Tsunami Liebe - P. P. Muts - E-Book

Tsunami Liebe E-Book

P. P. Muts

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Beschreibung

Japan, März 2011: Die Katastrophe eines gewaltigen Erdbebens und eines damit verbundenen Atom-GAUs nimmt ihren erschütternden Lauf! Dies ist ein mitreißender Roman um eine Familie und zwei junge Liebende in Japan, die vom "Fukushima"-Tsunami überrascht und auseinandergerissen werden. Weltbewegende Tatsachen verbinden sich hier mit privaten Dramen, die um junge Liebe, Tod und Hoffnung kreisen. Packend geschrieben aus der Sicht des frisch verliebten Tetsuo Kumi. UMFANG: 160 Seiten / 42 080 Wörter. Am Vorabend des 12. März 2011 ist es für den achtzehnjährigen Schüler Tetsuo Kumi das letzte Mal, dass er das Abendessen friedlich vereint mit seiner ganzen Familie genießt. Der Tsunami, furchtbare Erdbeben, sowie die Angst vor dem drohenden "größten anzunehmenden Unfall" im Atomkraftwerk Fukushima überschatten den Alltag der glücklichen Familie Kumi. Nach der gigantischen Überschwemmung ist nichts mehr so wie es einmal war. Tetsuos Liebe zur schönen Amaya, die er an seiner Schule kennengelernt hat, wird durch die schrecklichen Ereignisse in große Gefahr gebracht. Hat der Tsunami die junge Liebe im Keim erstickt und für immer ausgelöscht? Doch aus Leid, Zerstörung und Chaos wächst neue Hoffnung. Wird Tetsuo seine Familie wiederfinden? Was erwartet ihn auf der Flucht vom völlig überschwemmten Küstengebiet in die Millionenmetropole Tokio? In seiner klaren, bildhaften Sprache erzählt der Autor P. P. Muts die bewegende Geschichte einer japanischen Familie. Er verschafft den Leserinnen und Lesern Einblicke in die japanische Alltagskultur, inmitten einer Umweltkatastrophe, die nicht nur private Lebensschicksale, sondern die ganze Welt verändert hat.

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TSUNAMILIEBE

Roman

von P. P. Muts

www.ebook-show.de

Originalausgabe

Erste Auflage Oktober 2011

Copyright © 2011 by Ralf Stumpp Verlag, Balgheim.

All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten.

Dieser Roman basiert auf realen Ereignissen.Die handelnden Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeitenmit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Coverillustration und Coverdesign: Ralf Stumpp

ISBN 978-3-86441-000-0

Für E. H.

INHALT

VORWORT DER ROMANFIGUR

Kapitel 1: FAMILIE

Kapitel 2: AMAYA

Kapitel 3: HÖLLE AUS WASSER

Kapitel 4: ANGST UND HOFFNUNG

Kapitel 5: ABSCHIED VON DER HEIMAT

Kapitel 6: TOKIO

Kapitel 7: EIN NEUES LEBEN

VORWORT DER ROMANFIGUR

Der Schrecken kam am Nachmittag des 11. März 2011 über mein Heimatland und überraschte uns Japaner mit seiner Intensität und Unausweichlichkeit. Viele Menschen verloren Familienangehörige, Freunde, ihr Haus und ihre unbeschwerte Zukunft. Wieder einmal traf eine Naturkatastrophe ungeheuren Ausmaßes unsere Nation. Fast 80 Jahre nach dem Showa-Sanriku-Erdbeben 1933 und 16 Jahre nach dem Kobe-Erdbeben 1995 zitterte die Erde und zeigte uns Menschen die Vergänglichkeit unseres Handelns und Schaffens.

66 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki durch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg bedroht abermals die künstlich erschaffene und urgewaltige schwarzgelbe Faust der Kernenergie unser Land. Jene Faust, die kräftig und unermüdlich den Energiehunger aller Wirtschaftsnationen dieser Erde stillt. Effizient, preiswert und „sicher“ – doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit entsetzlichen Folgen für Umwelt und Mensch, sollte sich diese Faust wider Erwarten gegen ihre Erschaffer richten.

Erdbeben. Tsunami. Atom-GAU. In einer simplen Kettenreaktion wurde uns von der Natur klar gemacht, dass wir nur Gäste auf dieser Welt sind. Gäste, die in Demut und Dankbarkeit die Schönheit und die Schätze der Erde genießen dürfen. Grenzenloser Raubbau an der Natur, Umweltzerstörung und gedankenlose Verschwendung von Rohstoffen sind fatal und anmaßend. Ähnlich dem Benehmen einer Horde übermütiger Gäste auf einer Feier, die sich schlemmend, schmatzend und wahllos nach Essen grabschend am Buffet bedienen, ohne sich um den Hunger und die Bedürfnisse derer zu kümmern, die nach ihnen zur Tafel finden.

Doch Shou ga nai, wie wir Japaner sagen. Du kannst es jetzt nicht ändern, mach das Beste draus. Nun heißt es pragmatisch sein. Das Hinterfragen und Lamentieren ist im Angesicht der Tragödie nicht nur nutzlos, sondern hinderlich für eine rasche Lösung der Probleme. Ich bin stolz auf die Disziplin und Effizienz unserer Nation. Die Reaktion auf das Unglück – oder auf den weisen Zorn der Götter, wie meine verehrte Großmutter Hiroko sagen würde – war angemessen und besonnen. Sicherlich mag es einige Menschen unseres Landes geben, die ihren eigenen Gesichtsverlust zu verantworten haben. Sicherheitsmängel an technischen Anlagen, ignoriert oder toleriert, sind nicht einfach zu entschuldigen. Es muss weitreichende Veränderungen geben in der Energiepolitik, der Einstellung der Menschen untereinander, der Kommunikation zwischen den Hierarchien, der Transparenz der medialen Information und Berichterstattung. Das Prinzip des Weiblichen, die Wichtigkeit von empathischer Verständigung zugunsten eines harmonischen Miteinanders sollte mehr Macht gewinnen. Trotz allen Respektes vor den altehrwürdigen Traditionen ist es an der Zeit, eine neue Welt zu gestalten, in der die Menschen an einer positiven Entwicklung arbeiten: Mehr Sicherheit, Sauberkeit und Rücksichtnahme. Respekt vor denen, die vor uns da waren, sowie Respekt vor denen, die nach uns da sein werden.

Doch dieses Buch soll keine politische Schrift, kein anprangerndes Sachbuch sein. Sondern der kleine persönliche und emotionale Roman einer ehrbaren japanischen Familie. Meiner Familie. Ich, Tetsuo Kumi, habe ihn verfasst in Zeiten der Not und Bedrängnis, zur Linderung meiner inneren Anspannung und als Mantra gegen die bösen Geister, die sich aufgemacht haben, uns das Leben schwer zu machen.

Lasst uns gemeinsam das Diesseits erfolgreich meistern. Wir werden zueinander finden und dem Sturm trotzen, einig in süßem Triumph wie in bitterer Niederlage. Schatten ist nur möglich mit Licht. Die Nacht ist die Schwester des Tages. Das Schwarze geht einher mit dem Weißen.

Dieses Buch soll ein lebhaftes, aufrichtiges Gedenken an die Opfer sein.

Tetsuo Kumi

Kapitel 1: FAMILIE

10.03.2011, 20.30 Uhr

Morgen sollte der Tag der Liebe sein! In mir knisterte die Aufregung erwartungsvoll und ängstlich. Doch es kam ganz anders, als ich es erwartet hatte. Nur wusste ich es an diesem Abend noch nicht. Wir befanden uns im Wohnzimmer: Großmutter, Mutter, Kazumi und ich.

Die Explosion tauchte das schummrige warme Licht des Zimmers in ein blitzendes kaltes Weiß. Wirbelnde Rauchschwaden tanzten zusammen mit verkohlten Trümmern aus Holz, Stein und Glas durch die Luft. Ein lautes Donnern mischte sich mit dem Geräusch brechender Balken und umher wirbelnder Dachziegel. Es wurde wieder dunkel. Vereinzelte Lichtfragmente eines ausbrechenden Feuers erhellten spärlich in gefährlich gelb-rotem Funkeln die Dunkelheit. Dann eine erneute Explosion. Flackern weißer Lichtfontänen. Verzweifeltes Kreischen von Menschen, die versuchten aus der Gefahrenzone zu gelangen. „Ihr entkommt mir nicht!“ brüllte das dämonenhafte Drachenwesen. Aus einem gewaltigen roten Schlund spie es drehende grellweiße Feuerbälle in Richtung der panischen Menschenmenge. Weitere der umstehenden Häuser wurden dahin gefegt oder fingen Feuer. Die Zeichentrickfiguren waren schlicht, aber effektvoll in Szene gesetzt.

„Mach diesen Unsinn aus!“ sagte Großmutter Hiroko mit milder Strenge. Meine kleine Schwester Kazumi sah zu ihr auf. Sie saß auf dem Boden vor dem Fernseher. Widerwillig bewegte sie sich auf allen Vieren zum Gerät hin und schaltete auf einen anderen Kanal. Ein Werbespot für Klimaanlagen war zu sehen. Die freundliche ruhige Stimme des Sprechers wies darauf hin, wie stromsparend die neuen Modelle seien. Es gäbe sie in allen Varianten, für alle Raumgrößen. Auf dem Bildschirm war ein Mann zu sehen, der entspannt vor dem Computer arbeitete, während draußen vor dem Fenster die Sonne brannte. „Denken Sie daran“, empfahl die sympathische Werbestimme, „der Sommer steht bald vor der Tür! Arbeiten und leben sie unter optimalen klimatischen Verhältnissen.“

„Kazumi, ich meinte ausschalten!“ bekräftigte Großmutter Hiroko. „Nicht umschalten! Wir essen gleich. Deine verrückten Animes kannst du morgen weiterschauen!“

Kazumi gehorchte. Mit ihren acht Jahren war sie zwar schon recht eigenwillig in ihren Wünschen. Doch die Autorität der Großmutter stand für sie außer Frage.

„Soll ich mich jetzt baden, Großmutter?“ fragte sie. „Oder diesmal erst nach dem Essen?“

„Tue es jetzt“, antwortete Hiroko. „Aber trödele nicht herum. Euer Vater kommt bald.“

Kazumi stand auf und ging aus dem Wohnzimmer in Richtung Ofuro. Kurz darauf war schon das entfernte leise Plätschern von Wasser zu hören, das in die Wanne lief. Mutter kam herein mit einem Tablett voller Teller, Besteck und Servietten. Routiniert deckte sie in wenigen Augenblicken den Esstisch.

Pochi, der kleine Shiba-Welpen, lag träge blinzelnd in seinem Korb unterm Fenster. Das Zucken seiner spitzen Ohren verriet, dass er aufmerksam alle Stimmen und Geräusche wahrnahm. Sein sesamfarbiges weiches Fell glänzte im Licht der Wohnzimmerlampe.

„Das Kind sollte sich mit Puppen beschäftigen. Mit Origami. Mode. Kochen.“ Großmutter Hiroko war nachdenklich. „Dieser gewalttätige Quatsch im TV ist nichts für eine Achtjährige, und schon gar nicht für ein Mädchen.“ Mutter nickte, rückte eine Serviette zurecht und lächelte Hiroko an. „Verehrte Schwiegermutter, da hast du recht. Aber die Zeit schreitet fort, alles wird schneller und lauter. Wenn Kazumi das Bedürfnis hat, sich diese Sendungen anzuschauen, sollten wir es respektieren. Auch Mädchen müssen sich in unserer Welt einen Platz erkämpfen. Wenn sie sich momentan für Monster, Schlachten und Ninja-Kämpfe begeistern kann, soll sie diese Phase durchleben. Ich bin sicher, aus ihr wird dennoch einmal eine sehr bezaubernde junge Frau werden.“

Großmutter stutzte den Bruchteil einer Sekunde lang und schmunzelte dann. „Ja doch“, stimmte sie zu. „Manchmal vergesse ich etwas die Zeit, in der wir leben. Ich bin wohl doch etwas sentimental. Nicht wahr, Tetsuo?“ Sie wandte sich mir zu und blickte mich mit ihren freundlichen kleinen Äuglein an.

Ich lächelte sie an. „Ein kleines bisschen vielleicht, verehrte Großmutter“, gab ich zu. Wenn es nach Hiroko gehen würde, bekäme Kazumi Unterricht in traditioneller Tee-Zeremonie und japanischer Aristokratie-Geschichte. Sie war sehr konservativ, aber eine herzensgute und liebevolle Frau.

Bedächtig stand ich vom Boden auf, wo ich auf dem Sitzkissen liegend einen Manga gelesen hatte. Mutter war inzwischen wieder in der Küche zugange und hantierte mit Töpfen. Ich legte den Manga auf den Fenstersims und ging in die Küche.

„Soll ich dir mit dem Abendessen helfen, Mutter?“ Ich hoffte nicht. Es war eine rhetorische Frage.

„Lieb von dir, Tetsuo“, lobte sie mich, ohne vom Kochtopf aufzuschauen, in den sie gerade frische Gartenkräuter gab. „Aber deine Kochkünste beschränken sich auf das Kochen von Tee, momentan jedenfalls noch… und der Tee ist bereits fertig.“ Sie wies mit einer Hand auf die Teekanne, die auf der Warmhalteplatte dampfte.

„Dann zeichne ich an meinem Bild weiter, bis Vater heimkommt“, sagte ich und ging in mein Zimmer.

Es war sehr klein, aber durchdacht eingerichtet. Neben dem Platz für die Futonmatte stand ein geräumiges Regal mit vielen Büchern, Spielen und dem Großteil meiner Manga-Sammlung sowie etlichem Krimskrams. Am Fenster stand mein Computertisch, daneben ein kleiner hölzerner Klapptisch. Tuschekasten, Rasterfolien und der Zeichenkarton mit dem fast fertigen Portrait lagen darauf. Ansonsten beherbergte mein Zimmer noch einen schmalen hohen Kleiderschrank sowie die Truhe mit den Luftlöchern, in der die Futonmatte tagsüber aufbewahrt wurde.

Ich setzte mich auf den Stuhl und sah die Zeichnung an. Es war das Portrait eines hübschen Mädchens mit langem schwarzen Haar und großen blitzenden Engelsaugen. Sie trug eine geblümte Bluse und einige markante schön geschwungene Kirschblüten im Haar. Amaya. Leise seufzte ich und überlegte kurz. Geübt nahm ich den Tuschefederstift zur Hand, schraubte das Tuscheglas auf und tauchte die Feder hinein. Wenn man auf traditionelle Weise ein Tuschebild erstellt, so sollte jeder Strich gut überlegt sein. Denn er gräbt sich mit seiner unwiderruflichen Schwärze tief in den Zeichenkarton. Jede spätere Retusche und Korrektur mit Deckweiß schmälert den künstlerischen Wert und die Wirkung des Originals.

Es war nur noch wenig zu tun. Keinesfalls wollte ich den Fehler machen, ein gelungenes Portrait mit zu vielen Details zu überfrachten. Die schlichte Schönheit Amayas sollte wie ein einfaches und prägnantes Markenlabel der menschlichen Schöpfung wirken. Ich arbeitete konzentriert an der Struktur ihrer Haare und verlängerte ihre Augenwimpern mit markanten, kräftigen Federstrichen. Eigentlich war das Bild somit schon vollendet.

Vor einer Woche hatte ich damit angefangen und wohl insgesamt etwa vier Stunden dafür gebraucht. Die erste Version scheiterte daran, dass die Augen einfach nicht echt wie die Augen Amayas aussahen und auch der Abstand der Augen zueinander zu groß war. Die Augen sind bei einem Portrait sehr wichtig.

Langsam atmete ich aus, wischte die Feder an einem Papiertaschentuch ab und legte sie beiseite. Die Tusche an den neuen Details war noch nicht trocken. Jetzt bloß nichts aus Unachtsamkeit verwischen! Die Zeichnung würde Amaya bestimmt beeindrucken. Das Portrait war stilisiert und vereinfacht gezeichnet, aber zweifellos sehr ähnlich und sehr hübsch. Sie würde sich geschmeichelt fühlen. So etwas hatte ihr sicher noch kein Verehrer geschenkt.

Ich ließ das Bild auf dem Tisch liegen und trat zum Spiegel, der am Kleiderschrank angebracht war. Kritisch besah ich den Achtzehnjährigen, der mir da entgegenblickte: Schlank, fast hager, etwas zu schmale Schultern, zu dünne Arme. Aber immerhin kräftiges, festes, sehniges Fleisch, kaum Fett. Dichter, dunkler Haarwuchs, hinten stark gekürzt, vorne etwas länger geschnitten mit Koteletten. Starkes Kinn, dynamisch nach vorne gereckt. Dies gefiel mit sehr gut an mir. Nicht schön war der kleine Bauchansatz trotz der schlanken Statur. Tetsuo Kumi mit dem Fischbauch. Zum Glück hatte ich kaum unreine Haut. Nur sehr wenige kleine Pickel. Nicht zu vergleichen mit Bunjiro aus meiner Klasse, dessen Gesicht fast einer amerikanischen Pizza Salami glich. Pralle rote Pickel unterschiedlicher Größe und Struktur und tiefe Krater verunzierten seine geplagte Gesichtshaut. Ein Schlachtfeld aus Papeln, Pusteln und Knoten.

Würde ich Amayas Herz gewinnen können? Sicher war ich mir nicht. Sie hatte mir zwar, seit ich sie kennengelernt hatte, öfters zugelächelt und zugewinkt, mit ihren Haaren gespielt und dergleichen. Alles Flirtsignale, worüber mich das Internet informiert hatte. Aber war das womöglich nur das kokette alltägliche Verhalten eines attraktiven Mädchens, ohne ernste Absichten und zufällig wie Konfetti unter die Menge der männlichen Verehrer und Bewunderer gestreut? Bei den wenigen Gelegenheiten, die sich mir für ein Gespräch mit ihr bisher geboten hatten, glänzte ich nicht gerade mit Charme und Verführungskunst. Mein Fachsimpeln über Shonen Mangas und die peinlichen Gesprächspausen dazwischen hatten sie wohl nicht gerade davon überzeugt, dass ich ihr Mr. Right wäre.

Morgen war also der entscheidende Tag! Ich würde sie nach dem Essen in der Schulkantine ansprechen, sofern ich sie losgelöst vom Pulk ihrer Freundinnen erwischen konnte. Kurzerhand wollte ich ihr das Portrait schenken und ihr gestehen, dass sie mich schon seit Längerem fasziniert. Bereits bei dem Gedanken daran bekam ich Schweißausbrüche.

Ich hoffte bei dem Annäherungsversuch auf die Hilfe meiner Zeichnung. Sie musste doch ein Beweis dafür sein, dass ich es ernst meinte! Mit etwas Glück würde Amaya das ähnlich empfinden.

Kennengelernt hatte ich sie im Winter vor etwa vier Monaten, als sie mit ihrer Familie zu uns nach Minamisanriku gezogen war. Direkt von Tokio aus in die tiefste, wenn auch bezaubernd schöne Provinz unserer Hafenstadt, Landkreis Motoyoshi, Präfektur Miyagi! Hier, zwischen Kitakami-Gebirge und dem berühmten Kinkazan-Quasinationalpark, fühlte sie sich anfangs wohl sehr fremd. War sie doch jetzt fern des pulsierenden Tokio, wo viele ihrer Verwandten und Freundinnen lebten.

Amaya tauchte eines Tages an unserer präfekturalen Shizugawa-Oberschule auf, schön wie ein Engel. Sie ging in meine Parallelklasse und hatte wie ich noch ein Jahr vor sich bis zum Schulabschluss. Deshalb vermute ich, dass sie in etwa gleich alt ist wie ich, um die achtzehn Jahre. Gefragt habe ich sie nie. Mein insgeheimer Traum war es, später mit ihr gemeinsam auf eine angesehene Hochschule zu wechseln.

Grübelnd wandte ich mich vom Spiegel ab dem Bücherregal zu. Ich strich über die Buchrücken meiner Manga-Sammlung. Es waren inzwischen dreihundertsechsundvierzig Bände. Warum nur war das mit der Liebe nicht so einfach und unkompliziert wie das Manga-Lesen?

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich das aufgeregte Kläffen unseres Shiba-Welpen im Hausflur. Pochis Pfoten kratzten über das Glas der Eingangstür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Kurz darauf ertönte die Stimme meines Vaters: „Konnichiwa!“

Ich trat auf den Flur und begrüßte ihn. Er ging danach ins Wohnzimmer, begrüßte meine Großmutter, daraufhin meine Mutter und auch Kazumi, die inzwischen mit dem Baden fertig war und in einem kleinen weißen Yukata mit einem um den Kopf gewickelten Handtuch am Esstisch saß. Pochi wuselte aufgeregt zwischen uns allen hin und her. Mutter musste aufpassen, nicht über den Welpen zu stolpern, als sie die dampfende Schüssel Ramen aus der Küche hereintrug und auf den Tisch stellte.

Vater zog die Luft durch die Nase ein. „Dein Ramen riecht wieder wunderbar heute, meine Saku!“ bemerkte er zufrieden. Mutter hieß eigentlich Sakura, wie die Kirschblüte. Sie strahlte ihn liebevoll an. Das Ramen war nach Miso-Art gekocht und roch wirklich sehr appetitlich. Goldglänzende Nudeln wälzten sich in der bunt gewürzten Brühe zwischen Thunfisch, Lauchzwiebeln, Shiitake-Pilzen, Mais und Ei, als Mutter die Schöpfkelle in die Schüssel tauchte. Wir setzten uns alle. Pochi fing augenblicklich nach Hundeart an zu betteln, kaum dass wir mit dem Essen angefangen hatten. Kazumi wollte ihm etwas Ramen geben, doch Großmutter Hiroko verhinderte das und machte ihrer Enkelin klar, dass man mit der guten Erziehung des Welpen früh anfangen müsse und dass sich Betteln auch für Hunde nicht gezieme.

Zu Tisch wurde bei uns nicht viel geredet. Die Konzentration auf das Essen stand im Vordergrund. Zum Ramen tranken wir Tee, der inzwischen etwas abgekühlt war.

Allerdings war heute eine kleine Ausnahme. Vater erwähnte die Erdbeben, die uns in den letzten Tagen heimgesucht hatten. Zum Glück gab es nirgendwo in Minamisanriku und der ganzen Präfektur größere Schäden. Vorgestern hatte eines tagsüber stattgefunden mit der Magnitude 7,2. In der gestrigen Nacht waren wir alle über eine Reihe kleinerer Beben erschrocken. Genauer gesagt waren es drei. Beim dritten hatte selbst Mutter gelächelt, als Kazumi nachts weinend in ihren Armen lag. Sie sagte beruhigend und mit fester Stimme: „Kazumi, meine tapfere kleine Tochter! Das haben wir doch alle schon erlebt. Die Erde bewegt sich etwas, wie ein Mensch der sich im Schlaf umdreht.“ Sie wischte Kazumi mit einem Papiertaschentuch die Tränen aus den Augen. Diese schaute sie groß an und fragte leise: „Warum tut die Erde das, Mama? Warum schläft sie nicht einfach weiter?“ Vater kam Mutter zu Hilfe: „Weißt du, Kazumi, die Erde ist doch bevölkert von so vielen emsigen Menschen. Da geht es zu wie in einem Bienenschwarm. Gerade hier bei uns in Japan stehen die Räder nie still. Kraftwerke, Fahrzeuge, Menschen… Alles ist unruhig und am Rumoren. Selbst nachts!“ Er schaute seine Tochter augenzwinkernd an. „Dass das die Erde ab und an juckt und kitzelt, ist doch verständlich. Man könnte sagen, sie kratzt sich dann, räkelt sich etwas. Das sind die Erdbeben.“ Kazumi nickte langsam. Die bestechende Logik seiner Worte beruhigte sie. Er setzte freundlich nach: „Was würdest du sagen, wenn nachts viele kleine Ameisen auf deinem Rücken herum wuselten? Du würdest bestimmt nicht einfach ruhig daliegen. Genauso empfindet das unsere Mutter Erde. Erdbeben sind unangenehm und erschrecken uns. Aber die meisten davon sind ganz harmlos. Es ist der Lauf der Natur.“ Nicht lange darauf lag Kazumi wieder friedlich schlummernd auf ihrer Matratze.

Dennoch waren die Beben morgens am Frühstückstisch und in der Schule ein wichtiges Gesprächsthema gewesen. Kalt hatten sie sicher keinen von uns gelassen, dafür ist die Geschichte unserer Nation in dieser Hinsicht zu vorbelastet.

Nun aber beim Abendessen lag uns nicht viel daran, das Thema noch weiter zu vertiefen. Wir hofften, dass die Beben der letzten Nacht für lange Zeit die letzten gewesen waren. Wie sehr uns diese trügerische Hoffnung täuschte und wie nahe die reale Gefahr einer sehr schlimmen Katastrophe war, ahnten wir an diesem Abend nicht.

Großmutter Hiroko aß nicht viel, aber genussvoll und langsam. Sie war sehr dünn und von gebeugter Gestalt. Andächtig fasste sie mit den Essstäbchen die Nahrung und führte sie zum Mund. Sie hatte immer noch die meisten ihrer Zähne, da sie Zeit ihres Lebens sehr reinlich gewesen war, auch hinsichtlich der Mundhygiene. Das regelmäßige Zähneputzen war ihr heilig.

„Dein Ramen schmeckt besser als in den meisten Ramen-ya“, behauptete Großmutter, an Mutter gewandt. „Alleine deshalb war es damals eine kluge Entscheidung meines Sohnes, dich zu heiraten.“ Mutter kicherte leise. Ihre Schwiegermutter und sie mochten sich sehr und hatten noch nie einen größeren Streit gehabt. Das war nicht in jeder Familie selbstverständlich.

Mein Vater Kano und meine Mutter Sakura hatten sich in Sendai kennengelernt, als sie Anfang 20 war und als Kellnerin in einem Ramen-ya arbeitete. Schon oft hatten sie mir diese Kennenlerngeschichte erzählt. Vater war ein paar Jahre älter und arbeitete als Fernseh- und Radiotechniker. Zunächst besuchte er das kleine Imbisslokal gelegentlich nach Feierabend. Weil ihm das Ramen und wohl auch der Anblick meiner Mutter sehr zusagten, kam er bald jeden Tag ins Ramen-ya.

Er war ein gutaussehender junger Mann mit gutem Benehmen, ein echter Yasashii otoko. Er getraute sich aber nicht, bei der hübschen Sakura in die Offensive zu gehen und ihr ordentlich den Hof zu machen. Bildhaft gesagt, schlich er nur zaghaft um den Hof herum, in der Hoffnung, diese Arbeit würde sich von selbst erledigen. Was sie mit Hilfe meiner Mutter dann schließlich auch tat, sozusagen.

Sie mochte Kano sehr, spürte instinktiv, dass er zu ihr passen würde. Erklären konnte sie sich diese starke Sympathie und Zuneigung nicht, da er kaum sprach und alles andere als ein Frauenheld war. Aber er besaß die insgeheim doch selbstsichere Art eines Mannes, der einer Frau eine materielle und gefühlsmäßige Geborgenheit bieten kann.

Nach Monaten geduldigen Wartens riss der jungen Sakura der Geduldsfaden. Nachdem Kano – die wenigen leisen Worte, die sie ihm abgerungen hatte, verrieten ihr immerhin seinen Namen – einmal wieder nach dem Ramen-Essen schüchtern grüßend weggegangen war, beschloss sie ihn mit drastischen Mitteln aus der Reserve zu locken. Als er am nächsten Abend wieder dasaß und auf sein Ramen wartete, servierte sie es ihm wie üblich. Diesmal allerdings mit einer gehörigen Dosis Chilipulver, mit der sie die Nudelsuppe „nachgewürzt“ hatte. Dem armen Kano verging Hören und Sehen, als er unbedarft den ersten Löffel geschlürft hatte.

Mutter lacht heute noch beim Gedanken an das knallrote Gesicht Kanos. Wie ein Ochsenfrosch, der mit einer Fahrradpumpe aufgeblasen wird habe er ausgesehen, Zunge und Gaumen wie in Flammen stehend. Prustend habe er nach Luft geschnappt und wäre fast vom Stuhl gefallen, wenn sie nicht rettend zur Stelle gewesen wäre. Sie habe ihn gepackt und plötzlich sei ihr Gesicht seinem Gesicht sehr nahe gewesen. Sie hätten sich in die Augen gesehen. „Es brennt so!“ habe er leise hervorgestoßen. „Das ist die Liebe, Kano!“ habe sie geflüstert. Dann sei er japsend in sich zusammengesackt, während sie ein Glas Milch für ihn geholt habe.

Drei Monate später gingen sie zusammen aufs Standesamt und besiegelten das Heiratsdokument.

Kurze Zeit danach war meine Mutter schwanger. Mein Bruder Eisuke wurde geboren. Sechs Jahre später folgte ich. Nachdem wir, bedingt durch Vaters Wechsel der Arbeitsstätte nach Minamisanriku, in ein schönes kleines Haus umgezogen waren, folgte die Geburt meiner Schwester Kazumi im Jahre 2003.

Nicht auszudenken, dass wir drei Kinder Eisuke, Kazumi und Tetsuo unser Leben und unsere Geburt einer kräftigen Prise Chilipulver zu verdanken haben! Ohne dieses „nachgewürzte“ Ramen hätten unsere Eltern Kano und Sakura womöglich nie zusammengefunden.

Jetzt also saß die kleine, aber harmonische Familie Kumi beisammen und aß wieder einmal zu Abend.

Kaum waren wir mit dem Essen fertig und hatten uns die Münder mit den Servietten abgewischt, wurde es lebhafter am Tisch: Wir redeten wie jeden Abend über die Dinge, die wir am nächsten Tag zu erledigen hatten, klärten den Ablauf und die Termine unserer Familienangelegenheiten. „Eine Familie ist wie eine Firma“, pflegte unser verstorbener Großvater Shin immer zu sagen. „Und eine Firma ist wie eine Familie. Vertrauen, Rücksichtnahme und Offenheit sind die Basis für den erfolgreichen gemeinsamen Weg!“

Vater wollte Mutter und Kazumi frühmorgens ins dreißig Kilometer entfernt gelegene Meya-Hospital fahren, bevor er selbst in die Nachbarstadt Kurihara fuhr, um zu arbeiten. Kazumi sollte im Hospital untersucht werden. Bei ihr war während einer schulärztlichen Gesundheitsveranstaltung eine leichte Anomalie der Wirbelsäule festgestellt worden. Es sollte nun entschieden werden, ob die Behandlung dieser Anomalie mit Hilfe von Gymnastik behoben oder abgemildert werden könnte oder ob dafür bald eine Operation nötig sein würde. Nach dem Hospitalbesuch wollten Mutter und Kazumi dann per Bus zurück nach Minamisanriku fahren. Einen Zweitwagen hatten wir nicht. Der war eigentlich auch nicht notwendig. In unserer kleinen Stadt lagen viele Geschäfte in unmittelbarer Reichweite zu unserem Haus. Mutter und auch Großmutter waren der Überzeugung, dass man seinem Körper ausreichend Bewegung zumuten müsse. Im Falle, dass sie den Wagen einmal brauchten, war Vater auch bereit, ihn für einen Tag an sie abzutreten. Dann fuhren sie ihn zur Arbeit, bevor sie den Toyota zur freien Verfügung hatten. Vater gab es zwar nie zu, aber es war ihm an solchen Tagen anzumerken, dass er Angst um die Unversehrtheit seines geliebten Autos hatte. Es gab zwar keinen Grund dafür, da Mutter und sogar Großmutter ausgezeichnete Fahrerinnen waren. Aber eine Art leichte grundsätzliche Angst war in ihm wohl zugange, wenn er daran dachte, dass seine kostbare stählerne Kutsche ohne ihn bewegt wurde.

Dieses Mal konnte er beruhigt sein, was seinen Wagen anging. Er machte sich aber etwas Sorgen um Kazumi. Leichte Anomalien an der Wirbelsäule waren zwar kein akutes großes Problem, aber damit war nicht zu spaßen.

„Hoffen wir, dass das Ganze nur eine vorübergehende Auffälligkeit an der Wirbelsäule ist, die sich im Wachstum vielleicht sogar von selbst reguliert“, sagte er und trank von seinem Tee.

„Das kann gut sein“, pflichtete Großmutter Hiroko ihm bei. „In unserer Familie sind solche Probleme bisher unbekannt. Ein achtjähriges Kind wächst, und der Körper verändert sich fortlaufend.“ Sie nickte dankend, als Mutter ihr Tee nachgoss.

„Bist du morgen wieder bei deinen Schwestern?“ fragte Sakura ihre Schwiegermutter.

„Ja. Ich werde Youko und Mai klarmachen, dass sie dieses Jahr auf mich verzichten müssen beim Kirschblütenfest in Minamisanriku.“ Großmutter pflegte seit vielen Jahren die Gewohnheit, vormittags ihre beiden Freundinnen zu einem ausgiebigen Frühstück mit Tee und Yukiichigo zu besuchen. Die beiden Schwestern waren jungfräulich und nie verheiratet gewesen.

„Dann gehst du also wirklich mit zu Eisuke nach Tokio?“

„Ja. Ich muss doch mal sehen, wo mein Enkel arbeitet und lebt. Die Reise wird wohl etwas beschwerlich sein für mich in meinem Alter. Aber auf das Abenteuer Tokio zur Zeit der Kirschblüte bin ich gespannt.“

„Wir fahren am einundzwanzigsten März“, sagte Vater. „Eisuke und seine Frau freuen sich. Sie werden uns Zimmer mieten in einer Pension nicht weit von ihnen entfernt. Denn das Appartement, das sie bewohnen, ist natürlich sehr klein. Kein Platz für Gäste.“

Wir nickten alle. Tokio war immens dicht bevölkert, die Mieten sehr hoch. Mein Bruder Eisuke arbeitete als Ingenieur in einem Zulieferbetrieb von Toshiba im Stadtteil Suidobashi. Seine Frau Tama hatte eine Stelle als Sekretärin in derselben Firma. Beide verdienten gut. Dennoch war es für sie finanziell ratsam, sich auf eine winzige bescheidene Ein-Zimmer-Wohnung zu beschränken, solange sie in Tokio lebten.

Wir wollten dieses Jahr alle gemeinsam das Kirschblütenfest in der Hauptstadt feiern. Es würde unser erster Besuch bei Eisuke und Tama sein. Kazumi freute sich schon sehr darauf, ihren ältesten Bruder wiederzusehen und die glitzernde riesige Stadt. Sie sah in ihr wohl einen gigantischen Abenteuerspielplatz. Unbedingt wollte sie einmal eines der riesigen Game-Center besuchen und dort ein Kuscheltier mit einem UFO-Greifer fischen. Schon beim Gedanken an den schrillen Lärm und den knallbunten Wahnsinn eines Game-Centers würden sich bei meiner Großmutter die Nackenhaare sträuben.