truly, madly, deadly - für immer - Andrea Zimmermann - E-Book

truly, madly, deadly - für immer E-Book

Andrea Zimmermann

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Studenten in einer WG, die sich nicht leiden können: Harry, der strebsame Perfektionist, der sein Studium mit Bestnoten abschließen möchte, und Partygänger Finnian, der sein Studentenleben in vollen Zügen genießt. Harry hat die Schnauze gestrichen voll. Er fiebert dem Tag entgegen, an dem er ausziehen kann und Blondie nie wiedersehen muss. Es sollte ihn daher eigentlich nicht besonders interessieren, dass besagter Blondie vom neuen Mitbewohner bei jeder Gelegenheit angebaggert wird – oder dessen stalkender Ex-Freund ständig vor der Tür steht. Eigentlich, wohlgemerkt. Verwirrte Gefühle sind jedoch nicht das einzige Problem und definitiv auch nicht das größte, denn nach und nach wird klar: Finnians Ex-Freund ist offenbar bereit, buchstäblich über Leichen zu gehen, um ihn zurückzugewinnen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 626

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andrea Zimmermann

truly, madly, deadly – für immer

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2022

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© A. Zimmermann

© ra2 studio – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-556-5

ISBN 978-3-96089-557-2 (epub)

Inhalt

Zwei Studenten in einer WG, die sich nicht leiden können: Harry, der strebsame Perfektionist, der sein Studium mit Bestnoten abschließen möchte, und Partygänger Finnian, der sein Studentenleben in vollen Zügen genießt.

Harry hat die Schnauze gestrichen voll. Er fiebert dem Tag entgegen, an dem er ausziehen kann und Blondie nie wiedersehen muss. Es sollte ihn daher eigentlich nicht besonders interessieren, dass besagter Blondie vom neuen Mitbewohner bei jeder Gelegenheit angebaggert wird – oder dessen stalkender Ex-Freund ständig vor der Tür steht.

Eigentlich, wohlgemerkt.

Verwirrte Gefühle sind jedoch nicht das einzige Problem und definitiv auch nicht das größte, denn nach und nach wird klar: Finnians Ex-Freund ist offenbar bereit, buchstäblich über Leichen zu gehen, um ihn zurückzugewinnen …  

PROLOG

Es ist unmöglich, den Blick von ihm abzuwenden.

Er ist bezaubernd.

Atemberaubend.

Fesselnd.

Sogar über die Distanz der geräumigen Tanzfläche hinweg und in den flackernden, bunten Lichtern des Clubs wirkt das Blond seiner Haare strahlend. So hell, beinahe schon golden, dass es klar und deutlich zwischen all den anderen Haarfarben hervorsticht. Und sein Gesicht. Es ist so sanft, so weich, seine leicht rundlichen Wangen laden förmlich dazu ein, berührt zu werden, mit den Handflächen umfasst zu werden. Das Grübchen in seinem Kinn, umgeben von diesem feinen, dunkelblonden Bartansatz, der sich kaum sichtbar über seinen Kiefer hinweg erstreckt und sich an den Wangen und im Nacken verliert. Die rosigen Lippen, die sich bewegen, während er spricht, kurz bevor sie sich zu einem strahlenden Lächeln verziehen.

Das grau-weiß gemusterte Hemd, das er trägt, mit der schmalen Tasche an der Brust und den kurzen, umgeschlagenen Ärmeln schmiegt sich an den richtigen Stellen an seine etwas untersetzte, aber dennoch kräftige Körperstatur an. Es passt farblich perfekt zu den weißen Sportschuhen an seinen Füßen sowie zu der schlichten, schwarzen Jeans. Letztere ist eng, fast schon zu eng, und löst damit einen Hauch von Missbilligung aus.

Er zeigt zu viel von sich. Er gibt sich den Leuten um sich herum zu sehr preis. Und wem kann es schon es übelgenommen werden, sich von einem solchen Anblick nicht abwenden zu können?

Richtig, niemandem. Absolut niemandem.

Noch vor wenigen Minuten hat er gesungen. Mit einer engelsgleichen Stimme, zu Tränen rührend schön, so schön, dass es durch Mark und Bein gegangen ist. Und um seinen Nacken hat eine Gitarre gehangen, deren Saiten er mit beeindruckendem Geschick bespielt hat. Nicht ein einziger, falscher Ton war zu hören gewesen.

Wie es sich wohl anfühlen mag, von ihm ein solches Musikstück gewidmet zu bekommen? Für sich allein? Wenn man dieser eine Mensch ist, für den diese Worte bestimmt sind? Für den diese wunderbaren Töne seinen Mund verlassen? Den er dabei mit seinen tiefblauen Augen herzlich, vielleicht sogar liebend ansieht?

Der bloße Gedanke daran lässt Glückshormone aufstieben, löst ein wohliges, wärmendes Gefühl aus, das sich bis in die Fingerspitzen bahnt.

Sehnsucht.

Die Sehnsucht nach all dem ist so groß, dass sie kaum in Worte zu fassen ist.

Ein weiterer junger Mann tritt auf den Plan, derjenige, mit dem er vor wenigen Minuten noch auf der Bühne gestanden und gesungen hat. Er ist ein wenig rundlich, mit zerzausten, braunen Haaren und Stupsnase. Ebenfalls recht attraktiv, aber natürlich versprüht er dennoch nicht diese goldene Aura ungetrübter Positivität, wie es bei ihm der Fall ist.

Niemand tut das.

Niemand kann das.

Er besitzt eine Einzigartigkeit, die das dringende Bedürfnis erweckt, vor ihm in die Knie zu gehen, seine Hände zu umfassen, sie zu küssen. Den Wunsch, ihn für sich zu beanspruchen, ihn dazu zu bringen, Nähe zu suchen, keinem anderen Menschen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken.

Aber gibt es womöglich bereits jemanden in seinem Leben? Etwa der Mann, der nun mit ihm spricht und dabei auch noch nach seinem Arm greift?

Wut flackert auf, bringt die sehnsuchtsvollen Gedanken für einen Moment zum Erliegen. Fahrig wird eine Person auf dem Gang beiseitegeschoben, die unwissentlich das Sichtfeld stört, ihr Protest findet keine Beachtung. Der Fokus liegt einzig und allein auf dieser Interaktion, die das Blut in Wallung bringt.

Wie kann dieser Mann es wagen, ihn zu berühren? So zu berühren? Ist er etwa tatsächlich …

Doch dann klopft er ihm nur auf die Schulter und reicht ihm einen Drink, bevor er sich einer jungen Frau zuwendet, den Arm um sie legt und sie küsst.

Erleichterung macht sich breit. Das Spiel scheint noch nicht verloren zu sein, die Hoffnung noch nicht enttäuscht.

Und doch ist glasklar, dass es schnell zu handeln gilt.

Der Fokus verdichtet sich zunehmend, das Stimmengewirr, der Lärm, das Durcheinander werden ausgeblendet, weichen einem stählernen Tunnelblick, als das Ziel zwischen all den Menschen hindurch immer näherkommt, immer greifbarer wird.

Die geballte Aufmerksamkeit gilt ihm. Er ist das Zentrum.

Nach einem zaghaften Tippen auf die Schulter dreht er sich um, noch immer mit diesem strahlenden, herzerwärmenden Lächeln auf seinen rosigen Lippen. Die Blicke kreuzen sich und die Atmung gerät für einen Moment ins Stocken.

Seine Augen sind so blau. So unfassbar blau. Und sein goldenes Haar wirkt so unglaublich weich. Sein Körper hat exakt die richtige Statur, um ihn mit den Armen zu umschließen, genau die richtige Größe, um das Gesicht in seinen Haaren vergraben und seinen Duft einatmen zu können.

Er ist ein Sonnenschein. Möglicherweise schon bald ein persönlicher Sonnenschein.

Ein scharfer Atemzug bläht die Lungenflügel, klärt die tranceartigen Gedanken, zaubert ein Lächeln auf die Lippen. Der Fokus verharrt auf ihm, dessen Augen zwar fragend wirken, aber nicht unfreundlich. Natürlich sind sie nicht unfreundlich. Nichts kann die Perfektion ins Ungleichgewicht bringen.

Entzücken macht sich breit, als er den angebotenen Händedruck erwidert, kräftig und sanft zugleich, so wie er selbst. Jetzt darf kein Fehler passieren, jetzt muss jedes Wort mit Bedacht gewählt werden. Die Stimme muss ebenmäßig und unaufgeregt sein, der winzige Hauch von Schüchternheit und Nervosität perfekt an die Situation angepasst. Alle Details müssen stimmen. Jedes einzelne. Von den Nuancen des Tonfalls bis hin zur letzten Facette der Mimik.

Sein hübsches Gesicht wirkt neugierig, als er darauf wartet, angesprochen zu werden. Ein Gefallen, dem man ihm nur allzu gerne tut. Wie er wohl heißt? Es ist beinahe schmerzhaft, seinen Namen nicht zu kennen, aber das ist ein Rätsel, das sich in den nächsten Sekunden auflösen wird.

Durch den Händedruck besteht noch immer direkter Körperkontakt, der in solch positiver Art und Weise an den Nerven zerrt, dass die Körpertemperatur schlagartig um mehrere Grade in die Höhe schießt, fast schon fiebrig wird.

Moment. Die Hand muss nun losgelassen werden, bevor es womöglich abschreckend wirkt, egal, wie groß das eigene Widerstreben ist.

Stattdessen intensiviert sich das Lächeln. Dann wird erneut das Wort ergriffen, um diese eine Frage zu formulieren, die so sehr auf dem Herzen brennt.

„Hey.“ Das Lächeln wird breiter. „Ich bin Seb. Darf man sich nach deinem Namen erkundigen?“

1. KAPITEL – Harry

„Finnian Moore!“

Wütend hämmerte ich an die alte, zerfurchte Holztür, hinter der sich Finnians Zimmer befand – und durch die schon seit zwei Stunden ununterbrochen lautes Gelächter und noch lautere Gitarrenklänge drangen. Die Wände und Türen unserer WG-Wohnung waren dünn und sehr schalldurchlässig, und mir war es nicht möglich gewesen, am heutigen Nachmittag auch nur eine einzige Zeile meines fünfzigseitigen Skriptes zu lernen.

Angesichts der Tatsache, dass der Lernstoff für eine Zwischenprüfung am morgigen Vormittag perfekt sitzen musste, war das hier eine Katastrophe.

Aber dafür hatte Finnian Moore, mein unglaublich wertgeschätzter und in meinen Augen viel zu blonder Mitbewohner, natürlich kein Verständnis. Er war ja nicht derjenige, der mit Bestnoten sein Stipendium aufrechterhalten musste, um sein WG-Zimmer finanzieren zu können.

Ich wusste wirklich nicht, was dieser Kerl eigentlich tat, um finanziell über die Runden zu kommen. Mir war lediglich bekannt, dass er im fünften Semester Lehramt für Englisch und Musik studierte, mehr Gigs als Vorlesungen besuchte und praktisch jeden zweiten Tag mit seinen fragwürdigen Freunden eine andere Party unsicher machte.

Schon allein in diesem Wintersemester, das erst vor wenigen Wochen begonnen hatte, konnte ich schon nicht mehr an zwei Händen abzählen, wie oft ich schon nachts zwischen zwei und vier Uhr aus dem Schlaf gerissen worden war, weil mein vorbildlicher Mitbewohner es immer wieder schaffte, im sturzbesoffenen Zustand gegen den Wäscheständer im Gang zu rempeln.

Dieser Junge nahm sein Leben viel zu wenig ernst. Für ihn bestand das Studium nur aus Party und Musik. Es war mir ein Rätsel, wie er noch durch keine einzige Prüfung gerasselt war. Natürlich war ich nicht darüber informiert, mit welchen Leistungen er glänzte, aber offenbar schienen sie ausreichend zu sein, um von einem Semester ins nächste zu kommen. 

Wie auch immer.

Jedenfalls saß jener Mitbewohner nun mit einem seiner Musikkumpels seit Stunden Gitarre spielend und singend in seinem Zimmer, ohne sich darum zu scheren, dass die übrigen, bemitleidenswerten Leute unserer dreiköpfigen WG eventuell gerne ihre Ruhe hätten.

Übrige Leute im Sinne von mir.

Und ich bemitleidete mich wirklich sehr.

Erneut ließ ich die flache Hand mehrmals gegen die Tür sausen, während mein Kopf eine ganze Reihe an Verwünschungen durchging, aber natürlich reagierte niemand.

Irgendwann zuckten meine Finger wie von selbst in Richtung der Klinke, hielten kurz davor jedoch noch einmal inne. Laut ungeschriebener WG-Gesetze glich es einem Frevel, einfach so durch geschlossene Türen zu platzen. Allerdings war das hier eine Notsituation. Immerhin würde ich eines hässlichen Herzinfarkttodes sterben, wenn ich nicht bald eine Gelegenheit bekam, meinem Ärger Luft zu machen, richtig?

Richtig.

Bevor ich jedoch meinen neuen Plan in die Tat umsetzen konnte, wurde die Tür unvermittelt mit einem kräftigen Ruck aufgerissen.

Ein etwas rundlicher, untersetzter junger Mann mit zerzaustem, hellbraunem Haar tauchte vor mir auf, das Gesicht zu einer erstaunten Miene verzogen. Ungehalten starrte ich ihn an. Ich hatte diesen Kerl natürlich schon unzählige Male gesehen, mir aber nie die Mühe gemacht, mir seinen Namen zu merken. Er war einer von Finnians nervigen Freunden. Dieses Wissen reichte mir vollkommen.

„Hi“, sagte der Typ schließlich, nachdem er mich einige Sekunden lang forschend gemustert hatte. „Ich muss nur aufs Klo.“

Fast hätte ich geschnaubt.

Natürlich hatten sie mein Klopfen nicht gehört. Wie hätten sie das auch tun sollen, bei der Lautstärke, mit der sie in die Saiten gehauen hatten?

Mit verkniffenem Mund trat ich einen Schritt zur Seite, eine einladende Handbewegung machend, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte. „Nur zu.“

Wegen mir konnte er sich gerne auch gleich noch verpissen.

Wie gerne ich ihm das mitgeteilt hätte. Aber nun ja, ich war immerhin ein höflicher Mensch. Ganz im Gegensatz zu dem blonden Zwerg dort drüben, dem ich nun die Hölle heiß machen würde, sobald sein Kumpel auf dem verdammten Klo verschwunden war und es keine Zeugen mehr gab.

Schwungvoll stieß ich die Tür weiter auf, um freien Blick in das Zimmer meines Mitbewohners zu erlangen, das wie immer einerseits hoffnungslos überfüllt, andererseits aber trotzdem merkwürdig ordentlich war. An der linken Wand standen, sorgfältig aneinandergereiht, mehrere Instrumentenkästen und -taschen sowie ein ganzes Regal voller Ordner und Bücher, während die Wand auf der rechten Seite fast komplett von einem Keyboard und dem Kleiderschrank eingenommen wurde. Von dem Schreibtisch direkt gegenüber der Tür war unter dem Berg aus Lautsprechern, Mikrofonen und einem irrsinnig verworrenen Kabelsalat nicht viel zu sehen. Doch auch dort herrschte trotz allem eine Ordnung, wie ich selbst sie niemals zustande bringen würde.

Und auf dem Teppich in der Mitte des Raumes, umgeben von einem Meer aus handbeschriftetem Papier, Laptop und Handy hatte es sich Finnian mit seiner Gitarre im Schneidersitz bequem gemacht. Offenbar war er nach dem Abmarsch seines Kumpels nahtlos dazu übergegangen, sein Instrument neu zu stimmen und mich dabei geflissentlich zu ignorieren. Erst als die Klinke der Tür geräuschvoll mit der Wand kollidierte, blickte er auf. Dass sich seine Begeisterung beim Anblick meiner Wenigkeit in Grenzen hielt, war wohl das Understatement des Jahrhunderts.

„Harry. Welch eine Freude.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Was kann ich denn heute für dich tun?“

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aggressiv die Zähne zu fletschen. „Was du für mich tun kannst? Du könntest diese Lärmbelästigung hier beenden und eure nutzlose Probe woanders fortsetzen. Ich habe morgen eine Prüfung.“

Finnian musterte mich argwöhnisch. Seine blauen Augen blitzten. „Lärmbelästigung? Das hier ist unsere erste und letzte Probe für einen Gig in ein paar Tagen. Diesen einen Nachmittag mit ein bisschen Musik wirst du schon aushalten können.“

„Ich muss lernen.“

Mein Mitbewohner besaß doch tatsächlich die Frechheit, schnaubend aufzulachen und die Augen zu verdrehen. „Du musst immer lernen. Ohne Witz, Mann, fang doch endlich an zu leben.“

Am liebsten hätte ich ihn an seinem lächerlich gefärbten Haarschopf gepackt und ihn kräftig durchgeschüttelt. „Meine Prüfung ist morgen. Auch wenn du es aus eigener Erfahrung vielleicht nicht glauben magst, aber es gibt tatsächlich Leute, die Interesse an guten Noten haben.“

„Halte ich dich vielleicht davon ab, dein perfektionistisches Studentendasein auszuleben?“, schoss Finnian ungerührt zurück, wenn auch mit einem hörbaren Hauch von Verärgerung. „Wenn dich ein wenig Hintergrundmusik so ankotzt, dann geh zum Lernen doch in die Uni und lass mich zur Abwechslung in Frieden leben.“

„In Frieden leben“, wiederholte ich ungläubig. „Du bist wirklich ein rücksichtsloses, unsoziales Stück. Hat dir das schon einmal jemand mitgeteilt?“

Mein Mitbewohner zog einen Mundwinkel hoch. „Durchaus. Sogar mehrmals. Und jedes Mal warst es du. Merkwürdig.“ Er legte eine Pause ein, in der er sich aus dem Gitarrengurt schälte, um sich stattdessen sein Smartphone zu schnappen. „Kleiner Tipp: Wenn es dir wirklich nicht möglich ist, während unserer Probe zu lernen, kannst du deine Zeit ja dafür nutzen, endlich dein dreckiges Geschirr verschwinden zu lassen, das sich schon seit drei Tagen in der Küche stapelt. Langsam ist sogar Dylan davon genervt, und der ist wirklich sehr nachsichtig. Und dein Mülldienst ist auch schon wieder seit einem Tag überfällig. Ich bin letztes Mal schon für deine Unfähigkeit eingesprungen, glaub bloß nicht, dass ich das diese Woche wieder tue.“

„Ich habe dich nicht darum gebeten“, entgegnete ich unfreundlich. „Du solltest einfach deinen Ordnungsfimmel unter Kontrolle bringen.“

Finnian grunzte etwas Unverständliches. „Mein Ordnungsfimmel? Wenn der Restmüll so überquillt, dass kein Stück Papier mehr reinpasst, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn selbst rauszubringen, Harold.“

Mein Blutdruck war schon längst über ein gesundes Level hinausgeschossen. Dieser kleine Idiot wusste ganz genau, wie er mich zur Weißglut bringen konnte, und tat es immer wieder mit solchem Genuss, dass ich ihm dafür eine Ohrfeige nach der anderen versetzen könnte.

„Tu dir keinen Zwang an, Blondie. Der Müll wäre nicht davongerannt. Also?“

„Was also?“

Zähneknirschend stieß ich mich vom Türrahmen ab. „Wären mir an diesem Nachmittag eventuell noch ein paar ruhige Minuten vergönnt?“

Ernüchtertes Seufzen erreichte mich. „Wir haben noch vier Songs. Und soll das eigentlich ein Witz sein? Seit Wochen haben wir nicht mehr hier geprobt, also krieg dich endlich wieder ein.“ Kopfschüttelnd tippte er auf seinem Smartphone herum wobei er noch ein gemurmeltes „Lärmbelästigung. Ich fasse es nicht“ hinterherschob.

Sein offenkundiges Desinteresse machte mich nur noch wütender.

„Du könntest deine Proben eventuell auch mit deinen Mitbewohnern absprechen“, konterte ich gereizt. „Du wohnst hier nicht allein, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.“

Finnians darauffolgendes, enorm provokantes Lachen ließ mich fast an die Decke springen. „Falls das mir noch nicht aufgefallen sein sollte? Ich bin nicht derjenige, der überall seinen Kram herumliegen lässt, nie seine WG-Jobs macht und sich einen Dreck um den Haushalt schert. Die ganze Zeit muss man dir hinterherräumen und sich ärgern.“

Fast hätte ich vor Frust mit dem Fuß aufgestampft. Ich hätte damit rechnen müssen, dass er weiterhin versuchen würde, die Diskussion in diese Richtung zu lenken.

„Das ist jetzt nicht das Thema!“ Mein Kiefer schmerzte inzwischen schon, so fest biss ich die Zähne zusammen. „Thema ist, dass ich nicht für meine gottverdammte Prüfung lernen kann, weil du das Wort Rücksicht nicht einmal buchstabieren kannst!“

Für einige Sekunden herrschte Schweigen, während wir einander wutschnaubend taxierten und keiner das Blickduell als Erster unterbrechen wollte. Glücklicherweise erklang genau jetzt das Geräusch der Klospülung, gefolgt vom Rauschen des Wasserhahns, und im nächsten Moment stand Finnians verpennt wirkender Kumpel wieder neben mir.

Mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen blickte er, sichtlich peinlich berührt, zwischen uns beiden hin und her, bevor er sich umständlich an mir vorbei in Finnians Zimmer drängte.

„Alles klar bei euch?“ Sein schottischer Akzent war so heftig, dass ich geschmunzelt hätte, wäre meine Laune nicht so im Keller gewesen.

„Ja klar, alles bestens, Ellis“, antwortete Finnian, als ich zu einer ausführlichen und emotionalen Erwiderung Luft holen wollte. „Perfekt.“

Der Typ, Ellis, wie ich nun wusste, warf mir einen unsicheren Blick zu. „Sicher? Ich will niemanden stören.“

Schnaubend schob ich meine schon wieder viel zu langen, dunkelbraunen Haare zur Seite, die mir immer wieder in die Stirn fielen und meine ganze eindrucksvolle Pose zunichtemachten. „Tust du aber.“

Finnians Nasenflügel bebten kaum merklich. Es war offensichtlich, dass er mich am liebsten mit der Tür k.o. geschlagen hätte. „Tust du nicht. Harold braucht nur manchmal etwas länger, um zu verstehen, dass andere Leute im Gegensatz zu ihm ein Leben haben.“

Ellis musterte mich mit neuem Interesse. „Ach.“

Ich traute meinen Ohren kaum. Dieser kleine Scheißer. Jetzt fing er auch schon an, in Anwesenheit anderer Leute herumzustänkern. Manchmal fragte ich mich, wieso ich nicht schon längst ausgezogen war und diesem täglichen Wahnsinn ein Ende gesetzt hatte, aber nun gut. Eine Wohnung inklusive verhasstem Mitbewohner war immerhin besser als gar keine Wohnung. Und da Letzteres beim besten Willen keine Option war, saß ich wohl mit der ersten Alternative fest.

Wütend reckte ich das Kinn. „Unfassbar. Kein Wunder, dass dein Freund mit dir schlussgemacht hat. Womit hattest du den überhaupt bestochen, dass er es so lange mit dir ausgehalten hat? Ich für meinen Teil hätte nach zwei Tagen die Flucht ergriffen. Was für ein Glück, dass ich nicht schwul bin.“

Daraufhin trat beißende Stille ein, die lediglich davon durchbrochen wurde, dass dieser Ellis-Vollpfosten sich räusperte und dann in einen Hustenanfall ausbrach, der sich ein wenig anhörte wie unsere Klospülung.

Finnian starrte mich unentwegt an.

Ich starrte mürrisch zurück.

Die Mordlust zwischen uns war inzwischen so greifbar, dass jeder Therapeut augenblicklich ein Deeskalationsverfahren eingeleitet hätte.

„Hat wer ein Hustenbonbon?“ Ellis klang inzwischen wie eine kaputte Luftpumpe und ging mir damit so auf den Sack, dass ich ihm die Packung Bonbons eher in den Rachen gestopft hätte, als sie ihm zivilisiert hinzuhalten.

Ohne den Blick von mir zu nehmen, griff Finnian nach einer Tüte, die hinter ihm unter einem Ordner hervorlugte, und warf sie zu seinem Kumpel an die Brust. Obwohl der noch immer mit Ersticken beschäftigt war und dabei einen ganz und gar steinerweichenden Eindruck erweckte, ließ er seine Augen wie bei einem besonders spannenden Match zwischen uns hin und her wandern, um ja nichts zu verpassen.

Als ob es hier irgendetwas zu verpassen gäbe. Außer vielleicht einen tragischen Todesfall. Ein Todesfall ohne jegliche Fremdeinwirkung, wenn ihr versteht, was ich meine.

„Verpiss dich doch einfach, Harry.“ Missmutig sah Finnian seinem hustenden Kumpel dabei zu, wie dieser die Packung ein wenig zu hektisch aufriss und sich prompt eine Flut aus Bonbons auf den Teppich ergoss. „Als ob du irgendeinen Schimmer von meinem Privatleben hättest.“

Obwohl er sich sichtlich um einen neutralen Tonfall bemühte, entging mir nicht, wie er mit den Zähnen knirschte.

Ach.

Mit dem Thema Exfreund hatte ich wohl einen wunden Punkt getroffen.

Ich wollte gerade zu einer sarkastischen Entgegnung ansetzen, doch selbstverständlich war mein Streitpartner noch nicht fertig.

„Wir proben hier weiter“, informierte er mich kalt. „Geh zum Lernen in die Uni oder stopf dir Watte in dir Ohren. Mich interessiert es nicht, ob du in der Prüfung eine 1,0 oder eine 1,1 hast oder ob du weiterhin dein Überflieger-Stipendium einsacken kannst. Und jetzt verzieh dich, bevor ich meine Gitarre zweckentfremde.“

Meine Augen wurden schmal. Natürlich war es Finnian vollkommen gleichgültig, ob ich weiterhin das Stipendium bekam. Oder ob er daran schuld war, wenn eventuell der gegensätzliche Fall eintrat. Natürlich war es ihm egal, wie hart ich für alles arbeitete, was ich erreichen wollte und was ich schon erreicht hatte. Für ihn war das Studium und alles andere, was mit Bildung und Ausbildung zu tun hatte, nur ein Witz. Lästige, nebensächliche Aspekte, mit denen man sich auseinandersetzen musste, um immatrikuliert zu bleiben und irgendwie nach außen hin die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen.

Dass anderen Menschen all diese Dinge wirklich etwas bedeuteten, war ihm egal. Daran würde sich wohl nie etwas ändern, ganz gleich, was ich ihm hier vor die Füße warf. Es war vergeudete Liebesmüh.

Wortlos wandte ich mich ab und wenige Sekunden später fiel die Tür hinter mir ins Schloss. So fest, dass der Schlüssel, der innen gesteckt hatte, aus dem Schlüsselloch glitt und mit lautem Klimpern auf den alten Holzdielen aufschlug.

Willkommen in meinem Alltag.

Und in unserer traumhaft vorbildlichen, unglaublich harmonischen WG.

Noch immer dampfend vor Wut marschierte ich durch den kurzen Gang in die Küche hinüber. Die eben minimal eskalierte Konversation war ein meisterhaftes Paradebeispiel dafür, wie jede meiner Interaktionen mit Finnian ablief.

Jede einzelne davon.

Von Anfang an war aus irgendeinem Grund glasklar gewesen, dass es zwischen uns beiden nicht sonderlich gut funktionieren würde, aber dass es dermaßen ausartete … damit hatte wohl niemand gerechnet. Vor allem seit Boris, unser ehemaliger Mitbewohner und einer meiner engsten Freunde, nach Abschluss seines Studiums vor ein paar Wochen endgültig ausgezogen war, um sich mit seiner langjährigen Freundin Gianna eine eigene Wohnung zu suchen, war es rapide bergab gegangen.

Boris und Dylan hatten es über Jahre hinweg immer irgendwie geschafft, die Wogen zwischen Finnian und mir zu glätten und uns trotz unserer ständigen Meinungsverschiedenheiten zu einer einigermaßen harmonischen WG werden zu lassen.

Aber nun war Boris‘ Zimmer leer und wartete darauf, endlich neu bezogen zu werden – und ließ einen ziemlich überforderten Dylan allein mit uns zurück.

Finnian und ich, wir waren schlichtweg die Gegensätzlichkeit in Person. Finnian war vorlaut, ein exzessiver Partygänger, nicht sonderlich erpicht auf studentisches Pflichtbewusstsein, hatte vermutlich zehn verschiedene Freundeskreise und war wider Erwarten ein enorm ordnungsliebender Mensch.

Ich hingegen war eher der typische, in sich zurückgezogene Introvertierte mit nur einer Handvoll Freunde, der sich um gute Noten bemühte, kaum auf Partys ging und noch dazu gerne im Chaos lebte und Sachen im Haushalt gern auch mal für zwei Wochen vor sich herschob.

Letzteres biss sich selbstverständlich wunderbar mit Finnians unverbesserlichem Ordnungsfimmel. Fakt war nämlich: Wann immer ich auch nur einen Teelöffel in der Spüle liegenließ, bestand das ernstzunehmende Risiko, von Finnian damit zu Katzenfutter verarbeitet zu werden.

Natürlich war es glasklar, dass solche grundverschiedenen Einstellungen gegeneinanderprallten. Aber dass wir nicht einmal normal miteinander reden konnten, ohne einander fast an die Gurgel zu gehen, verblüffte mich auch nach zweieinhalb Jahren immer wieder aufs Neue.

„Harry. Hey.“

Der Klang von Dylans Stimme ließ mich zusammenzucken, und da realisierte ich erst, dass mein zweiter Mitbewohner die ganze Zeit über hinter mir am Küchentisch gesessen hatte, während ich wütend über Wasserkocher und Teebeutel hergefallen war.

Dramatisch griff ich mir an die Brust. „Gott im Himmel, Dylan. Willst du, dass ich an einem Herzinfarkt sterbe?“

Dylan musterte mich amüsiert, während er sich eine Strähne seines dunkelbraunen, leicht gewellten Haars aus der Stirn schob. Auf seinem Laptop leuchtete ihm ein dicht beschriebenes Dokument entgegen, der Tisch ringsum war mit Büchern, Papieren und Mappen gepflastert, und eine riesige Tasse Kaffee stand gefährlich nahe am Rand.

„Nimm es mir nicht übel, aber du siehst sowieso aus, als könntest du jede Sekunde explodieren“, teilte er mir dann bereitwillig mit. „Da kann ein Herzinfarkt auch nicht mehr viel Schaden anrichten.“ 

Abfällig schnaubend wandte ich mich der Küchenanrichte zu, um den Wasserkocher anzuknipsen, bevor ich mich wieder zu Dylan umdrehte. Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ ich meinen Blick über das Papierchaos auf dem Küchentisch schweifen. Ein Chaos, das bei näherer Hinsicht vermutlich gar keines war, angesichts dessen, welch verdammt gute Organisation Dylan an den Tag legte. In all seinen Lebensbereichen, wohlgemerkt. Er war ein absolutes Vorbild, was einen geordneten, organisierten und noch dazu gesunden, sportlichen Lebensstil betraf. Auch wenn sich beim Anblick seiner grünen Smoothies, die er literweise in sich hineinschüttete, manchmal durchaus Brechreiz zu Wort meldete, beneidete ich ihn um sein unerschütterliches Pflichtbewusstsein.

Auch jetzt stand eine Glasflasche mit grüner Pampe neben seinem Laptop auf dem Tisch. Normalerweise hätte ich das Zeug sofort kommentiert, doch ich war noch immer viel zu sehr in Rage von meinem Gespräch mit Finnian.

„Wie kannst du bei diesem Lärm nur an deiner Abschlussarbeit schreiben?“ Kopfschüttelnd wies ich auf Dylans Unterlagen. „Das hält doch kein Mensch aus.“

Für einen Moment wirkte mein Mitbewohner aufrichtig verwirrt. „Lärm?“ Dann schien ihm aufzugehen, wovon ich sprach, und er räusperte sich umständlich. „Ach. Du meinst Finnian und Ellis. Ähm … um ehrlich zu sein, fand ich die Musik ganz entspannend. Ich habe heute Nachmittag eine Menge geschafft.“

Ungläubig starrte ich ihn an. „Willst du mich veräppeln? Ich bin keine einzige Seite weit gekommen!“

Dylan seufzte, ehe er eines der Bücher zuschlug und zur Seite schob, um sich dann mit im Schoß gefalteten Händen zurückzulehnen. Dabei spannte der dünne Stoff des hellgrauen, langärmligen Shirts ein wenig über seiner Brust, doch das war kein Wunder, wenn man bedachte, wie viele Stunden er pro Woche mit Kraftsport verbrachte, um seinen Healthy Lifestyle zu perfektionieren. Manchmal fragte ich mich, ob er sich insgeheim nur deshalb so oft zum Sport verdrückte, um sich nicht mit dem Krieg zwischen Finnian und mir herumschlagen zu müssen. Aber das war eine Vermutung, die man besser für sich behielt, wenn man nicht zum Konsum grüner Smoothies gezwungen werden wollte.

Und als er dann ein tadelndes „Harry“ von sich gab, ahnte ich schon, dass er nun mit einer seiner vernünftigen, furchtbar rationalen Erklärungen aufwarten würde.

Andere Leute brachen in solchen Situationen in einen Tobsuchtsanfall aus. Dylan nicht. Dylan war ein Profi in Sachen Stressreduktion und setzte auf vernünftige Gespräche und detailliertes Reflektieren. Und Yoga.

Schön, wenn das bei ihm so gut funktionierte.

Ich selbst spielte jedes Mal eher mit dem Gedanken, einen Anti-Aggressionskurs zu besuchen, sobald ich einen Blick in Finnians blauäugiges Babyface riskierte.

„Harry, kann es sein, dass du deshalb nicht lernen kannst, weil du dich aus Prinzip so hineinsteigerst?“

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Natürlich musste er nun seine Möchtegernpsychologenkarte ausspielen. Und das, obwohl er Wirtschaft und beim besten Willen nichts Geisteswissenschaftliches studierte. Dieser Typ gönnte sich während seines Ausdauertrainings auf dem Ergometer eindeutig zu viele Lifestyle-Videos. Ich fragte mich, wann zu ihm durchsickern würde, dass er mit solchen Ratschlägen bei Finnian und mir auf Wände traf.

Dylan fuhr unterdessen unbeeindruckt fort, obwohl er meine wenig begeisterte Reaktion sicherlich zur Kenntnis genommen hatte.

„Bevor du mich jetzt anschreist, weil ich mich angeblich auf Finnians Seite schlage: Es ist doch nur ein bisschen Musik, kein Baustellenlärm.“ Auffordernd musterte er mich. „Wenn du dich darauf einlässt, kann sie dir vielleicht sogar beim Lernen helfen.“

Fassungslos ließ ich die Arme sinken. „Mich darauf einlassen? Dylan, er provoziert mich, wo er gerade kann. Glaub es oder glaub es nicht, aber ich bin mir sicher, dass er sich gerade darüber ins Fäustchen lacht, es mir vor seinem blöden Kumpel mal wieder so richtig gezeigt zu haben.“

Zum Glück begann nun das Wasser im Wasserkocher zu brodeln, sodass ich mich umdrehen und meine trotzige Miene verstecken konnte. Bockig begann ich damit, meine Thermoskanne zu befüllen, in der ich zur kalten Jahreszeit meinen Wintertee mit mir herumzuschleppen pflegte.

Während ich mit spitzen Fingern den Wollfaden des Teebeutels davon abhielt, im Inneren der Kanne zu verschwinden, spürte ich weiterhin Dylans gequälten Blick in meinem Rücken brennen.

„Harry, du weißt genau, dass ich mich auf keine Seite schlagen werde. Ich könnte nicht einmal insgeheim für mich selbst entscheiden, wer von euch beiden der Schlimmere ist, weil ihr beide gleich schlimm seid. Wirklich.“ Das war wohl eine treffende Möglichkeit, um die Lage zu beschreiben. „Um ehrlich zu sein, verstehe ich gar nicht, wie ich die letzten Jahre mit euch überlebt habe. Aber ihr seid beide meine besten Freunde und werdet es auch immer sein, egal, wie sehr ihr euch die Köpfe einschlagt.“

Noch immer war sein Tonfall ruhig und entspannt, doch mir entging der Hauch von Schwermütigkeit nicht, der im letzten Teil seines Satzes darin mitzuschwingen begann.

Schuldbewusst senkte ich den Blick auf den Teebeutel hinab, der sanft auf den Wellen des heißen Wassers umherdümpelte und dieses nach und nach violett färbte. „Tut mir leid. Ich möchte dich nicht in die Zwickmühle drängen. Aber manchmal könnte ich ihm einfach eine reinhauen. Und dann seinen Kopf in die Kloschüssel halten.“

Als ich mich einige Momente später mitsamt der Thermoskanne umdrehte, sah ich, dass Dylan nun leise in sich hineinkicherte, während er geistesabwesend einen Kugelschreiber vor sich auf dem Tisch hin und her rollte – ein liebenswerter Anblick, wenn man diese kleine Geste mit seinem muskelbepackten Oberkörper in Kontext stellte. Und dem Katzenmotiv auf seiner Kaffeetasse.

„Was glaubst du, wie oft Finnian das schon über dich gesagt hat.“ Mit den Augen verfolgte er, wie ich mir einen Müsliriegel aus dem Küchenregal schnappte und dann zur Tür lief. „Was hast du denn jetzt vor?“ Eine kurze Pause entstand. „Ich hoffe inständig, du weißt, dass diese Dinger mehr Zucker als Müsli beinhalten.“

„Ich fahr zur Uni hoch“, informierte ich ihn knapp. „Hier kann ich nicht lernen. Und lass meine Müsliriegel in Frieden, ich bin glücklich mit den Inhaltsstoffen.“

Bedauernd schüttelte Dylan den Kopf, und ich wusste, dass ich ihn erneut damit enttäuscht hatte, es nicht einmal ernsthaft zu versuchen – sowohl hinsichtlich seines Vorschlags mit der Musik als auch die Sache mit dem überzuckerten Müsliriegel, mit der er mir seit Jahren in den Ohren lag.

Vergeblich, wie man an dieser Stelle anmerken musste. Dafür liebte ich diese klebrigen Schoko-Bananen-Dinger viel zu sehr.

Ich war schon halb mit Rucksack und Herbstmantel aus der Tür hinaus, als er mir noch hinterherrief: „Vergiss das WG-Casting heute Abend nicht! Es wird Zeit, endlich einen Nachfolger für Boris zu finden!“

Mit einer gebrummten Bestätigung ich die Tür hinter mir und widmete mich den Treppenstufen, die zur Haustür hinabführten. Mein Inneres rumorte. Dieses WG-Casting hatte ich tatsächlich vollkommen vergessen. Es handelte sich bereits um das dritte innerhalb von drei Wochen, nachdem bei den ersten beiden Castings kein einziges Mal jemand dabei gewesen war, den oder die wir uns ernsthaft als neuen Mitbewohner vorstellen hätten können. Und zugegebenermaßen war ich nur bedingt erpicht darauf, mir neben Finnian noch einen Streithammel in die eigenen vier Wände zu holen.

Finnian und Dylan sahen das ähnlich, weshalb der Prozess, einen neuen Nachmieter zu finden, schleppend verlief und der Vermieter allmählich ungeduldig wurde. Boris‘ Vertrag lief nächste Woche aus, was hieß, dass wir bis spätestens dahin jemanden gefunden haben mussten, wenn wir nicht wollten, dass uns der Vermieter einfach irgendjemanden vor die Nase setzte. Dem war es immerhin egal, wer das Zimmer bezog. Ihm ging es nur darum, die Kohle zu kassieren.

Ich verdrängte die Gedanken an das Casting, das mir erneut wertvolle Stunden meiner Lernzeit rauben würde. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, die Bushaltestelle zu erreichen, bevor mir womöglich auch noch der Bus vor der Nase wegfuhr. Dank Blondie war ich nun ja um mehrere Seiten in meinem Skript im Rückstand, die ich während des restlichen Nachmittages oder zur Not heute Nacht unbedingt noch aufholen musste, wenn ich in der Prüfung eine akzeptable Leistung zustande bringen wollte.

Für mich stand fest: Finnian und ich würden nie die besten Freunde werden. Eigentlich sollte ich mich inzwischen damit abgefunden haben.

2. KAPITEL – Finnian

Harry war ein Idiot.

Nicht nur das.

Er war ein Idiot der Weltklasse.

Hätte er vorhin auch nur ein einziges weiteres Wort von sich gegeben, hätte ich ihn mit meiner Gitarre vermöbelt und …

„Was?“ Völlig von der Rolle schrak ich hoch, als Ellis mich mit einer Stange seines Notenständers in die Seite stupste. „Tut mir leid, ich war kurz … abgeschweift.“

Abgeschweift. Was für eine jämmerliche Untertreibung. Man könnte mein Gehirn im Moment, metaphorisch gesprochen, wohl stückweise vom Boden aufkratzen und in die Tonne treten, so groß war das Chaos darin.

Der zweifelnde Blick meines Kumpels sprach Bände. „Das konnte ich sehen. Bist du sicher, dass alles klar ist?“

Angestrengt rang ich mir ein Grinsen ab, das hoffentlich nicht wie ein grimmiges Zähnefletschen wirkte. „Ja, sicher. Alles gut.“

Ellis war an der Nasenspitze abzulesen, dass er mir selbstverständlich nicht glaubte, aber zu meiner unsäglichen Dankbarkeit schien er ebenso zu begreifen, dass jetzt der falsche Zeitpunkt war, um neugierig nachzuhaken.

Stattdessen nickte er nur langsam, bevor er sich den Gurt seiner Gitarre über den Kopf zog und das Instrument in die dazugehörige Tasche zu verfrachten begann. „So gern ich zur Psychohygiene noch ein wenig weitergeprobt hätte, muss ich leider los. Ich muss spontan eine Schicht im Café heute Abend übernehmen, nachdem sich eine Kollegin krankgemeldet hat.“

Dagegen hatte ich, ehrlich gesagt, überhaupt nichts einzuwenden.

„Kein Problem. Bei uns steht heute ohnehin noch ein WG-Casting im Terminkalender.“ Insgeheim erleichtert, schob ich den Ordner mit den Songs von mir. Normalerweise konnte ich nie genug davon bekommen, Musik zu machen – vor allem mit Ellis, meinem unangefochtenen, treuen Gig-Partner – aber nach meiner neuesten Auseinandersetzung mit Harry vorhin … nun ja.

Natürlich würde ich das niemals laut zugeben, aber dieses Gespräch hatte mich tatsächlich mehr mitgenommen als erwartet. An hitzige Wortgefechte mit ihm war ich gewöhnt, zur Hölle, die letzten zweieinhalb Jahre hatte ich fast jeden einzelnen, verdammten Tag damit verbracht. Aber sein Zum-Glück-Bin-Ich-Nicht-Schwul-Kommentar hatte sich nun aus irgendeinem Grund in meinem Kopf festgesetzt und wollte mich nicht mehr loslassen.

War das der Grund, wieso er mir gegenüber von Anfang an so abweisend gewesen war? Hatte er ein Problem mit meiner Homosexualität? Aber eigentlich hätte er mir das doch bei unzähligen Gelegenheiten schon längst kundtun können, oder?

Immer noch recht nachdenklich und schweigsam verabschiedete ich mich von Ellis, der am Ende mitsamt all seinem Gepäck zum Bus sprinten musste, um nicht eine halbe Stunde lang auf den nächsten warten zu müssen. Langsam schnappte ich mir den zu zwei Dritteln geleerten Snackteller sowie die zwei Gläser vom Boden und machte mich auf den Weg in die Küche. Wenig überrascht nahm ich zur Kenntnis, dass sich Dylan mit seinem ganzen Kram für seine Bachelorarbeit dort ausgebreitet hatte. So wie ich ihn kannte, schlürfte er sicherlich schon die dritte Flasche seines geliebten, ach so gesunden grünen Gesöffs.

In diesem einen Punkt waren Harry und ich uns nämlich durchaus einig: Dylans grüne Smoothies schmeckten (und rochen) wie halbverdauter Mageninhalt.

„Hey, Dyl.“ Ich bemühte mich erst gar nicht darum, eine fröhliche Fassade aufzusetzen. Dylan kannte mich viel zu gut – es war vollkommen egal, was ich tat, er würde trotzdem innerhalb eines Wimpernschlags erkennen, dass bei mir gerade das Regenwetter des Jahrhunderts herrschte.

Wie erwartet musste mein Mitbewohner nur kurz den Kopf heben, bevor er sein Dokument zwischenspeicherte, um sich dann seufzend zurückzulehnen. Seine Hände schoben die mit Katzen bedruckte Kaffeetasse auf dem Tisch hin und her.

„Finnian. Schieß los.“

Trotz allem musste ich lächeln. „Was soll es denn loszuschießen geben? Ich bin sicher, Harry hat dich bereits in alles Wissenswerte eingeweiht.“

Dylan verdrehte die Augen. „Ich bin unparteiisch, schon vergessen? Wenn ich eine Seite gehört habe, will ich auch die andere hören. Also?“

Ich kämpfte mit mir. Sollte ich ihm meinen Verdacht äußern? Der Gedanke, der mir seit dem neuesten Streit mit Harry im Kopf umherschwirrte, war alles andere als harmlos und konnte unter Umständen für noch mehr Unfrieden sorgen – nicht nur zwischen Harry und mir (falls es zwischen uns überhaupt noch mehr Unfrieden geben konnte), sondern zwischen uns allen dreien.

Fast schon andächtig stellte ich die Gläser in die Spüle, wobei ich sorgsam darauf achtete, Harrys dämlichem Stapel benutzten Geschirrs nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich würde mich nur sinnloserweise darüber ärgern. Wenn ich etwas hasste, dann waren das Sachen im Haushalt, die ständig liegengelassen wurden. Natürlich machte es mir nichts aus, wenn ein Teller mal einen Tag lang in der Spüle stand, aber wenn sich irgendwann das Geschirr einer ganzen Woche auf der Anrichte stapelte, fand meine Geduld ein abruptes Ende. Leider war Harry absoluter Spezialist darin, Geschirr, Wäsche, Schuhe und so ziemlich alles andere überall ewig herumliegen zu lassen, bis sich entweder jemand anderes darum kümmerte oder wir uns darüber aufregten.

Wobei Letzteres mehr auf mich zutraf. Dylan hingegen schien es nichts auszumachen, immer wieder Harrys Gläser und Teller zusammen mit seinem eigenen Geschirr abzuspülen. Meine eigenen Wutanfälle brachten mir auf Harrys Beliebtheitsskala natürlich nicht gerade Punkte ein.

Zugegeben: Ich genoss es allerdings wohl auch ein bisschen zu sehr, ihn mit allem aufzuziehen. Harry war einfach so reizbar und fuhr so schnell aus der Haut, dass es beinahe Spaß machte, ihn zu provozieren. Ganz eventuell war ich an unserer misslichen Lage also auch nicht ganz unschuldig, aber …

„Denkst du, Harry ist homophob?“

Erst als Dylans Augen die Größe von Untertassen annahmen, ging mir auf, dass diese Worte eben laut aus mir hervorgeplatzt waren, bevor ich sie überdenken hätte können.

Wundervoll.

Jetzt bekam ich sicherlich einen Vortrag.

Dylan stieß beinahe seinen Smoothie vom Tisch, so hektisch setzte er sich auf, um dann die Ellbogen an die Kante zu stemmen, die Arme dabei so angespannt, dass die so sorgfältig trainierten Muskelgruppen hervortragen.

Ich bemühte mich, nicht allzu auffällig hinzusehen.

Auch wenn Dylan durch und durch hetero und für mich wirklich nur ein Kumpel war, kam ich nicht umhin, immer wieder verstohlene Blicke auf sein trainiertes Äußeres zu werfen. Sein Durchhaltevermögen in Sachen Sport war mir persönlich ein Rätsel. Im Gegensatz zu Dylan war ich nicht nur ein Zwerg, sondern auch ein schwächlicher Lauch. Wobei Harry aber der noch größere Lauch von uns beiden war, wie man an dieser Stelle anmerken musste. Im wahrsten Sinne des Wortes, immerhin überragte er mich um einen halben Kopf.

So viel dazu.

„Wie bitte?“ Dylan klang so ungläubig, dass ich mir auf der Stelle lächerlich vorkam. „Harry? Homophob? Wie zur Hölle kommst du darauf?“

Peinlich berührt zuckte ich mit den Schultern und wandte mich resolut ab, um die verbliebenen Snacks von dem Teller zu räumen und mich an den Abwasch zu machen. „Egal. Vergiss es.“

Ich fuhr zusammen, als mich ein Kugelschreiber an der Schulter streifte und dann geradewegs in das Spülwasser segelte, das ich eben ins Waschbecken einließ. Empört drehte ich mich um, doch Dylan schnappte sich bereits den nächsten Stift, ohne sich um das Schicksal seines Vorgängers zu kümmern.

„Also.“ Auffordernd musterte er mich. „Ich höre?“

Seufzend ließ ich die beiden Gläser in die Spüle gleiten und sah zu, wie diese mit leisem Plätschern unter der schaumbedeckten Wasseroberfläche verschwanden.

„Er hat vorhin, als wir uns gestritten haben, eine Bemerkung gemacht, die sich irgendwie … schlecht angefühlt hat. Ich kann es nicht erklären. Es war wahrscheinlich total harmlos und nur etwas, das er im Eifer des Gefechts gesagt hat, aber irgendwie werde ich dieses blöde Gefühl nicht mehr los.“

Dylan schürzte die Lippen. „Finn, glaub mir, Harry mag ja alles Mögliche sein – so wie du auch, wie ich an dieser Stelle anmerken muss – aber er ist sicherlich nicht homophob. Mit Reggie kommt er immerhin auch blendend klar. Und der ist so offensichtlich schwul, dass neben ihm sogar Elton John in den Schatten rückt. Außerdem kennst du Harry. Wenn er wütend ist, wirft er mit Sachen um sich, die er nicht wirklich so meint. Also … nein. Ich würde mir keine Gedanken machen.“ Er hielt inne. „Wieso machst du dir denn überhaupt Gedanken? Ihr zwei hasst euch doch sowieso schon aus Prinzip.“

Verlegen schüttelte ich den Kopf, während meine Hände wie ferngesteuert den Abwasch fortführten. „Wir hassen uns nicht, Dylan. Wir sind nur … nicht gerade die größten Fans voneinander.“

Dylan gab ein albernes Keckern von sich und nahm dann einen großen Schluck von seinem Smoothie.

„Nicht gerade die größten Fans voneinander?“ In einer übertriebenen Geste wischte er sich über den Mund „So würdest du das beschreiben? Na gut. Von mir aus.“

Ungehalten schüttelte ich den Kopf. „Krieg dich wieder ein, Salatkopf. Für mich ist das schon lange normal.“ Ich hielt inne, als meine Finger unter all dem Schaum auf den vorhin so kläglich ertrunkenen Kugelschreiber stießen.

„Wenn das für dich Normalität ist, will ich nicht wissen, was du für unnormal empfindest.“ Dylans hochgezogene Augenbrauen waren beinahe riechbar. „Wie auch immer. Ihr zwei seid unmöglich. Unerträglich. Wieso bin ich überhaupt mit solchen hirnrissigen Idioten wie euch befreundet? Das mit dem Salatkopf habe ich übrigens auch nicht überhö-… hey!“

Der letzte Aufruf galt dem klatschnassen Kugelschreiber, der nun in seine Richtung gesegelt kam und den er nur im letzten Moment von einer unschönen Kollision mit der Katzentasse abhalten konnte. Seinen darauffolgenden finsteren Blick quittierte ich lediglich mit einem unschuldigen Grinsen.

Er hatte schließlich angefangen mit der Stiftwerferei.

„Apropos Freunde.“ Mehr oder weniger geschickt stapelte ich die Teller auf dem Abtropfblech. „Wie sieht es jetzt eigentlich mit den Kandidaten für das Casting heute aus? Du hast sie gestern durchtelefoniert, oder?“

„Exakt.“ Erstaunlich zielgerichtet zog er einen knallroten Notizzettel unter seinem Laptop hervor. „Drei sind es noch“, fügte er dann hinzu. „Eigentlich waren es ja vier, aber ich dachte, dass …“

„… man meinen Exfreund von der Liste streichen kann?“, vollendete ich seinen Satz, als er nach der Hälfte, schockiert über sich selbst, abbrach und sich umständlich räusperte. „Richtig gedacht. Und weiter?“

Prompt wurde ich mit irritiertem Stirnrunzeln konfrontiert. „Finnian, was Seb betrifft. Du musst …“

Theatralisch aufseufzend hob ich die Hand. „Bitte nicht jetzt, Dylan. Ich brauche nicht noch mehr, worüber ich mir den Kopf zerbrechen muss.“

Nicht, nachdem ich es nach zwei Wochen endlich geschafft hatte, den Gedanken an meinen Exfreund Sebastian wenigstens halbwegs in die hinterste Ecke meines Gehirns zu verbannen. Was absolut kein Kinderspiel gewesen war, angesichts dessen, wie verbissen er mir im Nacken saß.

Aber das war eine weitere unschöne Geschichte für einen anderen Zeitpunkt.

„Gut.“ Etwas angesäuert schlug Dylan die Beine übereinander und zog geziert die Ärmel seines engen Shirts zurecht, die wirkten, als könnten sie jeden Moment platzen. „Wie gesagt, es sind noch drei. Zwei Typen, ein Mädel. Grundsätzlich wäre ich einer Frau ja nicht abgeneigt, aber nachdem wir die letzten Jahre eine reine Männer-WG waren, bin ich mir nicht sicher, wie gut das funktionieren würde. Nachdem es bei uns dreien allein ja schon so … außerordentlich harmonisch ist.“ Er gab ein Ächzen von sich. „Am liebsten wäre es mir ja, wenn einfach Boris zurückkommen würde, aber diese Hoffnung ist vergeudete Liebesmüh. Er und Gianna heiraten wahrscheinlich ohnehin bald. Und irgendeinen Nachmieter brauchen wir. Optimalerweise einen aus den drei Kandidaten heute. Also würde ich sagen, dass wir es uns mit viel Bedacht überlegen, nicht voreilig absagen und uns Zeit für eine gemeinsame Entscheidung nehmen.“

Sein Unterton bei dem Wort gemeinsam war so drohend, dass ich lachen musste. „Alles gut, Salatkopf. Am besten wäre es also, wir lassen einfach dich allein entscheiden. Damit sinkt das Risiko einer Eskalation von Vornherein um mehr als fünfzig Prozent.“ 

„Als ob es irgendeinen Unterschied macht, wer den neuen Mitbewohner auswählt. Wenn es hinterher Stress gibt, beschuldigt ihr euch sowieso gegenseitig.“

Lachend warf ich ihm das Geschirrtuch an den Kopf.

Recht hatte er ja.

Harry und ich würden einander immer die Schuld in die Schuhe schieben, ganz gleich, worum es ging, was passierte oder wer daran beteiligt war.

Jeder von uns würde sich eine Flasche Sekt gönnen, wenn der Tag kam, von dem an wir einander nie wiedersehen mussten.

Oder, in Harrys strikt antialkoholischem Fall, vielleicht auch nur ein Glas Apfelschorle.

3. KAPITEL – Harry

Es war schon nach halb acht Uhr abends, als ich, nur bedingt zufrieden mit meinem Lernergebnis, das Skript zuschlug und mich seufzend zurücklehnte. Ich hatte mir für den restlichen Nachmittag eine ruhige Ecke ganz hinten in der Cafeteria der Universität gesichert und mithilfe mehrerer Tassen Kaffee und mindestens eineinhalb Litern heißer Schokolade die Müdigkeit in Schach gehalten. Eventuell war es möglich, dass ich die vergangene Nacht nur ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, während der Rest der Zeit für eine Studienarbeit draufgegangen war. Kaffee als Wachhalter sowie rezeptfreie Tabletten gegen die Kopfschmerzen und Nackenverspannungen waren inzwischen zu meinen engsten Freunden geworden. Das Wort Burnout nahm ich in diesem Kontext besser gar nicht in den Mund. Ich war mir dessen bewusst, dass ich auf direktem Wege dorthin war, wenn ich meinen Perfektionsdrang nicht bald in den Griff bekam. Aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Es ging nicht.

Nur zögerlich klappte auch ich meinen Laptop zu, bevor ich etwas desorientiert den Blick über die restlichen Leute in der Cafeteria schweifen ließ. Da es schon recht spät war, waren nicht mehr viele Studenten unterwegs. Lediglich eine Gruppe junger Frauen mit dampfenden Bechern voll Glühwein – ein Hoch auf unsere Cafete, die sich ab November zu einem Weihnachtsmarkt verwandelte – sowie ein unauffälliges Paar am Fenster drüben leisteten mir zu dieser abendlichen Stunde noch Gesellschaft.

Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, es für heute gut sein zu lassen. Jetzt noch komplizierte Berechnungen und Paragraphenketten in mein Gehirn zu hämmern, wäre vermutlich eine ganz miserable Idee. Als meine Finger den Reißverschluss meiner Umhängetasche aufzogen, begann jedoch mein Perfektionismus zu rebellieren. Ich brauchte in der Prüfung morgen mindestens eine 1,3, wenn ich meinen fantastischen Durchschnitt weiterhin halten wollte.

Einige Momente lang kämpfte ich mit meinen Prioritäten, aber natürlich siegte der Perfektionismus. Wie immer.

Seufzend klappte ich meinen Laptop wieder auf – nur um dann festzustellen, dass sich dieser nicht mehr starten ließ. Akku leer. Stirnrunzelnd tastete ich nach dem Ladekabel, das ich für gewöhnlich ganz zuverlässig in meiner Uni-Tasche mit mir herumzutragen pflegte, wurde jedoch mit gähnender Leere konfrontiert. Fassungslos grub ich mich durch sämtliche Fächer der Tasche, doch natürlich hatte sich das Kabel auch nicht versehentlich im Münzfach versteckt. Es lag zu Hause auf meinem Schreibtisch. In all dem Stress mit Finnian und seiner gottverdammten Musik hatte ich doch tatsächlich eine meiner studentischen Überlebensgrundlagen daheim liegenlassen – und da die Lösungen für die Aufgabenstellungen im Skript allesamt auf dem Notebook gespeichert waren, war ich ohne das Teil ganz dezent hilflos.

Erneut wallte Ärger in mir auf.

Blödes Blondie.

Natürlich konnte Finnian letztendlich nichts für meine eigene Vergesslichkeit, aber das hielt mich trotzdem nicht davon ab, wütend auf ihn zu sein. Wenn ich mir nicht ständig den Kopf über irgendeinen Streit mit ihm zerbrechen müsste, hätte ich mein Gehirn und meinen Kram beisammengehabt und säße jetzt nicht auf dem Trockenen. Außerdem hätte ich ohne sein Zutun meinen Lernort gar nicht erst gezwungenermaßen hierher verlegen müssen. Und meine Grundaggression wäre um mindestens drei Level gemäßigter.

Seht ihr? Wäre mein Mitbewohner nicht mein Mitbewohner, wäre mein Alltag um einiges angenehmer.

Punkt.

Missmutig griff ich nach meinem Smartphone, das die letzten Stunden über vollkommen unbeachtet neben mir auf der Bank gelegen hatte, um in der App der städtischen Öffis nach der nächsten Busverbindung zu suchen. Bei meinem Glück fuhr vermutlich genau in dieser Sekunde ein Bus ab, während der nächste erst in einer Dreiviertelstunde aufkreuzte. Lustlos entsperrte ich den Startbildschirm und wollte gerade das Symbol der App antippen, als mir völlig unvermittelt die Uhrzeit ins Auge stach.

19:37 Uhr.

Moment mal. Irgendetwas daran irritierte mich.

Ich runzelte die Stirn, überlegte angestrengt, woran ich mich erinnern sollte – bis es mir schließlich siedend heiß wieder einfiel.

Das WG-Casting.

Das gottverdammte WG-Casting, dessen erster Teilnehmer um 19:30 vorgeladen war – und zu dem ich nun folglich zu hundertzehn Prozent zu spät kommen würde.

Verdammt.

Ein Fluch nach dem anderen verließ meinen Mund, während ich den nutzlosen Laptop in die Umhängetasche stopfte, dicht gefolgt vom verknitterten Skript. Abschließend schnappte ich mir den leeren Thermobecher sowie das Handy, um dann ein wenig unkoordiniert aufzuspringen.

Und, wie hätte es auch anders sein können: Als hätten meine Mitbewohner nur auf diesen Augenblick gewartet, erwachte nun zu allem Überfluss auch noch mein Handy mit seinem grässlichen, quäkenden Klingelton zum Leben – und das natürlich so laut, dass die vom Glühwein schon leicht beschwipst wirkenden Studentinnen ihr gackerndes Gespräch einstellten, um mich schräg anzublicken.

Vor jeder von ihnen stapelten sich schon mehrere leere Pappbecher, von denen sich zweifelsohne in jedem einzelnen Glühwein befunden hatte. Normalerweise würde ich nun angesichts des übertriebenen Alkoholkonsums und dieser sinnlosen Müllproduktion abfällig schnauben (ich selbst trank nie Alkohol und selbst brachte immer vorbildlich meinen eigenen Becher mit zur Uni – eine Angewohnheit, die mir vom noch vorbildlicheren Dylan eingetrichtert worden war), aber angesichts des blöden Castings, wegen dem mir die anderen nun die Hölle heiß machen würden, verflüchtigte sich mein Nachhaltigkeitswille in den Wind.

Grunzend nahm ich den Anruf entgegen und klemmte mir das Handy zwischen Kinn und Schulter, um gleichzeitig weiter in Richtung Bushaltestelle zu laufen. „Dylan. Hey.“

„Harold, du Volltrottel! Wo zur Hölle bist du?“

Ich verdrehte die Augen. Natürlich war es nicht Dylan.

Es war Blondie mit Dylans Handy.

Warum auch immer er nicht sein eigenes benutzen konnte, um mich anzurufen. Dann hätte mich mein Display zumindest vorgewarnt. Kurz war ich irritiert. Besaß ich Finnians Nummer denn überhaupt? Halt, doch. Auf Dylans Beharrlichkeit hin existierte ein WG-Gruppenchat, mit der Konsequenz, dass ich Finnians Nummer durchaus besitzen sollte – vermutlich nur nicht eingespeichert. Mit der Annahme, dass es sich bei ihm nicht anders verhielt und er wohl deshalb Dylans Handy genommen hatte, lag ich wahrscheinlich goldrichtig.

„Ich bin auf dem Weg“, gab ich bissig zurück. „Chill dein Leben, Blondie. Kein Grund, aus der Haut zu fahren.“

Verächtliches Glucksen erreichte mich durch die Leitung. „Wenigstens habe ich ein Leben, das ich chillen kann, Harold. Gib doch einfach zu, dass du in deinen geliebten Paragraphen erstickt bist. Niemand wundert sich mehr darüber.“

Mein Blut kochte schon wieder gefährlich. So verhielt es sich mit jedem Gespräch, das ich mit meinem Lieblingsmitbewohner führte. Er dauerte für gewöhnlich keine zehn Sekunden, bis ich mir sehnlichst wünschte, ihm seine Gitarre auf seinen lächerlichen Blondschopf schlagen zu können. Zur Hölle, er musste nicht einmal den Mund aufmachen. Sein bloßer, scheinbar so heiliger Augenaufschlag reichte schon zur Genüge, um mich zur Weißglut zu bringen. Alles an ihm provozierte mich. Dass er mich von Anfang an Harold genannt hatte, machte das Ganze zwar nicht besser, bot mir jedoch die hervorragende Rechtfertigung, mich hänselnd mit Blondie zu revanchieren.

Was ich tat, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Selbstverständlich.

Ungeschickt rückte ich den Riemen meiner Umhängetasche zurecht und schob mich aus der schweren Glastür des Haupteingangs, während ich frustriert nach einer motzigen Erwiderung suchte, die ich ihm hinschleudern konnte. Ich war doch sonst so kreativ. Warum-…

Meine Wortfindungsstörungen endeten jäh, als ich die Straße erreichte – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Bus – mein Bus – vorne an der Haltestelle die Türen schloss. Drei Sekunden später rollte er direkt an meiner Nase vorbei in Richtung Innenstadt.

Ohne mich.

Fantastisch. Einfach nur fantastisch.

„Scheiße!“ Mit einem Aufschrei knallte ich die Tasche hin und musste dem Drang widerstehen, auch noch den Thermobecher gegen die Wand zu schmeißen, um meinem Ärger Luft zu machen. „Scheiße!“

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Stille, abgesehen von leisem Stimmengemurmel im Hintergrund.

„Was ist?“, meldete sich mein Gesprächspartner dann in erstaunlich normalem Tonfall zu Wort. „Bist du noch am Leben?“

Frust und Wut benebelten meine Sinne. Zugegeben: Man konnte mich wirklich leicht auf die Palme bringen. Wirklich. Vor allem dann, wenn es mit unzufriedenstellender Uniarbeit zu tun hatte. Oder man schlicht und ergreifend Finnian Moore hieß und seine Mitmenschen mit einem unschuldigen, blauen Augenaufschlag beglückte, als könnte man kein Wässerchen trüben, obwohl man in Wirklichkeit ein provokantes Stück Scheiße war.

Aber Busse, die einem vor der Nasenspitze wegfuhren, wenn man ohnehin schon um zehn Minuten im Verzug war … das ließ mein Aggressionspotenzial in Dimensionen schießen, die andere Leute wahrscheinlich nicht einmal kannten.

„So. Der Bus ist weg und es dauert noch länger. Bist du jetzt zufrieden?“, schnappte ich in mein Handy. „Aber warte kurz. Vielleicht war genau das ja dein Plan. Hätte ich mich nicht mit dir herumschlagen müssen, hätte ich den Bus nämlich garantiert noch gekriegt. Ganz große Klasse.“

Zu meinem Ärger begann Finnian zu lachen. „Ist das dein Ernst, Harold? Meine Fresse. Dann überlasse ich dich jetzt deinem Selbstmitleid und widme mich dem Casting, das übrigens vor einer Viertelstunde begonnen hat. Glaub bloß nicht, dass ich deinem Arsch noch einmal hinterherlaufe.“

„Als ob ich wollen würde, dass du meinem Arsch hinterherläufst.“

Ein Knacken gefolgt von einem leisen Piepen machte mir deutlich, dass Finnian bereits aufgelegt hatte.

Umso besser.

Wütend stopfte ich das Handy in die Tasche meines Mantels zurück und bückte mich ruckartig nach meinem Gepäck. Eine Verwünschung nach der anderen verließ meinen Mund, als ich meine Sachen möglichst kompakt zusammenraffte und mich dann zu Fuß in die Richtung in Bewegung setzte, in die der Bus eben verschwunden war. Der nächste dieser Linie fuhr um diese Uhrzeit erst in dreißig Minuten – kein guter Deal, wenn man bedachte, dass man zu Fuß nur gut zwanzig Minuten zu unserer Wohnung brauchte.

Das hieß dann wohl Laufen. Mit dürftigem Schuhwerk, dünnem Herbstmantel und ohne Regenschirm bei knapp drei Grad im Nieselregen. Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen?

Heute vermutlich nicht mehr.

Es war bereits eine Viertelstunde nach acht Uhr, als ich mich missgelaunt und vom Regen durchweicht durch die Wohnungstür quetschte. Unsere WG befand sich im dritten Stock eines großen, schon ziemlich in die Jahre gekommenen Mietkomplexes, in dem es zwar keinen Aufzug, aber dafür eine ganze Menge zerschundener Treppenstufen gab. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass keiner von uns darauf bestand, einmal pro Woche einen riesigen Wocheneinkauf zu veranstalten, den man dann die Treppe hochschleppen musste. Stattdessen verteilte sich das auf zahlreiche kleinere Rationen, wenn immer wieder jemand auf dem Heimweg von der Uni ein paar Sachen mitbrachte.

Aus dem kleinen Wohnzimmer direkt um die Ecke drangen Stimmen sowie das Rascheln von Plastikverpackungen und das Klirren von Gläsern – offenbar hatten es sich Dylan und Finnian mit den potenziellen WG-Kandidaten und einigen Snacks dort auf der Couch gemütlich gemacht.

Finnians nervtötendes Lachen war unverkennbar, ebenso Dylans unfassbare Art, sturzflutartig und in Höchstgeschwindigkeit zu reden. Diese beiden vertrauten Komponenten vermischten sich mit zwei weiteren Stimmen, die ich nicht kannte – also handelte es sich nicht um irgendwelche Leute, mit denen ich bereits telefonisch oder per Sprachmemo das Vergnügen gehabt hatte.

Neugierig spitzte ich die Ohren, während ich mir den nassen Mantel von den Schultern schüttelte, doch leider verschwammen die Stimmen zu sehr, um etwas zu verstehen. Dazu musste ich mich wohl oder übel ins Wohnzimmer bequemen. Kritisch sah ich an mir hinab. Sollte ich die feuchte Hose noch schnell gegen eine trockene eintauschen? Oder mir wenigstens die tropfenden Haare föhnen?

Unschlüssig verharrte ich mitten im Flur – und wurde prompt um ein Haar von Dylan über den Haufen gerannt, der aus dem Wohnzimmer stürzte. Im letzten Moment vermied er den Zusammenstoß, wobei er fast die leere Wasserflasche fallen gelassen hätte, die er auf der Handfläche balancierte. Schweratmend presste er sich die freie Hand auf die Brust, als stünde er kurz vor einem Infarkt.

Was für ein Dramatiker.

Misstrauisch schielte ich zu der leeren Flasche, doch offenbar hatte sich wirklich nur Wasser darin befunden, kein Smoothie. Dem Himmel sei Dank.

„Harry.“ Zu meiner Verblüffung grinste Dylan mich an. „Musst du mich so erschrecken?“

Erneut beäugte ich ihn. Wie kam es, dass er überhaupt nicht verärgert war? Vor allem, nachdem ich das WG-Casting, trotz seiner Erinnerung heute Nachmittag, vollkommen verschwitzt hatte? Tatsächlich schien er sogar bestens gelaunt zu sein. Fast schon verdächtig gut gelaunt. Offenbar waren die Kandidaten des heutigen Castings keine solchen Idioten wie die der letzten beiden Termine. Zumindest nicht alle, aber einer würde ja reichen.

„Alles klar, Dyl?“, hakte ich argwöhnisch nach, nachdem dieser ein lautstarkes „Er ist hier!“ über die Schulter hinweg ins Wohnzimmer gerufen hatte, und folgte ihm in die Küche. Zwar würde ich mich unseren Gästen früher oder später ohnehin stellen müssen, aber das hieß schließlich noch lange nicht, dass man es nicht so weit wie möglich hinauszögern konnte.

„Alles bestens.“ An der Küchenanrichte angekommen, grinste Dylan mich an und drückte mir ein Handtuch an die Brust, das ich völlig verdattert annahm. „Dafür, dass ich die Hoffnung auf einen akzeptablen Nachfolger für Boris schon aufgegeben hatte, scheint dieser Typ dort drüben ein echt guter Kerl zu sein. Freundlich, nicht verklemmt, nicht arrogant … auf den ersten Blick kein Arschloch.“

Mit zusammengezogenen Augenbrauen lauschte ich erneut auf die Stimmen aus dem Wohnzimmer, während ich mir geistesabwesend die Wassertropfen aus meinen dunklen Locken rieb. „Sind das nicht mehrere Leute?“

„Jup.“ Dylan zupfte an seinem Shirt herum – noch immer das etwas zu enge Teil von heute Nachmittag. „Ein Mädel namens Joy. Auch nicht direkt unfreundlich, aber sie ist mir trotzdem ein bisschen suspekt. Gleich ganz am Anfang war noch ein anderer Typ da, aber den haben wir gleich als WG-untauglich eingestuft. Glaub mir, den musstest du gar nicht kennenlernen.“

Noch WG-untauglicher als Finnian? Beeindruckend.

Ich bemerkte Dylans sauren Blick und riss mich zusammen. Ganz eindeutig hatte er mir meine Gedanken an der Nase abgelesen.

„Ähm.“ Angestrengt suchte ich nach Worten. Themawechsel. Und ich musste irgendwie beweisen, dass ich nicht komplett ahnungslos war, was dieses Casting betraf. „Waren es nicht eigentlich … vier Kandidaten?“

Ungläubig starrte er mich an, und da wusste ich schon, dass ich in ein Fettnäpfchen getreten war. Wie eigentlich immer, wenn ich versuchte, so zu tun, als hätte ich eine Ahnung davon, was organisatorisch so lief.

Ich wagte kaum, ihn anzusehen. „Was ist?“

„Harry.“ Dylan räusperte sich peinlich berührt. „Der vierte Kandidat war Sebastian. Finnians Exfreund.“

„Oh.“

„Genau. Oh.“

„Habt ihr ihm abgesagt oder hat er sich einfach nicht blicken lassen?“, hakte ich nur mäßig interessiert nach, um nicht komplett wie ein empathieloser Rüpel wirken. Mein Mitleid Blondie gegenüber hielt sich ganz arg in Grenzen. Vermutlich war sein Ex ohne ihn jetzt sowieso ein ganzes Stück besser dran. 

„Schlimmer.“ Sichtlich angesäuert, kratzte sich Dylan im Nacken, um sich dann mit den Fingern durch sein braunes Haar zu kämmen, das er für das Casting einigermaßen mit Haargel in Form gebracht hatte. „Wir haben ihm abgesagt und er hat sich trotzdem blicken lassen.“

„Oh“, wiederholte ich, nun mit durchaus erwachtem Interesse. Das roch förmlich nach Drama. Und wenn Finnian etwas gut konnte, dann war das Drama. Vor allem welches der unnötigen Art. Fast bereute ich es, diese vermutlich recht filmreiche Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Ex verpasst zu haben – und kam mir im nächsten Moment wie ein schadenfroher, sadistischer Trottel vor.

Ich konnte nicht von mir behaupten, Sebastian gut zu kennen. Auf der Straße würde ich ihn zwar eventuell erkennen, weil er monatelang wie selbstverständlich bei uns ein- und ausgegangen war, aber mehr nicht. Ich hatte ihm nie sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und gemocht hatte ich ihn sowieso nicht. Dafür war er mir viel zu unsympathisch gewesen, mit seiner herablassenden, herrischen Art und der Angewohnheit, hier herumzulaufen und sich zu bedienen, als gehörte er zur WG. Und vielleicht auch deshalb, weil er es in Finnians Anwesenheit einfach nicht geschafft hatte, seinen Mund oder seine Hände bei sich zu behalten. Ständig hatte er seinen Freund auf irgendeine Weise anfassen müssen, als litte er unter Entzugserscheinungen, wenn er es für mehrere Sekunden am Stück mal nicht tat. Ganz gleich, ob Dylan und ich mit im Raum gewesen waren oder nicht.

Es war mir wirklich ein Rätsel, wie Finnian sich so lange mit diesem Kerl hatte abgeben können. Aber andererseits war es mir ebenso ein Rätsel, wie sich irgendjemand länger als einen Tag mit Finnian abgeben konnte. Freiwillig, wohlgemerkt. Vielleicht hatten sich die beiden einfach einwandfrei ergänzt.

Hm.

Natürlich konnte mir Dylan meine Sensationslüsternheit an der Nasenspitze ablesen, denn er seufzte tief. „Harry, du weißt, dass ich normalerweise für keinen von euch Partei ergreife, aber in diesem Fall würde ich dir wirklich ans Herz legen, den Mund zu halten. Finnian hatte gute Gründe, mit Seb Schluss zu machen.Verdammtgute Gründe. Dass der Typ wieder einmal hier auftauchen musste, ist ziemlich fragwürdig. Der Typ ist insgesamt fragwürdig, meiner Meinung nach. Mich wundert es ehrlich gesagt, dass Finnian ihn noch nicht …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Sorry. Dich interessiert es vermutlich einen feuchten Dreck, was mit Finnians Ex abgeht.“

Nun ja, eigentlich interessierte es mich wirklich herzlich wenig, aber in diesem Fall hätte ich eine Ausnahme gemacht. Bevor ich mir jedoch eine Strategie überlegen konnte, Dylan trotzdem zum Reden zu bringen, bückte dieser sich resolut und drückte mir dann ohne Umschweife zwei volle Flaschen Wasser in die Hände.