf dem Nachtschränkchen lag der Schlüssel. Clark wollte ihn gerade holen, da sah er, dass das Vorhängeschloss an der Holztruhe geöffnet war! Er schluckte. »Jetzt oder nie«, flüsterte er.

Der Deckel war aus massivem Holz und dementsprechend schwer. Trotzdem schaffte er es, ihn anzuheben. Noch vor den Schusswaffen sah er bündelweise Geld.

Neben den Tausend-Dollar-Scheinen lagen Zeitungsausschnitte von dem blutigen Attentat im Einkaufszentrum, Berichte über die Polizei-Ermittlungen und von Hand geführte Notizen über den Todesschützen Harry Zott. In einem Briefumschlag fand Clark Bilder von einem Gebäude, das an einer großen Straßenkreuzung lag. Er wusste, dass er dieses Haus irgendwo schon einmal gesehen hatte, doch leider nicht mehr, wann und wo und was daran so besonders war. Clark kramte weiter und hätte fast den Brief auf den Geldbündeln übersehen. Er nahm ihn und wollte gerade Lesen, da drehte Cassandra das Wasser in der Dusche ab! Er überflog alles und las nur die letzten Sätze. »Solange die See stürmt, bleiben wir in Ägypten und lassen die Sache auf sich beruhen. Wenn Gras über Johns Tod gewachsen ist, sehen wir uns wieder, bis dahin viel Glück und alles Gute. In Liebe, dein Donovan Hill.« Clark blieb die Spucke weg. Hill war gar kein Ort, sondern ein Mann! Er legte den Brief hastig zurück, senkte vorsichtig den schweren Deckel und rührte ihn nie wieder an.

Clark steht immer noch in der Küche und starrt wie angewurzelt auf den durchgelaufenen Kaffee. Er schaut auf die Uhr. In einer halben Stunde beginnt sein Dienst. Er nimmt sich eine schwarze Tasse aus der weißen Vitrine und gießt sich nachdenklich Kaffee ein. Als zwölfjähriger war es ihm unmöglich zu schätzen, wie viel Geld in der Truhe war, doch heute würde er sagen, dass es mindestens eine Million kanadische Dollar waren. Damals hatte er noch keine Vorstellung davon, wie seine Mutter an das Geld gekommen war und warum sie es in der alten Holzkiste versteckt hielt. Clark rätselt bis heute, wo er das Gebäude auf den Fotos schon einmal gesehen hat. Aber was ihn seitdem am meisten quält, ist die kaltblütige Lüge seiner Mutter, ihre Androhung von Prügeln, sollte er seinen Schwestern etwas von einem Ort erzählen, der in Wirklichkeit ein Mann namens Donovan Hill war – ein Mann, zu dem Clark kein Gesicht hat, der aber garantiert deshalb verschwunden ist, weil er mit dem Mord an John-Jay Simon nicht in Verbindung gebracht werden wollte.

»Ob das Geld von Hill ist?« überlegt er. Wenn ja, woher hat er es und wozu hat er es Mom gegeben, wenn sie es am Ende nie benutzt hat?

Benutzt, um die Hypotheken für das Haus zu bezahlen oder um sich und ihren drei Kindern ein leichteres Leben zu machen? Wieso hat sie immer jeden Penny zweimal umgedreht und so gelebt wie eine arme Kirchenmaus? »“wenn Gras über die Geschichte mit John gewachsen ist, sehen wir uns wieder“«, denkt Clark an den letzten Satz aus dem Brief.

Haben sie sich inzwischen wiedergesehen? In welcher Beziehung standen und stehen sie heute zueinander? Was hatte dieser Mann mit seinem Vater zu tun?

»Mist«, sagt Clark plötzlich. »Schon viertel vor Acht.«

Um acht Uhr beginnt sein Dienst. Clark trinkt hastig den letzten Schluck Kaffee aus, schnappt sich seine schwarze Fleecejacke, den Rucksack, die Autoschlüssel und verlässt sein Haus in der Rue Rivard. „Schnell noch zur Bäckerei Blanke“ denkt er, „bei Emma ein paar Donuts holen und vor allem sich nichts anmerken lassen – einfach so tun, als wäre alles okay.“

KAPITEL 2

In ihrem Traum ging sie an einem weißen Strand spazieren und blickte über das türkisfarbene Meer. Sie spürte Wasser und Sand zwischen ihren Füßen und fühlte den warmen Sommerwind zärtlich wie Fingerspitzen über ihre Haut streicheln. Alle Fragen hatte ihr der Wind beantwortet und alle Sorgen waren wie weggeweht. Erleichtert atmete sie auf.

Doch die Realität kennt keine Gnade.

Auch wenn der Wind ihr nicht die Sorgen der vergangenen Wochen nahm, muss Gundis aufstehen.

Schläfrig richtet sich die zierliche Sängerin von der unbequemen Schlafcouch auf und verlässt das Gästezimmer ihrer eigenen Wohnung.

Bevor sie ins Bad schleicht, lauscht sie noch an der Schlafzimmertür, hinter der David bereits die zweite Nacht alleine schläft. Doch alles ist mucksmäuschenstill und Gundis atmet ein weiteres Mal erleichtert auf.

Im Bad wäscht sie mit lauwarmem Wasser ihr leicht herbes Gesicht, schminkt die Wimpern ihrer blauen Augen mit schwarzer Tusche und kämmt ihr langes blondes Haar.

Obwohl ihr Teint frisch wirkt und ihre Haut sichtbar weich ist, empfindet sie sich als blass und überlegt, etwas von dieser bräunenden Make-up-Creme aufzutragen. Verunsichert öffnet sie die Schublade in der Badezimmerkommode.

»Mom hatte recht«, flüstert sie, während sie die Tube herausnimmt und ihr Kopf die Worte ihrer Mutter nochmal abspult: »David«, sagte sie damals, »steckt in einem ziemlich dicken Dilemma und braucht dringend Hilfe.«

»Oh, bitte verschone mich mit deinem psychologischen Geschwafel, Mama, und hör auf, ihn wie einen deiner Patienten zu behandeln«, sagte Gundis nur und schenkte dem Rat ihrer Mutter als Psychologin kein Ohr. »David hat ein paar Fehler gemacht«, fuhr sie fort. »Doch er hat sie eingesehen und mir versprochen, sich zu ändern!«

»Ja«, mischte ihr Vater sich ein. »Das haben mir schon so viele gesagt, ’ich werde mich ändern’, und kaum habe ich ihren Freispruch durchgeboxt, fingen die meisten genau da an, wo sie aufgehört hatten.« Er sprach wahre Worte aus seiner dreißigjährigen Erfahrung als Anwalt.

Das war vor zwei Jahren. Kurz danach hatten sie sich verlobt. Auch wenn ihre Beziehung damals durch seine Spielsucht enorm belastet war, wirkte sich die Verantwortung von David‘s Versprechen positiv aus und schaffte neuen Schwung, um das Problem in den Griff zu bekommen. Zumindest hatte sie selbst es so empfunden. Fakt war jedoch, dass ihre Sensibilität in ihrer eigenen Beziehung versagt hatte. Dreimal hintereinander in den ‚Top Ten‘ zu sein, hat ihr den realistischen Blick geraubt und sie glauben lassen, alles sei okay. Auch dann noch, als David vor einem Jahr begann, wie ein Irrer Überstunden zu machen und fast jeden Abend zwei, drei Stunden später nach Hause kam. Erst als er anfing, auch an den Wochenenden in der Druckerei zu arbeiten, wurde Gundis stutzig und hakte eindringlicher nach. David erklärte ihr, dass es in der Druckerei Probleme gäbe, über die er nicht sprechen dürfe. Er müsse sich täglich mit einem Mann aus New York treffen, der ihm angeblich aus der Führungsetage der Druckerei zur Seite gestellt wurde. Gundis fand das merkwürdig. Sie begann den Verdacht zu hegen, dass er die Überstunden bei einer anderen Frau verbringt oder vielleicht wieder der Spielsucht verfallen sei und jetzt dringend Geld braucht. Aber um ihn auf das Thema Spielsucht anzusprechen, fehlte ihr bislang der Mut – wahrscheinlich deshalb, weil sie seine Antwort ohnehin schon kannte. »Gundis«, würde er ihren Namen in weiche und sensible Töne packen, »Schatz, deine Liebe hat mich aus der Sucht befreit und mich auf ewig vom Spielen fortgerissen. Der Sturm der Arbeit wird wie der frühe Nebel am Morgen von der Sonne vertrieben und dir sagen, du brauchst dich nicht zu sorgen, der Drops mit dem Spielen ist gelutscht.«

Zumindest äußerte er sich das letzte Mal so poetisch inkompetent, als sie ihn auf das Thema ansprach und er dabei auch noch so tat, als wäre er unwiderstehlich und als sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie ihn damals mit ihrem Geld aus den Klauen der Kredithaie zog.

Gundis fragt sich, was schlimmer für sie wäre: dass er sich mit einer anderen vergnügt oder heimlich wieder spielt und Berge von Geld verzockt. In beiden Fällen bliebe jedenfalls, dass er abermals lügt, ihr angeschlagenes Vertrauen missbraucht und dass ihre Mutter recht hatte. »Die Beziehung«, sagte sie damals, »wird sich im Kreis drehen.«

Genauso ist es gekommen. Der Schwung ihrer Verlobung kam zum Stillstand. Die gemeinsamen Visionen vom eigenen Heim, Familie und Kindern sind genau wie in den vier Jahren zuvor, kümmerlich wie eine Pflanze ohne Wasser verdorrt.

Auch wenn ihr das am Ende bewusst war, wollte sie nicht aufgeben. Sie unterbreitete, wie bei ihrer Verlobung, David den Vorschlag, ihre Beziehung auf einem stabileren Fundament namens Ehe zu bauen – es zumindest mal in Erwägung zu ziehen, anstatt auf ewig so zu leben, als sei die Ehe noch nicht erfunden worden.

Mit Augen, die so groß und erschrocken waren, als hätte er ein Gespenst gesehen, sah er sie nur schweigend an. Derweil sind zwei Wochen vergangen. Gundis glaubte bis vorgestern, dass David das Thema stillschweigend unter den Tisch fallen lassen würde. Doch da hat sie sich geirrt. Ausnahmsweise riss er sich an diesem Nachmittag mal pünktlich von der Arbeit oder der Geliebten los und kam mit einem falschen Lächeln auf den Lippen zu ihr ins Wohnzimmer. Er baute sich stolz wie Oskar vor ihr auf und tat so, als sei er der Friedensstifter des Jahrhunderts. Gutgelaunt drückte er ihr einen Umschlag in die Hand. »Hey«, sagte er so, als wäre dies ihr Glückstag. »Ich habe Urlaub für dich gebucht. In drei Tagen geht es los, drei Wochen Ägypten, nur du allein. Ja, ich bin schuldig im Sinne der Anklage und…« Er stockte plötzlich. Welche Anklage? Dachte Gundis.

»Und«, fuhr er fort, »ich gestehe, dass ich mir gelegentlich mal ein Spielchen gönne. Aber ich möchte es wiedergutmachen und schenke dir deshalb diese Reise.«

Gundis war so geschockt, dass sie das Ticket auch noch annahm. Erst hinterher fragte sie sich, warum er nichts zu ihrem Vorschlag gesagt hat und plötzlich zugibt, wieder zu spielen. Ihr war klar, dass sein Reden nur aus Floskeln bestand und dass das Flugticket weder eine Antwort auf ihren Vorschlag noch eine Entschuldigung dafür war, sie ein zweites Mal belogen zu haben.

»Wieso Ägypten?« Gundis fragt ihr Spiegelbild so, als könne es ihr eine Antwort geben, warum er sie in ein Land schickt, für das sie sich nicht interessiert. Natürlich findet sie die Pyramiden faszinierend, aber nicht so, dass sie eine Reise dorthin buchen würde. Jedenfalls kann sie sich nicht daran erinnern, vor David jemals erwähnt zu haben, den Arabern dort einen Besuch abstatten zu wollen. Gundis schüttelt den Kopf und murmelt vor sich hin: »Womöglich dachte er: O Gott, heiraten, schick sie und ihre dumme Idee bloß weg, versteck sie irgendwo in den Pyramiden, wo sie keiner findet.«

In ihren Augen sammeln sich Tränen.

»Ach was soll‘s«, sagt sie leise und wischt die entronnene Träne von ihrem Gesicht.

»Warum zerbreche ich mir den Kopf. Ich fliege doch sowieso nicht.«

Wütend wirft sie die selbstbräunende Make-up-Creme in die Schublade zurück.

»Die brauch ich nicht«, sagt sie.

Gundis schaut ein letztes Mal in den Spiegel und spielt arrogant.

»Hübsch! Viel zu hübsch für Ägypten und… viel zu hübsch für David.«

Wie so oft in den letzten Tagen denkt sie an die Anfangszeit ihrer Beziehung.

Was war es, was ihr damals so den Kopf verdrehte? War es seine männliche, ungezähmte Erscheinung? War es der Dreitagebart? Waren es die dunkelgrünen Augen, der schulterlange braune Haarschopf? Fruchtete seine Attraktivität vielleicht doch aus der Mischung des sportlichen Basketballspielers und charmanten Machos mit einem IQ von hundertsiebzig? Mit einunddreißig schon Qualitäts-Chef der staatlichen Geldnoten-Druckerei Kanadas zu sein, schmeichelte nicht nur den Frauen.

Doch wer David kannte, wusste, dass er ein Maulheld war, der sich bei den Leuten mit Intelligenz, schlauen Sprüchen und leeren Versprechungen vergebenes Vertrauen erkaufte. Gundis Eltern haben das früh erkannt. Als Davids Spielsucht im vierten Jahr ihrer Beziehung entlarvt wurde und er sich strikt weigerte, einer Therapie beizuwohnen, hatten zumindest sie das Ende schon vor Augen.

Mit dem Gedanken, es wäre besser gewesen, auf ihre Mutter zuhören, verlässt sie ohne ein lautes Geräusch das Badezimmer und harrt dann kurz vor der Schlafzimmertür aus – immer noch ist kein Mucks von David zu hören.

»Gut«, denkt sie und lässt leise den angehaltenen Atem aus ihrem Körper.

Auf Zehenspitzen tappt sie weiter und sucht alles, was sie heute im Studio braucht, zusammen. Nachdem sie ihren Aktenkoffer gepackt hat, eilt sie auf leisen Füßen zur Wohnungstür. Gerade als sie hinauswill, steht David hinter ihr.

»Wo willst du denn so früh hin?«, fragt er.

Sportlich wie er ist, steht er nur in Pyjamahose da und bindet sich das schulterlange Haar zu einem Zopf. Gundis verdreht mit dem Türgriff in der Hand die Augen.

»Na, wohin schon, ins Tonstudio«, sagt sie, bemüht, höflich zu bleiben.

»Ja, aber musst du denn nicht packen?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diese idiotische Reise mache?«, giftet sie und schaut ihn fest entschlossen an.

Gundis zuckt zusammen, als in Davids Augen plötzlich Panik aufblitzt.

»Ja«, zögert er eine Sekunde. »Das wäre das Beste«, erwidert er dann aber unerwartet ruhig.

»Das Beste für wen, für dich?«

»Nein, für uns. Aber ich denke dabei in erster Linie nur an dich. Es wäre das Beste für dich.«

»So ein Quatsch! Als wenn du dir je Gedanken darüber gemacht hättest, was für mich oder uns das Beste wäre. Du hast unsere Beziehung doch immer nach deinen Vorstellungen gelebt! Tatsache ist, dass du mich seit sechseinhalb Jahren belügst! Wer weiß, welche dunklen Geheimnisse noch in dir schlummern, angesichts dessen, dass wir keinen Sex mehr haben. Von wegen, ich brauche Zeit, von wegen, ich bin noch nicht reif für Ehe und Kinder! Die Wahrheit ist, dass du deine verdammten Überstunden bei einer anderen schiebst!« Sie schluckt. »Aber okay! Ich akzeptiere das! Es ist dein Leben und deine Entscheidung.«

David schweigt.

»Danke für die ehrliche Antwort,« sagt sie leise.

Er tritt gegen den fadenscheinigen Teppich, schaut sie nicht direkt an. »Nein, so ist es nicht.«

Sie hebt ihr Gesicht. Alle Muskeln darin sind angespannt. »Wie ist es denn?«

»Du verstehst das falsch…«

»Ich verstehe das falsch? Wer mich sechs Jahre lang anlügt, bei dem verstehe ich nichts falsch! Du brauchst dich um nichts zu kümmern, wenn ich nächste Woche hier ausziehe.«

Bevor David etwas sagen kann, verlässt Gundis die Wohnung.

»Blöde Kuh«, murmelt er ärgerlich und geht zurück ins Schlafzimmer.

Ungewohnt früh betritt Gundis wenig später die Kantine des Tonstudios und wird von den Angestellten dort neugierig angeschaut. Mit Kaffee und einem belegten Brötchen nimmt sie irgendwo in der leeren Kantine Platz.

Bis auf das schwarze Gold in ihrer Tasse fehlt ihr aber jeglicher Appetit. In der Frage versunken, was noch, außer Davids Plan mit der Geliebten durchschaut zu haben, die blanke Panik in seinen Augen aufblitzen ließ, kommt ihr plötzlich der Gedanke, ob er krumme Geschäfte macht.

»Im Leben nicht«, flüstert sie.

Gundis kennt David genau und weiß, dass er nie taff genug wäre, um ein krummes Ding bis zum Ende durchzuziehen.

»Nein«, sagt sie sich. »Da ist eine Andere im Spiel! Hübsche Frauen laufen ihm in der Druckerei wohl genug vor der Nase rum.« Gundis schlägt, den Tränen nahe, die Hände vors Gesicht. »Soll er doch«, flüstert sie dabei. »Soll eine Andere sich ihr Leben versauen und seinen charmanten Lügen glauben. Wer auch immer es ist, wird schon herausfinden, dass David eine vergoldete Mogelpackung ist, die viel verspricht und wenig hält!«

»Versuchst du gerade, dein Brötchen mit Jedi-Kräften anzuheben?«

Hinter Gundis geschlossenen Augen erscheint zu der Stimme gestochen scharf das kakaobraune Gesicht ihrer besten Freundin Tina. Wie auf einem Foto sieht sie die schlanke Chefsekretärin und Mutter von drei Kindern.

»Ja, verdammt«, sagt sie. »Ich frage mich die ganze Zeit, wie das der kleine grüne Knirps wohl macht.«

»Weißt du eigentlich, dass deine Yoda-Nachahmungsversuche genauso beschissen aussehen wie du?«

»Danke.« Gundis lacht. »Setzt du dich trotzdem einen Moment zu mir?«

»Na klar. Lass mich raten. Dein Problem sind nicht die Jedi-Kräfte, sondern David.«

»Ja«, sagt Gundis und berichtet, was noch hinzugekommen ist.

Tina schüttelt empört den Kopf.

»Und jetzt weißt du nicht, was du machen sollst?«

»Na klar, ich zieh aus, sagte ich doch gerade.«

»Nein, ich meine mit der Reise.«

»Was soll ich in Ägypten?«

»Dir auf seine Kosten ein paar schöne Tage machen! Ich spreche währenddessen mit meinem Schwager. Er kennt einen Immobilienmakler, der dir mit Sicherheit ein schönes Apartment besorgen kann. Und wenn du in drei Wochen wieder da bist, räumen wir beide deine Sachen aus seiner blöden Bude und hey, wer weiß, vielleicht wartet ja der voll heiße Urlaubsflirt auf dich.« Gundis schaut in ihren Kaffee und weiß, dass Davids Geschichte mit den Überstunden und der Anordnung, absolutes Stillschweigen über seine derzeitige Arbeit zu leisten, genauso blödsinnig sind wie der Mann aus New York, mit dem er sich ja dauernd treffen muss – der Mann ohne Gesicht, wie Gundis sagt, der wie ein Phantom im Dunkeln bleibt, ist garantiert eine Frau.

»Du hast Recht, Tina«, sagt Gundis. »Wenn er sein Geld unbedingt loswerden will, dann mache ich die Reise.

«Tina lacht. »Das ist die Gundis, die ich kenne.«

KAPITEL 3

Clark verlässt sein Haus in der Rue Rivard und fährt auf die Rue du Collège zur Bäckerei Black.

Auch wenn er seit jenem Abend einen Bogen um die Antike Truhe in Cassandras Schlafzimmer machte: Die quälenden Fragen, warum sie stillschweigend eine Million Dollar darin versteckte, und wieso sie ihm weismachen wollte, Hill sei ein Ort, blieben unbeantwortet.

Wieso hatte sie all die schönen Erinnerungen an seinen Vater verschwinden lassen und nur die hässlichen Zeitungsausschnitte von seinem Tod, dem Attentäter und den Polizeiermittlungen aufbewahrt? Warum verwahrte sie nur alberne Fotos von einem Gebäude und nicht eines von ihrem verstorbenen Ehemann? Wieso erinnerte alles in der Truhe an diesen hinterhältigen Mord und nichts an die schönen Jahre zuvor?

Clark wurde so manche Nacht durch diese Frage seines Schlafes beraubt. Oft saß er allein auf seinem Zimmer und haderte mit der Entscheidung, seinen Schwestern, doch von Hill zu erzählen. Eines Abends hatte er den Mut und ging zu ihnen. Doch als er bei ihnen war, merkte er, dass sie genug mit ihrem eigenen Schmerz zu kämpfen hatten und sie diesen lieber mit Schlagzeilen über Michael Jackson, Phil Collins oder Patrick Swayze überschütteten. Mit seiner Mutter konnte er nicht reden. Das Vertrauen zu ihr war durch die Drohung, verprügelt zu werden, zerstört. Und bei Logan hatte er Angst, alles könnte wieder in einem sinnlosen Räuber-und-Gendarm-Spiel enden. Clark war der Verzweiflung nahe. Wer war ihm geblieben? Mit wem sollte er über seine argwöhnischen Gefühle seiner Mutter gegenüber reden? Wem sollte er erzählen, dass die Vorstellung, wie sein Vater erschossen wurde, ihn bis in den Schlaf verfolgte?

Weil er keinen Ausweg sah, verdrängte er den ganzen Abfall in den hintersten Winkel seines Kopfes. Dort moderten Cassandras Leichen so lange, bis Clark den fauligen Gestank nicht mehr aushielt. Auch wenn er sich am Tage seiner Vereidigung geschworen hatte, nie in dieser Mordsache herumzuschnüffeln, brach er diesen Schwur. Er verschaffte sich Zugang zu den Akten und fand heraus, dass seine Mutter abermals gelogen hatte. Harry Zott war nur das Werkzeug der Person, die selber kein Blut an den Fingern kleben haben wollte.

Clark stellt sein Auto vor der Schaufensterfront der Bäckerei Black ab und steigt aus.

»Hallo«, sagt die Witwe Black sofort, als er zur Tür reinkommt. »Wie geht es Ihnen, Clark?«

»Danke, gut, und Ih-«

»Das nenne ich Gedankenübertragung«, sagt die leicht verwirrte alte Dame mit den grauen Haaren und fällt den Leuten wie gewohnt ins Wort. »Geben Sie es zu, Sie haben gerade an mich gedacht. Ich kann das spüren.«

»Also, ich- «

»Ja«, sagt sie. »Ich habe es gewusst! Sagen Sie, wann fliegen Sie nochmal, heute oder morgen?«

»Morgen früh um zeh-«

»Und, schon nervös? Ich meine, man kommt ja nicht jeden Tag nach Paris. Wissen Sie, als mein Mann noch lebte, also wir wollten auch immer mal nach Paris aber… « Sie schluckt. »Aber Sie wollen jetzt sicher zu Emma. Warten Sie, ich hole sie schnell.«

Emma ist zweiundzwanzig und vor sechs Monaten mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Steffy aus Montreal hierhergezogen. Die beiden studieren an der UQAC in Québec und verdienen sich in der Bäckerei ihrer Oma ein paar Dollar dazu. Als Clark Emma und Steffy das erste Mal bei der Witwe Black im Laden sah, hatte Emma sofort ein Auge auf den hübschen jungen Mann mit den dunklen Haaren geworfen. Doch Clark steht nicht auf Frauen, die sich übereilt mit dem nächsten Typen einlassen, der ihnen gefällt.

»1,80 groß, sportlich, dunkle Augen und so weiter«, sagt die Witwe Black, als sie die Backstube betritt.

Genau wie ihre ältere Schwester ist auch Emma sportlich und schlank, aber immer darauf bedacht, dem männlichen Auge eine Freude zu sein. Heute trägt Emma ihre schwarzen Haare hochgesteckt und sie hat sich extra nur für Clark eines ihrer kurzen Sommerkleider angezogen.

»Ach, schau mal einer an«, fährt die Witwe Black fort, als Emma aufspringt und zum Spiegel läuft. »Wenn dein Sheriff Clark Simon hier auftaucht, sind wir plötzlich hellwach.«

Wie es scheint, interessiert sich Emma nicht für das Geschwätz ihrer Oma, sondern nur, ob der Dutt noch richtig sitzt, der Lippenstift nicht verwischt ist, das Make-up noch richtig deckt und der Kajal-Strich nicht zu kräftig gezogen ist. Gleich nach der Prüfung eilt sie raus und präsentiert ihren schlanken Körper in dem dunkelblauen Minikleid. Graziös kommt sie hinter der Theke hervorgehüpft.

»Gott, was werde ich dich vermissen«, sagt sie und schäumt vor Freude gänzlich über. »Drei Wochen ohne dich, das kommt mir jetzt schon wie eine Ewigkeit vor.«