Trügerische Begegnung im Sommerwind - Ricarda Konrad - E-Book

Trügerische Begegnung im Sommerwind E-Book

Ricarda Konrad

4,9

Beschreibung

Ein Stalker in einem beschaulichen, irischen Dorf? Lange nimmt Megan Riordan die Blumen im Haus, mysteriöse Anrufe und Mails mit Humor und freut sich über den unbekannten Verehrer. Bruder Damian und der Rest der Familie machen sich jedoch Sorgen. Noch während sie versuchen, dem geheimnisvollen Verfolger auf die Schliche zu kommen, spitzt sich die Lage dramatisch zu …

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Nachwort

Leseprobe "In den Schatten der Vergangenheit"

Leseprobe "Herbst der verlorenen Spuren"

Impressum

Kapitel 1

Ein verirrter Sonnenstrahl spiegelte sich auf der Tischplatte und warf sein Licht in einem hellen Kreis an die Wand. Megan Riordan liebte dieses Spiel so früh am Morgen, wenn die Sonne aufging. Nie hielt es sie lange im Bett, sobald der Tag erwachte. Diesmal hatte ihre Anwesenheit in der Küche zu dieser frühen Stunde jedoch einen Grund.

Während der sechs Monate, die sie mit ihren Söhnen zurück in ihrem Heimatdorf war, lebte sie vom Unterhalt ihres Mannes. Dezente Hinweise aus der Familie wiesen sie aber immer wieder darauf hin, dass dies kein Dauerzustand sein konnte und Megan sich doch gefälligst endlich auf eigene Beine stellen solle. Sie selbst hatte dazu im Grunde keine Veranlassung gesehen, denn mit Joshuas Zahlungen lebte es sich recht gut. Dennoch fühlte sie sich neuerdings unausgelastet, seitdem sie das Ende ihrer neunzehnjährigen Ehe verarbeitet hatte. Zuerst gab es genug mit der Bewältigung der Trennung zu tun. Nicht nur für sie, sondern auch für die Jungs. Gerade Noah mit seinen sechzehn Jahren befand sich ohnehin in einem schwierigen Alter und das machte es nicht leichter. Er schlug nach seinem Vater, mit blondem Haar und schmaler Gesichtsform. Der Körper jedoch war eher Megans: groß, schlaksig und im derzeitigen Stadium der Pubertät etwas ungelenk. Megan vermutete sogar, Noah hatte die erste Freundin. Er benahm sich manchmal seltsam, tippte häufig auf seinem Smartphone und schaltete aber das Display aus, wenn Megan ihn dabei überraschte. Sie freute sich für ihn, denn in dem Alter war es einfach herrlich normal. Lediglich Noahs Verschwiegenheit störte sie manchmal, aber es gehörte schlicht zu seiner Natur.

Der zwölfjährige David hingegen war ein unkompliziertes Kind, das sich in der Umgebung schnell einlebte und seinen Vater nicht so sehr zu vermissen schien. Er hatte mehr von seiner Mutter geerbt, das dunkle Haar, die ovale Gesichtsform. Außerdem ihre großen, dicht bewimperten Augen, die später einmal Mädchenherzen schmelzen lassen würden. Unbekümmert sagte er oft, was er dachte und Megan fand das besonders liebenswert – wie eigentlich alles an ihren Söhnen.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee, stellte die Tasse in die Spülmaschine und warf einen Kontrollblick in den Garderobenspiegel. Ihr Gesicht war schmal geworden in der letzten Zeit und die langen, dunklen Haare betonten die Blässe. Bisher schlank, wirkte sie nun schon fast mager. Ohne Rundungen, nur noch mit Ecken und Kanten. Ein Ebenbild ihrer Mutter, hatte sie hohe Wangenknochen und volle Lippen. Trotz der Gewichtsabnahme war ihr Gesicht immer noch hübsch, die braunen Augen ausdrucksvoll. Die leicht nach oben gebogene Nasenspitze gaben ihr etwas Spitzbübisches.

Verärgert über ihr Spiegelbild streckte sie ihm die Zunge raus, bevor sie ihre Handtasche nahm und das Cottage ihres Bruders verließ. Da er mit seiner Frau in deren Haus lebte, durfte sie hier mietfrei wohnen.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich etwas beeilen musste. Am ersten Arbeitstag zu spät zu kommen wäre mehr als peinlich. Megan hatte sich nicht wirklich um Arbeit bemüht, sondern ihre Bewerbungen eher pro forma verschickt. Wider Erwarten bekam sie eine Einladung zu einem Gespräch. Bei dieser Unterhaltung erfuhr sie von der Trennung ihres zukünftigen Chefs von seiner Frau, die zuvor die Arbeiten im Büro erledigt hatte. Das war ein halbes Jahr her und im Bestreben, ein gemeinsames Band zu knüpfen, bemerkte Megan: »Oh, mein Mann und ich haben uns auch vor einem halben Jahr getrennt.« Sie bekam die Stelle. Deshalb machte sie sich heute Morgen um diese Zeit auf den Weg in den Nachbarort. Im Nachhinein war sie doch froh, dass es geklappt hatte. So konnte sie der Eintönigkeit der Tage entfliehen.

Ihr Heimatdorf, in dem außer ihrem Bruder Damian noch ihre Eltern und Großmutter lebten, war doch sehr klein und bot nicht viel Abwechslung. Natürlich hielt sie sich oft im Elternhaus auf, aber eine Dauereinrichtung sollte das nicht sein. Damian arbeitete als selbstständiger Schreiner den ganzen Tag und auch seine Frau Caro verbrachte die meiste Zeit mit ihren Übersetzungen. Sie stellte für Megan ohnehin keine Zuflucht dar, denn so ganz warm geworden waren die beiden Frauen in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft noch nicht.

Megan seufzte und startete den Motor ihres Kleinwagens. Die ganzen Jahre hatte sie nicht arbeiten brauchen und kaum auf etwas verzichten müssen. Es erstaunte sie selbst, dass sie sich auf diese neue Aufgabe freute. Es handelte sich nur um eine Schreibtätigkeit mit Telefondienst bei einem Makler, aber immerhin. Das würde sie wenigstens problemlos packen. Sie spürte eine beginnende Unruhe, die ihre Hände leicht zittern ließ. Weit brauchte sie nicht zu fahren, nur zehn Minuten die Landstraße entlang. Auf der Strecke lagen das eine oder andere einsame Cottage und Wiesen, so weit das Auge reichte. Wie in Irland üblich, waren sie auch hier durch kleine Natursteinmauern abgegrenzt. Manchmal staunte Megan selbst darüber, wie sehr sie die Einmaligkeit dieser Landschaft überraschte, wenn sie sich die Zeit nahm, bewusst hinzusehen.

Sie steuerte ihr Auto in Langshire an den Straßenrand, wo es die nächsten Stunden auf sie warten würde. Nervös verriegelte sie die Türen, überquerte die noch mäßig befahrene Straße und öffnete die Glastür zum Maklerbüro. Mr Murray schaute von seinem Computer auf, auf dessen Tastatur er bereits fleißig herumgehackt hatte. Als er sie erkannte, stand er sofort auf und kam mit ausgestrecktem Arm zur Begrüßung auf sie zu.

»Herzlich Willkommen, Mrs Riordan. Das ist ihr Arbeitsplatz.« Er deutete weit ausholend auf einen Schreibtisch mit PC, der im rechten Winkel zu seinem, aber doch einige Meter entfernt stand.

»Ich zeige Ihnen, wo sie das Gerät anschalten und dann können Sie sich erst mal in Ruhe damit vertraut machen. Aber Sie kennen ja die Programme, die Sie für Ihre Arbeit benötigen. Wir haben kein spezielles zur Textverarbeitung, es ist ein ganz geläufiges.«

Er drängte sie zu ihrem Platz, indem er immer mehr die Distanz zwischen ihnen verringerte. Megan war diese Nähe sehr unangenehm, zumal ihr Chef recht füllig war und trotz der Frische des Morgens stark schwitzte. Auf der Stirn befand sich bereits ein feuchter Film, der begann, sich zu Tröpfchen zu entwickeln. Unauffällig brachte sie wieder etwas Abstand zwischen sie beide und beobachtete ihn, wie er alles anschaltete. Sie legte ihre Tasche ab und nahm auf dem Stuhl Platz, der am Schreibtisch stand. Sofort roch sie wieder den aufdringlichen Duft von Mr Murray, als er sich über ihre Schulter beugte. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl herum und suchte nach einer Möglichkeit, diese Nähe zu vermeiden. Sie fand keine. Wie kam bloß dieser Sechzigjährige auf die Idee, dass eine zwanzig Jahre jüngere Frau derart auf Tuchfühlung mit ihm gehen wollte? Das fing ja wirklich gut an!

Megan biss die Zähne zusammen und versuchte, seine körperliche Anwesenheit zu ignorieren. Nach für sie endlosen Minuten löste er sich von ihr und ging augenzwinkernd zu seinem Platz zurück. Sie atmete einmal kräftig aus und kreiste mit den Schultern, um die entstandenen Verspannungen wieder zu lösen. Dann ergriff sie die Maus und klickte sich durch die Desktopverknüpfungen. Schneller als sie erwartet hatte, fühlte sie sich bereit, mit der Arbeit loszulegen. Sie schaute auf und bemerkte, wie sie von Murray beobachtet wurde. Ertappt senkte er den Blick und stierte auf die Unterlagen, die vor ihm lagen.

»Mr Murray, ich wäre soweit. Wenn Sie mir das Band mit den Diktaten geben, könnte ich anfangen.«

Er grunzte kurz, erhob sich dann und brachte ihr ein Diktiergerät an den Tisch, das er selbstverständlich auch wieder mit extremer Körpernähe erklären musste. Megan spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Es sind nur fünf Stunden täglich, beschwor sie sich. Die gehen vorbei und wenn er alles erklärt hat, gibt es keinen Grund mehr für ihn, neben mir zu stehen.

Erleichtert vernahm sie dann seine Ansage, er müsse zu mehreren Besichtigungsterminen. Ob sie denn allein zurechtkäme?

Nichts hätte Megan in diesem Moment davon abgehalten, ihm dies zu versichern. Sie sehnte sich nach Einsamkeit in diesem Büro. Doch er drehte noch einmal um, um ihr Anweisungen zu geben, wie sie sich gegenüber möglichen Kunden verhalten sollte. Dann endlich schlug die Tür hinter ihm zu.

Nachdem er gegangen war mit der Information, wohl erst gegen Mittag zurück zu sein, stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Handflächen. Wenn das in diesem Stil weiterging, würde sie nicht lange durchhalten. Am liebsten wäre es ihr, er wäre vormittags auf Außenterminen, damit sie von seiner Anwesenheit verschont blieb. Warum musste sie ausgerechnet bei so einem Schleimbeutel landen? Resigniert wanderte ihr Blick durch den Raum, in dem sie künftig arbeiten sollte. Weiß getünchte Wände stießen auf lindgrünen, robusten Teppichboden. Hier und dort gab es eine Topfpflanze, aber davon abgesehen wirkte das Büro recht funktionell und sachlich.

Sie straffte den Rücken, steckte sich die Stöpsel des Diktiergeräts in die Ohren und öffnete die Textverarbeitung. Er hatte Recht, die verwendeten Programme waren nahezu jedem Computernutzer bekannt und das ersparte eine Einarbeitung. Sie konnte einfach drauflos tippen.

Also konzentrierte sie sich auf das Diktat, stellte aber schnell fest, dass es einiger Übung bedurfte, gleichzeitig zuzuhören und zu schreiben. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie so lange aus dem Berufsleben war, beruhigte sie sich selbst. Mit der Zeit würde das schon werden.

Und tatsächlich, nach einer guten Stunde klappte es ganz gut, ohne dass sie ständig das Band stoppen und zurückspulen musste. Jetzt mit Feuereifer bei der Sache, bemerkte sie den Besucher nicht, der durch die Glastür trat. Sie schrak erst auf, als eine Hand vor ihrem Gesicht herumwedelte. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, verfing sich mit der Hand im Kabel der Ohrstecker und das Gerät rutschte auf den Boden. Hektisch bückte sie sich danach, wobei sie mit der Stirn gegen die Tischkante stieß.

Der Mann, der bis jetzt vor ihrem Tisch verharrt hatte, löste sich aus seiner Erstarrung und eilte zu ihr. Er nahm ihren Oberarm, um sie hochzuziehen. Dann hob er das Diktiergerät auf und legte es zurück auf den Tisch. Frustriert über ihre Tollpatschigkeit sah sie ihm ins Gesicht und zwei rehbraune Augen blitzten sie amüsiert an.

»Reagieren Sie immer so auf einen Kunden? Es ist hoffentlich nichts passiert?« Seine Stimme klang ruhig und warm.

Megan suchte mit der Hand die Sitzfläche ihres Stuhls und ließ sich darauf nieder.

»Tut mir leid. Ich war so auf meine Arbeit konzentriert, dass ich Sie nicht kommen sehen habe. Es ist mein erster Tag heute und noch etwas ungewohnt. Aber alles okay.«

Er nickte langsam und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Kein Problem. Ich war nur etwas erschrocken darüber, was ich durch meine Anwesenheit ausgelöst habe.«

Megan hatte sich nun soweit erholt, dass sie ihn näher betrachtete. Sie selbst war recht groß, aber er überragte sie noch um einige Zentimeter. Das blonde Haar bildete einen hübschen Kontrast zu den braunen Augen, die Gesichtszüge waren weich und ebenmäßig. Die gebräunte Haut sah sie als Zeichen, dass er sich viel an der frischen Luft aufhielt. Viele kleine Fältchen gaben dem Gesicht Charakter, er mochte auf die Fünfzig zugehen. Dennoch störte sie etwas, aber sie vermochte nicht zu sagen, was es war.

»Nein, nein! Jeder andere hätte genau denselben Effekt auf mich gehabt. Was kann ich für Sie tun?«

»Vermutlich nicht viel, wenn Sie heute erst angefangen haben.«

»Versuchen Sie es trotzdem«, forderte sie ihn auf.

»Ich suche ein Haus, aber bei Ihren Angeboten ist nichts, was meinem Geschmack entgegenkommt. Nun dachte ich, Sie könnten vielleicht eins nach meinen Wünschen suchen. Ich könnte auch selber bauen, aber das dauert mir zu lange und bringt zu viel Ärger mit sich.«

»Dann sollten Sie auf jeden Fall mit Mr Murray sprechen. Er ist gerade bei Außenterminen, aber ich werfe mal einen Blick in seinen Terminkalender.«

Diesen hatte ihr Murray mit den kurzen Worten erklärt: »Sie sehen ja, wo was frei ist. Da können Sie Termine eintragen.« Er bevorzugte noch die antike Form eines Tischkalenders aus Papier. Gemäß seiner Anweisung trat sie hinter seinen Schreibtisch und entdeckte noch am selben Nachmittag einen gestrichenen Eintrag.

»Offenbar hat heute jemand abgesagt. Könnten Sie gegen drei Uhr wiederkommen? Dann sollte Mr Murray Zeit für Sie haben.«

Der Mann kniff die Augen zusammen, während er überlegte. Dann nickte er.

»Ihr Name?« fragte Megan freundlich nach.

»Oh!« Er lachte und schüttelte über sich selbst den Kopf. »William McKee.«

Sie notierte ihn in der Spalte neben dem gestrichenen Namen und ging zurück zu ihrem Computer. McKee winkte zum Abschied und verließ das Büro.

An ihrer Unterlippe nagend dachte Megan darüber nach, was sie an ihm gestört hatte. Ein verbitterter Zug um den Mund, das war es. Erleichtert, die Ursache gefunden zu haben, wandte sie sich wieder der Tastatur zu. Aber bevor sie weitertippte, erinnerte sie sich ihrer Söhne. Ob Damian wie versprochen dafür gesorgt hatte, dass sie pünktlich aufstanden und zur Schule fuhren? Seine Werkstatt lag nicht weit vom Cottage entfernt und diese Lösung hatte sich daher angeboten. Unwillig schüttelte Megan über diese Gedanken den Kopf. Wenn Damian sich darum kümmerte, dann klappte das auch. Außerdem würde sie ab morgen später anfangen zu arbeiten und könnte sie wieder selbst versorgen.

Sie haute bis kurz vor Feierabend in die Tasten. Gerade als sie den Bildschirm abdeckte, kam Murray zurück.

»Ich habe für heute Nachmittag einen Termin eingetragen«, verkündete sie fröhlich, da sie in wenigen Minuten gehen würde. »Der Herr sucht ein Haus und möchte, dass Sie es für ihn finden. Die ausgedruckten Schriftsachen liegen auf Ihrem Schreibtisch. Ich gehe dann jetzt. Bis morgen, Mr Murray.«

Sie hörte gerade noch sein »Schönen Feierabend!«, als sie fast fluchtartig auf die belebte Straße trat. Ihr graute vor seiner Anwesenheit am morgigen Tag, denn vormittags hatte es keine Termine in seinem Kalender gegeben. Um sich aber nicht den Nachmittag zu verderben, schob sie ihre Unbehaglichkeit zur Seite.

Bevor sie nach Affordshire zurückfuhr, erledigte sie noch ein paar Einkäufe. Mit den Tüten auf dem Rücksitz zockelte sie anschließend in gemütlichem Tempo nach Hause. Bis Noah und David aus der Schule kommen würden, dauerte es noch eine Weile. Es bliebe ihr somit Zeit, auszupacken und den Vormittag Revue passieren zu lassen. Ob sie einen Abstecher zu Damian machen sollte, um ihm von dem unmöglichen Benehmen ihres Chefs zu erzählen? Den Gedanken verwarf sie sofort wieder. Er würde nur denken, sie suche einen Grund, um sich vor der Anstellung zu drücken. Trotzdem, wenn sich Murray weiter so verhielt, würde sie ihren Bruder um Rat fragen. Oder vielleicht doch lieber Caro. Obwohl sie ganz sicher nicht beste Freundinnen waren, hatte sie ihre Schwägerin als eine Person kennengelernt, die eine klare Meinung hatte und sehr objektiv an Probleme heranging. Sie würde ihr bestimmt etwas raten können.

Warum hatte sie Caro eigentlich schon bei der ersten Begegnung abgelehnt? Eine Analyse fiel nicht schwer. Damian liebte unverbindliche Affären und seine Unabhängigkeit. Kaum kam aber diese Deutsche daher, die in dem beschaulichen Dorf ein Cottage geerbt hatte, wurde ihr Bruder mit über vierzig Jahren zum Beziehungsmensch. Nicht, das dies schlecht wäre. Aber es war eine solche Veränderung, dass Megan ihr automatisch kritisch gegenüberstand. Dennoch, die Entwicklung war durchaus positiv anzusehen. Den richtigen Hafen gefunden, wirkte Damian überaus glücklich. Vielleicht sollte sie doch mal auf Caro zugehen und ihren Argwohn über Bord werfen.

Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab und entdeckte vor der Haustür eine einsame, rote Rose. Verblüfft starrte sie darauf, stellte ihre Einkäufe ab und hob sie auf. Ein intensiver Duft stieg von der Blüte auf. Kurz schoss ihr die Frage durch Kopf, von wem sie stammen könnte. Impulsiv schaute sie sich um, natürlich ohne jemanden zu entdecken. Im Grunde interessierte es sie aber nicht weiter, deshalb schob sie den Gedanken zur Seite. Noch ahnte sie nicht, dass diese schöne Blume gleichbedeutend mit einer bald unerträglichen Situation für sie werden würde.

Sie trug die Tüten ins Haus und begann auszupacken. Dann kochte sie sich einen Tee, nahm ihn mit ins Wohnzimmer und ließ sich dort in den gemütlichen Sessel fallen. Die Einrichtung stammte zum größten Teil von Damian, der ihr vieles überlassen hatte. Sie lächelte vor sich hin. Einen solchen Bruder zu haben konnte man wahrhaftig als Glücksfall bezeichnen.

Während sie sich bei ihrem Tee ausruhte, fiel die Anspannung von ihr ab. Das bewirkte, dass sie sich ausgelaugt und erschöpft fühlte. Und das nach einem ruhigen Arbeitstag von nur fünf Stunden! Sie war wirklich sehr aus der Übung. Kopfschüttelnd stand sie schwerfällig auf, brachte die Tasse in die Küche und begab sich auf den Weg zu Caro. Natürlich würde sie stören, denn die Schwägerin säße zu dieser Zeit am Computer, um an einer Übersetzung zu arbeiten. Diese selbstständige Art der Heimarbeit hatte ihr eine Übersiedlung nach Irland überhaupt erst möglich gemacht. Megan wusste aber auch, dass Caro gegen eine Unterbrechung meistens nichts einzuwenden hatte.

Sie legte die kurze Distanz zum Cottage, in dem das Paar lebte, zu Fuß zurück. Bevor sie zum Gartentor abbog, schaute sie die Kuppe entlang. Würde sie das kurze Stück hinaufgehen, könnte sie auf der anderen Seite den Dorfkern sehen. Gepflegte Häuser, die sich in kleinen Vorgärten aneinanderreihten. Ein mehr oder weniger als Hobby betriebener Lebensmittelladen, ein Pub und wenige Nebenstraßen, die nicht lang waren. Eine führte sogar direkt zu den Klippen, von wo aus man das tosende Meer darunter sehen konnte.

Sie ging auf die Haustür zu und warf einen Blick durch das Fenster links daneben. Gleich davor stand der Computer, denn es war Caros Arbeitszimmer. Mit gerunzelter Stirn starrte diese auf den Bildschirm, das hübsche, runde Gesicht mit den klaren, blauen Augen konzentriert. Erstaunt hob sie schließlich den Kopf, als sie die Anwesenheit der Besucherin bemerkte. Die hellblonden, schulterlangen Haare waren zerzaust, als wenn sie immer wieder mit der Hand hindurchgefahren wäre. Sie lächelte Megan zu und winkte ihr zum Zeichen, dass sie reinkommen solle.

Megan kam der Aufforderung nach und betrat den übersichtlichen Flur, Caro kam ihr bereits aus dem Büro links entgegen. Lautes Hundegebell erklang, während zwei Fellknäuel mit Schlappohren auf sie zuschossen. Obwohl Megan selbst keine Haustiere würde haben wollen, mochte sie die Mischlinge sehr. Also hockte sie sich hin und kraulte ihnen zur Begrüßung hinter den Ohren. Oscar, der nie genug bekommen konnte, warf sich auf den Rücken und hielt ihr zusätzlich seinen Bauch hin. Sein Bruder Goliath betrachtete dies geduldig, bis Oscar sich zufrieden wieder aufrappelte und beide im hinteren Teil des Hauses verschwanden.

»Wie war dein erster Tag?« fragte Caro anstelle einer Begrüßung. Wieder fiel Megan die füllige Figur ihrer Schwägerin auf, aber es stand ihr. Und Damian schien es sowieso zu gefallen.

»Anstrengend. Ist doch merkwürdig, dass mich ein paar Stunden Schreibarbeit so umhauen. Nur, weil ich so viele Jahre nicht gearbeitet habe.«

Caro grinste. Auch von ihr ging eine gewisse Distanziertheit aus, die aber eher auf Vorsicht beruhte. Eine Reaktion auf die bislang etwas ablehnende Haltung Megans.

»Ich glaube, das ist normal. Magst du einen Tee mit mir trinken?«

Sie wusste sehr wohl, dass Megan Kaffee nur als morgendliches Aufwachgetränk akzeptierte.

Megan registrierte wieder einmal das unausgesprochene Friedensangebot Caros. Und diesmal würde sie es annehmen. Sie fand sich selbst gar nicht so bockig und unnahbar, wie andere sie sahen – insbesondere Caro hatte diesen Eindruck von ihr gewonnen. Alles nur Fassade, um nicht verletzt zu werden. Megan selbst wusste das selbstverständlich, andere nicht.

»Ja, das wäre super. Ich dachte mir, wir könnten einfach mal eine halbe Stunde quatschen. Wenn ich ehrlich bin, würde ich dir auch gern was erzählen, von dem ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.« Dies war ein spontaner Entschluss, den sie soeben gefasst hatte.

»Dann gerne auch eine Stunde«, lachte Caro. »Ich brauche ohnehin dringend eine Pause, mittlerweile kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Autorin des Buchs, das ich gerade übersetze, hat eine sehr eigenwillige Art zu schreiben.«

Caro ging voraus in die Küche, setzte Wasser auf und blieb abwartend an der Arbeitsplatte stehen. Die Einrichtung stammte noch von ihrer Tante Molly, deren Testament ihr dieses Cottage und ein neues Leben beschert hatte. Jedes Stück war die Handarbeit Damians, der vor einigen Jahren in Mollys Auftrag die Möbel hergestellt hatte. Helles, freundliches Holz an Hänge- und Unterschränken und eine robuste Marmorarbeitsplatte. Molly hatte wirklich an nichts gespart.

Caro traute dem Frieden nicht so ganz. Dass Megan mit einem Anliegen zu ihr kam, war völlig neu. Schließlich trug sie die Becher mit dem Tee an den Tisch und nahm ihrer Schwägerin gegenüber Platz.

»Wie geht es dir als Mrs McIntyre?« fragte Megan in einem bisher seltenen Anflug von Interesse.

Sofort nahmen Caros Augen einen verträumten Ausdruck an, noch bevor die Antwort kam.

»Ich habe mich immer noch nicht dran gewöhnt, aber es ist toll. So ganz kann ich immer noch nicht fassen, dass Damian und ich offiziell zusammengehören. Wahnsinn!«

Sie nahm einen Schluck aus der Tasse und schaute nachdenklich zu Megan.

»Was wolltest du mir denn erzählen?«

Megan berichtete von ihrem ersten Arbeitstag und der unangenehmen Nähe ihres Chefs.

»Ist er wenigstens attraktiv?« gluckste Caro. »Nein, ich sehe schon an deinem Gesichtsausdruck, dass er das nicht ist. Ist natürlich eine blöde Situation«, stellte sie mit der gebotenen Ernsthaftigkeit fest. »Du solltest dir das auf keinen Fall gefallen lassen, aber man muss vorsichtig vorgehen, damit du deinen Job nicht gleich wieder verlierst. Wobei … Selbst wenn du ihn opfern musst, um ständigen Annäherungsversuchen zu entgehen, wäre das ja auch nicht tragisch. Stillhalten solltest du jedenfalls auf gar keinen Fall.«

Es tat Megan gut, eine Bestätigung ihrer Überlegungen zu bekommen. Sie war nicht so massiv auf die Arbeit angewiesen, um sich alles bieten lassen zu müssen. Einmal ganz davon abgesehen, hatte alles seine Grenzen.

»Wie würdest du das an meiner Stelle regeln?«

Caro überlegte. Sie starrte dabei an Megan vorbei und fixierte einen unsichtbaren Punkt hinter deren Schulter. Schließlich wanderte ihr Blick wieder zu Megan zurück.

»Ich würde morgen erst mal abwarten, vielleicht auch übermorgen. Vorausgesetzt, du kommst noch so lange damit klar. Wenn sich dann nichts geändert hat, bitte ihn um ein kurzes Gespräch. Sag ihm freundlich, dass du dich durch seine Art bedrängt fühlst und er sich diesbezüglich etwas zurückhalten möge. Betone vielleicht noch, dass es nichts mit ihm persönlich zu tun hat, sondern du grundsätzlich ein Problem mit zu viel Nähe hast. Auch wenn das nicht stimmt – er weiß es nicht und fühlt sich weniger angegriffen. Das wäre mein Vorschlag.«

Megan nickte nachdenklich. Das klang gut und würde bestimmt klappen. Spontan legte sie ihre Hand auf Caros, um sie leicht zu drücken.

»Danke, Schwägerin. Ich hatte auch schon in der Richtung überlegt, brauchte aber noch eine Bestätigung.«

»Immer wieder gern«, versicherte Caro, etwas irritiert über die ungewohnte Berührung.

Einige Zeit tranken sie schweigend ihren Tee, bis die Haustür krachte. Die Frauen zuckten zusammen und glaubten zu ahnen, wer der Verursacher des Radaus war.

»Du kannst nicht vielleicht die Tür wie ein normaler Mensch schließen? Einfach meinen Nerven zuliebe!« rief Caro, jedoch mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.

Megan erkannte, dass ihr Bruder wahrscheinlich das Haus auseinandernehmen könnte – Caro würde es ihm verzeihen. In Erwartung von Damians großer, schlanker Gestalt drehten sie sich um und erblickten David.

»Tut mir leid, Caro. Die Tür ist mir aus der Hand gerutscht«, erklärte er mit hochrotem Kopf.

Caro konnte nicht anders, sie musste angesichts seiner Sündermiene lachen. Sie streckte die Hand aus als Zeichen, er solle näherkommen. Der Junge folgte der Aufforderung und erblickte verblüfft seine Mutter, die ebenfalls am Tisch saß. Sie war ihm bislang verborgen geblieben.

»Keine Sorge, David. Du warst gar nicht gemeint. Ich dachte, es ist Damian.«

Megan schaute auf ihre Armbanduhr, erschrocken über die Uhrzeit. Eigentlich hatte sie daheim sein wollen, wenn die Jungen aus der Schule kamen.

»Wo ist Noah? Wartet er zuhause?« erkundigte sie sich.

»Der ist noch zu den McFlaverys, als er gemerkt hat, dass du nicht da bist.«

Seine Pläne wurden durch Megan auf das Heftigste durchkreuzt, das drückte bedenklich auf seine Laune. Er war in der Erwartung hergekommen, Caro hätte bereits das Abendessen in Vorbereitung und er wollte etwas davon erhaschen. Von der Kochkunst seiner Mutter hielt er nicht viel, sie kochte vegetarisch und außerdem »gesund«. Seiner Meinung nach war das etwas für Schafe und Kühe.

Nun hatte sie seine Pläne also durchkreuzt. Caro warf ihm einen Blick zu, denn sie wusste ziemlich genau, was den Jungen zu ihr getrieben hatte. Jedes Mal plagte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihn an den Tisch bat. Aber auch Damian deckte die geheime Absprache. Sie waren sich bewusst, dass sie Megan hintergingen, aber der Junge musste doch auch mal etwas Normales essen! Was nichts an der Tatsache änderte, dass Megan andere Ernährungspläne hatte, erkannte Caro.

Bedauernd zog sie die Augenbrauen hoch und David fing diese Geste auf. Er zuckte mit den Schultern. Man konnte es nicht ändern, dann würde er heute eben ausschließlich von Grünfutter leben müssen. Vielleicht wäre das auch mal ganz erholsam, denn nach der Mahlzeit bei Caro und Damian zuhause noch genügend zu essen, damit seine Stippvisite nicht auffiel, war nicht immer ganz so einfach. Wenigstens brauchte er sich keine Ausrede einfallen zu lassen, weil seine Mutter ihn hier antraf. Sie hatte die Erklärung für sich schon parat.

»Nun hast du mich ja gefunden. Wir können zusammen nach Hause gehen und das Abendessen vorbereiten.«

Caro verbot sich ein Grunzen. Es war nicht lustig, dass David heute komplett daheim essen musste, beschwor sie sich. Sie wusste, wie er die Mahlzeiten hasste.

Megan erhob sich, bedankte sich bei Caro für Gehör, Rat und Tee. Auf dem Weg durch den Vorgarten erschienen Caro die Silhouetten von Mutter und Sohn gar nicht so unterschiedlich, als sie sich nebeneinander entfernten. David war ein schmächtiger, kleiner Kerl. Aber das traf inzwischen auch auf Megan zu, von der Größe abgesehen. Sie würde mit Damian sprechen müssen. Caro neigte nicht zur Schwarzmalerei und ganz bestimmt auch nicht zur Hypochondrie, aber so langsam beschlich sie das Gefühl, mit Megan könnte etwas nicht stimmen. Und selbst wenn körperlich mit ihr alles in Ordnung war, was sie stark hoffte, brauchte sie womöglich Hilfe. Dann eben auf freundschaftlicher Basis. Wenn sie auch kein enges Verhältnis zu ihrer Schwägerin hatte, so war Caro immer bereit, sie wie eine Freundin zu behandeln. Schlicht und einfach Damian zuliebe.

Megan betrat unterdessen ihren Garten. Am Zaun, der das Grundstück von der Straße abgrenzte, erschien eine Gestalt, die sie zuerst ignorierte. Doch dann wurde sie angesprochen.

»Hallo Megan! Jetzt wohnst du schon so lange hier, unsere Söhne sind befreundet und wir sind uns bisher nicht über den Weg gelaufen. Wie ist es, wieder zurück am Ort der Kindertage zu sein?«

Megan kniff die Augen zusammen und überlegte, wer dort stand. Natürlich, Conor McFlavery, dessen Sohn Rory mit Noah befreundet war. Außerdem gehörte seiner Mutter der kleine Dorfladen, in dem es neben den üblichen Waren auch Klatsch und Tratsch gab. Lust, sich mit ihm zu unterhalten, hatte sie jedoch nicht, auch wenn sie zusammen aufgewachsen waren.

»Es ist eben wie zuhause«, lachte sie. »Ein Neuanfang, aber doch vertraut.«

Abwartend schaute er sie an, spürte aber ihren Unwillen zu einer Unterhaltung.

»Wir werden uns sicher noch öfters sehen, ich muss erst mal weiter. Bis demnächst!« verabschiedete er sich.

Sie ging hinein und ließ sich sogleich wieder erschöpft auf die Küchenbank sinken. Hier hatte Damian ebenfalls alles selbst gebaut, angefangen vom Esstisch mit Stühlen und Polsterbank bis hin zu den Schränken und Arbeitsflächen in hellem Holz. An der Wand über der Essecke thronte ein Landschaftsdruck, der das Schwarzweißfoto von Affordshire ersetzt hatte, als dies mit Damian zu Caro umgezogen war.

Im Stillen schimpfte sie mit sich selbst, dass der Tag sie so umhaute. David polterte die Treppe hinauf, um sein Zimmer aufzusuchen. Ein paar Minuten Ruhe waren ihr also noch vergönnt, bevor er wieder zurückkommen würde. Sie schloss die Augen und horchte auf die Geräusche von oben. Das vertraute Trampeln seiner Füße, Schieben von Schubladen und Schließen von Schranktüren zeugten davon, dass er die Schulkleidung gegen Jeans und Sweatshirt tauschte. Megan fuhr sich mit der Hand über die Stirn und gab sich einen Ruck. Sie stand auf, beschloss, keine Energie mehr zu haben und ließ sich direkt wieder auf die Sitzfläche sinken. Ob sie Caro und Damian bitten konnte, die beiden Jungs heute durchzufüttern? Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Noch nicht einmal zum Kochen für ihre Familie war sie heute in der Lage. Der Drang, sich einfach ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen, wurde übermächtig. Aber das konnte sie natürlich nicht machen. Sie würde zumindest warten müssen, bis sich die Jungs heute Abend auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten.

David kam wieder herunter und bog geradewegs in die Küche ein. Mit einer Vollbremsung blieb er stehen, als er seine Mutter, einem Häufchen Elend gleich, erblickte.

»Mum, ist was nicht in Ordnung? Was hast du?« Ängstlich schaute er sie an.

»Ich bin nur vollkommen kaputt, das ist alles. Der Tag war sehr anstrengend, weißt du? Deshalb habe ich überlegt, ob ich Caro und Damian frage, ob ihr heute bei ihnen essen könnt. Oder vielleicht auch Grandma und Grandpa? Dann bräuchte ich nicht zu kochen.«

David Augen leuchteten auf. Was für eine Frage!

»Sie sagen bestimmt nicht nein! Soll ich gleich rübergehen zu Caro und Damian?«

Megan schüttelte den Kopf.

»Nein, bring mir bitte erst mal das Telefon. Dann rufe ich Caro an. Es kann ja immerhin sein, dass sie gar nicht genug im Haus hat, um euch mit durchzufüttern.«

David flitzte in den Flur und kam kurz darauf mit dem Mobilteil des Telefons zurück. Er wusste aus Erfahrung, Caro hatte zumindest ihn zusätzlich eingeplant. Aber das konnte er seiner Mutter natürlich nicht sagen. Und für seinen Bruder blieb bestimmt auch etwas übrig.

Megan wählte und stützte den Kopf schwer auf der Hand ab, während sie wartete. Es dauerte eine Weile, bis Caro abnahm.

»Ich bin’s noch mal. Sag mal, könnten die Jungs vielleicht heute bei euch essen? Ich bin so erledigt, dass ich befürchte, ich bringe nichts mehr zustande. Sonst frage ich mal bei Mum und Dad nach.«

»Natürlich«, kam die spontane Antwort. »Du kommst aber auch mit, oder? Immerhin musst du auch was essen. Allerdings muss ich dich warnen, es gibt Fleisch. Ich habe Steaks und Salat.«

Megan lachte leise.

»Dann könnte ich mich ja an den Salat halten und euch die Steaks überlassen. Aber nein, ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Eher nicht, es ist Kartoffelsalat mit so hübschen Einlagen wie Wurst und Speck.« Sie zögerte.

»Du willst doch noch was sagen. Nur raus damit«, forderte Megan die Schwägerin auf.

»Ich mache mir nur etwas Sorgen, wenn ich ehrlich bin. Du wirst immer dünner und ich frage mich, woran das liegt. In der ersten Zeit nach der Trennung kann das normal sein, da habe sogar ich nach dem Aus meiner ersten Ehe ein paar Kilo abgenommen. Die ich hinterher schnell wieder drauf hatte«, fügte sie entwaffnend ehrlich hinzu. »Aber bei dir nimmt das gar kein Ende, obwohl du schon seit einem halben Jahr hier bist.«

Megan seufzte. Es fehlte ihr noch, dass sich Caro Sorgen machte. Sie würde dies Damian mitteilen, der wiederum ihre Eltern und Grandma Hanna informieren würde. Und schon war ihre Ernährung Familienthema. Denn sie würden es auf ihre fleischlose und fettarme, gesunde Kost schieben, dessen war sie sich sicher. Unberücksichtigt der Tatsache, dass sie sich seit vielen Jahren so ernährte und auch ihr Gewicht gehalten hatte.

»Vermutlich bin ich immer noch nicht ganz durch mit dem Verarbeiten«, beschwichtigte sie. »Und bei vegetarischer Kost, so wie ich es handhabe, nimmt man halt nicht so schnell wieder zu. Das kommt sicher noch.«

Caro schien nicht überzeugt, Megan merkte das recht deutlich. Aber sie ließ es darauf beruhen. Dankbar legte sie auf und instruierte David, seinen Bruder bei den McFlaverys einzusammeln, um ihn mit zu Caro zu nehmen.

Kaum hatte David das Cottage verlassen, stand sie mühsam auf und musste sich einen Moment am Tisch abstützen, weil ihr schwindelig wurde. Langsam wankte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das Sofa legte.

David stürmte bereits in den Lebensmittelladen von Emma McFlavery und fragte nach seinem Bruder. Emma verwies ihn in den Garten, der um die Ecke lag. Zusammen kamen die zwei Jungen an Caros Cottage an, gerade als auch Damian eintraf. Sein rotblondes, kurzgeschnittenes Haar war wie üblich zerzaust. Das nicht ganz ebenmäßige, aber freundliche Gesicht mit den Sommersprossen verzog sich zu einem Lächeln. Fragend deutete er von David zu Noah. Würden sie in Zukunft einen weiteren Essensgast bekommen?

Stumm schüttelte David zur Warnung den Kopf. Noah wusste nichts von seinen heimlichen Mahlzeiten und so sollte es auch bleiben. Ältere Brüder waren manchmal gemein und er wollte nicht das Risiko eingehen, von Noah bei Megan verpetzt zu werden. Bislang zumindest ahnte niemand etwas von dem wahren Grund, warum er sich nachmittags gern dort aufhielt. Was nicht heißen sollte, dass er Onkel und Tante nur deshalb besuchte. Er mochte beide sehr, vor allem auch die Hunde.

Schnell setzte er zu einer Erklärung an.

»Mum hat gefragt, ob wir heute bei euch essen dürfen und Caro hat zugesagt.«

»Na dann! Auf an den Kochtopf, die Herren!«

Er scheuchte die Jungen mit einer Handbewegung durch den Vorgarten zur Haustür bis in die Küche. Dort stand Caro am Herd und war bereit, die Steaks in die Pfanne zu werfen. Beim Anblick der drei Hungrigen schritt sie auch sofort zur Tat.

»Es tut echt gut, mal wieder was Anständiges zu essen. Steak! Herrlich!« schwärmte Noah.

Caro warf Damian einen forschenden Blick zu, aber er gab ihr mit seinen Augen zu verstehen, sie solle es lassen. Schlimm genug, dass sie hinter Megans Rücken David ständig in ihren Augen »Ungesundes« essen ließen. Käme Noah dazu, würden sie sie doppelt hintergehen.

Er ging zu ihr und gab ihr einen dicken Schmatz auf den Mund.

»Hallo, meine Schöne. Wie war es bei dir heute?«

»Ich hatte unerwarteten Besuch. Megan war da und hat mir von ihrem Arbeitstag erzählt.«

Damian zog die Augenbrauen zusammen. Sofort erkannte er, dass mehr dahintersteckte, was aber nicht in die Gehörgänge der Jungen gehörte.

»Kannst du mir ja später von berichten«, wiegelte er deshalb ab.

Sie nickte. Das war nur eines von vielen Dingen, die ihre Beziehung ausmachten: Sie verstanden sich blind und ohne Worte.

»Wie war es bei dir?«

Er setzte sich an den Tisch und betrachtete das schon bereitstehende Glas mit Orangensaft.

»Zwei neue Aufträge, einer davon ziemlich aufwändig. Es kann also gut sein, dass ich in der nächsten Zeit etwas mehr arbeiten muss als sonst. Aber es lohnt sich, der Kunde zahlt sehr gut. Haben wir noch Apfelsaft?«

Caro runzelte die Stirn. Sie gab nur sehr ungern Zeit mit Damian ab, aber natürlich ließ sich das manchmal nicht vermeiden. Ohne viel Aufhebens schob sie Damians Glas zu ihrem Teller und füllte ein neues für ihn mit dem gewünschten Apfelsaft. Dann verteilte sie die Steaks und bestaunte amüsiert, wie schnell Jungs schlingen konnten.

»Hey, macht mal langsam! Es nimmt euch doch keiner was weg und Nachschub haben wir auch noch.« Lachend schüttelte sie den Kopf.

Noah wurde rot bis an die Haarwurzel.

»‘Tschuldige, Caro. Aber wir essen das so selten …«

Wieder tauschte sie einen Blick mit Damian, hielt aber den Mund. Beide beobachteten, wie David immer wieder zu Noah schaute. Offenbar tat ihm sein Bruder leid, denn bald wanderten seine Augen fragend zu Onkel und Tante.

Damian reagierte als erster.

»Wir können ja mal mit eurer Mutter sprechen, ob sie nicht wenigstens ein oder zwei Mal in der Woche was kocht, was nicht vegetarisch ist. Einverstanden?«

»Klar«, bestätigte Noah mit vollem Mund. »Sie wird sich nur nicht drauf einlassen.«

»Du kennst die Überredungskünste deines Onkels noch nicht«, belehrte ihn Caro.

»Bei dir mag das ja klappen, aber nicht bei unserer Mutter«, holte sie Noah auf den Boden der Tatsachen zurück.

Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, füllte Caro eine komplette Portion für Megan ab. Inklusive Steak. Sie würde es nicht essen und sich nur an den Salat halten, nachdem sie ihn seziert haben würde. Zumindest hoffte sie, dass die bisherigen Zutaten sie nicht abhalten würden. Mit dem Steak hätten die Jungen noch einen kleinen Snack, wenn sie es sich teilten.

Sie brachte Noah und David zur Tür und kehrte dann zu Damian zurück, der abwartend am Tisch saß. Caro setzte sich dazu, das Aufräumen konnte warten. Unaufgefordert erzählte sie das, was er wissen wollte.

»Sie hat einen Rat gewollt. Scheinbar hat sie so einen Schmierlappen von Chef erwischt, der sie körperlich bedrängt. Es ist keine richtige Belästigung, zumindest noch nicht. Aber für Megan sehr unangenehm und das kann ich nachvollziehen.«

Sie setzte ihn über die Einzelheiten ins Bild und was sie der Schwägerin geraten hatte. Damian nickte nachdenklich.

»Ja, anders kann sie es wohl erst mal nicht machen. Wäre aber schon blöd, wenn sie den Job deshalb wieder hinschmeißen müsste.«

»Aber nicht zu ändern. Das sollte sich niemand bieten lassen müssen«, wies sie ihren Gatten zurecht.

»Das wollte ich damit auch nicht sagen. Einfach nur, dass es schade wäre.«

Forschend sah er sie an.

»Da ist aber noch was. Irgendwas bedrückt dich.«

Caro seufzte, ging um den Tisch herum und setzte sich auf seinen Schoß. Die Arme eng um seinen Nacken geschlungen, genoss sie für einen Moment seine Nähe.

»Sie wird immer dünner. Das ist doch jetzt nicht mehr normal. Am Anfang nach der Trennung, ja. Aber jetzt nicht mehr. Meinst du, sie ist vielleicht krank? Oder womöglich muss sie tatsächlich mal was anderes als Grünzeug essen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Sie ist völlig ausgelaugt.«

Er strich ihr zärtlich über die Wange.

»Ihr habt euch heute etwas angenähert, habe ich Recht?«

Sie nickte. Ja, das hatten sie tatsächlich.

»Ich denke auch, es liegt an der Ernährung«, stimmte er zu. »Sie isst außerdem nicht genug. Ihre Portionen sind die von einem Spatz. Wir sollten wirklich dringend mit ihr reden, wegen der Jungs, aber auch wegen ihr.«

Plötzlich lachte er.

»Hast du gesehen, wie die beiden den Pudding verschlungen haben?«

»Ja«, bestätigte Caro. »Ist aber auch kein Wunder, kriegen sie nur bei uns oder deinen Eltern.«

Sie rutschte von ihm herunter und begann, Ordnung zu schaffen. Das Kribbeln in ihrem Nacken signalisierte ihr, dass er jeden Handgriff genauestens beobachtete. Dass er SIE beobachtete. Es war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, wie sie mittlerweile wusste. Daher überraschte es sie nicht, als sie seine Arme um ihre kaum vorhandene Taille spürte.

»Wie sieht deine Abendplanung aus?«

Sie spitzte die Lippen, eine ganz genaue Vorstellung entstand in ihrem Kopf.

»Findest du nicht, dass es für Frühling echt frisch draußen ist?«

Damian lachte laut los. Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern mit einem ganzen Telegrafenmast.

»Okay, wir machen uns einen gemütlichen Abend am Kamin. Aber morgen müssen wir mit Megan sprechen. Umso eher, desto besser.«

Da war Caro anderer Meinung.

»Lass uns lieber bis zum Wochenende warten, wenn sie etwas ausgeruhter ist. Sonst gehen wir ihr nur tierisch auf den Nerv damit.«

»Das gehen wir sowieso, aber sie hat morgen keine Kraft, sich dagegen zu wehren.«

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. Fair war es nicht, was er vorhatte. Aber wahrscheinlich hatte er Recht und diese Taktik würde am ehesten zum Erfolg führen.

Kapitel 2

Der Korridor zog sich endlos in die Länge. Von beiden Seiten hörte er aus den angrenzenden Büros das Geklapper der Tastaturen und abgehackte Gesprächsfetzen. Er nahm die Brille mit dem dicken Hornrahmen ab, um sich über die Augen zu reiben. Sie brannten, denn die letzte Nacht hatte er ohne viel Schlaf auskommen müssen. Die derzeitige Situation des Computerspielverkaufs, für den er als Produktmanager verantwortlich war, trug nicht zur Entspannung bei. Besonders nervös machte ihn aber die Tatsache, dass er nun nicht den üblichen Leuten Rede und Antwort darüber stehen sollte, sondern dem Boss des Hauptsitzes aus Seattle höchstpersönlich. Wenn der sich über den großen Teich wagte, war etwas im Busch.

Joshua Riordan setzte die Brille wieder auf, straffte die schmalen Schultern und ging weiter. Heute wäre es ihm recht, würde der Flur niemals enden. Zerstreut nickte er grüßend nach links und rechts, sofern jemand in sein Blickfeld geriet. Den Gesichtern der Kollegen konnte er deutlich ansehen, dass auch sie sich Sorgen wegen des hochrangigen Besuchs aus Übersee machten. Aber zunächst kam es auf ihn an, er musste die monatlichen Zahlen erklären - irgendwie.

Bevor er ins Konferenzzimmer trat, atmete er tief durch. Mehr als den Kopf würde es schon nicht kosten.

Mr Brown und seine Begleiter, die Joshua insgeheim gern als »Satelliten« bezeichnete, da sie ständig in seiner Nähe waren, saßen bereits am Tisch. Brown forderte ihn mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Joshua kam dem nach, lehnte sich zurück und versuchte, einen möglichst entspannten Eindruck zu vermitteln. Es gelang ihm nur teilweise, aber darüber verlor natürlich keiner ein Wort. Zunächst sagte überhaupt niemand etwas. Die »Satelliten« blätterten intensiv in Unterlagen, die sie sicherlich fast auswendig kannten und Brown schaute Joshua einfach nur abwartend an. Der tat es ihm gleich und starrte zurück. Immerhin hatten diese Leute ein Gespräch mit ihm gewollt, also sollten sie auch den Anfang machen.

Gerade stahl sich eine blonde Haarsträhne aus dem Pferdeschwanz in seine feuchte Stirn, als Brown endlich den Mund aufmachte.

»Ihr Bereich hat in den letzten Monaten nicht sehr gut dagestanden, Mr Riordan. Woran liegt es?«

Diese Frage hatte Joshua erwartet und sich vorbereitet.

»Der Markt verändert sich, der Trend geht immer weiter zu Onlinespielen. Natürlich haben auch alle unsere Spiele diese Möglichkeit, neben den Kampagnen für Einzelspieler. Aber die Luft ist dünn, die Konkurrenz nimmt zu. Zudem werden Spieler von reinen Onlinespielen abgeworben, für die sie nicht erst eine CD kaufen und installieren müssen. Es wird immer schwieriger, unsere Produkte an den Mann zu bringen.«

Brown nickte nachdenklich. Joshua hatte das deutliche Gefühl, dass es nicht darum ging. Die Katze würde bald aus dem Sack gelassen werden. Als es aber sofort nach seiner Antwort geschah, traf es ihn wie ein Keulenschlag.

»Das alles ist uns bewusst, Mr Riordan.«

Brown faltete die Hände auf der Tischplatte, als wenn sie gemütlich auf eine Tasse Tee zusammensaßen.

»Wir müssen Kosten minimieren, um konkurrenzfähig zu bleiben. Und bei der Entwicklung neue Wege beschreiten. Das hat zur Konsequenz, dass wir unsere Studios hier in Irland schließen und ausschließlich in Seattle weiterarbeiten.«

Joshua vergaß seine gespielte, abgeklärte Haltung und beugte sich ungläubig nach vorn. Mit seiner Entlassung hatte er schon halbwegs gerechnet, aber alle?

»Sie wollen allen Ernstes achtzig Mitarbeiter entlassen? Sich ganz aus Irland zurückziehen?«

»Ganz genau das habe ich gesagt. Aber eine kleine Auswahl an Leuten könnten wir in unserem Hauptsitz gebrauchen. Mit diesen sprechen wir jetzt im Vorfeld, bevor wir nachher unsere Entscheidung für alle bekanntgeben. Sie sind einer davon, Mr Riordan. Wir bieten Ihnen eine Stelle als Kundenbetreuer in Seattle an. Den Umzug und die Formalitäten würden wir für Sie übernehmen. Leider ist es nicht derselbe Job wie hier, aber es gibt durchaus wieder Aufstiegsmöglichkeiten.«

Joshua fühlte sich von Browns scharfen Augen durchbohrt. Jedes Zucken, auch nur die kleinste Reaktion seinerseits wurde vom »Big Boss« registriert. Es störte ihn nicht. Er hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, seine Heimat zu verlassen. Und jetzt spontan konnte er sich schon gar nicht damit anfreunden.

»Wie lange hätte ich Bedenkzeit?«

»Bis Anfang nächster Woche. Zum Ende des Monats werden wir hier schließen. Viele Mitarbeiter haben nur wenige Urlaubstage, die noch zu nehmen sind. Einige werden in den nächsten Tagen bereits ausscheiden.«

In Joshuas Kopf wirbelte alles durcheinander. Er mochte seine Arbeit. Das Koordinieren der verschiedenen Bereiche, die Entwicklung und Vermarktung eines Computerspiels. Den Gedankenaustausch und auch die hitzigen Debatten mit den Kollegen. Sein Verdienst lag weit über dem Durchschnitt. Das sollte nun alles vorbei sein? Er konnte es nicht fassen, obwohl er sich innerlich schon auf dem Weg in diesen Raum darauf vorzubereiten versucht hatte.

Äußerlich völlig ruhig nickte er und stemmte sich aus dem Stuhl hoch.

»Ich werde Ihnen Montag Bescheid geben.«

Schon als er fast durch die Tür war, schickte ihm Brown noch die Verpflichtung hinterher, Stillschweigen zu bewahren, bis sie selbst die Belegschaft am Nachmittag informieren würden.

Das brauchte er ihm nicht zweimal sagen. Joshua wollte ganz bestimmt nicht derjenige sein, der eine solche Hiobsbotschaft überbrachte. Noch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand als vertrauliche Information.

Wie in Trance legte er den Weg zu seinem eigenen Büro zurück und ließ sich schwer in den gemütlichen Schreibtischsessel fallen. Erneut nahm er die Brille ab und legte die Hand über die Augen. Das würde weitere schlaflose Nächte bedeuten. In Irland war es schwer, Arbeit zu finden – vor allem gute, anständig bezahlte Arbeit. Das allein wäre ein Argument, das Angebot anzunehmen und künftig in Seattle zu leben und zu arbeiten. Wollte er das aber? Alle Brücken abbrechen und allein in einem fremden Land neu anfangen? Vor allem, zu schlechteren Bedingungen als bisher? Vielleicht blieb ihm keine andere Möglichkeit, um überhaupt seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Diese Hauruck-Taktik mit einem Zeitfenster von nicht einmal einer Woche ließ ihm keine Zeit, sich auf dem Arbeitsmarkt umzusehen und seine Chancen einzuschätzen.

Lustlos nahm er die Computermaus und erledigte mehrere Arbeiten, die er zuvor unterbrochen hatte. Aber wozu noch? Hier würde sich ohnehin nichts mehr tun. Diese Einsicht nahm ihm jede Motivation, er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Kinn in die Hände und starrte einfach vor sich hin. Ganz bewusst nahm er den Anblick seines Büros in sich auf. Die apricotfarbenen Wände, den gefliesten Boden, der immer einen Eindruck von Kälte vermittelte. Sein ganzer Stolz, eine riesige Palme, thronte in einem Topf neben dem großen Fenster. Manchmal stand er dort, schaute auf Dublin hinab, plante und kalkulierte.

In dieser Stellung am Tisch verharrte er, bis der Aufruf zur Versammlung der Belegschaft kam. Sie drängten sich in den Raum, in dem zuvor die Einzelgespräche stattgefunden hatten. Es gab kein Reden um den heißen Brei. Brown sagte den verzweifelten Mitarbeitern knallhart, dass das Studio am Monatsende geschlossen werde, alle heute ihre entsprechende Kündigung bekämen und entsprechend ihrem Urlaubsanspruch vor Monatsende aufhören würden. Joshua ließ seinen Blick über die Kollegen wandern. Ein paar Frauen weinten, bei zwei von ihnen wusste er, sie waren alleinerziehend und auf ihren Job angewiesen. Männer schauten mit leerem Blick zu Boden mit der Frage, wie sie in Zukunft ihre Familien ernähren und Rechnungen bezahlen sollten. Der eine oder andere hatte gebaut oder gekauft und das Haus abzubezahlen.

Nach Verkündung der Botschaft schickte Brown sämtliche Mitarbeiter nach Hause. Er verstehe durchaus, dass diese Entscheidung ein Schock für alle wäre und hätte vollstes Verständnis, wenn sie heute nicht mehr arbeiten könnten. Morgen würde es weitergehen. Joshua merkte, dass er nicht der einzige war, der sich fragte: Wozu noch?

Er war einer der Ersten, die den Raum und das Gebäude verließen. Fast fluchtartig stürmte er in sein Büro, schaltete PC und beide Monitore aus, schnappte sich seinen Aktenkoffer und ging. Absichtlich warf er keinen Blick zurück, denn es wäre schlimm genug, am nächsten Morgen ohne Perspektive zurückzukommen. Auf dem Parkplatz entriegelte er den Kombi, setzte sich hinter das Steuer und fuhr los. Im Nachhinein hätte er nicht sagen können, wie die Fahrt nach Hause verlaufen war. Noch nicht einmal, ob er sie überhaupt angetreten hatte. Auch wie ein warmes Essen aus einem Takeaway auf seinen Küchentisch geraten war, hätte er nicht rekonstruieren können. Eins jedoch blieb eine Tatsache: Mit Megan würde es nicht auf seinem Tisch stehen. Joshua genoss es, sich nach der freundschaftlichen Trennung vor knapp einem halben Jahr wieder ungeniert ungesundem Essen widmen zu können. Ihm wurde aber auch klar, dass er genau deshalb nun einsam in seiner Mahlzeit stocherte. Natürlich gab es Freunde und Bekannte, aber den Hauptanteil seines Daseins machten seine Arbeit und die Kollegen aus. Nachdenklich analysierte er seine Situation.

Da er das Haus, in dem er lebte, geerbt und als Einzelkind niemandem gegenüber Verpflichtungen hatte, brauchte er sich zumindest deshalb keine Sorgen zu machen. Zuerst hatte es sowohl bei Megan als auch bei ihm Skrupel gegeben, die eigene Wohnung zu verlassen und hier einzuziehen, als alle Formalitäten nach dem tödlichen Autounfall seiner Eltern abgewickelt waren. Sie lernten aber auch schnell die Vorzüge schätzen. Immerhin waren beide als Kinder in Eigenheimen aufgewachsen und die Mietwohnung bedeutete eine Umstellung. Zwar war sie sehr groß und komfortabel, aber eben nicht dasselbe. Beinahe alle Möbel seiner Eltern flogen hinaus und wurden durch die moderne Einrichtung ersetzt, die sie aus der Wohnung mitbrachten. Ausgesucht von Megan, die diesbezüglich einen erlesenen Geschmack hatte. Schon die Küche glich einem Raumschiff, da seine Frau auf jeden erhältlichen Schnickschnack Wert legte. Megan – er würde ihr und den Jungs von allem berichten müssen. Die Unterhaltszahlungen, die er gern und in einer passablen Höhe leistete, würde er streichen oder zumindest stark reduzieren müssen. Das Beste würde sein, er fuhr nach Affordshire und überbrachte ihr die Nachricht persönlich. Vielleicht könnte sie ihm auch bei der Entscheidung eine Hilfe sein, ob er nach Seattle umsiedeln sollte oder nicht.

Schon allein bei dem Gedanken wurde ihm ganz anders. Es wäre zu weit weg von seiner Heimat, von seinen Söhnen. Bislang gab es immer die Möglichkeit, sich mit ihnen am Wochenende zu verabreden. Wäre er erst in den USA, konnte er das vergessen. Über einen Besuch ein oder höchstens zwei Mal im Jahr könnte er dann wirklich froh sein.

Er schob sein Essen quer über den Tisch, der Appetit hatte sich so schnell verflüchtigt, wie er gekommen war. Eventuell würde er es sich später noch einmal aufwärmen. Es war noch früh am Tag, er könnte den Weg zu Megan in zwei Stunden schaffen, hätte genügend Zeit mit ihr zu reden und wieder zurückzufahren. Und selbst wenn nicht und er sich entschließen würde, die Nacht dort zu verbringen, hätte er deshalb auch keine Skrupel. Bei seinen Schwiegereltern oder Schwager gab es immer ein Bett für ihn, notfalls konnte er im Pub übernachten. Pflichtgefühl gegenüber seinem Arbeitgeber, am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, hatte er nicht mehr.

Dieses Ziel vor Augen zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte Megans Nummer.

Bis sie abnahm, musste er recht lange warten. Aber als er ihre Stimme hörte, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.

»Ich bin’s, Joshua. Sag mal, hättest du was dagegen, wenn ich spontan jetzt hier losfahren würde, um in zwei Stunden bei dir zu sein? Ich müsste was mit dir besprechen. Am Telefon wäre das etwas ungünstig.«

Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung.

»Wenn es sein muss. Entschuldige, das geht nicht gegen dich. Ich hatte heute meinen ersten Arbeitstag und bin völlig erschossen. Können wir das vielleicht auch auf das Wochenende verlegen?«

Joshua wand sich, das passte ihm gar nicht. Aber eine Megan, die nicht bei der Sache war, brachte ihm nicht das Geringste.

»Gut, dann am Wochenende. Am Samstag?«

Sie einigten sich darauf, dann nahm das Gespräch ein schnelles Ende. Er hatte schon fast aufgelegt, als Megan plötzlich noch fragte: »Es geht aber nicht um uns, oder?«

Verblüfft fragte er: »Wie kommst du darauf?«

Kurzes Schweigen trat ein, bevor sie nur sagte: »Ach nichts, nur so ein Gedanke. Bis Samstag.«

Er wusste natürlich nichts von ihrer Überlegung, ob die Rose vor ihrer Tür von ihm stammen könnte.

Erst im Nachhinein registrierte Joshua, dass Megan offenbar eine Stelle angetreten hatte. Umso besser, sie würde sie brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Angewidert betrachtete er die Kartons mit dem Hühnchen, stand auf, schob sie in den Kühlschrank und ging mit schleppenden Schritten ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich auf das Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Heute wollte er nicht mehr nachdenken, sondern sich nur noch von irgendetwas berieseln lassen.

Er hätte wissen müssen, dass es nicht klappen würde. Immer wieder wanderten seine Gedanken von der Komödie auf dem Bildschirm zur Firmenschließung. Plötzlich hielt er es nicht mehr zuhause aus. Er sprang auf, nahm seine Jacke vom Haken im Flur und bestieg sein Auto. Kaum hatte er den Schlüssel herumgedreht, machte er den Wagen wieder aus. Er würde sich heute Abend auf Teufel komm raus betrinken, das Auto sollte er lieber gleich stehen lassen. Also stieg er wieder aus, verriegelte und machte sich zu Fuß auf die Socken. Bis zu seinem Stammlokal war es nicht weit und wenn er mit seinem Vorhaben fertig war, würde er ohnehin nicht mehr viel merken. Dann würde ihn noch nicht einmal ein Fußmarsch bis nach Seattle beeindrucken.

Beim Betreten des Pubs warf er einen kurzen Blick an die Tische. Sie waren zur Hälfte besetzt, an der Theke lehnten drei müde Gestalten, die er nicht kannte. Sich zu ihnen gesellend, begrüßte er den Wirt und bestellte ein Guiness sowie einen Whisky. Andrew schaute ihn über den Rand des Glases verdutzt an, das kannte er bislang von Joshua nicht. Ein Guiness zum Feierabend natürlich, auch mal zwei. Das alles aber erst zu späterer Uhrzeit und nie ein Whisky. Forschend hakte der Wirt nach.

»Ist was nicht in Ordnung?«

Joshua stützte die Stirn in die Handflächen und musterte interessiert die Thekenoberfläche, als wenn dort etwas außerordentlich Interessantes wäre.

»Unsere ganze Firma wird hier in Irland geschlossen. Wir sitzen zum Monatsende alle auf der Straße. Sofern wir nicht bereit sind, zumindest einige von uns, für sehr viel weniger Geld und eine schlechtere Position nach Seattle auszuwandern«, murmelte er in die Kratzer des Tresens.

Erstaunt hob Andrew die Augenbrauen.

»Ich dachte immer, eurer Branche geht es so gut. Es wird doch so viel gespielt wie noch nie durch das Internet.«

»Eben«, bestätigte Joshua. »Und wir sind hauptsächlich auf dem Konsolenmarkt tätig, unsere Spiele werden auf CDs verkauft. Zwar auch mit Online-Modus, aber wir können uns am Markt nicht mehr durchsetzen. Die Konkurrenz ist groß und uns fehlt einfach der große Wurf. Ein Spiel, das in aller Munde ist.«

»Ach herrje«, flutschte es Andrew heraus. Er stellte das bestellte Guiness vor Joshua ab, den Whisky daneben und hielt vorsichtshalber die Klappe. In der Situation gab es ohnehin nichts Richtiges, was man sagen könnte.

Joshua war dankbar für das Schweigen des Wirts. Beim Trinken gelang es ihm einigermaßen, die dunklen Wolken in seinem Kopf beiseite zu schieben und Leere herrschen zu lassen. Heute Abend würde er so viel in sich hineinkippen wie nötig wäre, damit dieses Vakuum möglichst bis zum nächsten Morgen anhielt.

Das schaffte er ohne Mühe. Zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, torkelte er gegen Mitternacht nach Hause. Nach vier Anläufen gelang es ihm sogar, den Schlüssel ins Schloss zu bugsieren, die Tür danach wieder zu verriegeln und sein Schlafzimmer zu erreichen. Dort entledigte er sich seiner Kleidung, ließ sich auf das Bett fallen und schlief fast sekündlich ein.

Ein ruhiger Schlaf war ihm dennoch nicht gegönnt. Begünstigt durch die große Menge Alkohol träumte er von Megan, wie sie in seinem Büro stand, alle Stromkabel der elektronischen Geräte mit der Schere durchschnitt und ihn dabei süffisant angrinste.

Am nächsten Morgen fühlte er sich entsprechend. Nachdem der Wecker gepiept hatte, öffnete er zuerst vorsichtig ein Auge, dann das zweite – und schloss beide sofort wieder. Die geöffneten Fensterläden ließen die Morgensonne herein und die hatte ihm direkt ins Gehirn gebohrt. Er hätte aber auch wirklich daran denken können, sie zuzumachen!

Mit fest zusammengekniffenen Augen tastete er sich aus dem Bett bis ins Badezimmer. Erst dort öffnete er sie wieder einige Millimeter, um die Lage auszuloten. Solange er nicht in den Spiegel sah, in dem sich das helle Licht brach, war alles in Ordnung. Zum Rasieren brauchte er ihn jedoch und deshalb hängte er kurzerhand ein T-Shirt aus der Schmutzwäsche vor das Fenster. Im Zeitlupentempo widmete er sich seiner Morgentoilette, scheiterte aber zum Schluss an dem Versuch, sein langes Haar mit einem Gummi zum Pferdeschwanz zu binden. Wie es schien, würden ihn seine Kollegen heute das erste Mal mit offenem Haar sehen. Das fiel glatt bis über die Schultern und bescherte ihnen sicher einen ungewohnten Anblick. Das ohnehin schmale, glattrasierte Gesicht sah dadurch fast beängstigend krank aus. Nein, eine Schönheit war Joshua noch nie gewesen und mit zunehmendem Alter, eigentlich schon seitdem er sein vierzigstes Lebensjahr überschritten hatte, vertieften sich auch kleine Fältchen.

Nach zwei Tassen Kaffee fühlte sich Joshua einigermaßen fit. Dennoch graute es ihm davor, in die Firma zu fahren. Die Stimmung wäre selbstverständlich auf dem Nullpunkt und einen richtigen Sinn hatte die Arbeit aller Kollegen ohnehin nicht mehr. Im Grunde ging es nur noch um Anwesenheit und das Totschlagen von Zeit. Aber man konnte das Büro auch anderweitig nutzen! Als ihm dies auffiel, beschleunigte er seinen Schritt, bestieg den Kombi und legte den Weg innerhalb kurzer Zeit zurück. Überlegungen, ob er überhaupt schon wieder fahren durfte und der genossene Alkohol weit genug abgebaut war, interessierten ihn heute nicht. Ohne Umwege steuerte er sein kleines Refugium an, noch im Hereinkommen den Computer anschaltend. Während dieser hochfuhr, entledigte er sich seiner Jacke und nahm Platz. Ohne zu Zögern rief er den Browser auf, um im Internet nach ähnlichen Firmen wie seiner zu suchen. Einige kannte er natürlich, weil er sie stets im Auge behalten hatte. Ihre Produkte, ihre Werbung. Mit den Adressen und Verantwortlichen hatte er sich jedoch noch nie befasst, dazu war es nun höchste Zeit. Er würde alle anrufen und seine Arbeitskraft anbieten, notfalls auch in einer schlechteren Position. Hätte er keinen Erfolg, würde er seine Suche auf Softwarefirmen ausweiten. Alle, die etwas mit Computern zu tun hatten, wären für ihn interessant. Wenn das mal nicht eine produktive Art war, seine Anwesenheit in diesen Räumen zu nutzen!

Joshua vertiefte sich so schnell in die Suchmaschine, dass er hochschrak, als er angesprochen wurde. Er hob den Kopf und sah in das aparte Gesicht von Julia, das am heutigen Morgen durch rotgeränderte Augen verunstaltet wurde. Sofort tat sie ihm leid, denn sie hatte eine kleine Tochter, die sie allein großzog.

Kraftlos ließ sie sich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch fallen und schaute ihn neugierig an.

»Was machst du da? Es hat doch keinen Sinn, jetzt noch zu arbeiten wie ein Berserker.«

Joshua schüttelte den Kopf und ergriff ihre Hand, die sie auf die Tischkante gelegt hatte. Sie fühlte sich schmal und kalt an.

»Ich suche mir alle Firmen raus, wo ich wegen eines Jobs anfragen kann. Könntest du auch machen.«

Sie grunzte unwillig.

»Es gibt Leute wie Sand am Meer, die Textbausteine in eine Mail setzen können, um Kundenanfragen zu beantworten. Du glaubst doch nicht, dass irgendwo jemand dafür gebraucht wird? Die haben alle ihre Leute.«

Nachdenklich betrachtete er sie. Eigentlich hatte sie Recht, aber war es nicht wenigstens einen Versuch wert?