Tunisian Yankee - Cécile Oumhani - E-Book

Tunisian Yankee E-Book

Cécile Oumhani

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Beschreibung

Wer ist dieser elegante Soldat mit den dunklen Augen, dem bronzebraunen Teint, den es im Herbst 1917 an Bord eines amerikanischen Truppendampfers nach Saint-Nazaire verschlägt – und den sie "sand nigger" schimpfen? Erst 1912 war er aus Tunis nach New York emigriert, der junge Daoud – aus Protest gegen die Repressalien des französischen Kolonialregimes und seinen Vater, den patriarchalischen Familientyrannen. Im boomenden Einwanderer-Stadtteil Little Syria träumt er mit seiner Elena von einer besseren Zukunft, einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Doch die Träume des jungen Migranten geraten ins Getriebe der Weltgeschichte. Juni 1918: Während Darwood, wie er von seinen Kameraden genannt wird, zwischen Wach- und Fieberträumen auf seiner Pritsche im Lazarett nördlich Paris mit einer schweren Kriegsverletzung ringt, ziehen Bilder seiner Vergangenheit an ihm vorbei, tauchen Frauen und Städte aus dem Nebel seines Deliriums auf: Elena und Nora, die italienische Akrobatin aus Palermo, die seine erste große Liebe wird, seine Mutter Zoulikha, an die er rätselhafterweise keine Erinnerung hat, Mouldia, die schwarze Sklavin der Familie, die ihn aufgezogen hat. In ihrem preisgekrönten Roman, der bis 1850 zurück- und tief ins subsaharische Afrika hineinreicht, greift Cécile Oumhani mit der ihr eigenen poetischen Empathie, in einer Sprache von eindringlicher Bildhaftigkeit, Themen auf, die heute erneut von großer Bri­sanz sind: der allgegenwärtige Rassismus, Menschenhandel und Emigration, Fragen der kulturellen Identität und der weiblichen Emanzipation. Nur wenige Wochen vor dem Amtsantritt Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika erschienen, erinnert Tunisian Yankee gerade zur rechten Zeit daran, dass es mitten in New York einmal ein äußerst vitales, pulsierendes orientalisches Viertel gab, dessen Bewohner nicht unerheblich zur kulturellen und intellektuellen Vielfalt der Stadt beitrugen.

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Cécile Oumhani Tunisian Yankee

Cécile Oumhani

TUNISIAN YANKEE

Roman

Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe

Osburg Verlag

Titel der französischen Originalausgabe:

Tunisian Yankee

Copyright © Editions Elyzad, 2016.

Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis

zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher

Übersetzungen e. V. für ein Arbeitsstipendium,

das vom Ministerium für Wissenschaft,

Forschung und Kunst Baden-Württemberg

ermöglicht wurde.

Erste Auflage 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe

Osburg Verlag Hamburg 2018

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des

öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Umschlaggestaltung: Héla Chelli, Tunis

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-164-0

eISBN 978-3-95510-173-2

Für Brahim

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

On wind he walks, and in wind

he knows himself. There is no ceiling for the wind,

no home for the wind. Wind is the compass

of the stranger’s North.

He says: I am from there, I am from here,

but I am neither there nor here.

I have two names which meet and part …

I have two languages, but I have long forgotten

which is the language of my dreams.

Mahmud Darwisch

(Aus: Farewell, für Edward Saïd)

Winter 1917. Ein Feldlager der amerikanischen Armee unweit Saint-Nazaire.

Der Raureif auf dem Blattwerk der Bäume hat ihn schon früh am Morgen geblendet. Er reflektierte das Licht, das der eisige Nebel in gierigen Schlucken verschlungen hatte. Es sind ihrer viele, die zur Kantine hasten, es kaum erwarten können, sich mit einem Heißgetränk aufzuwärmen. Er reibt sich die geröteten Finger, während er darauf wartet, dass er an die Reihe kommt. Hinter ihm schubst und drängelt jemand … Aber das passiert so oft. Gedankenverloren steuert er, in beiden Händen seine Tasse haltend, den Tisch an. Ohne weiter auf das Geklapper der Gedecke oder das Stimmgewirr zu achten. Auch die schweren Schritte, die ihm folgen, nimmt er nicht wahr. Bis ganz nah eine Stimme schrillt:

»You, sand-nigger!«

Seine Ohren dröhnen. Ein Schleier verdunkelt ihm den Blick.

Sandneger … Kaum hat er den Sinn des Wortes erfasst, detoniert es tausendfach.

Sandneger … Von überall prallen Kugeln gegen seinen Schädel. Ein Spiegel zerschellt in zahllose Splitter.

Die beiden Frauen hinter dem Tresen reißen die Augen auf. Die Jungs scheren aus der Warteschlange aus. Ein dichter Kreis zieht sich um ihn zur Schlinge zusammen. Alle grinsen gespannt. Bloß nicht eine Sekunde der Schlägerei verpassen, die gleich losbrechen wird.

»Nein, hör auf, Dawood! Du weißt doch, dass das nichts bringt.«

Vincenzo ist aufgesprungen. Seine Finger graben sich in seinen Arm. Krallen sich fest.

»Verflucht! Lass mich los! Das kannst du nicht verstehen.«

Der lange Mann mit der eleganten Figur reißt sich mit einem Satz los. Seine dunklen Augen, normalerweise von sanftem Ausdruck, schleudern Blitze. Er schnellt auf den Muskelprotz zu, der sich vor ihm aufgebaut hat und vor Erregung bebt, dass es gleich zur Sache geht.

Der heiße Kakao steht schon auf dem Tisch, gegenüber Vincenzos Kaffeetasse. Das umgestoßene Getränk tropft auf den Fußboden.

»Komm nur näher, wenn du dich traust, sand-nigger!«

Smuts spuckt die Silben förmlich aus. Sie zischen ihm über die Lippen. Verächtlich mustert er Dawood. Seine fahle, verzerrte Miene leuchtet starr auf.

Wie von Sinnen wirft sich Dawood auf seinen Angreifer. Sein Käppi segelt zwischen den Tischen zu Boden. Die Arroganz dieses Kinns zertrümmern, die Verachtung, die aus ihm quillt! Für den ist er also weiter nichts als Staub. Aber er atmet doch, er existiert, ob es dem anderen nun gefällt oder nicht. Ja, er existiert, und er denkt. Selbst wenn man ihm überall, wo er bisher war, nur mit kruder Ablehnung begegnet ist. Und er wird weiterhin den Kopf hochhalten, ganz gleich, was passiert. Das wird er tun, egal um welchen Preis. Er wird diesen ganzen verdammten Planeten durchqueren, über Berg und Tal, bis er irgendwo einen Flecken Erde findet, wo er sich niederlassen und sich einen Platz an der Sonne einrichten kann …

Der andere, der mit keinem derart wuchtigen Konter gerechnet hat, kriegt den ersten Hieb voll aufs Kinn. Er krümmt sich, als ihn ein zweiter Hieb erwischt, der ihn in der Magengrube trifft. Dann aber schnellt er vor und boxt mit aller Macht auf Dawood ein, wobei er menschenunähnliche Grunztöne ausstößt.

Vincenzo läuft wild gestikulierend, mit hochgerissenen Armen, um sie herum, bettelt und fleht, aber vergeblich. Der wendige kleine Italiener muss den Rückzug antreten.

Auf Dawoods Lippen breitet sich eine dickliche, salzig schmeckende Flüssigkeit aus. Ein dunkelroter Schirm verschleiert ihm den Blick. Die Szenerie löst sich auf. Für wie lange? Wüsste er nicht zu sagen. Hände greifen nach ihm, bis er sich nicht mehr rühren kann, drücken ihn zu Boden. Die Ungerechtigkeit lässt sein Blut vehement pulsieren, in großen, brennenden Schüben schießt es durch seine Adern. Er möchte Worte artikulieren, sich verständlich machen. Das alles nur wegen eines Kakaos! Ich hätte ihn vorlassen sollen. Ganz einfach, weil er ein Weißer ist …

Der hat mich doch absichtlich geschubst. Das hat er mit Absicht getan, genau in dem Moment, in dem ich meine Tasse abgestellt habe. Er hat mich mit dem Ellenbogen geschubst. Weil ich für ihn … weil … Die Militärpolizei hat ihm Handschellen angelegt. Smuts wischt sich das Gesicht ab, zupft seine Uniformjacke zurecht und dankt allen, die sich nach seinem Befinden erkundigen.

Im Herbst, im Hafen von Saint-Nazaire.

Er lehnt an der Reling und betrachtet die weiße Lichterkette, auf der die Vögel sich zu Hunderten die Kehle aus dem Leib schreien. Er schwankt, nahezu betäubt vom Gekreisch der Riesenmöwen, das von den grauen Hauswänden zurückprallt. Auf den Kais ist eine dichte Menschenmenge versammelt. Das Heulen des Nebelhorns dringt tief in seinen Brustkorb ein. Man hat ihm eine Uniform verpasst, die viel zu weit für ihn ist. Er mag ja hochgewachsen sein, aber er war immer sehr schlank. Er lässt seinen braunen Blick ins Leere gleiten, die Finger auf der Ledertasche, in der er seine Briefe aufbewahrt, einen grünen Stofffisch, bestickt mit rotem Garn, und einen Zweig getrockneten Rosmarins, Talismane, die ebenso kostbar sind wie die Bilder, die in seinem Gedächtnis durcheinanderpurzeln.

Wann wird er die Stadt wiedersehen, in der er endlich Wurzeln geschlagen zu haben glaubte? Die lange Reihe hochragender Wolkenkratzer, die sich bei Windstille im Meer spiegeln, ständig muss er daran denken. Oder ist es nur ein Traum, diese auf der Wasseroberfläche tanzenden Reflexe? Ihm kommen Tränen, wenn er zurückdenkt an den Anblick, der sich einem von Ellis Island aus bot. Beinahe sechs Jahre ist das jetzt her. Ein Stück Erde, auf dem er gerade begonnen hatte, seinen Weg zu gehen, sich eben erst befreit hatte von der Vergangenheit, die ihm auf den Fersen war. Wann wird er dorthin zurückkehren? Nach dem Krieg … Falls er dann noch am Leben sein sollte. Und wird er die Dinge dann am selben Punkt fortsetzen können, an dem er sie zurückgelassen hat, unfertig, gerade mal angerissen?

Die ersten Wochen im Lager wollten schier kein Ende mehr nehmen.

Und wie ihn der Krieg verfolgt hat … Von der anderen Seite des Atlantiks bis zu diesem Trainingslager in der hintersten französischen Provinz. Bau von Schützengräben, Übungsangriffe mit Granate und Bajonett, Nachtmärsche, Einweisung in den Gebrauch von Gasmasken unter Einsatz von Chlor … Und Sprungübungen, die was von Zirkusakrobatik hatten. Und die ihm den Magen umdrehten.

Ab und zu gibt es Ausgang, Zum nächsten Dorfcafé. Sich nicht ständig von den anderen absondern … Denn er muss unbedingt einen neuen Zwischenfall vermeiden, ob nun mit Smuts oder einem anderen. Die Sanktion war so etwas von ungerecht gewesen. Denn ihn, nicht den anderen hatte man vierzehn Tage lang in den Arrest gesteckt.

Er tritt über die Schwelle des vom Tabaksqualm verdunkelten Raums, wie erschlagen von diesem Kneipenlärm, in dem die Stimmen durcheinanderschwirren, gegeneinanderstoßen. Und bis hoch unter die Decke steigen, bis tief in die Nacht, und zuletzt im seltsamen Plätschern der Eingeweide des Riesen zerschmelzen, der sie verschlungen hat, zusammen mit den Humpen Bier und Krügen Wein, die die Besitzerin, eine wackere Frau, deren Wangen von einem Netz geplatzter Äderchen durchzogen sind, ihnen bis in die frühen Morgenstunden hinein serviert, ohne sich groß bitten zu lassen. Kaum nimmt sie sich die Zeit, ihre dicklichen Handflächen an ihrer verblichenen Schürze abzuwischen.

»Was darf es für dich sein, mein Süßer? Und was machst du nur immer für ein komisches Gesicht!«

Verwirrt von so viel Klarsicht, stammelt er ein paar Worte, bevor er das Glas an die Lippen hebt, es kaum abwarten könnend, dass endlich das Vergessen durch seine Adern rinnt, heiß wie Wasser in der glühenden Sommersonne. Und zum Teufel damit, was für ein Gesicht er angeblich oder tatsächlich macht oder hat, aus welchen Gründen auch immer …

Diese Männer für sich allein sind schon Babel, einstmals aus aller Herren Länder an den Hafenkais von New York gestrandet, sie, ihre Eltern oder Großeltern, ein jeder mit seiner Sprache, seinem Knust Hoffnung, seinem Knust Traum. Wenn es von den ersten Tagen an Beleidigungen gehagelt hat, dann bei Weitem nicht nur gegen ihn … Jetzt mach aber mal Platz, du blöder Itaker. Hau ab, du Kanake … Er schluckt mit verkniffenen Kiefern die Anwürfe hinunter, die Fäuste fest in den Tiefen seiner Taschen verwahrt. Nein, bloß nie wieder im Arrest landen, nur weil er seine Ehre im Alleingang wiederherstellen musste. Denn in den Augen seiner Vorgesetzten konnte von Beleidigung nicht die Rede sein.

Juni 1918. Eine Straße im Département Oise.

Auf dem letzten Loch pfeifend, rattert und keucht der Konvoi über die holprige Straße, bis er schließlich mit kreischenden Bremsen und quietschenden Achsen am Rande eines ins Dunkel der Nacht gehüllten Dorfes zum Stehen kommt. Seitwärts erstrecken sich einige fensterlose, gedrungene Bauten, deren Konturen er kaum erkennen kann.

»Los, alle Mann aussteigen!«

»Wird aber auch Zeit! Na, dann wollen wir diesen Boches mal eine gehörige Abreibung verpassen«, knurrt Alex.

Ein ungehobeltes Raubein, dieser Kerl, geprägt von der sibirischen Kälte der Prärien des Mittleren Westens. Aber sein Spruch trifft voll ins Schwarze. Lodert auf wie die Zündschnur eines Feuerwerkskörpers und setzt Kaskaden glühender Kriegslust in Brand. Man nickt, man stimmt zu, schreit im Tohuwabohu der nächtlichen Ankunft fidel durcheinander.

Dawood hält sich abseits. Es liegt ihm fern, einen Kommentar zu Alex’ Sprüchen abzugeben. Zögernd, beinahe schüchtern, tut Vincenzo ein paar Schritte auf ihn zu.

»Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir hier sind?«

Dawood schüttelt, verdrießlich dreinblickend, den Kopf. Er wüsste ebenso wenig wie seine Kameraden zu sagen, wo auf der Landkarte sich diese in Finsternis gehüllte Erdscholle befindet, an der sie gelandet sind.

»Dabei kennst du Afrika und Europa, du bist doch überall herumgekommen. Nicht so wie ich. Außer der Lower East Side habe ich nichts von der Welt gesehen.«

Und schon holen seine Gedanken ihn wieder ein. Seine Kehle schnürt sich zusammen. Er hört Vincenzo nicht mehr zu. New York … Elena … Wie oft hatte er sie nicht abends nach der Arbeit nach Hause begleitet, als sie noch in der Elizabeth Street lebte … Arm in Arm überquerten sie die Mulberry Street, auf der sich die Gefährte der Straßenhändler drängten. Man musste sich an der flotten Lippe der jungen Männer in Hemdsärmeln und Melone vorüberdrücken, an den Matronen, die mit prallgefüllten Einkaufskörben oder vollgestopften Schürzentaschen auf dem Heimweg waren. Damals wohnte er noch in der Washington Street, die zur Lower West Side gehörte, nur wenige Straßen von dort entfernt. Und wieder sieht er den Schal in diesem Schaufenster vor sich, und Elena, die sich an ihn schmiegt, erschöpft nach einem langen Arbeitstag. Und sich selbst, wie er diesen purpurroten Stoff anstarrte, fasziniert und perplex, der in elegantem Faltenwurf zu Boden fiel. Wie angenagelt stand er da, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, überwältigt von dem, was er ihr nicht zu erklären vermochte. Er begnügte sich damit, ihn zu bewundern, und unterdrückte die in ihm aufsteigenden Gefühle. Sie hatten das Geschäft nicht betreten. Der Preis dürfte außer Reichweite sein.

Wenn man Vincenzo einmal auf das Thema Elizabeth Street gebracht hat, ist er nicht mehr zu bremsen.

»Es ist wirklich zu eng für uns in diesen beiden Zimmern. Und so, wie sie liegen, kommt nie ein Sonnenstrahl zum Fenster herein. Wenn ich nur irgendwo anders etwas finden könnte … Antonia ist schwanger. Und bei all dem herrscht bei uns einfach eine fabelhafte Stimmung.«

Dawood nickt zerstreut.

»Die scheinen sich ja auch prächtig zu amüsieren, da vorn im Hof.«

Dawood hört ihn schon nicht mehr. Oder doch, schon, er könnte auswendig all die Sätze wiederholen, die an ihm abperlen wie Märzenregen an einem Wachstuch. New York. Der Faltenwurf eines roten, flauschigen Stoffes. Derart präsent, als schwebe dessen Wollgeruch direkt vor seiner Nase. Sich in dieses Tuch einwickeln und dann nichts wie weg von hier …

»Hast du ’ne Ahnung, wohin sie uns bringen?«, fragt Vincenzo nun schon zum zweiten oder dritten Mal.

Dawood bleibt still. Was könnte er groß antworten? Er blickt sich suchend um, bemüht, in diesem Kaff im französischen Hinterland einen Hinweis, irgendeinen, zu entdecken. Ach! Wenn der Krieg sich doch für alle Zeiten ans Ende der Welt verdrücken wollte! An den von ihrem Leben und ihren Plänen am weitesten entfernten Punkt …

»Nicht den leisesten Schimmer, kleiner Bruder.«

Erst hier, dann dort schreien die Leutnants, die ihre Befehle erteilen, sich die Stimmen heiser. Sie weisen den Mannschaften im Eilverfahren ihre Plätze in den Hofgebäuden zu.

Und schon hebt das phantasmagorische Ballett der Silhouetten und der an ausgestreckten Armen schwankenden Sturmlaternen an. Die Soldaten tragen ihren Entwurf der Großen Geschichte in fluider, beweglicher Hell-Dunkel-Manier auf die verputzten Fassaden auf. Kaum haben sie in den Scheunen Quartier bezogen, erlischt das Schattenbild, aufgesogen von der Finsternis, in der nur mehr die Deckflügel unsichtbarer Sommerfrischler surren, den Tragödien der Menschen gegenüber gleichgültig.

Eine klägliche Portion Büchsenfleisch, dazu eine Scheibe altbackenen Brots. Zu spät, um die Spirituskocher anzuwerfen. Dawood löscht das Feuer mit kräftigen Schlucken, die er abzweigt von seiner jüngsten Wasserration. Die von Speck durchzogenen Fasern des Corned Beef lösen sich unter seinem ausgehungerten Gaumen schnell auf.

Detonationen hallen wider, von der Frontlinie her, zerreißen hier und da das dichte Gewebe der Nacht. Nicht oft genug, um die Gespräche versiegen zu lassen. Oder kommen diese dadurch erst recht in Gang, aus dem Bedürfnis, den Gefechtslärm zu überdecken? Den Moment, an dem es losgeht, noch ein wenig hinauszuzögern …

»Das hier sind meine Alten vor einem Jahr!«

Das Familienfoto macht die Runde. Jakes Eltern haben für diesen Anlass eigens frische Sachen angezogen. Das Paar, das mit kerzengeradem Rücken auf der Veranda des Holzhauses sitzt, stellt voll Stolz seine protestantische Genügsamkeit zur Schau. Nicht der leiseste Anflug eines Lächelns. Mit leuchtenden Augen bieten sie allem, was die Zukunft für sie bereithalten mag, die Stirn. Dann folgt das Porträt einer jungen Frau. Ein paar blonde Locken haben sich aus ihrem Knoten gelöst und fließen auf ihre runden Wangen herab. Der cremefarbene Stoff ihres Bubikragens lässt ihr Lächeln noch schwelgerischer erscheinen.

»Wo hast du die denn aufgetrieben? Mensch, du bist ja ein echter Glückspilz!«

Jake errötet und verstaut die beiden Fotos mit Sorgfalt in seiner Tasche.

»Wenn ich wieder zurück bin, wollen wir heiraten.«

Hier die Reliquie einer verlorenen Welt, dort ein Umschlag mit blauen Tintenschriftzügen. Jeder holt seinen persönlichen Talisman hervor. Die innigsten Beweise einer Liebe vorzeigen, sie mit anderen teilen, das gibt Kraft … Kerzen und Taschenlampen kitzeln über den zusammengesteckten Köpfen die Lust aufs Leben heraus, die sich in der Tiefe der glühenden Blicke versteckt. Smuts und seine Kumpane sitzen am anderen Ende der Scheune zusammen und lachen schallend. Über wen oder was, Dawood will es lieber erst gar nicht wissen. Er verkrampft sich … Nein, er wird Elenas Foto nicht aus seiner Brieftasche holen.

Vincenzo hält sich abseits der Runde. Nicht, weil er nicht versucht hätte, sich am Gespräch zu beteiligen. Keiner hört ihm zu. Wie eine Schnecke zieht er seine Fühler ein und verkriecht sich ins Innere seines Gehäuses. Die Finger fest um den Griff seines Messers geklammert, bearbeitet er methodisch ein Baguette, das er vorhin irgendwo aufgelesen hatte. Fast hat er es ganz von seiner Kruste befreit, da rutscht ihm die Klinge ab. Er zuckt zusammen, presst den Daumen gegen den Zeigefinger, um das Blut zu stillen, das zäh und schwarzdunkel aus seinem Finger quillt. Ungeschickt wie so manchmal die Kinder, denkt Dawood.

»Hier, da hast du mein Taschentuch«, ruft er ihm zu. »Du musst drücken und pressen, so fest du nur kannst.«

Sie wenden sich von der Gruppe ab, die sich langsam auflöst. Und Vincenzo zeigt ihm das Foto von Antonia. Ein blutjunges Mädchen, möchte man meinen, so feingliedrig, wie sie ist.

»Ihr seid beide ungeheuer jung.«

Vincenzo beginnt zu strahlen.

»Inzwischen hat sie vielleicht schon unser Baby zur Welt gebracht. Es sollte Anfang Mai kommen«, erklärt er flüsternd.

Dann fährt er fort:

»Aber du? Du erzählst mir nie irgendetwas über dich oder Elena.«

Mit einer Handbewegung verweist ihn Dawood in das Schweigen des Halbdunkels zurück.

»Ach, das wäre viel zu lang zu erklären, und außerdem ist es nicht besonders interessant.«

»Aber ja doch, erzähl doch ein wenig …«

Dawood richtet sich auf. Irgendetwas muss er erfinden. Ja, eine Art Deckel finden, unter dem er alles Übrige verschwinden lassen kann, all das, was ihm so schwer in seinem leeren Magen liegt. Er atmet tief ein, verscheucht die Schatten, die auf seine Stimme drücken.

»Na schön, also, wenn ich wieder zurück bin, dann will ich mit Elena und der Kleinen mal nach Coney Island, in den Vergnügungspark. Sie träumt davon, seit ein Mädel aus ihrem Atelier einmal dort war. Und da würde ich dann gern die Reise zum Mond mitmachen. Es scheint, dass das Luftschiff bis zu dreißig Personen aufnehmen kann.«

»Was ist denn ein Luftschiff?«

»Ein Gefährt, mit dem man im Raum reisen kann. Ich habe ein Bild von dem aus Coney Island gesehen. Sieht aus wie ein riesiges Insekt mit Flügeln.«

Die Gespräche verlöschen nach und nach, hin zum Pianissimo eines kaum hörbaren Basses, bis sie sämtlich eingeschlafen sind, zu Tode erschöpft von dieser Expedition. Ihm kriecht die Feuchtigkeit des gestampften Lehmbodens in die Knochen. Fledermäuse hängen mit gefalteten Flügeln oben im Gebälk. Kleine Nager scharren in ihrem Versteck. Gegen seinen Tornister gelehnt, sich im Stroh zusammenkauernd, versinkt Dawood in traumlosen Schlaf. Ein schriller Klagelaut entreißt ihn seiner Amnesie. Nein, das ist weder die Stimme von Alex, noch die von Vincenzo. Das Stöhnen wird schwächer, verstummt schließlich ganz. Flüchtige Bilder ziehen durch ihn hindurch, mit dem Türkis des Meeres als Kontrapunkt. Grell lässt die Sonne das Weiß der Gebäude aufstrahlen, bevor sie hinter den Horizont sinkt, alsbald vom Geblubber des Unterbewusstseins verschluckt. Eine alte Frau bückt sich mit schmerzsteifen Gliedern am Saum seiner Träume, hebt ein Stück zinnoberroten Stoffes auf, nimmt es an sich und humpelt davon. Also ist sie doch da, die vertraute Gestalt, an seiner Seite. Wie sie ihm fehlt … Und so schnell wieder in den Strom der Nacht abtaucht, von dem er sich treiben lässt.

Bläuliche Strahlen huschen über die Felder. Der Tag gewährt schonungslos Einblick ins nahende Verhängnis. Das Licht, das bereits grell von Osten her scheint, fällt durch demolierte Fenster. In aufgerissenen Giebeln flattern Fetzen von geblümten Tapeten. Kamingesimse klammern sich auf halber Strecke zwischen dem von Trümmern übersäten Boden und dem Wipfel eines zerschrammten Baums an den Wänden fest. Dawoods Blick bleibt am Gerippe eines Kinderwagens hängen.

Die Männer versammeln sich um die Überreste vom Dorfplatz. Der Brunnen, obschon zur Hälfte eingestürzt, murmelt gleichwohl beschwörend den Ruinen zu, dass sich nichts geändert habe. Ein feiner Strahl plätschert keck in Feldbecher, bis sie überlaufen, und erfrischt ausgedörrte Kehlen. Im moosüberwucherten Becken wäscht Dawood sich den aschfarbenen Film von der Haut, der sein Gesicht verkrustet und ihm auf den Handrücken brennt, eine dicke Staubschicht von zwanzigstündiger Fahrt ihres Konvois über holprige Straßen.

Nicht ein einziger Laster mehr in Sicht. Mit ihren schwankenden Aufbauten waren sie in Gegenrichtung davongerumpelt, bevor sie unter dumpfem Knirschen am Horizont verschwanden. Und kein einziges Pferde- oder Maultiergespann weit und breit. Die Männer müssen zu Fuß weiter.

»Jetzt können sie uns wie die Karnickel abknallen«, schimpft Dawood vor sich hin. »Wie es ihnen gerade passt! Sie müssen nur richtig zielen.«

Garantiert liegen die gegnerischen Soldaten längst zwischen den Hängen und Hügeln im Hinterhalt. Ihre Linien befinden sich ihnen genau gegenüber, aber ihren Vorgesetzten ist das egal. Die strahlende Schönheit der Junilandschaft erweckt den Anschein einer Falle. Wir werden alle hineinplumpsen wie die Fliegen. Und nicht einer von uns wird ihnen entkommen.

Mit umgehängtem Gewehr, den Tornister fest auf die Schultern geschnallt, kämpft sich Dawood querfeldein voran, dicht hinter ihm Alex.

»Verfluchter Krieg! Auch wenn wir uns wie die Sardinen in ihren Lastwagen drängten … Immer noch besser als hier durch die Hitze zu stapfen.«

Alex schnauft, spuckt aus und meckert drauflos, ob ihm nun einer zuhört oder nicht.

Viermal in Folge zerschneidet das Jaulen einer Granate den azurblauen Himmel, kulminiert am Zenit und schlägt, nur ein paar Dutzend Meter entfernt, vor ihnen ein. Vincenzo tropft der Schweiß von der Stirn. Er stolpert verschreckt über einen Baumstrunk und verliert das Gleichgewicht.

»Ey, du Motherfucker, kannst du nicht aufpassen? Schon wieder du! Ein echter Trottel bist du! Kommt davon, wenn man immer nur Spaghetti frisst …«

Dawood richtet sich auf, bereit zuzuschlagen. Ein Blitz züngelt in seinem Blick.

»Lass Vincenzo gefälligst in Ruhe. Sonst kriegst du es mit mir zu tun!«

Vincenzo, am Rand der Erschöpfung, mit verrutschtem Helm auf der Stirn, mischt sich ein.

»Lass gut sein, Dawood. Fang nicht schon wieder an, das lohnt sich doch gar nicht.«

Dawood ballt seine hitzefeuchten Fäuste. Selbst kurz vorm Krepieren, sie alle am Rande des Grabes, werden die sich niemals ändern. Verärgert verpasst er einem großen Stein, der mitten auf dem Weg liegt, einen Fußtritt.

Ganz vorn, am Ende des Tunnels aus wucherndem Grün, zeichnet sich ein blauer Durchbruch ab. Die Kolonnenspitze stiebt jäh auseinander. Alles wirft sich zu Boden, während ein furchtbares Fauchen ertönt. Gewaltige Flammengarben, größer als jeder Mensch, schießen hoch und kommen auf sie zugewalzt, während das Getacker der französischen und deutschen Artillerie vorn in den Hügeln schier ohne Unterbrechung weitergeht.

»Jetzt haben wir den Schlamassel.«

Ein Stromstoß durchzuckt ihn, von der Kopfhaut bis hinunter zu den Zehenspitzen.

»Kommt er davon? Kommt er nicht davon?«

Er verschluckt sich an einem Mundvoll lauwarmer Flüssigkeit, als ein Feuerhagel, vermischt mit Schotter und Metallsplittern, auf sie niederprasselt und sie zu Boden wirft, nicht anders, als wären sie Streichhölzer. Minuten verstreichen, ehe sie es wagen, sich wieder aufzurichten, noch torkelnd vor Benommenheit. Ein paar Schritte entfernt liegt Alex, das Gesicht aufgeschlitzt. Sein rechtes Auge starrt ins Leere, weit aufgerissen. Das linke schwimmt in einem scheußlichen Brei blutiger Fleischfetzen. Auf Anhieb getötet. Die Verletzten stöhnen, unfähig, sich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu rühren. Jake, der vorgestern noch so fröhlich war, so gestrahlt hatte, als er ihnen das Foto seiner Eltern, seiner Verlobten zeigte. Zwischen zwei Schluchzern erklärt er ihnen jetzt, dass er in der rechten Brusttasche seines Hemds einen Brief aufbewahrt. Seine Energie schwindet so schnell dahin wie das Blut, das aus seinem zerfetzten Bein quillt.

Vincenzo, der sich an einem Baum abstützt, schüttelt sich und kotzt sich die Eingeweide aus dem Leib.

Der Trupp wird auf den Hochwald verteilt, wo die Männer eilends Schützenlöcher ausheben. Dawood reißt mit bloßen Fäusten die Brombeerranken heraus, gräbt und wühlt, sticht und haut nieder, bis tief unter die rostrote Schicht des vermodernden Laubs. Mit Bajonetthieben zerteilt er die Wurzeln. Sein Arm zuckt zurück, wenn die Klinge hier und da auf Felsgestein stößt. Der Humus schwärzt ihm die Fingernägel.

Er wischt sich die Stirn ab. Um die Nähte seiner braunen Uniformärmel wachsen dunkle Ränder. Er wird die Bilder von vorhin nicht mehr los. Sie bleiben an jeder seiner Bewegungen kleben. Endlos schiebt sich die Ansicht verstümmelter Leichen über die Eichenstämme und all die Naturschönheit ringsum. Er würde auch gern loskotzen können.

Eine Feuerpause gewährt ihnen ein wenig Aufschub. Der Geruch der frisch umgegrabenen Erde vermischt sich mit dem des Gerölls und der wächsernen Pflanzenstümpfe, aus denen klebrig-weiße Flüssigkeit quillt. Dawoods Blick streift die Bäume, die krallenbewehrte Arme gen Himmel recken. Noch eine oder zwei solcher Explosionen, und die Wände ihrer notdürftigen Unterstände dürften einstürzen und sie unter sich begraben … Stundenlang ist sein Trommelfell wie betäubt vom Getöse der Kriegsmaschinerie. Ihn verfolgt das Echo des Jammerns der Verletzten. Kaum dass er eindöst, scheinen die zerfetzten Gesichtszüge von Alex hinter seinen Lidern auf.

Ausgeschlossen, jetzt einen von Elenas Briefen zu lesen, wie im Feldlager. All das ist auf einen anderen Planeten verbannt. Jedes Blatt, das sie für ihn in einen Umschlag hatte gleiten lassen, war ein kleines Stück von ihr, war das Unterpfand, dass sie am Leben war und auf seine Rückkehr wartete. Ihm war, als würde er sie gleich berühren, seinen Arm um ihre Taille schlingen können. Er sah sie vor sich, am Tischchen neben dem Herd, in ihrer winzigen Wohnung in der Rector Street. Das Kaffeewasser summte vor sich hin, während sie ihr Kinn versonnen in der Handfläche ruhen ließ.

Aber die Frontlinie hatte alles bis auf den letzten Millimeter verschlungen, den geheimen Raum zunichte gemacht, in den er sich flüchtete, bevor er sich wieder unter die anderen mengte. Wo er das, was er war, ständig verteidigen musste, mit Zähnen und Klauen, seine Wut und alle Erniedrigungen wegstecken, um nicht zu explodieren. Und dabei noch versuchen, sich zu behaupten. Bisher jedenfalls … Aber der gestrige Tag hat genügt, ihn in einen Zustand der Schockstarre zu versetzen, in dem er, gleichsam unter Gedächtnisverlust, Befehle ausführt und sich auf die zugewiesene Arbeit stürzt, mechanisch wie eine Puppe, deren Schlüssel man bis zum Anschlag aufgezogen hatte. Unmöglich, das Geschehene gedanklich heraufzubeschwören.

Aufhören zu denken … Alles auslöschen, selbst noch den eigenen Namen …

Denn er muss die Schreie vergessen und die Angst, wenn die Wolken den Tod ausschütten, wenn Eingeweide am hellen Mittag gen Himmel klaffen und Mückenschwärme sich gierig darauf stürzen.

Aufhören zu denken … War es gestern oder heute? Die Opfer? Armselige Strohhalme, fortgeblasen mitsamt ihren Hoffnungen und Ängsten. Schaufeln voller Erde.

Aufhören zu denken … Sie bewegen sich auf schmalen Pfaden am Saum des Tannendickichts voran oder quer durch lichten Hochwald. Rollen sich nachts in ihren erbärmlichen Schlupflöchern ein.

Seine Uniform klebt ihm an der Haut. Wie lange ist das jetzt her, dass er sie nicht ausgezogen hat? Sich wenigstens einmal wieder waschen können, seinen Körper fühlen, befreit von dieser dreckstarrenden Kleidung. Das leiseste Jucken erfüllt ihn mit banger Unruhe. Ist es Ungeziefer? Und Alex … Dieser robuste Bauer, der die Eiseskälte so gut wie die Gluthitze der Prärie wegstecken konnte. Hat schon den ersten Angriff nicht überlebt. Ein bloßes Gerippe, kaum widerstandsfähiger als eine vom Stein zertrümmerte Muschel. Nichts anderes sind wir als Nussschalen … Wie ihm der herbe Duft von Alex’ Lieblingstabak fehlt. Seine gelbverfärbten Finger krümmten sich über seiner Zigarette zusammen, um sie vor dem Luftzug zu schützen.

Es muss so vier oder fünf Uhr nachmittags sein, als sie aus dem Hochwald heraustreten. Das goldgelbe, erntereife Getreide erstreckt sich sanft wogend bis zum nächsten Forst, der sich zweihundert Meter entfernt den Hügel emporzieht. Dort stehen die Bäume üppig belaubt in dichten Tuffs, in einer endlosen Skala von Grüntönen. Ein besseres Bollwerk hätte der Feind nicht errichten können.

Der Leutnant lässt seinen Trupp antreten und brüllt: »Vorwärts, marsch!« Schneidend scharf, der Befehl. Eine gehärtete Stahlklinge, die über ihren Schädeldecken niedergeht …

Dawoods Blick fällt auf den blühenden Klatschmohn am Wegesrand. Das Bild prägt sich ihm ein, losgelöst von allem. Feine knittrige Roben von derart intensivem Rot, dass nichts und niemand sie je würde beflecken können, es sei denn, man würde die Blüten zerreiben. Elena hat Blumen gern … Silben, die er im Rhythmus seines Herzschlags, der gerade verrücktspielt, skandiert.

Die Luft ist voller Sirren. Insekten, möchte man meinen. Hummeln … Nein, Hornissen. Es wuselt und brummt von allen Seiten. Die Luft explodiert in lauter Stücke. Mehrere Kameraden gerade gegenüber von ihm … Schmächtige Formen, hoch über die Weizenfelder geschleudert.

»In Deckung, in Deckung, was ist los mit euch, ihr Idioten?«

Er wirft sich flach zu Boden. Wenige Schritte entfernt windet und krümmt sich ein Soldat. Es röchelt und pfeift in seinem Brustkorb. Dawoods Blick bleibt an den braunen Schnürstiefeln haften, die über den Boden scharren. Blutgetränkter Stoff. Wenn sie zum Gegenschlag ansetzen, werden die Maschinengewehre erneut zu spucken beginnen. Schwarze Rauchkränze werden umherwabern und den Himmel ringsum verschlingen.

»Vorwärts!«, bellt die Stimme.

Die zweite Welle von Braunhelmen … Rückenansicht von Vincenzo. Die schmale Silhouette eines Knaben, sagt er sich. Aus dem Gebüsch prasseln ihnen die Geschützsalven der Artillerie entgegen. Das mörderische Spiel geht weiter. Der nächste Schub junger Männer, der umgelegt wird, arme Kegelfiguren auf dem Brett unsichtbarer Spieler. Er erstarrt zu Eis … Fünf Meter vor ihm bricht Vincenzo zusammen. Nein, nicht er. Nicht er … Er schreit … Da ist doch sein Kind. Und er weiß noch nicht mal, ob es schon geboren ist.

Sein Körper denkt an seiner Stelle. Es sind Gedanken, die sich in großen Sprüngen entwickeln, ohne Sätze, ohne Worte. Mitten im Lauf weicht Dawood nach links aus, taub für den Leutnant und dessen Gebrüll. »In Deckung! In Deckung!« Eine Salve zerschmettert die gläsernde Wand zwischen ihm und seinem Freund. »Ich habe gesagt …« Er hört nichts mehr. »Idiot!« Kleine Teufel treiben im Inneren seines Schädels ihr Spiel mit klirrenden Metallkugeln, die umherklackern wie in einem gusseisernen Topf. Feuerzungen lecken an seinen Beinen hoch. Er sträubt sich, legt sich gewaltig ins Zeug. Hin zu Vincenzo, um jeden Preis. Doch der ist aus seinem Blickfeld entschwunden. Aber er muss doch zu ihm, muss ihn suchen. Welch ein Flammenmeer zieht derart an dem Teppich aus Erde, auf dem er zu laufen versucht? Er schleppt sich vorwärts auf brennenden Ellenbogen. Seine Finger wühlen, stoßen auf eine Schuhsohle. »Vincenzo!« Der lang ausgestreckte Körper wird von Spasmen geschüttelt. »Ich bin bei dir!« Mit schweißüberströmtem Gesicht bricht er zusammen.

Wie viele Minuten, bis er wieder zu sich kommt? Das Knattern der Maschinengewehre ist verstummt. Die Abenddämmerung zieht ihr schwarzes Flickentuch übers Land. Nach dem Gemetzel ein Geschrei und Gestöhn auf dem ganzen Gelände. »Dawood, ich hab Durst. Verflucht, was hab ich für einen Durst …« Schluchzer, von Geröchel zerhackt, er bäumt sich auf, schlägt um sich. Und der beißende Geruch des Bluts, unerträglich in der Sommerhitze … Die von Feldsteinen übersäten Getreidestoppeln zerkratzen ihm Hals und Wange. Nicht ein Laut dringt aus seinem Mund. Trinken, und wenn es nur ein paar Schlucke wären. Ich muss ihm zu trinken geben. Seine Finger fummeln am Pfropfen seiner Feldflasche herum. »Vincenzo, ich habe kein Wasser mehr.« Seine Beine sind nichts als eine Ansammlung rohen Fleischs. »Sie werden uns holen kommen. Ganz bestimmt.« Kommen über seine brennenden Lippen verständliche Laute oder ist er im Delirium? Die Welt um ihn herum löst sich in dichtem Nebel auf.

Eine weiche, feste Hand legt sich warm um seinen Hals. Ein dünner Strahl köstlich frischen Wassers rinnt ihm übers Kinn, dann in seinen Mund. Ein Flüstern an seinem Ohr. Sie … Sie