Tristan - Hannah Closs - E-Book

Tristan E-Book

Hannah Closs

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Beschreibung

Cornwall, Irland, die Bretagne sind die Handlungsräume dieses spannenden und mitreißenden Romans, in dem die Tristan-Sage eine überraschende und faszinierende Ausdeutung erfährt. In ihrer Neu-Erzählung des klassischen Tristan-Gedichts aus dem 13. Jahrhundert hat Hannah Closs jene psychologischen Feinheiten und Verwobenheiten herausgefühlt, die in späteren Bearbeitungen häufig verlorengingen: die vielschichtige und widersprüchliche Natur des Helden, der zum einen Ritter und Krieger, zum anderen ein Sänger – und Träumer – ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 538

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Hannah Closs

Tristan

Roman

Aus dem Englischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius

FISCHER Digital

Inhalt

Bibliothek der phantastischen Abenteuer [...]PersonenverzeichnisFür August Closs [...]die wîle und er [...]VorspielMorgenröteIIIIIIIVVBewährungIIIIIIIVVVITraum und ErwachenIIIIIIIVVVISpiegelbildIIIIIIIVRufIIIIIIVereinigungNachbemerkung

Bibliothek der phantastischen Abenteuer

Herausgegeben von V.C.Harksen

Personenverzeichnis

Tristan

Prinz des sagenhaften Landes Lyonesse

König Rivalin von Lyonesse

sein Vater

Königin Blancheflor

seine Mutter

König Marc von Cornwall

sein Onkel, der Bruder seiner Mutter

Herzog Morgan

Thronräuber und Tyrann von Lyonesse

Marschall Rual

Tristans Pflegevater

Morolt

ein irischer Ritter

Iseult von den goldenen Haaren

Morolts Verlobte, Prinzessin von Irland, später König Marcs Gemahlin

Kurvenal

ein bretonischer Ritter, Tristans Freund

Kaherdin

der junge Herzog der Bretagne

Iseult von den weißen Händen

dessen Schwester

Für August Closs

die wîle und er daz leben hât,

sô sol er mit den lebenden leben,

im selben trôst ze lebene geben.

 

Gottfried von Straßburg: Tristan

(Vers 1870ff)

Vorspiel

Bis in den fernsten Westen … nichts als Meer.

Den ganzen Tag hatte die Sonne ihre schimmernden Pfeile auf das Wasser geschossen, als könne sie durch zähe Ausdauer seinen Widerstand brechen und es durchbohren; doch sie prallten von ihm ab wie Pfeilspitzen von schlaffer, welliger Haut und zerstoben in tausend Funken einer tanzenden Flamme.

Unter den Türmen der Burg lag das Land wie ein großes Banner aus verblichener Seide. An den Rändern war es ausgefranst und zerschlissen; und im Westen, wo es in eine dunkle, gezackte Spitze auslief, klafften lange Risse und Einschnitte wie qualvolle, silberblaue Wunden. Hier wirkte der graue Boden rauh und zerklüftet, als sei die Seide faltig und zerknittert, oder als seien Lehmklumpen und Kletten im Gewebe hängengeblieben. Aber im Nordwesten, auf der weiten hügeligen Ebene, war das Muster aus den grünen Wäldern und den blaßgelben Rauten der Kornfelder noch erkennbar.

Plötzlich drang der lange, fröhliche Ruf eines Horns durch die Luft, verklang, erhob sich von neuem, erklang noch einmal und verstummte.

Der Junge am Deich, der gerade eine Steinmauer stürmen wollte, die er errichtet hatte, ließ die Waffe sinken, kletterte auf den Wall, legte die Hand über die Augen und starrte hinaus aufs Meer. Im Südwesten tauchte der dunkle Bug eines Schiffs auf und wurde von Minute zu Minute größer, während die Gischt unter den Planken aufschäumte. Bald war das Wappen auf dem gelben Segel zu erkennen. Doch der Junge rannte bereits aufgeregt winkend zur Mole und rief atemlos: »Das Schiff, das Schiff … das Schiff unseres Herrn Rivalin!«

Auf dem Wehrturm glitt das gelbe Banner wie eine Schlange am Mast empor, entrollte sich und flatterte im Wind … der schwarze Falke auf goldenem Grund.

 

… Türen und Torbögen, immer neue Torbögen, die den Blick unerbittlich auf Fußböden und Balken lenken oder, hinter einer plötzlichen Biegung, auf einen schwarzen Schattenschacht und auf undeutliche Treppenstufen. Manchmal schnappte ein Riegel ins Schloß, oder der Geruch von trockenem Holz lag in der Luft. Am Ende des Gangs traf ein Sonnenstrahl das grüne Dunkel des Wandteppichs; die rote Mütze eines Jägers und der erhobene Arm mit dem Horn leuchteten auf. Aber noch keine Zimmer … dazu würden sie erst werden … im Laufe der Zeit … sie würden Gestalt annehmen und der Berührung vertraut sein – Ausschnitte, Dinge, die immer flohen und mit der abweisenden Kälte fremder Gegenstände zurückwichen.

Jetzt würde genug Zeit sein, nachdem sie nicht länger mit jedem Monat, jeder Stunde dem Abgrund zutrieb, weil sie schließlich gesprungen war und starke Arme sie in den Raum hinausgetragen hatten.

Sie war von dem Sprung noch immer leicht benommen. Wie sollte sie auch begreifen, daß alle Zeit plötzlich vor ihr lag – Zeit, die sie unerwartet eingeholt hatte. Während ein Frühling in den Sommer überging, hatte die Zeit sie mit Wogen, die alles überfluteten und die Monate unter sich begruben, in solche Höhen von Freude und Angst getragen. Ja, sie war aus der Heimat, dem Reich und den Menschen dort in dieses unbekannte, vom endlosen Meer umschlossene Land geflohen. Und manchmal fragte sie sich verwirrt: Bin ich … bin ich wirklich einmal Blancheflor von Cornwall gewesen?

Doch jetzt saß sie fremd und verlassen auf dem Thron an der Tafel unter den hohen Gewölbebögen, die in den tanzenden Schatten aufragten oder auf halber Höhe von der schwarzen Höhle eines Bogengangs verschluckt wurden … ich sitze hier wie auf dem Grund des Meeres, dachte sie.

Der Lärm und das Getöse in der Halle unten brauste auf und verebbte wie die wogende Brandung. Hin und wieder erreichte sie ein Lachen wie zitterndes Licht, wurde ihr ein Wort zugeworfen wie ein Stein, der durch das Wasser fällt. Wenn es mir nur gelingen würde, etwas Wirkliches zu fassen, mich daran zu klammern und es festzuhalten! Ihre Augen glitten suchend über die Tafel und blieben an der grimmigen Fratze eines Löwen hängen. Nichts – nur eine Bronzekanne. Und plötzlich wußte sie, alles besaß ein Eigenleben, war getrennt und fremd – selbst die Kleidung, die die Menschen trugen … die goldenen Knoten, die sich auf dem scharlachroten Bett eines Samtumhangs wanden … das nackte, unberührbare Weiß einer Leinenhaube. Und die Stimmen? Welche Macht besaß dieser grobknochige, rothaarige Jüngling über die schrillen Laute, die wie zänkische Vögel um seinen Kopf schwirrten! Oder die fahle Maske zu ihrer Rechten … was verband die erloschenen Feuer in den Augen mit dem gelangweilten Ekel, der um die schmalen Lippen spielte?

Ein kalter Wind traf ihr Herz, und fröstelnd wendete sie sich der glühenden Wärme an ihrer Seite zu: Rivalin … konnte ein Mann der Sklave seiner Stimme sein, die ihn so weit davontrieb, daß selbst sie trotz all ihrer Liebe ihn nicht erreichen konnte, als sei er plötzlich ein Fremder geworden? Sie mußte ihn finden; sie mußte diese polternden, derben Späße überholen! Er beugte sich vor und rief dem dicklichen Ritter mit den lachenden blauen Augen, der sich hinunterbeugte, um seinen Hunden Fleischstücke zuzuwerfen, fröhlich zu:

»Godfrey, wie steht es mit der Jagd? Sollen wir die Meute im Wald von Braceld loslassen und zusehen, wie Morgan auf der anderen Seite der Grenze flucht?«

Der Mann drehte sich eifrig um; doch noch ehe er antworten konnte, hörte man hinter ihm eine graue Stimme. »Wenn Morgan bis dahin seine Grenze nicht an den Waldrand verlegt hat.«

Wieder spürte sie, wie der kalte Wind sich erhob. Die Worte hingen leidenschaftslos wie ein Urteilsspruch in der Luft. Einen Augenblick lang schien es ihr, daß sogar alle anderen erzitterten. Oder war es nur Einbildung? Und schon hatte Godfreys tiefer, dröhnender Baß den Bann gebrochen. »Das sieht Euch ähnlich, Deovalin, beim Fest Gespenster heraufzubeschwören. Wenn Morgan durch Braceld zieht, findet er sich im Wasser des Gran wieder! Und am anderen Ufer warten dreißig von Ruals Speeren, um ihn herauszufischen.«

Jetzt ertönte Rivalins helles Lachen. »Freunde, wollen wir Ottern jagen?!«

Der blonde Ritter im blauen Gewand bog sich vor Lachen. »Morgans Stolz wird ihm ein kaltes Bad einbringen, wenn es ihm nicht genügt, daß wir ihn einmal als edleres Wild behandelt haben.«

»Und der Hirsch soll davonkommen und weiter Menschen jagen?« Die helle Stimme hob sich. »Drei Jahre sind es her, Rivalin, daß Euer Pfeil die Pfauenfeder an seiner Kappe im Wind tanzen ließ. Ich wette, ein Schuß in den Kopf hätte ihn weniger geärgert.«

Und wieder erklang Rivalins herausforderndes Lachen. »Er soll sich vorsehen, sonst bin ich das nächste Mal vielleicht ein weniger geschickter, Schütze! Sein großes Maul ist selbst für einen Anfänger ein gutes Ziel.«

Er hatte vom Lachen eine trockene Kehle und nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher. Dann wendete er sich dem Mundschenk zu. Erst jetzt fiel sein Blick auf die blasse Blancheflor, die ihn wie gebannt mit angstvollen, dunklen Augen anstarrte. Er hatte sich nie ganz von diesem überwältigenden Staunen erholt, das ihn überfiel, als er zum ersten Mal sah, wie die dunkel gesäumten Lider sich von diesen strahlenden Seen hoben … wie das Meer in Lyonesse, durchzuckte es ihn damals. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, ihre Augen unter den schwarzen, glänzenden Flechten könnten blau sein. Was hatte er ihr angetan, daß sie sich so verändert hatte? »Blancheflor!« Er ergriff ihre Hände und versuchte, durch leise besorgte Fragen den Grund ihrer Furcht zu erfahren. Doch Blancheflor fand keine Worte; und als sie jetzt seine Nähe spürte, fragte sie sich sogar, ob das Entsetzen nicht zum Teil nur ein Traum gewesen war. Nur der eine quälende Gedanke blieb …»Morgan?« fragte sie schließlich und warf unwillkürlich einen Blick nach rechts.

»Morgan! Haben wir dich mit unseren Späßen geängstigt?« Er folgte mit den Augen ihrem Blick und runzelte ärgerlich die Stirn. »Wenn Morgans Unverfrorenheit erst einmal halb so groß ist wie seine Eitelkeit, dann ist es früh genug für uns, ihn zu fürchten. Es ist Deovalins Art, bei der kleinsten Wolke von einer Sonnenfinsternis zu sprechen.« Damit rief er nach Musik, wie um die Luft von einem vorüberziehenden Schatten zu reinigen.

Obwohl diese Spielleute hier im Vergleich zu den Troubadouren am Hof von Cornwall alles andere als meisterhaft waren, und Rivalin sich immer über sein Unvermögen als Sänger lustig machte, hätte sie gern noch mehr Lieder gehört. Doch das Gelage hatte alle in Stimmung gebracht, und viele wollten jetzt tanzen. Nach ein oder zwei Runden war sie froh, sich ausruhen zu können, denn sie fühlte sich schwindlig, und ihre Glieder waren schwer. Blancheflor saß wieder auf dem Thron und beobachtete, wie Grün und leuchtendes Rot, Blau, Purpur und Gold sich kunstvoll mischten und ineinander verwoben … wie ein Bild aus einem Traum … Würde das Kind, das sie unter dem Herzen trug, zu einem dieser unbekümmerten Männer oder einer dieser sorglosen Frauen heranwachsen? Sie bemerkte, daß sie das blonde Mädchen mit den Grübchen ansah, deren Körper sich so geschmeidig wiegte wie Gras im Sommerwind, und den jungen Mann, der mit seiner drolligen, spöttischen Verbeugung den Narren mit den geschlitzten roten Ärmeln spielte. Gewiß, Rivalins Freunde waren hübsch, aber keiner besaß sein Feuer …»wie eine Flamme, die ruhelos über die Welt jagt«, hatte ihr Bruder gesagt, »bis ein Wind kommt und sie ausbläst.« Nichts konnte ihn halten – selbst jetzt, während er zurückgelehnt und scheinbar sorglos mit Godfrey plauderte, schienen seine Muskeln unter der weichen Seide jederzeit bereit zu sein, sich zu spannen, um zu handeln; und wo das Fackellicht sein zerstörerisches Spiel mit dem rötlichen Gold der Haare trieb, spotteten die wogenden goldbraunen Locken dem Zwang der Krone. Sie sah das Aufblitzen in seinen Augen und dachte, er plant bereits ein neues Abenteuer. Ihr grünes Feuer traf einen Gegenstand, als wollten sie ihn verzehren; dann wandten sie sich plötzlich ab oder versanken wieder in ihren haselnußbraunen Tiefen. Würde sie je die Macht haben, ihn auch nur so lange zu halten, bis ihr Kind geboren war? Um die Angst zu unterdrücken, die sie in sich aufsteigen fühlte, wendete sie den Blick wieder den Tanzenden zu. Doch eine Stimme erzwang sich langsam und hartnäckig den Weg in ihr Bewußtsein und weckte sie aus ihren Träumen. Ein Knappe stand dicht neben ihr und zögerte offensichtlich, sich mit der Antwort seines Herrn zufriedenzugeben, denn sie bemerkte, wie Zornesröte Rivalins Wangen überzog.

»Habe ich nicht gesagt, ich will heute abend keine Boten sehen? Man soll ihm etwas zu essen und ein Bett geben. Seine Nachrichten können bis morgen warten.«

Der Junge blieb unschlüssig vor ihm stehen. »Herr, der Mann ist kaum in der Lage zu warten. Er ist verwundet und hat viel Blut verloren …«

»Verwundet … vermutlich von einer Schlägerei!«

Der zähe Widerstand gegen seine Autorität weckte Rivalins unbeherrschten Eigensinn. Kämpfen war in Ordnung; Kämpfen bedeutete für einen Mann das Leben; aber davon hatte er in letzter Zeit genug gehabt. Heute abend wollte er mit diesem fremden, unbegreiflichen Kind feiern, das er in sein Reich aus Felsen und Meer entführt hatte, um einen Hafen für sich und seine Nachkommen zu bauen – er lachte beinahe über sich selbst … würde er je lange vor Anker liegen? Heute abend wollte er sein Vergnügen haben … mit Fackeln, mit Tanz und Musik unter Freunden … und die ganze Last der vergangenen Monate abschütteln. Er hatte noch nie viel von heimlichen Verabredungen und einer verschwiegenen ›Hochzeit in einer Mönchszelle‹ gehalten … Rivalin holte erleichtert tief Luft und freute sich, daß dies alles hinter ihm lag … Stand der Bursche etwa immer noch da und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen? Er würde ihn lehren, eine Antwort ohne Widerspruch entgegenzunehmen! Der Knappe suchte verzweifelt nach Worten, um die Unnahbarkeit seines Herrn zu durchbrechen. Aber er wollte auch um alles in der Welt vermeiden, ihm den Schlag selbst zu versetzen. Doch schließlich brach es aus ihm heraus: »Es ist Ruals Mann! Morgan …«

»Morgan …« Mehr hörte Blancheflor nicht. Der Name kam gepreßt und halb erstickt von den Lippen des Jungen, grub sich in ihr Bewußtsein und schwoll zum Dröhnen eines kreisenden Rades an, das sich mit immer größerer Geschwindigkeit drehte. Von ferne hörte sie, losgelöst vom bunten Gewebe des Tanzes, die Musik – aber nein, das Gespinst war zerrissen, als hätten sich die Seidenfäden plötzlich im Webstuhl verfangen und verwirrt. Der Fluß war unterbrochen.

Männer und Frauen drängten sich in ängstlichen Gruppen zusammen. Manche hielten noch die Hand oder ein Bein wie im Tanz erhoben, aber das Lachen war auf allen Gesichtern zu einer Maske erstarrt, und sie wendeten sich der blutigen Gestalt zu, die der Knappe zwischen ihnen hindurchführte.

Auf ein Zeichen von Rivalin sank der Mann erschöpft auf eine Bank. Man gab ihm Wein; dann beugte er sich vor und hielt sich am Tisch fest. Nur mit äußerster Mühe konnte sie die keuchenden Worte verstehen. »Morgan hat die Grenze überschritten … und steht bei Treherne. Morgen wird er in Lotred sein.« Immer noch lag das Lächeln auf Rivalins Lippen – sei es aus Trotz, weil er seinen Willen nicht hatte durchsetzen können, oder aus reiner Ungläubigkeit. »In Lotred! Freunde, wie es scheint, beabsichtigt Morgan, uneingeladen zum Fest zu kommen!«

Das Gesicht des Boten verdunkelte sich bei dieser Unbekümmertheit. »Rual kann Gramaron vielleicht halten, bis Ihr kommt. Seine Lage ist verzweifelt.«

»Er kann Gramaron vielleicht halten!« Aber das Lachen in seiner Stimme erstarb. »Rual hat achtzig Ritter!«

»Morgan dreihundert und ein Heer, das von Stunde zu Stunde wächst.«

»Morgan?«

Die Antwort kam mit unverhüllter Bitterkeit. »Viele von ihnen waren einmal Eure Männer, Herr.«

»Mein Gott, heißt das Verrat?« Die Worte entrangen sich ihm, als sei etwas in seinem innersten Wesen zerbrochen. Rivalin wurde leichenblaß; Blancheflor sah die Adern an seinen Händen hervortreten, als er die Greifenköpfe des Throns umklammerte.

Wie war es möglich? Jetzt, nachdem der Schlag gefallen war, fühlte sie sich ruhig … so ruhig, als säße sie in einem riesigen, hell erleuchteten Raum. Alles war seltsam klar, selbst die Vögel in den verschlungenen Weinranken des Mosaikfußbodens … Blancheflor begann, sie zu zählen: Eins, zwei, drei … oder mußte man sie als Paare nehmen? Weshalb kämpfte Rivalin wie jemand, der versucht, sich aus einem Bann zu befreien? Jetzt gab es nichts mehr zu fürchten, denn jetzt war das unbekannte Grauen gewichen. Endlich kamen die Worte leise über Rivalins zusammengepreßte Lippen: »Wenn dir dein Leben lieb ist, Mann, sag mir, was du darüber weißt.«

Der Verwundete zögerte. »Es gab viel Unzufriedenheit. Man sagt, Ihr zieht auf der Suche nach Abenteuern durch die Welt und kümmert Euch nicht um Euer Volk … und dann …«, er richtete den Blick auf den Boden, »Eure Rückkehr sah nicht nach Ehe und Seßhaftigkeit aus.«

Jetzt fiel die Erstarrung von Rivalin ab. Er sprang auf, und das alte Feuer blitzte in seinen Augen. »Du wagst es, Morgans Verleumdungen an meinem Hof zu wiederholen? Dann mach dich auf den Weg und sage ihm, sein Lügenmaul wird die Wahrheit herausschreien, noch ehe mein Schwert seine Zunge gespalten hat. Bei Gott und allen seinen Heiligen, die Herrin Blancheflor ist meine mir angetraute Gemahlin!«

Danach herrschte nur noch wirres Durcheinander. Männer fluchten und schrien laut nach ihren Waffen, und irgendwo in all dem Lärm schluchzte ein Mädchen. Aber sie empfand noch immer diese seltsame Ruhe. Rivalin beugte sich über sie. »Vergib mir, Blancheflor.«

Was sollte sie vergeben? Dann sah sie hinter seiner Schulter wieder den Mann – Deovalin. Das letzte Glimmen in den schwarzen Höhlen war erloschen; aber eingerahmt von den beiden senkrechten Falten zwischen Augen und Kinn, verzogen sich die dünnen Lippen beinahe zu einem Lächeln – jedoch nicht Verachtung oder Hohn sprachen daraus, sondern die unergründliche Hinnahme des Schicksals.

Und jetzt wollte sie schreien, sich an Rivalin klammern wie ein Kind, das aus einem Alptraum erwacht. Blancheflor wußte nur, daß sie ihn festhalten mußte, ihn auf keinen Fall gehen lassen durfte. Aber er löste sich bereits aus ihren Armen und winkte ihren Frauen. Irgendwie mußte sie Worte finden, die ihn zurückhalten würden. »Rivalin … du kannst nicht gehen … deine Wunde ist kaum verheilt.« Sie hätte wissen können, daß er darüber lachen würde. Aber etwas anderes konnte ihn vielleicht noch halten. »Rivalin … denke an dein Kind!« Er nahm sie bei den Schultern und zog sie an sich, sah ihr in die Augen – und diesmal flackerte die Flamme nicht in ihnen …

»Blancheflor … du möchtest doch nicht einen Sohn haben, der seinen Vater als Feigling verachtet?«

Es gab nichts mehr zu sagen … und sie ließ sich von ihren Frauen davonführen. Sie war so müde, daß sie kaum spürte, wie sich seine Hände von ihr lösten. Sie hörte auch nicht mehr das letzte herausfordernde Lachen, mit dem er von der Estrade sprang und dem dunklen ausgebrannten Gesicht des Sängers zurief: »Der Tod, Deovalin, ist nur der Gegner des Lebens in einem Turnier.«

 

Fußböden und Hallen waren schon lange für sie zu Räumen geworden, die ihre dahinschreitenden Füße unaufhörlich durchmaßen – Füße, die von Monat zu Monat schwerer wurden. Es waren inzwischen Räume, die sie umgaben – aber sie entzogen sich ihr noch immer …

Wenn sie jetzt die Augen schloß, sah sie die Mauer in allen Einzelheiten vor sich. An der Ecke bei der Tür in der Schattennische war sie glatt und ausgehöhlt … und diese Tür öffnete und schloß sich unzählige Male. Blancheflor blickte schon nicht mehr von ihrer Stickerei auf, wenn das schwere Eichenholz in den Angeln knarrte. Der glatte Faden war zu leicht, Stunde um Stunde saß sie am Fenster, wo es nur den Baum gab, der sich über die Mauer neigte, und den Horizont über dem grenzenlosen Meer.

Es war besser so. In der ersten Zeit hatte sie sich immer in den Räumen auf der Landseite aufgehalten. Aber dort verging die Hälfte des Tages im ständigen Hin und Her zwischen den schmalen Öffnungen in den Laibungen der dicken Mauern. Beim Klang eines Horns oder dem Klirren einer Rüstung auf dem Pflaster eilte sie zum Fenster, und jedesmal sah sie nur einen verirrten Reiter auf der leeren Straße oder die Wachen unten auf der Mauer, die abgelöst wurden. Die Händler erzählten Geschichten von Greueltaten und Bränden. Schließlich kam ein Bote mit Nachrichten von einer Belagerung, die bis Allerheiligen dauern konnte. Aber das gesprenkelte Gold war schon lange zur wogenden Eintönigkeit von Grün und dunklem Braun verblaßt; und die riesigen Wälder im Norden hatten ihre undurchdringliche Schwärze verloren. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen, als sie das letzte Mal krank und schwach von der erstickenden Last unter dem Herzen die runde Treppe des Bergfrieds hinauf, immer höher hinauf gestiegen war. Unter ihr lag das Land wie ein geflecktes Fell, dünn und welk unter dem weißlichen Himmel zwischen den Meeren. Genau im Norden, wohin das Auge gerade noch blicken konnte, wo tief dunkle Wolken sich mit den langsamen und bedächtigen Bewegungen schwerfälliger Tiere dahinzogen, fanden wohl die Kämpfe statt – so hatte es der Wächter gesagt. Es waren die Rauchwolken geplünderter Dörfer – und im Geist sah sie das wilde Durcheinander verkohlter, stürzender Balken, die in Panik geratenen Rinder, hörte die Schreie von Kindern und verwundeten Männern. Aber soweit man wußte, wurde jetzt wenig gekämpft … zu wenig, hatte der Mann ihr erklärt und die Untätigkeit verflucht, die einem gesunden Mann das Gefühl gab, gefesselt im Sarg zu liegen, während die Rationen von Tag zu Tag kleiner wurden … ja, er hatte eine Belagerung erlebt, die den ganzen Winter dauerte …

Der Winter, die welke, faltige Haut dehnte sich zwischen ihrem Frühling und Sommer und dem der Männer; er stieß sie zurück hinter das Rauchband und die leere Straße, die sich zwischen schwärzlichen Hecken dahinzog.

Da war es besser, auf das Meer zu blicken, wo es nichts gab als die aufgehende und sinkende Sonne, nichts Greifbares, nur den kahlen Baum an der Mauer und Träume, die kommen konnten … der Baum:

Kalenda maya

Ni fuelhs de faya

Ni chanz d’auzelh ni flors de glaya.

Das Lied des dunkelhäutigen Troubadours, der mit gekreuzten Beinen auf der Burgmauer sitzt! Das ferne Lied aus dem Land ihrer Mutter … das dunkle Gitterwerk der Zweige vor dem Himmel, der weiße Blütenschaum, von einem Windstoß in Gesicht und Haare getrieben …

Alys kommt mit dem Arm voller Blumen, und Alienor windet mit geschickten Fingern Veilchen … für wen?

Die Pferde spüren den Frühling. Aber der edle Garel weiß nur zu genau, welch gute Figur er auf dem tänzelnden Braunen macht. Und der junge Pergolas, dessen weißer Umhang sich wie ein Segel bläht, trägt das rote Kreuz auf der Schulter … doch ihn zieht mehr Abenteuerlust als Frömmigkeit ins Heilige Land, denkt sie … der Stahl klirrt und dröhnt auf der Wiese über dem Fluß …

Der schwarze Falke auf goldenem Grund! Er trägt die Rüstung unter dem leuchtendgrünen Umhang, aber der Helm hängt am Sattelknauf. Er ist von seinem Rotschimmel gesprungen, und sofort beschäftigen sich ihre Hände mit den Blumen in ihrem Schoß; aber sie muß seinen Gruß erwidern. Fordert dieser Mann alles heraus, was seinen Weg kreuzt? Als sie hochblickt, ruhen seine Augen gespannt und aufmerksam auf ihr, wie eine eingelegte Lanze, die den Feind erwartet. Mit einem leicht wehmütigen Lächeln wagt sie, ihn spöttisch zu fragen: »Ist Euer Durst nach Siegen immer noch nicht gelöscht, daß Ihr ausreitet, um weitere zu erringen? Seid Ihr so unersättlich, edler Rivalin?«

Er blickt fragend auf seine Rüstung. »Wollt Ihr mir den Sieg verübeln, den Ihr erst gestern mit eigener Hand gekrönt habt?«

Jetzt wagt sie nicht, ihn anzusehen und antwortet halb ernst: »Habe ich nicht das Recht, einem Mann gram zu sein, der einen Freund verletzte, der meinem Herzen so nahe steht?«

Bestürzt sieht er sie an. Hatte er beim Turnier einen Ritter zu Fall gebracht, der in ihrer Gunst stand? Sie sollte ihm nur den Namen nennen, und er würde ihn aufsuchen und sich mit ihm versöhnen. Aber selbst jetzt, während er sie immer drängender darum bittet, spürt sie hinter seiner Reue die ungebrochene Kühnheit, als sei er in seiner Vorstellung bereits Sieger in einem neuen Abenteuer. Folgt er nur der Stimme seines ungestümen Wesens?

Ihre Augen wandern zu den Wolken, die vereinzelt über den Himmel ziehen. Sie schüttelt den Kopf. »Ihr müßt ihn selber finden. Aber sucht nicht allzu weit. Man hat mir erzählt, Ihr zieht durch die Welt, doch niemand kennt Euer Ziel … vielleicht nicht einmal Ihr selbst.«

Er wirft sich ins Gras und legt das Kinn auf die verschränkten Arme. Im Sonnenlicht lodern seine zerzausten Haare wie Flammen. »Suchen wir nicht alle irgend etwas … und wer weiß was? Der eine jagt ihm mit dem Schwert hinterher, der andere mit einem Lied …«

Messatgers, vai e cor

E di·m a la gensor

La pena e la dolor

Que·n trac, e·l martire.

Vom Wall erhebt sich die volltönende Stimme satt und zufrieden in die Luft und steht so ganz im Widerspruch zu dem lastenden Sehnen der Worte.

Beim Zuhören lehnt sie sich gegen den Stamm des Baumes. Hin und wieder schwebt eine Blüte durch die Luft, zittert einen Augenblick auf den scharlachroten Faltenbergen, die sich im Schatten der Gräser erheben, und gleitet zu Boden. Schließlich spricht sie und zieht seine Frage wie einen Faden durch klaren Schatten. »Während er singt, sucht er nichts … außer seinem Singen und dem Frühling gibt es nichts. Aber schon erhebt sich der Wind … der ziellose Wind … eines Tages wird er mich nach Norden treiben.«

Die Worte kommen aus dem Echo der Musik, die sich verschwenderisch in die reine Luft ergossen hat.

Er stützt sich auf den Ellenbogen. Seine Stimme hat jede Härte verloren; er holt tief Luft und fragt: »Habt Ihr nicht den Wunsch, Königin von Schottland zu werden?«

Doch sie hat sich bereits erhoben; eine Blütenwolke wirbelt von ihrem Rock; sie ruft nach ihren Frauen und tritt in das gleißende Licht auf dem Weg …

 

Ah, der Baum! Der Baum auf dem Wall unter dem Turm im Morgengrauen nach der langen, schlaflosen unruhigen Nacht. Blancheflor preßt die Fingernägel in die Handflächen, aus Furcht vor Erschöpfung einzuschlafen. Endlich hört sie, wie unten ein Pferd auf das Pflaster hinausgeführt wird. Trompetenstöße zerreißen das zunehmende Licht; Rufen und Lärmen erfüllt die Luft. »Für Cornwall und König Marc!« Pferdehufe klappern dumpf auf der Zugbrücke; sie sieht ein Gewirr von Schilden und Speeren. Aus dem Fenster gebeugt, beobachtet sie, wie der letzte von ihnen verschwindet. Leere breitet sich kalt und hart in ihrem Kopf aus. Also war schließlich doch nichts gewesen …

Plötzlich ertönt Hufschlag von rechts hinter der Mauer. Sie steht verborgen in der Fensternische. Ihr ganzes Wesen ist gespannt wie ein Bogen, und sie glaubt zu zerspringen, wenn er es nicht ist.

Er zügelt sein Pferd. Er sieht zum Turm hinauf, und sein Gesicht unter der schützenden Halsberge wirkt verzweifelt. Doch sie kann oder will sich nicht aus dem Schatten lösen. Ihr Wille scheint sich vom Körper getrennt zu haben und am Ende eines immer länger werdenden Drahtes zu schweben. Vergeblich versucht sie, ihn mit den Händen zu erreichen, die unbewußt an ihrem Ärmel nesteln. Ah! Jetzt gibt er dem Pferd die Sporen und galoppiert auf die Brücke zu. Sie zerrt an der Seide und läßt sie fallen. Sie schwebt durch die Luft und bauscht sich im Wind. Wenn er sich jetzt nur umdrehen würde! »Rivalin!« Das glänzende Tuch kreist und sinkt. Doch Pferd und Reiter, ein schimmerndes Muster aus Schwarz und Gold jagen bereits über die Ebene … und der Schaft seines Speers bleibt leer. Weit unten liegt der weiße Ärmel eines Mädchens wie ein Knäuel auf den Steinen.

 

Später, als sie mit der Nachricht von der gewonnenen Schlacht und der Speerwunde, die ihm den Tod bringen muß, zu ihr kommen, gibt es für Blancheflor keine Fragen mehr – nur das unerträgliche Warten bis zur Abenddämmerung, und dann der Schleier der Verborgenheit, die Pforte, die sich hinter ihr und allem schließt:

Nacht –

Und Zelt an Zelt –

Wie kann sie wissen, daß in allen

auf ewig Tod und ein Traum zusammenfallen

wie auf dem Wasser Schatten und Licht

daß dazwischen auf dem schmalen Grat

der Glaube das Wunder erzwingt? Da es ihn noch nicht gab

der ihr die Einsicht

gebracht die Wahrheit, für uns auf die tuskische Mauer

geschrieben das schwarze Dunkel

ein geschmiedetes Band

in den gähnenden Spalt kann es sich schieben

des offenen Zelts.

Kaiser oder König

in tiefem Schlaf

Wer hört, wer sieht

das Licht

(und den dunklen Engel so nah)

sich in den Traum drängen?

In hoc signo vinces.

 

Doch in ihr nur wachsendes Entsetzen

zwischen den schlafschweren Zelten im kalten

Land, Angst um einen, ihr noch immer unbekannt.

Sie muß ihn halten

den verwundeten Leib, das blutende Fleisch in Fetzen.

Hoffnung auf Heilung gibt es nicht mehr.

Doch als sie allein dann vor ihm steht

den letzten unbegehbaren

schaurigen Abgrund hinter sich

fällt sie auf die Knie

ist nur Mund

über seinem Mund.

Durst ist gelöscht, gelindert, der unsagbare

jenseits aller Furcht, aller Gebete sogar

über alles Verlangen

hinaus.

Oh, was ist da der Graus

die schreckliche Tiefe, sein trauriges Los

gegen ihr Sein

sich bis zur Erfüllung hingebend

jenseits von Grab und Zeit –

sich verströmend, verströmt –

Bis er zum Licht

hingezogen wird

ohne sie zu sehen

noch immer todesblind

von Schatten zu Schatten strebend

wiedergeboren

in ihrem Leib in seiner Dunkelheit.

Über dem kahlen Baum an der Mauer konnte in Träumen die Vergangenheit aufsteigen. Manchmal fragte sie sich, ob sie einmal Wirklichkeit gewesen waren. Wie konnte sie das wissen? Sie war in Tiefen ihres Wesens aufgewühlt worden, von denen sie nichts geahnt hatte. Sie wollte sich ihrer Wirklichkeit versichern und streckte die Hand aus, um den glatten, runden Halt der Säule im Fenster zu spüren. Dann blickte Blancheflor wieder aufs Meer hinaus.

Ihr Bedürfnis nach seinen Horizonten wechselte. Manchmal schien das Kind in ihrem Leib nach diesen Räumen zu verlangen oder ihre Fruchtbarkeit in einer Beziehung zu dem Leben zu stehen, das auf den Wiesen und Bäumen herangereift war und Frucht getragen hatte. Es schien, als sei mit dem vergehenden Jahr diese Fülle in ihr Wesen geströmt, wodurch der Sommer für sie das Störende einer belanglosen Geschichte besaß, die sich in ihre Welt drängte; und sie fand in der endlosen Eintönigkeit des Wassers und dem kahlen Baum die Ruhe, die das Unvermeidliche schenkt.

Aber es gab auch Augenblicke, in denen sie eine erstickende Furcht vor dem Leben überfiel, das in ihr wuchs, gedieh und alles verdrängte. Selbst wenn ihr Sehnen, was jetzt selten geschah, wie ein Feuer aufflammte, das im Nebel flackert, hatte sie das Gefühl, dicht davor gewesen zu sein, das Wissen um sich selbst zu verlieren; und sie klammerte sich mit heftiger Eifersucht an den wiedergefundenen Schmerz.

In einem dieser Augenblicke, in denen sie sich ihrer Angst überließ und von den Erinnerungen an ihre Ekstase davongetragen wurde, erkannte sie mit der intuitiven Gewißheit einer Offenbarung: Was sich einmal beinahe wie ein Wunder ereignet hatte, konnte oder mußte noch einmal geschehen – Rivalin war durch ihre Liebe gegen den Tod gefeit. Aber noch während das Bewußtsein dieser Macht sie aufrichtete, stieg in ihr eine Kälte, eine schleichende Furcht auf, und sie fragte sich, ob die magische Kraft gebrochen war. Denn die alles in sich aufnehmende Woge ihres Wesens, die ihn eingehüllt, behütet und die ihn vom Tod zurückgeholt hatte, war geteilt. In diesem Augenblick haßte sie das Kind beinahe, weil es ihr das Leben entzog und sie es nicht mehr verschenken konnte. Der Zerfall ihres Willens quälte sie; und Blancheflor blickte aufs Meer hinaus, bis sie sich in seiner Unendlichkeit verlor. Dann schien ihr Wesen wieder zu sich selbst gefunden zu haben. Aber es war nicht mehr der vorsichtig suchende Geist der Mädchenjahre, sondern ein geheimnisvolles und bedrohliches Wesen, umgeben von den dahintreibenden Splittern und Bruchstücken eines Schicksals, das sie nicht verstand. Doch es nahm sie vollständig gefangen. Und jeder, der sie von früher kannte, hätte bemerkt, daß selbst ihre Augen, die immer seltsam träumerisch und erwartungsvoll in die Welt geblickt hatten, als müsse sich eine Vision über sie legen wie Tau auf das Gras, sich jetzt auf sie selbst richteten, denn alles Sichtbare und Hörbare kam von innen. Wenn ein ungewohntes Geräusch in ihr Bewußtsein drang, schien sie nicht in der äußeren Welt nach seiner Ursache zu suchen, sondern in ihrer Erinnerung. Und so kam es, daß eines Tages, als man klirrende Schritte die Treppe hinaufkommen hörte, sich ihre Augen nicht wie früher schnell auf die Tür hefteten; und erst als eine ihrer Frauen neben ihr stand, wandte sie sich vom Fenster ab.

In dem Gesicht des Mädchens lag etwas, das die alte Erwartung wie aus weiten Fernen in ihr aufsteigen ließ; aber sie besaß keine klare Vorstellung von dem, was ihr bevorstand. Lange blickte Blancheflor auf die Gestalt in der Rüstung an der Tür, ehe sie plötzlich erkannte, daß sie sich bisher noch nicht gefragt hatte, ob es vielleicht Rivalin sei. Als der ernste, bärtige Mann auf sie zukam, empfand sie weniger das Erlöschen einer Hoffnung als das Erwchen eines Verlangens, das ihr beinahe fremd geworden war und nach dem sie sich jetzt sehnte wie nach belebendem Regen. Es war nur ein leichtes Erbeben und stieg aus den verborgenen Quellen ihrer Adern auf; aber es erfüllte sie mit dem Versprechen ihres Blutes. Selbst das Kind suchte die Freiheit und eilte ihrer Freude entgegen. Verwirrt tasteten sich ihre Sinne durch den sich lichtenden Nebel, fanden sie wieder, fanden das Leben.

Das war also Marschall Rual – und der Krieg?

Eine plötzliche Scheu hinderte sie daran, nach Rivalin zu fragen.

»Der Krieg ist vorüber.« Aber sie war noch zu benommen, um den dumpfen Klang seiner Stimme zu hören. Die Nachricht, diese unglaubliche Nachricht, die er ihr brachte, genügte. Der Krieg ist vorüber – dann mußte Rivalin kommen.

»Er kann nicht kommen.«

Nicht die Worte – ihre Bedeutung verlor sich in den Nebeln, die sich wieder um sie schlossen –, sondern das gebeugte Haupt, die belegte, niedergeschlagene Stimme hafteten so lange in ihrem Bewußtsein, bis die Erkenntnis so endgültig war und so ruhig alles auslöschte, daß sie beinahe die Angst verdrängte.

»Er kann nicht kommen? Ist er … verwundet?« Es war kaum eine Frage; und das einsetzende Schweigen besaß für sie nichts von der unerträglichen Qual des endlosen Wartens. Es war nur ein Loslösen ihres Wesens, ein so langsames, so sanftes Zurückweichen, daß sie es kaum bemerkte, bis es sich in der völligen Stille der Vollendung gesammelt hatte. Und überrascht stellte Blancheflor fest, daß sie die fremde, unruhige Last des Lebens wahrnahm, das sich irgendwo in ihr bewegte; ein Leben, das sie noch trug und noch nicht geboren hatte, und das sich so völlig jenseits ihres Begreifens und ihrer Liebe befand.

 

Als man ihr das Neugeborene in die Arme legte, konnte Blancheflor sich nur darüber wundern, wie klein es war. Aber sie fühlte sich unendlich müde … bald vereinigte sich ihr Atem mit dem Flüstern der Wellen. Und ehe das Licht das Meer erhellte, war er verstummt.

Alle in ihrer Nähe hatten Blancheflor als ein so zartes und zerbrechliches Wesen empfunden, daß sie sich jetzt fragten, ob sie überhaupt gelebt hatte.

Aus Furcht vor Morgan verbreitete man die Nachricht, das Kind sei tot geboren worden. Insgeheim übergab man es Ruals Frau. Der Junge sollte als ihr Sohn aufwachsen. In Erinnerung an das Leid bei seiner Geburt nannte man ihn Tristan.

 

 

 

Es gibt eine ferne Insel

wo Seepferde glitzern,

ein schönes Ziel in den weißschäumenden Wogen –

eine Insel auf vier Füßen …

 

Wenn Aircthech auftaucht,

wo Drachensteine und Kristalle fallen,

spült das Meer die Welle ans Land,

sie schüttelt Kristalle aus ihrer Mähne …

 

Goldene Streitwagen in Mag Réin

brechen hervor mit der aufgehenden Sonne,

in Mag Mons Streitwagen aus Silber

und aus Bronze ohne Makel …

 

Bei Sonnenaufgang erscheint

ein strahlender Mann, unter dem das Reich erglüht;

er zieht über das meerumschlungene flache Land,

er wühlt das Meer auf, bis es blutet …

 

Es singt dem Heer ein Lied

durch die Zeiten, keine traurige Melodie,

die getragen von den Stimmen vieler hundert

Männer aufbraust –

sie suchen weder Untergang noch Tod …

 

Im Meer, im Westen

liegen dreimal fünfzig ferne Inseln …

Mache dich auf eine Reise über das klare Wasser

vielleicht führt dich der Zufall in das Land der Frauen …

 

Aus The Voyage of Bran, in The Mabinogion

Morgenröte

I

Das Meer hüllte die Felsen in einen silbrigen Dunst. Er schuf wie das Murmeln der Wellen und wie der sich wölbende Himmel eine Harmonie, die im Wesen der Wirklichkeit liegt, aber nicht die Wirklichkeit ist. Was bedeutete, zumindest für den jungen Tristan, der sich über den Tümpel am felsigen Ufer beugte, die endlose Weite des Wassers im Vergleich zu den gefährlichen Meeren, die sich zwischen diesen winzigen Klippen ausbreiteten? Obwohl sie nur eine kleine Fläche einnahmen, lauerte ein Leben voller Abenteuer in ihren klaren Tiefen. Dort, wo winzige Strudel alles der verderblichen Küste zutrieben, was sich zu ihnen verirrte, täuschten sie mit der Verlockung von Smaragdgrün und Blau. Und dort warteten Spalten, an deren schroffen Felsen das stärkste Schiff zerschellen und seine Segel sich im zerklüfteten Gestein verfangen mußten. Wenn ein plötzlicher Windstoß das Wasser kräuselte, konnte es geschehen, daß ein Boot auf dem Weg ins freie Meer dem engen Ende des Beckens zugetrieben wurde, wo die unermüdlichen Wellen in unzähligen Jahren einen natürlichen Wasserspeier in den Felsen gefressen hatten, durch den das überfließende Wasser des Tümpels einen von der Zeit ausgewaschenen Abgrund hinunter in den See stürzte. Erst einmal von diesem Schicksal erfaßt, war das Unheil gewiß, denn das dunkle Wasser in diesem zweiten Becken kannte keine Ruhe. Aufgewühlt zu schäumenden Strudeln warf es die Bruchstücke seiner Beute hin und her, bis sie schließlich weit hinaus in das bodenlose Meer gespült wurden. Dieser unausdenklichen Schmach war ein Schiffbruch an den tückischen Klippen der Felsspalte vorzuziehen. Wenn alles verloren war, blieb noch immer der verzweifelte Kampf ums Überleben, der Versuch, die glitschigen Wände der Spalte zu erklimmen. Hatte er sich auf seinen Streifzügen im Laufe des Tages nicht einen Vorrat von Feuersteinen angelegt, die auch den härtesten Panzer einer Schnecke zertrümmern würden?

Im Augenblick jedoch waren solche Heldentaten vergessen, denn er beobachtete eine riesige tückische Krabbe. Im nächsten Augenblick konnte der hornige Panzer schräg aus dem durchsichtigen Grün auftauchen, und die Scheren würden ihre winzige Beute mit einer plötzlichen, beinahe achtlosen Geste packen. Aber ein solcher Mord vollzog sich zu schnell, zu leicht, um von dauerhaftem Interesse zu sein. Es war ein einseitiger Angriff auf hilflose Wesen, der einem kühnen Mann wenig Ehre einbringen würde. Hatte sein Vater ihm diesen Grundsatz nicht mit allem Nachdruck eingeprägt, nachdem er als Siebenjähriger aus der fürsorglichen Obhut der Frauen entlassen worden war und sich den Gefahren in der Welt der Männer stellen mußte? Bei diesem Gedanken stieg eine Welle der Kraft in ihm auf, und Tristan spähte noch angestrengter in den Tümpel, um vielleicht einen geeigneten Feind zu entdecken. Irgendwo glaubte er im Dämmer eines schattigen Schlupfwinkels eine schwache Bewegung wahrzunehmen. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können, und in den klaren Tiefen tauchte sein Gesicht auf, das ihn mit derselben leidenschaftlichen Gespanntheit ansah, mit der er seine Beute belauerte. Sein Spiegelbild wirkte so selbstverständlich in dieser Umgebung, daß es das Gesicht eines Meerbewohners hätte sein können – dunkles Haar, braun und glänzend wie feuchter Tang in der Sonne, und Augen, die sich jeder Beschreibung entzogen. Am besten ließen sie sich mit dem Tümpel vergleichen, in dem graugrüne und verdunkelnde Schatten die stählerne Klarheit durchzogen; und in denen auch die Ahnung drohenden Unheils lauerte. Doch für Tristan bedeutete die Reflexion nur eine ärgerliche Ablenkung von seinem eigentlichen Ziel; ein Ärgernis, das sich durch die Grimassen noch verstärkte, die im nassen Spiegel auftauchten und seinen Unwillen parierten. Mit einem verächtlichen Achselzucken richtete er den Blick über das blasse Bild hinaus, und etwas anderes zog seine Neugier auf sich. Tief in der Felsspalte, unter wehendem Tang, wo das Licht die Schwärze zu samtigem Braun erwärmte, leuchtete etwas Durchscheinendes, Rosiges. Er kroch vorwärts, streckte den Arm aus und schob den gefransten Vorhang aus Tang vorsichtig beiseite.

Ein gewundener, säulenartiger, klebriger Schaft reckte und dehnte sich, öffnete sich zu einem Fächer. Im bewegten Wasser schien er sich unendlich weit in die felsigen Tiefen zu erstrecken, als reiche er bis zum Grund des Meeres. Wurzelte er im steinigen Boden? Trieb er im Wasser?

Der Fächer schwankte elastisch und gallertartig auf einem glänzenden Trichter. Ein schwarzer Fleck kam angeschwommen, verharrte einen Augenblick über der weiten Öffnung, und dann – o Wunder – schloß sich der Trichter. Gebannt sah der Junge zu. Minuten vergingen; der durchsichtige Muskel zitterte. Langsam, gleichmäßig begann er zu schwellen – die Knospe entfaltete sich zu einer Blüte. Würde das Tierchen im Blütenkelch ruhen? Doch der Trichter war leer, ein gähnender, lockender, gieriger Schlund. In welche Tiefen hatte er sein Opfer hinabgezogen? Und während Tristan hinunterstarrte, überfiel ihn ein seltsam angstvolles Verlangen, ihm dorthin zu folgen – wenn auch er von den fleischigen Blütenblättern erfaßt und durch den schimmernden Schaft hinunter und hinunter gezogen werden konnte, erreichte er vielleicht den Grund des Meeres! War nicht eine ganze Stadt auf den Meeresgrund gesunken, eine Stadt mit Türmen und Zinnen, und mit einer Burg, die weitaus größer war als die, in der er lebte? Hatte nicht die alte Caridwen an Winterabenden oft davon gesungen? Vor langer Zeit stand sie hoch und trocken auf Felsen, die so fest waren wie die Felsen von Lyonesse. Sie lag in einem Land hinter dieser eintönigen Wasserwüste – ein Land, das man die Bretagne nannte, in dem Trompeten schmetterten, die Waffen klirrten, und das erfüllt war von Musik und Gesang. Doch in einer einzigen Nacht war es verschlungen worden, war in den Wellen und im treibenden Tang versunken. In ruhigen Nächten konnte man noch immer den Klang der Glocken tief unten im Meer hören. Und all dies war wegen der Untat eines Mädchens geschehen – ein Mädchen! Tristan lachte verächtlich. Welch eine jämmerliche Untat mußte es gewesen sein, die ein Mädchen im Vergleich zu einem Jungen begehen konnte, und er begann zu überlegen, was er an diesem Tag noch Böses tun könnte. Er würde die Leinen der Fischerboote lösen – doch zuerst wollte er sie in Brand setzen! Unten am Hafen stand eine Scheune voll Stroh; Zunder konnte er sich leicht beschaffen. Sein Gewissen regte sich. Dirmyg, der Fischer war ein guter Freund von ihm; aber vielleicht verschlimmerte das die böse Tat noch. Er mußte sich nachts unbemerkt hinunterschleichen, und dann würde ein Feuer auflodern wie die Flammen, die aus dem Maul des vielköpfigen Drachens auf der Wand der Kapelle schlugen. Ja, das Unheil war gewiß.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Seeanemone.

Vielleicht gab es noch einen anderen Weg, indem man klein wurde, sich in ein Geschöpf verwandelte wie das, was vor seinen Augen verschlungen worden war. Hatte der große Ritter, der den Drachen erschlug, nicht eine Zauberkappe besessen, die ihn augenblicklich in jede Gestalt verwandelte, die er sich wünschte – in ein riesiges Untier mit Hufen oder in eine winzige Mücke? Doch wie sollte er sich die Kappe beschaffen? Der Ritter hatte sie von einem Zwerg, der in den Eingeweiden der Erde lebte. Er war selbst weit in das Innere der Erde vorgedrungen, in die Höhlen unter dem Felsen, auf dem er jetzt lag, und er hatte viele seltsame Dinge gefunden (das Blut gefror ihm ein wenig bei der Erinnerung an dieses Abenteuer), doch keine Zwerge. Vielleicht, wenn er ein Loch grub, tiefer und tiefer – doch das würde zu lange dauern; um sein Ziel zu erreichen gab es nur den Weg des Bösen und der Zerstörung. Der Gedanke daran, was ihn nach seiner Verwandlung in ein Meerwesen erwarten würde, nahm ihn völlig gefangen, und er starrte wieder auf das Wasser des Tümpels. Wie, überlegte er, würde es sein, über den Meeresgrund zu gehen? Würde er gehen oder schwimmen, fragte er sich, während er bereits spürte, wie sein Körper sich dem fließenden Rhythmus der Wasserwesen überließ und in den schlammigen Tiefen kreiste, während über ihm Algenbäume ihre dunklen Zweige emporreckten und in einem Sturm schwankten, den nicht der Wind verursacht hatte. Eine Schlange mit Flossen schoß durch das leuchtendgrüne Wasser und zog eine Schleppe aus Kristallperlen hinter sich her. Tief unten glühte ein Seestern, und die geheimnisvolle Säule reckte noch immer ihren durchsichtigen, schimmernden Schaft aus Sardonyx empor, der von innen erleuchtet zu sein schien.

Aber während er noch selbstvergessen und in seiner Vorstellung gefangen nach unten blickte, zuckte eine unruhige Flamme über die glänzende Wasserfläche, und plötzlich, ohne Vorwarnung erlosch das Strahlen, als habe sich eine dunkle Hand über eine Lampe gelegt. Seine Welt war verschwunden. Benommen blickte Tristan auf die öde Leere. Es schien, als sei das Licht in ihm ausgelöscht worden; und er taste frierend und blind in einem unbekannten Element nach seinem Weg.

Die Einheit des Lebens war zerstört, und die wohltuende Harmonie von Meer und Himmel zerrissen. Rohe und zersplitterte Materie drohte feindselig. Verzweifelt beugte er sich über das Wasser und versuchte in panischer Angst, einen winzigen Rest der Pracht zu retten. Aber in den Tiefen lag tot und verschlossen eine fremde Welt, während ihm von der glanzlosen Oberfläche sein Gesicht entgegenblickte. Abscheu und Haß auf sich selbst und alles, was ihn umgab, erfaßten seinen kleinen Körper und steigerten sich zu einer überwältigenden Qual. Seine Hände griffen suchend umher, rissen und zerrten an den Steinen, warfen einen nach dem anderen in den schweigenden Teich, bis er in blinder Wut selbst den Felsen packte, nur noch vom Zwang beherrscht, mit dieser toten, gefühllosen Materie zu ringen und zu zerstören … Was? Den Felsen, die leblosen, dumpfen Tiefen oder das zuckende, quälende Etwas, seinen Körper? Er hatte schon lange aufgehört, darüber nachzudenken; es war ihm gleichgültig. Tristan hatte nicht bemerkt, daß die Welt wieder erstrahlte, und die Sonne triumphierend über der Wolkenbank auftauchte. Sie schien auf das Trümmerfeld, das sein Teich gewesen war, wo unter den langsam zu Boden sinkenden Muschelteilchen und Sandkörnchen die zerstörten und zerschlagenen Überreste seiner Welt lagen – schimmernde Traumfetzen. Allmählich legte sich seine Wut. Zurück blieb nur eine so grenzenlose Verzweiflung, daß er sich unten am Strand auf den Boden warf und den Kopf mit aller Macht auf den dunklen Sand preßte. Hoch oben, am allumfassenden Himmel, pendelte die Sonne zwischen Aufgang und Untergang.

 

Wenn er nur über den Himmel hinaus kommen, die flaumige Decke, den undurchdringlichen blauen Vorhang durchstoßen könnte! Die Möwen, dachte er, flogen vielleicht dorthin; sie schossen direkt zur Sonnenscheibe empor. Aber immer wieder sanken sie mit wilden, schrillen Schreien beutegierig in kreisenden Bahnen nach unten. Und in jedem Herbst zogen die großen Scharen der Vögel nach Süden über das Meer. Doch sie kehrten zurück. Im Frühjahr flogen sie hoch oben über der felsigen Landzuge wie ein riesiger dunkler Drache nach Norden. Erzählte nicht Math, der Pferdeknecht, daß Jahr für Jahr dasselbe Paar Schwalben unter dem Stalldach nistete? Als Tristan gefragt hatte, wo sie den ganzen Winter über gewesen seien, gab ihm die Antwort nur noch weitere Rätsel auf. »Sie folgen der Sonne«, hatte der Mann gesagt.

»Der Sonne? Gibt es einen Platz, wo die Sonne immer scheint?« wollte Tristan verwundert und ungläubig wissen, »wo es keinen Winter gibt … und auch keine Nacht?«

»Ja«, hatte der Mann geantwortet, »aber in deinem Alter mußt du dir darüber noch nicht den Kopf zerbrechen. Es gibt Länder, wo die Sonne heller und länger scheint als hier. Und deshalb sind die Winter dort eher wie unsere Sommer.« Und er erzählte von einem Land, wo es so heiß war, daß dort schwarzgebrannte Menschen lebten. »Sie sind ganz schwarz bis auf die Zähne und die Augen, die ihnen wie zwei weiße Bälle im Kopf rollen. Wenn sie auf ihren Pferden sitzen, die Krummschwerter schwingen und angreifen, könnte man glauben, man kämpft gegen Teufel … und es sind Heiden«, erklärte er, »sie beten einen falschen Gott an und nehmen sich mehr als eine Frau.«

Aber an diesem Punkt verlor das schaurige Bild für Tristan viel von seinem Schrecken. Was sollte man von einem Mann halten, der sich freiwillig mit einer ganzen Schar Unterröcke abplagte? Mutterlos war Tristan aufgewachsen (Ruals Frau starb, als er noch in den Windeln lag), und eine Frau war für ihn das Symbol ständiger Ermahnungen und Vorwürfe. Trotzdem beschäftigte ihn die Geschichte. Und noch am selben Abend bat er seinen Vater, ihm alles zu berichten, was er über diese von der Sonne verbrannten Länder wußte, und ihm zu sagen, auf welchem Weg man sie erreichte. Aber Rual, der sonst nur allzu gerne Geschichten von Heldentaten erzählte, erwies sich als unzugänglich. Regt sich in dem Kind bereits Rivalins Abenteurerblut? dachte er.

»Ein Mann tut gut daran, in seinem Land zu bleiben, anstatt sich in der ganzen Welt herumzutreiben. Das ist das Beste für ihn.« Dabei sah er Tristan so streng an, daß der Junge nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Er würde mehr von Math erfahren, dachte er. Doch als er einige Tage später den Stallknecht bestürmte, tat der Mann seltsamerweise, als wisse er von nichts. »Vermutlich sind es nur Ammenmärchen«, sagte er, »und dazu bist du schon zu alt.« Tristan fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Ohne den doppelzüngigen Erwachsenen noch eines Blickes zu würdigen, schritt er kochend vor Wut zu neuen Heldentaten davon.

Aber die Sehnsucht blieb.

 

… Es gab Pfeile. Und mit der Geschwindigkeit ihres Flugs war er aus sich heraus geschnellt und hatte die beengende Haut seines Körpers zerrissen; aber sie kamen wie Vögel zur Erde zurück. Er mußte nur suchen, um sie mit Sicherheit wiederzufinden. Sie steckten in der Rinde eines Baumes oder hingen wie eine verlorene Feder in einem Grasbüschel. Es war besser, ein Ziel zu haben. Im Eifer des Gefechts lösten sich die widerstreitenden Bilder auf, bis nichts mehr, nichts zwischen ihm und dem Verlangen stand.

Vielleicht eine Schießscharte des Bergfrieds. Tristan stand auf dem Rasen vor der Burgmauer. Pfeil um Pfeil schnellte von seinem Bogen, flog auf einer gewölbten Bahn der Öffnung zu und verfehlte das Ziel. Plötzlich durchbrachen laute und schrille Knabenstimmen das singende Schweigen. Trappelnde Füße, die stehenblieben, unentschlossen und ungeduldig verharrten – »Tristan, Tristan, hörst du denn gar nicht mehr auf? Du hast versprochen, mit uns zum Trenonhügel um die Wette zu laufen … du triffst doch nie!«

Ohne den Blick zu wenden, ohne sie zu beachten, schoß er unbeirrt Pfeil um Pfeil in die Luft.

»Aber du hast es versprochen …« die lärmenden Stimmen klangen mißmutig.

Und immer noch zielte Tristan angespannt und eigensinnig auf die Maueröffnung. »Doch … ich muß.«

Er sagte es, ohne sich umzuwenden, wie zu sich selbst und zu seinem Geschoß. Doch sein Vorrat an Pfeilen war erschöpft. Seine Hand suchte vergeblich im Köcher. Er gönnte seinen Zuschauern kaum einen Blick, als er mit mühsam unterdrückter Ungeduld rief: »Mehr, mehr.« Die Jungen rührten sich mißmutig und verdrießlich nicht von der Stelle. Der kleinere der beiden, ein sommersprossiges Kind mit sandfarbenen Haaren, erklärte trotzig: »Erst muß du mit uns um die Wette laufen.«

Tristan fuhr herum. Die Glut der Anspannung auf seinem Gesicht wich einer merkwürdigen Blässe, in der seine Augen leidenschaftlich und dunkel leuchteten. Langsam und ohne ein Wort zu sagen, ging er mit ausgestreckter Hand auf den Jungen zu, der wie unter einem Bann den Köcher von seinem Gürtel löste.

Und wieder flog Pfeil um Pfeil durch die Luft. Nur das rhythmische Schwirren und Zischen durchbrach die Stille, bis plötzlich ein heftiger Schrei ertönte, und das Zischen aufhörte.

Ein Pfeil war durch die Schießscharte hoch oben im Turm geflogen. Aber Tristan rannte bereits den Graben hinunter, über die Brücke und auf den grünen Hügel hinter der nächsten Klippe zu. Die beiden Knaben folgten ihm. Er rannte und rannte und wußte nicht mehr, ob ihre Füße ihn vorwärts trieben. Er wußte nur noch, daß er rennen und rennen mußte, um von der Woge seiner Ekstase getragen zu werden.

Der schmale Streifen kahler Felder zwischen den Felsen und dem düsteren Hochland blieb hinter ihm. Er folgte einem Bachlauf, der sich zwischen dichtem Schilf dahinzog. Weiter oben verschwand er in einem Dickicht aus Dornen und Gestrüpp. Hinter sich hörte er in weitem Abstand die lauten Rufe der Jungen. Er zerrte die verschlungenen Äste beiseite und kämpfte sich durch das Unterholz, stolperte auf Händen und Knien durch morastige Löcher immer weiter den Hügel hinauf. Das Gebüsch wurde spärlicher und niedrig. Tote Äste wanden sich wie nackte Wurzeln über den Boden. Er gelangte wieder an den Bach, der hier als dunkelbraunes Rinnsal durch die buckligen Grasbüschel floß. Er blieb stehen und lauschte. Es war totenstill. Er hörte nur seinen keuchenden Atem und das Murmeln des Baches. Er warf sich ins Gras und trank gierig aus den Händen das kühle Wasser. Dann legte er sich ausgestreckt auf den Rücken, öffnete und schloß die Augen, blickte den dahinziehenden Wolken nach und überließ sich der einschläfernden Melodie des Bachs.

Allmählich, so langsam, daß er nicht wußte, wann sie einsetzte, schien sich eine andere Musik mit dem Fließen des Wassers zu mischen und zu verbinden. Es war eine höhere und kühlere Weise, wie der Ruf eines Vogels, doch getragen von einem unermüdlichen Steigen und Fallen. Tristan hörte zu und war zu sehr in ihren Bann gezogen, um sich zu fragen, woher sie kam. Doch mit grausamer Plötzlichkeit brach die Melodie ab. In angstvoller Erwartung stützte er sich auf die Ellbogen und lauschte angestrengt, bis sie wieder einsetzte – diesmal deutlicher und klarer, aber nur, um zu verebben und noch einmal anzuheben. Doch inzwischen war Tristan aufgestanden. Die Musik sollte ihm nicht noch einmal entschwinden; deshalb ging er in ihre Richtung. Sie schien von weiter oben aus einer Gruppe von Felsen auf dem Hügel zu kommen. Er bewegte sich so leise wie möglich und näherte sich ängstlich den Steinblöcken. Er glaubte fest, eines der Wasserwesen zu finden, die in den Bergbächen wohnen.

Die Wasserwesen verzauberten jeden, der sie hörte, damit er nachts aufstand und den Tönen folgte, bis er im Moor versank und verschwand. Tristan hatte inzwischen die Felsen erreicht und hörte die Musik ganz nah. Sie tanzte und hüpfte, als wolle sie ihn verspotten. Vorsichtig kroch er auf allen vieren um das steinerne Bollwerk, dann warf er sich auf den Bauch und robbte vorwärts. Als er den Vorsprung am Ende erreichte, spähte er mit angehaltenem Atem behutsam um die Ecke.

Gegen einen großen Stein gelehnt, saß ein braungebrannter Junge mit gekreuzten Beinen und zerzausten Haaren im Gras. Seine schmutzigen Finger schienen über ein Schilfrohr zu tanzen, das er an die gespitzten Lippen hielt; und Tristan, der nicht recht wußte, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, brach in schallendes Gelächter aus. Der Junge fuhr so heftig zusammen, daß er beinahe die Flöte fallen ließ. Tristan setzte sich auf einen Stein und sah ihn neugierig und verwundert an. »Also bist du doch kein Wasserwesen?!«

Der Junge erholte sich von seinem Schrecken und fand die Sprache wieder. »Wasserwesen? Gott schütze mich vor ihnen.« Er bekreuzigte sich schnell. »Wie kommst du auf diese Idee? Ich bin Owen, der Sohn des Schäfers.«

Tristan starrte den Jungen mit dem Schilfrohr in der Hand noch immer an. »Durch die Musik«, antwortete er noch immer leicht ehrfurchtsvoll.

Der Junge lachte gutmütig und offen. »Hast du noch nie eine Rohrflöte gehört? Was tust du denn den lieben langen Tag?«

Tristan legte die Stirn in Falten und versuchte angestrengt, seinen Tagesablauf in Worte zu fassen. »Essen und Reiten, dann wieder Essen, Bogenschießen und Speerwerfen … Bald«, fügte er hinzu und richtete sich dabei stolz auf, »fange ich auch mit dem Lanzenreiten an.«

Jetzt staunte der Junge. »Lanzenreiten? Was ist das?«

»Eine Rüstung und ein Schild hängen an einem Pfahl, und man reitet in vollem Galopp mit eingelegter Lanze darauf los … siehst du, so … bis man sie trifft, Schild und Rüstung.«

Owens Augen wurden groß. »Steckt da ein Mann drin?« erkundigte er sich atemlos.

Tristan schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber eines Tages … das ist dann ein Zweikampf. Und wenn es viele sind, und Herolde die Trompete blasen, und eine große Menge zusieht, nennt man es ein Turnier … dann kommen alle mächtigen Leute und vielleicht sogar der Herr dieses Landes.«

»Herzog Morgan?«

»Ich glaube.« Tristans Phantasie, in der sich die Bilder von Ruhm und Pracht überschlugen, geriet ins Stocken. Der Name Morgan fiel selten oben auf der Burg, und das wenige, was er gehört hatte, beschwor das undeutliche Bild einer dunklen und abschreckenden Gestalt herauf – eines Menschen, der irgendwie nicht in seine Vorstellungen von edler Kühnheit und glänzendem Ruhm paßte. Der Traum von künftigen Heldentaten hatte einen Makel bekommen und verblaßte. Tristan wandte sich wieder der Gegenwart zu. »Gib mir deine Flöte«, sagte er.

Doch Owen musterte den seltsamen Besucher mit wachsendem Argwohn. Seine Augen wanderten von der zerrissenen, schmutzigen Tunika zu den zerzausten Haaren, in denen noch immer Dornen und Blätter hingen, und den schlanken, zerkratzten und zerschürften Händen, und er fragte mißtrauisch: »Wer bist du?«

»Marschall Ruals Sohn«, antwortete er eher beiläufig, ganz in Anspruch genommen von seinem drängenden Wunsch. »Gib mir deine Flöte.«

Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an. »Heilige Jungfrau Maria. Der Sohn des Marschalls!« wiederholte er. »Was tust du hier?«

»Ich will deine Musik.« Ungeduldig griff Tristan nach der Rohrflöte. Doch der Junge hielt sie fest, im plötzlichen Gefühl, seinen Besitz verteidigen zu müssen. »Ich möchte es nur einmal versuchen«, bestürmte ihn Tristan.

Widerstrebend gab Owen ihm die Flöte. »Du mußt ein Loch mit dem Finger zuhalten und blasen«, erklärte er.

Tristan setzte die Flöte vorsichtig an die Lippen und blies hinein. Ein merkwürdig trostloser Laut erklang. Er blies noch einmal, diesmal fester. Der Ton überschlug sich, klang krächzend und schrill. Tristan zuckte zusammen, und ihm kamen die Tränen.

»Es klingt überhaupt nicht«, rief er und war nahe daran, die Flöte wütend ins Gras zu werfen.

Der Junge lachte gutmütig. »Gib her, ich will es dir zeigen«, und bald führte er Tristan vor, wie man eine Tonleiter spielt.

Die Sonne sank tiefer und tauchte die Felsen in goldenes Licht. Der Junge stand auf. »Ich muß jetzt die Schafe zusammentreiben«, erklärte er.

Hingerissen von seiner neuen Entdeckung, wollte Tristan um nichts in der Welt aufhören zu spielen, doch Owen ließ sich durch sein Bitten nicht erweichen. Beinahe hätten sie sich geprügelt, aber der Junge erinnerte Tristan an sein Versprechen. »Du wolltest es nur einmal versuchen«, sagte er, »… hält der Sohn eines Ritters nicht sein Wort?«

Tristan mußte an Rual denken, der ihm die Regeln der Ritterlichkeit eingeschärft hatte und sah, daß es keinen Ausweg gab. Ein heftiger Kampf zwischen Ehre und Verlangen tobte in ihm. Schließlich behielt die Ehre die Oberhand. Doch er gab sich nicht geschlagen, und beim Abschied hatte er dem Hirtenjungen das Versprechen abgerungen, ihm eine Flöte zu schnitzen.

Owen sah der kleinen, wendigen Gestalt so lange nach, bis sie im Unterholz verschwand. Er überlegte ernstlich, ob er nicht geträumt habe. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Sohn eines Ritters mit ihm gesprochen, und nur wegen einer lächerlichen Rohrflöte – eine lächerliche Rohrflöte – die Worte ließen ihn nicht los, während er seine Schafe zählte.

Am nächsten Tag kam Tristan nach einer schlaflosen Nacht voller Erwartungen lange vor der verabredeten Zeit zurück, und bei Sonnenuntergang war seine Flöte geschnitzt. Er besaß nun nicht nur die Flöte, sondern auch eine Melodie, den Schlüssel zu einer neuen Welt. Die Musik schien sogar den Flug der Pfeile zu übertreffen; und das nicht nur für einen Augenblick, sondern für eine Spanne zeitloser Magie, die ihn in ein anderes Reich führte.

Rual fand ihn, völlig versunken in sein Flötenspiel, an seinem Platz in der Fensternische und überlegte, woher der Junge diese Leidenschaft für Musik hatte – ganz sicher nicht von seinem Vater, denn Rivalin war nur ein schlechter Musiker gewesen, daran erinnerte er sich noch. Tristan hat viel von seinem Vater und vieles, was nicht von ihm ist, dachte er und grübelte über die seltsame Verschlossenheit und die Leidenschaften des Jungen nach. Wenn er ihm doch nur Gefährten seines Standes hätte geben können! Doch der nächste Herrensitz, der diesen Namen verdiente, lag weit von der Landzunge entfernt. Und seit Morgan das Land verwüstet hatte, verkümmerten die ritterlichen Tugenden in Lyonesse und zählten nichts mehr. Traurig betrachtete Rual das verzückte Gesicht mit dem nach innen gewendeten Blick. »Er ist anders als sein Vater«, wiederholte er, »und vielleicht«, fügte er mit einer Spur wehmütigen Bedauerns hinzu, »ist es ganz gut so.«

 

Bestand das Leben aus Regeln? Wenn es nur darum gegangen wäre zu lernen, daß alle Dinge einen Namen hatten und einem bestimmten Zweck dienten, und daß jeder Verstoß dagegen als schwere Sünde betrachtet wurde und Vorhaltungen und Strafe nach sich zog! Alles in der Welt schien in einer unumstößlichen Ordnung zu stehen, seinen festen Platz und seine vorbestimmte Aufgabe zu haben. Doch diese Regel wurde oft gebrochen; deshalb mußte man lernen, den Übeltäter zur Ordnung zu rufen, ihn durch Krieg, Belagerung und Gefangennahme zu bestrafen, obwohl man insgeheim vielleicht die Taten des Gesetzesbrechers billigte. Und außerdem, welchen Sinn hätten die Speerwürfe und die Schwerthiebe, die man viele Stunden am Tag übte, und die einem das Gefühl gaben, ein Mann zu sein, ohne Bösewichte gehabt? Tugend verhieß andererseits eine unwiderstehliche Belohnung: der Ruhm des Tages, vor dem in der Kindheit jeder andere verblaßte – der Tag, an dem ein mächtiger Herr einem das Schwert der Ritterschaft umlegen würde. »Wird Morgan dieser Herr sein?« Tristan stellte die Frage mit gemischten Gefühlen.