Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Illusionen sind mächtig. Herzen sind eigensinnig. Liebe ist zerbrechlich. Um Arthur zu retten, war Evie zu allem bereit. Sie hat ihre Familie hintergangen, sich ihrem ärgsten Feind angeschlossen und ist mit Rémi eine unheilvolle Verbindung eingegangen. Doch ihrem Glück mit Arthur ist sie keinen Schritt näher gekommen. Verzweifelt begibt sie sich nun auf die Suche nach jenem Ort, von dem Evie hofft, dass er den Schlüssel zur Rettung ihrer Liebe birgt. Um in die Widerwelt zu gelangen, muss Evie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen und gefährliche Geheimnisse lüften. Und wieder ist es ausgerechnet Rémi, der ihr dabei helfen soll – obwohl er selbst doch die größte Gefahr für Evies Herz ist.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Illusionen sind mächtig. Herzen sind eigensinnig. Liebe ist zerbrechlich.
Evie hat Arthur wiedergefunden, doch nicht das Glück, das sie sich mit ihm erhofft hat. Denn auch wenn Rémis Verrat sie tief verletzt hat, fühlt sie sich noch immer zu ihm hingezogen. Und je näher sie einem von beiden kommt, desto mehr droht sie den anderen zu verlieren. In ihrer Verzweiflung klammert sich Evie an eine letzte Hoffnung: Die Widerwelt. Der Ort, an dem sie ihre Liebe zu Arthur retten und Rémi vergessen kann.
Doch auf der Flucht vor den unheimlichen Zeitwächtern bleibt Evie und ihrer Schicksalsfamilie nichts anderes übrig als zunächst auf eine verlassene Insel zu fliehen. Aber die Sireneninsel verbirgt nicht nur überwucherte Gärten und eigensinnige Magie, sondern auch ein Geheimnis, das nie hätte gelüftet werden sollen, und eine Wahrheit, die Evie alles kosten kann.
Eine magische Romantasy – märchenhaft, romantisch und mit faszinierenden Settings
Von Juli Dorne ist bei dtv außerdem lieferbar:
Play of Hearts (Band 1)
Juli Dorne
Band 2
Roman
Für alle, die endlich über ihr eigenes Leben bestimmen.
Und für Christine und Franziska. Ohne euch hätte ich dieses Buch niemals beenden können.
Darf ich dir den Meister der Lügen vorstellen, Evie? Meinen Bruder Rémi.« Diese zwei Sätze treffen mich wie kalte Gischt. Ich zucke zusammen und will das Gefühl, das sie hinterlassen, sofort von mir streichen. Aber sie kleben auf meiner Haut, auf meinem Herz, auf meiner Seele.
Bruder?
Meinen Bruder Rémi. Ich wiederhole Arthurs Worte in meinem Geist, als bekämen sie dadurch eine andere Wirkung, eine andere Wahrheit.
Den Meister der Lügen. Meinen Bruder.
Vergebens. Sie bleiben gleich. Das, was sie bedeuten, und das, was sie mit mir machen. Und trotzdem weigere ich mich, es zu glauben. Vielleicht ist es der Schock, vielleicht aber auch der bitter schmeckende Wunsch, dass das, was ich im Zirkus erlebt habe, nicht von dem verzerrt wird, was ich gerade erfahren habe. Es fühlt sich an, als säße ich wieder mit Estelle im Wagen, mit der unsinnigen Hoffnung in der Brust, dass wir doch noch unser Glück finden. Nur hatte Estelle vielleicht recht und unser Leben ist wirklich eine so endlose Tragödie, dass jedes Stückchen Glück davon verschlungen wird.
Habe ich mich wirklich so sehr getäuscht? In Rémi? In meinem eigenen Gespür? Hat er mich die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt und genau gewusst, nach wem ich suche – ja, es vielleicht sogar verhindert? Hat er mir die ganze Zeit über nur etwas vorgemacht? War das zwischen uns nur eine weitere Vorstellung, bei der er nicht mehr war als der Illusionist, der er ist? So blind kann ich nicht gewesen sein. Mein Blick schnellt von Arthur zu Rémi, der uns mit einem unbegreiflich zufriedenen Lächeln ansieht.
»Ein wirklich grandioser Auftritt, Arthur«, gibt er anerkennend zu und verschränkt die Arme hinter seinem Rücken. Der verletzte Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, als Arthur die Gasse betreten hat, ist wie weggewischt. Seine Worte, die er mir zuraunte, sind nur noch ein Flüstern, das der Wind längst davongeweht hat. Egal, was jetzt passiert, du musst mir glauben, dass … Aber was? Was sollte ich ihm glauben? Wie soll ich ihm überhaupt noch etwas glauben? Nach dieser Lüge. Nach diesem Verrat. Er wusste die ganze Zeit, wer Arthur ist. Er wusste es!
Meine Gedanken sind ein solches Durcheinander, sie toben in mir wie ein Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt. »Dieser Titel ist neu, normalerweise nennt man mich einen ungehobelten Vogel, den Star des Zirkus, einen Diamanten, dessen Glanz einem den Atem verschlägt, wobei Letzteres zu meinem Bedauern weniger häufig verwendet wird. Aber Meister der Lügen … das gefällt mir. Sehr kreativ. Es schmeichelt mir ebenfalls, nicht wahr, Genevieve?«
Mein Herz zieht sich zusammen, als er mich ansieht. Erwartungsvoll irgendwie, beinahe herausfordernd. Aber reagieren kann ich nicht, stattdessen rollen sich die Erinnerungen vom Zirkus wie Bilder auf einem Filmband vor meinen Augen ab. Der Sternschnuppensee, das Eulenzelt, unsere Übungsstunden, das Zelt der glückseligen Wolken … die Illusion. Dort hat er mir Arthur gezeigt, er hat sich sein Herz herausgerissen und es wurde zu Staub. Und dort hätte es mir auffallen müssen. Denn wie hätte Rémi wissen können, wie Arthur aussieht, wenn er ihn doch gar nicht kennt? Ich war nicht einfach nur blind, ich war nicht bei Sinnen. Ich fühle mich, als wäre ich in einen Ozean geschmissen worden, umgeben von Lügen, die mich tiefer und tiefer ziehen, bis mir die Luft wegbleibt, meine Sicht verschwimmt und das Rauschen der Wellen ein Singsang der bitteren Wahrheit wird: Er hat dich angelogen. Die ganze Zeit.
Aber wie kann jemand lügen, der nicht lügen kann?
Drohend erklingen die Worte meiner grand-mère aus dem überwältigenden Tosen meiner Gedanken. Der Grund, weshalb wir keinem Illusionisten jemals vertrauen dürfen, liegt darin, dass sie, obwohl sie nicht lügen können, die Wahrheit nach Belieben verdrehen. Ich blinzle hektisch, denn eine andere Stimme – Arthurs Stimme – dringt schwach zu mir durch, doch die meiner grand-mère ist lauter und nimmt mich völlig ein. Die Illusionisten, mein Kind, sind Raubvögel, gierig nach unseren Herzen.
Ich habe gedacht, sie wollte mich davor warnen, dass mein Herz verspeist werden könnte. Dabei kann man ein Herz auch anders verschlingen.
Irritiert schaue ich zu Rémi, dann zu Arthur. Wie konnte ich übersehen, dass sie Brüder sind? Die Ähnlichkeit ist unheimlich. Die gleichen Haare, wenn auch Rémis länger und auch dunkler sind. Die gleichen hohen Wangenknochen, das gleiche Kinn, aber unterschiedliche Nasen. Rémis ist leicht gebogen, Arthurs gerade wie die einer heroischen Statue. Nur in ihrer Haltung, da unterscheiden sie sich. Während alles an Rémi spielerisch leicht wirkt, als würde er selbst jetzt in diesem Moment in luftiger Höhe schweben, ist Arthur aufgerichtet, etwas steifer, angespannter. Würden sie nebeneinanderstehen, wäre er vermutlich auch kleiner. Und doch – und doch sind sie unverkennbar miteinander verwandt.
Ich öffne meinen Mund, nur um ihn sofort wieder zu schließen, als Arthur beginnt zu sprechen.
»Wie hast du es gemacht?« Arthurs Worte sind so scharf wie eine frisch geschliffene Klinge. »Wie hast du geschafft, dass sich niemand an mich erinnert? Dass Ivan mich nicht erkennt? Dass ich am Tor herausgeworfen werde? Ich war ein Jahr nicht im Zirkus und konnte ihn dann nicht mehr betreten.«
Es konnte sich wirklich niemand an ihn erinnern. So mächtig ist Rémi? So grausam? Neben dem Schock über diese Erkenntnis ist da, irgendwo tief in meinem Kopf, die Erinnerung an Ivan, den Stelzenmann, und wie er mir sagte, er habe nur mich den Zirkus betreten sehen, nicht aber Arthur. Es stimmt also. Alles.
»Hm«, macht Rémi und wiegt seinen Kopf von links nach rechts. Schwarze Strähnen gleiten ihm über die Stirn und verstärken nur das verschmitzte Funkeln in seinen Augen. »Ich bin mir unsicher, ob ich dich schon in meine Geheimnisse einweihen sollte. Vielleicht brauche ich sie noch ein weiteres Mal. Was denkst du, Genevieve?«
Er sucht meinen Blick, als wolle er darin irgendeine Bestätigung finden. Aber wofür? Dass ich ihm noch vertraue? Wie könnte ich das nach alldem noch? Und obwohl ich weiß, dass es besser wäre, den Blick abzuwenden, kann ich es nicht. Stattdessen starre ich ihn weiter an.
»Ich habe dich gefragt«, zischt Arthur. »Ich rede mit dir. Ich will die Wahrheit von dir wissen. Hör auf, sie anzusehen, hör auf, sie anzusprechen und sie weiter mit deinen Illusionen zu belegen, damit sie tut, was du willst. Dein Spiel, Rémi, es ist vorbei.«
Ich spüre, wie er neben mir vor Wut zittert, wie er versucht, sich im Zaum zu halten, weil er weiß, es würde Rémi nur noch mehr erheitern. Und sollte ich es nicht auch? Sollte ich Rémi nicht anschreien, anfauchen, um mich schlagen? Ich weiß nun, was er getan hat. Ich weiß, er hat mich belogen und betrogen, doch es ist, als würde dieses Wissen darum mich lähmen. Als mir ein zittriger Atemzug entkommt, verändert sich etwas in Rémis Miene. So minimal, dass es mir bei unserer ersten Begegnung nicht aufgefallen wäre, doch inzwischen habe ich ihn zu oft angesehen, um es nun nicht zu erkennen. Es bedeutet nichts Gutes.
»Nun, Arthur, es ist so.« Ein drohender Unterton legt sich in seine Stimme, ruhig und warnend. Es vermischt sich mit dem Donnergrollen, das sich durch die spanischen Gassen drückt. »Es interessiert mich nur leider nicht, was du willst, und je länger ich dir zuhöre, desto lästiger wirst du mir. Vielleicht sollte ich …« Rémi zieht seine Hände aus seinen Hosentaschen, schiebt die von den Geschehnissen in der Bibliothek verstaubten Ärmel nach oben, breitet seine Arme aus und … Nein! Endlich reiße ich mich aus meiner Lähmung und springe vor Arthur, mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen.
»Evie, was –?«
»Hör. Auf.« Mein Atem geht viel zu schnell, es zieht und schmerzt in meiner Brust. »Tu ihm das nicht an. Leg keine Illusion auf ihn!« Die Angst, die grausame Illusion, in die Rémi mich im Zirkus geführt hat, und Arthurs zu Staub zerbröseltes Herz könnten Realität werden, jagt ein Zittern durch meinen Körper.
Meine Reaktion muss Rémi gefallen. Natürlich. Er fühlt sich immer sicher und überlegen, sobald man seine Magie fürchtet. Langsam nimmt er seine Arme herunter, steckt sie lässig zurück in die Hosentaschen und kommt auf mich zu. Arthur will hinter mir vortreten, doch ich rühre mich nicht.
»Du wirst ihm nichts mehr tun«, wiederhole ich mit überraschend fester Stimme. Ich atme tief ein und sehe Rémi in die Augen. »Ich habe das getan, was du wolltest, Rémi.«
»Was?«, empört sich Arthur hinter mir. »Wovon sprichst du, Evie?«
Rémis Grinsen wird breiter.
»Arthur bleibt bei mir«, rede ich weiter, ohne auf Arthurs Frage einzugehen. Er wird noch alles erfahren. »Du wirst ihn mir nicht wieder wegnehmen.«
Ich erwarte, dass Rémi mir widerspricht, Arthur doch mit einer Illusion belegt oder irgendetwas anderes Grausames tut, nur um mir zu zeigen, dass er immer noch die Fäden in der Hand hält. Doch stattdessen … verbeugt er sich leicht, mit einem schelmischen Funkeln in den Augen. »Wie du es wünschst.«
Irritiert zucke ich mit dem Kopf zurück. So einfach kann es nicht …
»Aber du weißt, wie es mit Wünschen ist, nicht wahr?«, sagt er und ich spüre das Unheil seiner nächsten Worte wie die Gänsehaut auf meinem Nacken. »Von allein werden sie nicht wahr.«
»Was willst du?«, frage ich und spüre deutlich, dass ich eben doch keine Angst vor Rémi habe, obwohl ich es wohl besser sollte. Meine Magie tötet ihn nicht und sie stiehlt ihm auch nicht die seine. »Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt.«
»Handel?«, echot Arthur. Ich spüre seinen Blick auf meinem Rücken und schlucke gegen die wahre Angst in meinem Herzen an. Dass er mich nun noch mehr hasst, noch mehr verachtet. Nicht mehr nur, weil ich ihm seine Magie gestohlen habe, sondern weil ich sie verbraucht habe und mit seinem Bruder …
»Evie, Rémi!« Enifs Stimme hallt panikgetränkt durch die Gasse. Ihr Gesicht ist immer noch rußverschmiert, Blue, der an ihrer Hand hängt, sieht auch nicht besser aus. »Da seid ihr ja! Atlas und Lavender, sie sind –« Sie stockt, als sie uns erreicht und die Schatten der Gasse Arthur hinter mir freigeben. Enifs Augen weiten sich und die Erkenntnis muss sie wie ein Schlag treffen. Nachdem ihr Blick von Rémi zu Arthur gesprungen ist, wankt sie ein paar Schritte zurück. »Arthur?« Ihre Hand wandert zu ihrem Mund, dann zu ihrer Stirn, als würde sie einen Gedanken beiseiteschieben müssen oder als würde sie an ihrem Verstand zweifeln. »Arthur, wie … wie bist du … und was ist … und wo warst du …? Das ist dein Arthur, Evie?« Dann versteht sie endgültig und ihr Kopf schnellt zu Rémi. In ihren nächsten Worten liegt unfassbar viel Zorn. »Was hast du getan, Rémi?«
Rémi ist jedoch kaum einen Deut beeindruckt davon. In seinem Blick glänzt etwas ganz und gar Abschätziges. »Ach komm, Enif, es dürfte dich ja wohl nicht überraschen.« Er verschränkt die Arme vor der Brust und Enif schließt ihren Mund. Sollte es ihn verletzen, dass sie ihm nicht widerspricht, so zeigt er es nicht. »Du bist es doch, die jeden im Zirkus vor mir gewarnt hat. Selbst Genevieve.«
»Zu Recht, oder nicht? Aber das hier hätte nicht einmal ich dir zugetraut!« Das Unverständnis und die Abscheu bringen ihre Stimme zum Klirren. »Er ist dein Bruder. Und du hast ihn ausgelöscht.«
»Das ist etwas drastisch formuliert …«
»Niemand konnte sich an ihn erinnern!«, brüllt Enif und ich verstehe ihren Schmerz. Sie hat ihre Schwester verloren und wenn es wahr ist, was sie und Arthur behaupten, dann hat Rémi alles getan, um seinen Bruder loszuwerden. »Das ist etwas völlig anderes, als ein Herz nach dem nächsten zu brechen!«
»Stimmt es?«, höre ich mich fragen. »Stimmt das alles, Rémi? Hast du wirklich dafür gesorgt, dass sich niemand mehr an Arthur erinnern kann? Dass er den Zirkus nicht betreten kann? Und … und hast du die ganze Zeit über gewusst, wo er ist?«
Sag Nein, denke ich. Sag einfach Nein, ich möchte dir so gern glauben.
»Es stimmt.«
Zwei Worte. Zwei Worte und schon wieder habe ich das Gefühl, mein ganzer Körper wird starr. Und Rémi? Er steht da in seinem dunklen Hemd, überzogen mit feinem Staub, der nur vor der goldglänzenden Kette, die an seiner Taschenuhr befestigt ist, haltgemacht hat, und wirkt so unberührt wie jemand, dessen Herz keine Güte kennt. Wie denn auch, wenn es nicht schlägt?
»Das ist es, was er schon immer wollte«, kommt es von Arthur. Nun tritt er vor mich und greift ganz selbstverständlich nach meiner Hand. Rémis Blick fällt darauf, nur kurz, ehe er sich abwendet und nach seiner Taschenuhr greift. »Er wollte mich schon immer loswerden. Nur sind leider nicht alle Wünsche dafür bestimmt, in Erfüllung zu gehen.«
Etwas zuckt bei seinen Worten durch meine Brust, vergeht jedoch so schnell wie der Blitz, der über den Himmel zieht. Wir zucken zusammen, alle – außer Rémi. Es kommt mir wieder so vor, als würde er gar nichts fühlen. Und vielleicht ist es auch so. Vielleicht hat er auch im Zirkus nie etwas wirklich gefühlt und ich wollte es nur so gerne glauben.
»Wir müssen hier weg«, sagt Enif und reibt sich noch einmal über die Stirn. »Atlas und Lavender sind noch in der Bibliothek und … ich habe sie nicht gefunden. Wir müssen sie dort rausholen!«
»Atlas und Lavender?«, hakt Arthur irritiert nach. »Wart ihr etwa in der Bibliothek der Endlosigkeit?«
»Die ausführliche Geschichte gibt es später«, informiert ihn Enif knapp. »Aber die kurze Fassung ist die: Ja, wir waren in der Bibliothek, meine Mutter hatte uns eingeladen, dann hat Rémi …« Ein wirklich zorniger Blick geht in seine Richtung. »… die Phiole mit flüssiger Zeit gestohlen und das Unheil geweckt, alles brach zusammen und nur wir vier konnten fliehen. Jetzt haben wir nicht nur Teile einer jahrzehntealten Sammlung auf dem Gewissen, sondern uns auch meine Familie auf den Hals gehetzt und Lavender und Atlas stecken dort immer noch fest. Das ist alles deine verfluchte Schuld!« Wieder bekommt Rémi einen wutentbrannten Blick entgegengeschleudert und diesmal sogar mit einem drohenden erhobenen Finger. »Vermutlich jagen sie uns noch die Zeitwächter auf den Hals.«
»Das war ja ein halber Roman«, entgegnet Rémi matt, ohne auch nur auf Enifs Schuldzuweisungen einzugehen. »Allerdings hast du recht und wir sollten hier verschwinden. Die Zeitwächter sind in der Tat ganz unangenehme Zeitgenossen.«
Enifs Gesicht wird plötzlich ganz bleich und etwas sagt mir, dass es nicht an Rémis blödem Wortwitz liegt, über den er immer noch schmunzelt.
»Zeitwächter?«, echoe ich zaghaft. »Wer ist das?«
»Sie beschützen unsere Familie und unser Vermächtnis. Sie greifen ein, wenn das Unheil die Diebe nicht aufhalten konnte, was unfassbar selten geschieht, deshalb …« Enif schluckt schwer und wirft einen besorgten Blick die Gasse hinunter.
»Außerdem sind sie unheimlich gut darin, ebenjene Diebe aufzuspüren«, fügt Rémi hinzu, ohne jegliche Spur von Humor. »Wenn wir Glück haben, bleiben uns noch Minuten.«
»Was?« Panik schnürt sich jetzt um meinen Hals. »Aber wohin sollen wir dann? Und was ist mit Atlas und Lavender? Und …«
»Ich werde zurück zur Bibliothek springen, sie werden mir schon nichts Schlimmes tun«, schlägt Enif vor, doch bei ihren Worten, dreht sich mein Magen um. »Ihr müsst euch verstecken, vielleicht kann ich sie direkt vor der Bibliothek abfangen und die Schuld auf mich ziehen.«
»Nichts Schlimmes?«, wiederhole ich mit einem sorgevollen Zittern in der Stimme. »Enif, sie sollten dir gar nichts antun! Außerdem hängen wir da alle mit drin. Wir dürfen uns nicht trennen.«
»Wirklich der beste Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren«, wirft Rémi ein und klappt seine Taschenuhr ungeduldig auf. »Lasst uns …«
»Evie und ich müssen zum Zirkus«, unterbricht ihn Arthur. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, schnell und für andere vermutlich ohne jede Bedeutung, aber ich weiß, was darin schlummert. Er will zum Spiegeljungen. Mein Hals verengt sich und mein Herz beschleunigt sich. Und plötzlich ist da auch Rémis Blick, der genau registriert, wie meine Hand zu meiner Brust wandert. Klickend schnappt seine Taschenuhr wieder zu.
»Nein, das ist zu gefährlich«, sagt Enif. »Dort würden sie zuerst nach Evie suchen.«
»Aber Evie hat doch nichts getan.« Arthur drückt meine Hand. »Rémi hat sie offensichtlich bedrängt und gezwungen, bei seinem Plan mitzumachen.«
»Von Zwang war nie die Rede«, wirft Rémi ein, macht es dadurch aber nur schlimmer. Ich schlucke und sehe flehend zu Enif. Nur kommt Rémi ihr zuvor. Er macht einen bedrohlichen Schritt auf Arthur zu, der mich hinter sich zieht. Etwas flackert in Rémis Augen auf. »Würdest du sie wirklich in Gefahr bringen, nur um zurück nach Hause rennen zu können?« Rémi schnalzt abschätzig mit der Zunge und dreht seinen Kopf zu mir. Ich halte seinem Blick stand, auch wenn alles in mir ihn abwenden will. »Und ich dachte, er liebt dich, Genevieve.«
»Das tue ich auch!«, knurrt Arthur und schiebt mich weiter hinter sich. Ich kann spüren, wie er innerlich vor Wut schäumt. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest, Rémi.«
»Ach nein? Wieso willst du sie dann ins offene Messer laufen lassen?«
»Jungs …« Enif versucht, beschwichtigend dazwischenzugehen, aber Rémi schafft schon längst wieder Distanz zwischen sich und Arthur. Jedoch nicht, ohne mir einen langen Blick zuzuwerfen.
»Arthur«, setze ich vorsichtig an. »Enif hat recht, es ist zu gefährlich. Wir sollten uns irgendwo verstecken und dann versuchen, Atlas und Lavender zu finden. Danach … danach können wir immer noch zum Zirkus.«
Flehend sehe ich zu ihm auf. Ich bemerke, wie er abwägt, und ich verstehe ihn. Er war ein Jahr nicht in seinem Zuhause, er muss es schrecklich vermissen. Und er will seine Magie zurück, so schnell wie möglich.
»Na gut«, gibt er sich geschlagen und hebt sein Kinn. »Wohin gehen wir?«
»Es gibt einen Ort …«, beginnt Enif und etwas bringt ihre Stimme zum Schwingen. »Eine besondere Zuflucht.«
Enif führt uns mit schnellen Schritten durch die verwinkelten Gassen Barcelonas. Immer wieder wirft sie einen aufmerksamen Blick über die Schulter, wenn wir von einem Häusertunnel zum nächsten huschen, dazwischen ist ihr Blick auf den Himmel gerichtet, wo sich längst bedrohliche Gewitterwolken gebildet haben. Schwer und dunkel hängen sie über unseren Köpfen und werfen immer häufiger ihre Blitze ab. In meiner Brust tobt es auch. Ein Gewitter aus tausend Gefühlen, doch am meisten quälen mich Rémis Lügen, Arthurs Zorn und die Sorge um Atlas und Lavender. Es zerquetscht mein Herz zu wissen, dass sie vermutlich noch in der Bibliothek sind und sich gerade vor den Tempsaint und ihrem grausamen Drachen verstecken müssen, der diese wunderbare Wissenssammlung beinahe in Schutt und Asche gelegt hat. Vielleicht wurden sie aber auch längst entdeckt. Und zu den Zeitwächtern geführt? Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, also wende ich meinen Blick dem Einzigen zu, das mir irgendwie Hoffnung schenkt: Arthur. Noch immer hält er meine Hand, fast ein bisschen zu fest, aber es ist so unglaublich, ihn wieder bei mir zu haben, und die Angst, ihn womöglich wieder zu verlieren, ist so groß, dass es mir nur recht ist. Von unseren verschränkten Händen sehe ich hinauf in sein Gesicht. In der kurzen Zeit, die wir nicht beieinander waren, kann er sich eigentlich kaum verändert haben und doch wirkt er anders. Weniger weichgezeichnet, fast als hätte an unserem Bach die ganze Zeit ein Schimmer über ihm gelegen, der jegliche Schatten getilgt hat. Aber jetzt sind sie da und sammeln sich unter seinen Augen. Auch seine Haare wirken dunkler, sein Kinn schärfer und seine Haltung angespannter. Ob auch ich anders auf ihn wirke?
»Alles gut, Evie?« Seine sanfte Stimme geht mir direkt ins Herz und wärmt mich von innen. Ich habe ihn so vermisst, ihn und seine Augen und das Gefühl, dass alles gut wird, solange ich bei ihm bin. Er muss meinen Blick gespürt haben, vielleicht auch meine Gedanken. »Du bist so still.«
»Na ja, für ein ausgelassenes Gespräch mangelt es uns wohl an Kuchen und einem Tisch am Bach«, doch mein kläglicher Versuch, die Stimmung zu heben, schlägt fehl. Eine Falte zwischen Arthurs Augenbrauen entsteht und sein Blick wandert zum Rücken seines Bruders. Rémi läuft vor uns, nun ja, vielmehr sieht es aus, als würde er schlendern, zumindest verglichen mit den hastigen Schritten von Enif und ihren angespannten Schultern. Wie kann er nur so unbeschwert wirken? Ist ihm das alles einfach egal? Die Wut brodelt in mir wie der Donner über uns.
»Sobald wir meinen Bruder los sind, wird es einfacher«, sagt Arthur schließlich.
»Du … du willst ihn loswerden?«
»Du etwa nicht?«
Er hat recht, das sollte ich, oder nicht? Immerhin kann ich ihm nicht mehr trauen, er hat Arthur Schreckliches angetan. Er hat mich belogen, mir etwas vorgespielt. Der Verrat darüber brennt immer noch Löcher in mein Herz. Und dennoch fühlt es sich falsch an, ihn loszuwerden, und ich frage mich, was das überhaupt bedeuten soll. Die Erinnerung aus dem Regentropfen-Café blitzt auf, gefolgt von dem Gefühl seiner Haut unter meinen Fingerspitzen. Seine Magie, die ich nehmen konnte, ohne einen Schaden anzurichten. Das Glück, das mich in diesem Moment erfüllt hat. Rémis leises »Bleib bei mir«, sein sanfter Ausdruck in den Augen. Wie passt dieser Rémi nur zu jenem, der nun vor uns herläuft?
»Ich … weiß nicht«, gebe ich zu und sehe sofort, dass es die falsche Antwort war. Etwas verfängt sich in Arthurs Blick und bleibt als ein Schatten zurück.
»Arthur, kannst du kurz helfen?« Enifs Frage unterbricht den Moment zwischen uns. Sie ist vor einem großen schmiedeeisernen Tor stehen geblieben und kämpft mit einer Kette aus dicken und schweren Eisengliedern. Arthur lässt meine Hand los, als wir sie erreichen, und geht ihr zur Hand. »Warum hilft mein Bruder nicht?«, fragt er Enif, obwohl Rémi in Hörweite ist.
»Er will nicht.«
»Ich kann auch helfen«, werfe ich ein, doch Arthur schüttelt den Kopf. Er sieht auf meine Handschuhe und ich weiß, was er denkt. Er fragt sich, was passieren würde, wenn die Handschuhe Risse und Löcher bekämen, denn er weiß, was geschieht, wenn ich jemanden ohne Handschuhe berühre.
»Schon gut, Evie«, sagt Arthur und bemüht sich um einen arglosen Ton in seiner Stimme. »Die Ketten sind sicher viel zu schwer für dich.«
Unsinn, denke ich. Zu dritt wären sie leichter. Enif weiß es, Arthur weiß es, ich weiß es und … Rémi auch.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er gegen eine Mauer gelehnt steht. Er spielt mit dem goldenen Band seiner Taschenuhr und fixiert mich. Was geht nur in ihm vor? Er hat sein Ziel, seinen Freund aus der Widerwelt zu befreien, noch nicht erreicht. Sicher hat er bereits einen Plan. Ich frage mich nur, ob er uns – ob er mich – nun noch braucht.
Erst als Arthur und Enif schwer atmend beginnen, die Ketten mühselig zu lösen, stößt er sich von der Hauswand ab und kommt auf mich zu. Ich ignoriere ihn, so lange es geht, und knete einen Finger nach dem anderen durch, bis der Spitzenstoff meiner Handschuhe sich in meine Haut brennt.
»Weißt du, was ich mich frage, Genevieve?«, erklingt es leise neben mir, sodass Arthur und Enif nichts mitbekommen. Ich zwinge mich, nicht zu ihm zu sehen, sondern meinen Blick fest auf Arthur gerichtet zu halten. Aber meine Neugier war schon immer unbezwingbar, darum versage ich auf ganzer Linie. »Was?«
Rémis Grinsen wird breiter. »Ich habe mich gefragt, wohin deine freche Zunge verschwunden ist. Seitdem mein Bruder aufgetaucht ist, hast du vielleicht zwei Sätze herausbekommen.« Er neigt seinen Kopf, sein Blick bohrt sich in meinen und es überrascht mich, dass ihm das aufgefallen ist. »Eine Illusion kann er nicht auf deinen hübschen Mund gelegt haben, schließlich gehört seine Magie jetzt dir. Obwohl …« Ein diabolischer Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Das ist nicht ganz wahr. Du hast sie …«
»Sei ruhig«, unterbreche ich ihn in einem forschen Flüsterton, der jedoch mehr verzweifelt als erbost klingt. »Arthur … er weiß davon noch nichts.«
»Hm«, macht Rémi und flüstert dann, so leise wie ein Windhauch: »Er weiß eine Menge nicht.«
»Ich werde ihm alles erzählen.« Es sollte drohend klingen, doch wieder zittert meine Stimme. »Ich liebe ihn und er mich.«
»Sehr reizend.« Etwas anderes hat sich in Rémis Ton gemischt, das fast unzufrieden klingt. Und irgendwie gibt mir das ein seltsames Selbstbewusstsein, das die Wut in meinem Bauch noch entfacht.
»Es gefällt dir nicht, dass er wieder da ist«, erkenne ich und folge Rémis Blick, der sich auf Arthur legt. Er verengt seine Augen. »Weshalb hasst du ihn so? Er ist doch immer noch dein Bruder.«
»Es braucht mehr als Blut, um eine Familie zu sein, Genevieve.« Nun betrachtet er mich wieder so kühl und distanziert wie immer, wenn ich einen wunden Punkt treffe. Gut so!
»Trotzdem war es mal anders, nicht wahr?«, bohre ich weiter, während sich Rémis Blick immer weiter verdunkelt. »Arthur hat mir davon erzählt. Er hat mir von dir erzählt. Dass du kälter wurdest und dich von ihm abgewandt hast. Dabei hat er alles versucht, um für dich da zu sein. Wieso? Was ist …?« Doch ich breche meinen Satz ab, denn jetzt dämmert es mir. Natürlich, der Spiegeljunge. Rémi ist ihm auch begegnet und mit ihm, wie ich damals, einen Handel eingegangen. Nur hat er sich Ruhm gewünscht und ich mir einen Freund. Und während meine Hände seit jeher todbringend sind, schlägt Rémis Herz nicht mehr. Es ist nur logisch, dass er sich danach von allen, die er liebt, abgewandt hat. Denn was kann ein starres Herz noch fühlen? Nichts vermutlich. »Du hast mir gesagt, dass du etwas verloren hast, von dem du dir wünschst, es nie hergegeben zu haben. Ich erinnere mich daran. Als wir in deinem Museum getanzt haben.« Ich schlucke und versuche mein pochendes Herz auszublenden, das bei dieser Erinnerung an Geschwindigkeit gewinnt und auch den Schmerz zurückbringt. Rémi hat sich mir dort das erste Mal geöffnet. Aber vielleicht hat das auch nur zu seinem Spiel dazugehört. »Du hast also doch jemanden geliebt, bevor du deinen Herzschlag verkauft hast.« Ich sehe, wie Rémi sich immer und immer mehr verschließt. »Arthur …«
»Deine Theorien sind herzallerliebst. Aber ich habe dir schon gesagt, dass ich niemanden geliebt habe und auch nie jemanden lieben werde. Du hörst nicht zu, Genevieve.« Rémi neigt seinen Kopf, die Hände in seinen Hosentaschen, und ich weiß, seine Worte sollten mich nicht treffen. Aber sie tun es doch. Ich presse die Lippen aufeinander und kämpfe gegen die Tränen in meinen Augen. »Liebe ist nur eine Illusion und jeder, der sich darin verliert, ein hoffnungsloser Narr. Was meinst du, würde dein Arthur dich immer noch so lieben, wenn er wüsste, dass ich deine Berührung überlebt habe und meine Magie noch besitze? Würde er dich immer noch lieben, wenn er sich eingestehen würde, wie sehr er sich eigentlich vor dir fürchtet? Und was meinst du, Genevieve, wie groß kann eine Liebe sein, wenn sie …?«
»Hör auf!«, bricht es aus mir heraus. Tränen laufen über meine Wangen. »Hör auf, bitte.« Doch Rémi lächelt nur, jenes kalte Lächeln, das er auch trug, als er mir die Illusion zeigte, in der sich Arthur sein Herz herausriss.
»Du bist ein schrecklicher Mensch, Rémi.«
»Ich habe nie etwas anderes behauptet.«
»Evie?« Arthur ist neben mir erschienen und seine Hand streicht über meinen Arm, zart und liebevoll, als sollte sie alle Zweifel zerstreuen, die Rémi in meinen Kopf gepflanzt hat. »Was ist los? Was hat er getan?«
Rémis Blick bleibt noch länger auf mir, zu lang für Arthurs Geschmack, denn er zieht mich dicht an sich. »Was hast du ihr angetan?«
»Mon Dieu, Arthur, immer so dramatisch.«
Arthur presst mich an sich, streicht mit den Händen über meine Haare. Es ziept dort, wo er über die rosafarbenen Schmuckfalter streicht, die ich in meine Haare geflochten habe. Und meine Tränen laufen weiter und weiter. Es ist unmöglich sie aufzuhalten, jetzt wo sie einmal befreit wurden. Ich frage mich, was genau ich beweine. Die Erkenntnis, dass etwas in mir Rémis Worten zustimmt? Oder Sorge, was passieren wird, wenn Arthur herausfindet, dass ich seine Magie gestohlen habe, aber die seines Bruders nicht? Wird es für ihn eine Rolle spielen, ob ich das gewollt habe, oder nicht?
»Was ist los?« Nun kommt auch Enif zu uns, immer noch außer Atem von den Ketten, gegen die sie gekämpft haben. Das Tor ist nun offen. »Was ist passiert?«
»Die Liebe, Enif, was sonst?« Und mit diesen Worten läuft Rémi an uns vorbei, aber nicht mehr ganz so leichtfüßig diesmal, durch das Tor, das nur einen weiteren dunklen Gang eröffnet.
»Ich hasse ihn«, brummt Arthur neben mir und sieht seinem Bruder nach, der mit Blue im Schlepptau in die Gasse verschwindet. »Und ich kann es kaum erwarten, bis wir ihn wieder los sind. Danach, Evie«, er dreht sich zu mir und greift nach meiner Hand. »Danach wird alles wie vorher.«
Darauf weiß ich nichts zu sagen. Ich weiß nicht, wie das Vorher in das Jetzt passen soll, dennoch lächle ich und zwinge endlich meine Tränen zurück. Auch wenn es nicht vollkommen ehrlich ist, für den Moment jedoch reicht es, denn auch auf Arthurs Gesicht erkenne ich jenes Lächeln, das mich an unseren Bach erinnert. Als er mir sagte, ich könne mit ihm über alles reden, und das Verständnis, das er mir immer und immer entgegenbrachte. Die Hoffnung, die an seinen Lippen hing, als er mich fragte, ob ich mit ihm weggehen würde, und sich in mein Herz grub, als ich diese Frage bejahte.
»Wir sind übrigens da«, sagt Enif mild und deutet mit dem Kopf hinter sich. »Nur noch durch diese Gasse.«
Enifs Zuflucht. Ich frage mich, was für ein Ort uns erwartet. Doch bevor ich noch etwas sagen kann, führen Enif und Arthur mich längst durch den dunklen Gang, an dem sich rechts und links die Häuserwände auftürmen. Ich entdecke ein Schild, auf dem ein Stapel Bücher eingebrannt wurde und ein spanisches Wort. Doch das Holzschild ist zu verwittert, um es entziffern zu können.
Enif ist wieder vorgelaufen und schlüpft bereits aus der Gasse heraus, hinein in einen noch immer schmalen und doch etwas geräumigeren Vorplatz, in dessen Mitte eine einzelne Straßenlaterne aufragt. Dahinter thront ein majestätisches Stadthaus. Ich halte einen Moment inne, um es auf mich wirken zu lassen, und wäre ich nicht vollkommen durch den Wind, würde sein Anblick mich verzaubern. Es ist beinahe magisch, so wie es dort steht, wie aus einer völlig fremden Zeit gestohlen. Aber die Fassade, die mit Rissen und abblätterndem Putz überzogen ist, zeigt, dass dieses Haus schon immer hier stand, nur die Zeit hat sich stur und unerbittlich weitergedreht. Ein schmiedeeiserner Balkon erhebt sich über einem Schaufenster, neben dem Enif gerade durch eine hohe Holztür geht. Das Schild, das darüber angebracht ist, hängt schief und erweckt den Anschein, als könnte allein ein Windhauch es schon scheppernd auf den Boden schicken. Auf den ersten Blick wirkt es, als wäre dieses Haus verfallen, doch als ich einen Schritt zurücktrete, erkenne ich seine Schönheit. Das sind keine Risse, kein abblätternder Putz – es ist ein Gemälde. Fallende Sterne erstrecken sich über die gesamte Hausfront.
»Wie …?«, setze ich an und finde keine Worte für dieses Kunstwerk. Ich sehe zu Arthur, dessen Augen glänzen wie meine, und für einen Moment ist es vergessen, dass Rémi zuvor zwischen uns stand, denn Arthur und ich – wir erkennen Kunst, wenn wir vor ihr stehen. Es ist etwas, das uns schon immer verbunden hat.
»Komm, Evie«, raunt Arthur mir zu. Ich lächle und lasse mich von ihm in das Haus führen, verdränge die bitteren Worte, die Rémi mir entgegengeworfen hat, und konzentriere mich voll auf Arthurs Hand in meiner, sein Lächeln und seine Nähe. Stillschweigend betreten wir den Hausflur, laufen vorbei an Kisten, gefüllt mit Büchern, einem vergessenen Fahrrad und steigen zwei knarzende Holztreppen hinauf.
Die Wohnungstür steht offen. Wir finden Rémi, Enif und Blue in der Küche. Während Rémi sich schon auf einem Stuhl am Küchentisch breitgemacht hat, stehen Enif und Blue etwas verloren herum, als wüssten sie beide nicht recht, was sie zuerst tun sollten. Blues Blick wandert hektisch durch den Raum, seine kleinen Hände schließen und öffnen sich immer wieder und ich sehe, wie er angestrengt versucht, Tränen zurückzuhalten. Mein Herz wird schwer. Er muss sich schrecklich ohne seine Zwillingsschwester fühlen, ohne zu wissen, wie es ihr geht. Enif, die sich über ihre langen Locken fährt und an dem silbernen Schmuck spielt, der darin eingeflochten ist, bemerkt Blues Unruhe, wechselt mit mir einen kurzen Blick, ehe ich erkennen kann, wie sie ihre eigene Sorge zurückschiebt. Diese Sanftheit und Gutmütigkeit hat sie schon im Zirkus umgeben, wie eine ganz eigene Aura.
»Lasst uns erst mal einen Tee machen, damit lassen sich Pläne viel besser schmieden«, murmelt sie. »Blue, hilfst du mir dabei?«
Herausgerissen aus seinen Sorgengedanken, sieht er zu Enif. Er nickt und lässt sich von ihr sagen, wo er Tee und Tassen findet. Auch ich setze mich in Bewegung, nehme Blue die Tassen ab und stelle sie mechanisch auf den Tisch.
»Na, kommt schon. Setzen wir uns alle«, sagt Enif mit einem vorsichtigen Lächeln, das allerdings so gar nicht zu ihr passt. Es ist zu angespannt und es fehlt ihm die Leichtigkeit. »Wobei Rémi ja schon sitzt.«
Er schüttelt die Spitze mit einem Schulternzucken ab und nimmt endlich seine langen Finger von der goldenen Kette seiner Taschenuhr. »Ich weiß, wann meine Hilfe überflüssig ist.«
»Was machst du dann noch hier?« Arthurs Stimme klingt so kratzend wie die Stuhlbeine, die über den Holzboden schaben, als er sich setzt, weit weg von Rémi. Aber wohl nicht weit genug. Ich kann sehen, wie Arthur weiter seiner Wut und seinem Unmut Luft machen will, und ich kann ihn verstehen. Aber wie es um unsere Freunde steht, ist immer noch ungewiss und alles andere irgendwie auch. Darum wende ich mich hastig zu Enif und komme Arthurs Worten zuvor. »Enif, wo sind wir hier? Und was … was haben wir jetzt vor?«
»Das hier ist mein Lieblingsort und das nicht nur, weil meine Familie hiervon absolut nichts weiß«, sagt Enif, während sie jedem von uns den Tee eingießt. Der Duft von Bergamotte und Süßholzwurzel schwebt durch den schmalen Raum, aus dessen Fenster man den leeren Vorhof erkennt. Als ich meinen Blick wieder zu Enif lenke, die feierlich ihre dampfende Tasse anhebt, stehen Tränen in ihren Augen. »Es ist der Ort, an dem man sich wohl und sicher fühlt. Oder, wie Irena und ich es immer nannten: La Querencia.«
Mein Mund öffnet sich zu einem überraschten O. Enifs Schwester? Aus meinen Augenwinkeln sehe ich auch, wie Rémi und Arthur erstaunt wirken. Nur Blue greift einfach nach Enifs Hand.
»Irena hat hier gelebt?«, fragt Arthur und sieht sich um. Seinem Ausdruck nach zu urteilen, scheint ihm so einiges bekannt vorzukommen. Ich folge seinem Blick und entdecke überall versteckte Sternkonstellationen, zusammengewürfelte Möbel, Bücherstapel auf dem Boden und in Vitrinen. Ich lasse meinen Kopf in den Nacken fallen und muss lächeln. Es hätte mir sofort auffallen müssen, wie dieser Ort zu Enif passt – zu ihr und ihrer Schwester. Die Decke ist in einem tiefen Blau gestrichen, wie ein Nachthimmel über einem Feld. Und auch einen Raum weiter sehe ich deutlich Enifs und Irenas Handschrift.
»Es ist wunderschön hier«, hauche ich und widerstehe dem Drang, Enif zu umarmen. So, wie sie ihre Tasse umklammert und ihre Lippen zusammenpresst, würde eine Umarmung wohl nur einen Riss öffnen, den sie gerade hartnäckig versucht geschlossen zu halten.
»Irena hat all das eingerichtet«, beginnt sie mit wackliger Stimme. »Sie hat die Möbel ausgesucht, die Farben, die Bücher … unten sind noch mehr. Daraus sollte eigentlich ein Antiquariat werden, aber sie … sie hat …« Sie hat es nicht mehr geschafft. Mein Herz wird tonnenschwer vom Mitgefühl, das mich ergreift.
»Sie hat mir davon erzählt«, kommt es von Rémi. Sofort wandern alle Blicke zu ihm. Mit vor der Brust verschränkten Armen nickt er einem unbestimmten Punkt in der schmalen Küche zu, doch seine Stimme ist jetzt fast zärtlich und voller Wärme. »Als ich sie das letzte Mal besucht habe, hat sie mir von diesem Ort erzählt. Von ihrer Sammlung und wie sehr sie sich gewünscht hat, all das noch zu erleben.«
Nun laufen die Tränen unaufhaltsam über Enifs Wangen, ihre Augen sind riesengroß und fixieren Rémi, während ihre Stimme den Raum füllt. »Warum hast du sie das nicht in einer Illusion sehen lassen? Und sei es auch nur für einen Moment.«
»Es wäre nicht richtig gewesen. Warum sollte ich sie etwas sehen lassen, von dem sie selbst weiß, dass sie es nie erreichen wird? Wäre das nicht weitaus grausamer gewesen, als ihre Realität schon längst war?«
Etwas zerschellt. Enifs Tasse zerschmettert auf dem Boden und der Tee sickert in die Ritzen der Holzleisten, doch so wie Enif aussieht, wirkt es eher, als wäre gerade ihr Herz zerbrochen und nicht eine Tasse.
»Du hattest das nicht zu entscheiden«, wispert sie, dann wird ihre Stimme lauter. »Du hattest nichts davon zu entscheiden!«
»Enif …«, setze ich an, um meine Freundin zu beruhigen, und auch Arthur ist aufgestanden. Blue zieht seine Schultern hoch bis zu seinen Ohren. Und ich verstehe sie, ich verstehe ihre unbändige Wut, schließlich hat sie Rémi angefleht, Irena die Schmerzen zu nehmen, bevor sie starb. Er hat es nicht getan. Dass er ihr auch diesen Frieden, den Ausblick auf Irenas erfüllten Traum, und sei es nur eine Illusion, nicht schenken wollte, ist für Enif wohl ein weiterer Tropfen im bereits überlaufenden Fass.
»Nein!« Ihre Stimme ist nun ein Brüllen. »Du verschwindest. Du verschwindest sofort aus diesem Haus, Rémi. Ich will dich hier nicht sehen. Arthur hat recht. Was machst du überhaupt noch hier? Du bringst nur Unheil und Grauen. In mein Leben, in Evies Leben und in Arthurs.«
Mein Blick wandert zu Rémi, der sich langsam erhebt. Kein Gefühl ist auf seinem Gesicht zu entdecken, doch allein dass er sich erhebt, sagt wohl mehr, als ihm lieb ist.
»Tu, was sie sagt«, kommt es von Arthur, der neben Enif steht. »Dich will hier niemand und dich braucht auch niemand.«
Zwei Herzschläge vergehen, zwei Herzschläge und ein Flackern in Rémis Augen, und kurz scheint es, als würde er dieser Forderung nachkommen. Doch es braucht auch nur zwei meiner Herzschläge und eine Erinnerung, um zu wissen, dass ich das nicht zulassen kann. Wieder ist da das Regentropfen-Café in meinem Kopf und jener Moment zwischen uns. Der Moment, der mir das Leben gerettet hat. Rémis Magie, die mich gerettet hat. Ich brauche Rémis Magie. Ohne ihn müsste ich einen Todbedachten finden, um meine Magie aufzuladen. Wie soll ich das nur schaffen? Hier, auf der Flucht vor den Tempsaint? Ohne zu wissen, wie es weitergeht? Und bevor es mir selbst bewusst wird, was ich tue, stehe ich vor Rémi und höre mich sagen: »Ich brauche ihn.«
»Du?« Arthurs Mimik entgleist, erst ist da Unverständnis, dann Schock, und als ich den Schmerz sehe, wird mir endlich bewusst, was ich da gerade gesagt habe. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Hände sind schweißnass unter meinen Handschuhen. Und ich weiß, ich sollte es ihm jetzt erzählen, dass ich Rémi brauche, weil er die einzige Möglichkeit ist, meine Magie aufzuladen. Was meinst du, würde dein Arthur dich immer noch so lieben, wenn er wüsste, dass ich deine Berührung überlebt habe und meine Magie noch besitze? Rémis Worte von vorhin befeuern die Angst vor Arthurs Reaktion, die Angst, er könne mich dann doch hassen, lässt mich eine Entscheidung treffen, die ich womöglich bereuen werde.
»Ich meine, wir brauchen ihn«, schiebe ich hinterher und hoffe, niemand hört das Zittern in meiner Stimme. »Wir brauchen ihn«, wiederhole ich. »Du und ich, Arthur.«
»Wieso sollte ich …?«
»Rémi und ich, wir sind einen Handel eingegangen. Arthur, es gibt einen Weg, wie du deine Magie zurückerlangen könntest. Es gibt einen Ort …«
»Genevieve«, warnend erklingt Rémis Stimme neben mir. Ich weiß, er will nicht, dass ich ihnen von der Widerwelt erzähle. Aber ich muss. Ich sehe zu Rémi, flehe ihn stumm an, zu verstehen. Aber er kann es nicht.
»Die Widerwelt. Dort gibt es Kostbarkeiten und …«
»Genevieve, hör –«
»Nein, sie müssen es wissen«, unterbreche ich ihn sofort. »Du wirst trotzdem noch das bekommen, was du willst. Aber nicht mehr im Alleingang. Das … das hast du dir verspielt. Warum auch immer sich deine Illusion in der Bibliothek aufgelöst hat, sie hat uns jetzt hierhergebracht, ohne Atlas und Lavender. Du hast uns hierhergebracht. Es war dein Plan von Anfang an, aber ohne mich und ohne Enif, die Zwillinge und Atlas hättest du all das nicht geschafft. Nur mit Enifs Hilfe hast du den Einlass in die Bibliothek bekommen, nur dank Lavender und Blue, die mit den Darachi reden konnten, haben wir die Phiole gefunden und nur dank Atlas, der den Darachi weggescheucht hat, konntest du sie an dich nehmen. Die Zeit, dass du glaubst, alles allein erreichen zu können, ist vorbei.« Ich hole tief Luft und sehe in die fragenden Gesichter von Enif und Arthur. »Du brauchst uns und Arthur und ich brauchen dich.«
»Evie, ich verstehe nicht …«, setzt Arthur an, doch ich unterbreche ihn mit einem eindringlichen Blick. »Ich weiß, du hoffst, dass wir den Spiegeljungen im Zirkus finden, Arthur. Aber ich glaube nicht, dass er dort auftauchen wird. Als du im Salon der Tausend Spiegel lagst und ich dachte, du seist tot, habe ich ihn angefleht. Ich habe ihm alles geboten, was ich habe. Aber er kam nicht und ich denke, er wird es auch nicht mehr tun. Aber … aber in der Widerwelt«, sage ich mit einem flehenden Nachdruck in der Stimme, »da wird es möglich sein, deine Magie zurückzubekommen. Deshalb brauchen wir Rémi, er kann uns dorthin bringen.«
Stille legt sich jetzt zwischen uns, nur angespannter Atem und das Prasseln des Regens, der jetzt gegen die Fensterscheiben perlt, sind zu hören.
»Was meint sie mit deine Magie?« Enif ist die Erste, die sich rühren kann. »Was ist damit, Arthur?«
»Sie ist weg«, antworte ich, bevor Arthur auch nur seinen Mund öffnen kann. »Ich habe sie ihm genommen.«
Enifs Mund öffnet sich in Unglauben und Schrecken, sie blinzelt, schaut zwischen Arthur, Rémi und mir hin und her. Und als sie bei Rémi hängen bleibt, bekomme ich Panik, denn sie weiß, dass Rémi seine Magie nicht verloren hat. Alles andere darf er wissen, nur … nur das nicht. Noch nicht. »In der Widerwelt gibt es viele Kostbarkeiten«, wiederhole ich, inbrünstiger diesmal, hoffnungsvoller, sodass meine Stimme hüpft. »Und ich bin mir sicher, dass wir dort etwas finden, das uns helfen kann. Ich weiß nicht, ob es gefährlich wird, welche Prüfungen noch auf uns warten, ob Drachen oder Charlatane oder andere Monster …« Ich schlucke schwer und drehe mich zu Enif. »Deshalb … sobald wir Atlas und Lavender aus der Bibliothek befreit haben, wie auch immer wir das anstellen, könnt ihr zurück zum Zirkus gehen oder hierbleiben, wo auch immer es sicherer ist.« Enif schüttelt den Kopf, aber ich rede schon weiter, die Worte fallen einfach aus mir heraus. »Aber bis dahin müsst ihr mir vertrauen, auch wenn ihr Rémi nicht vertrauen könnt. Ich weiß, es ist viel verlangt. Aber, Arthur, du musst mir vertrauen.«
»Nenn mir einen Grund.« Seine Hände umklammern den Holzstuhl, die Knöchel treten weiß hervor. »Nenn mir einen Grund, Evie, weshalb ich meinem Bruder vertrauen soll, nachdem er mir mein Zuhause geraubt hat. Nachdem er jeden, der mir etwas bedeutet hat, dazu gebracht hat, mich zu vergessen. Nachdem er dich …« Er presst seine Lippen zusammen, verschluckt den Satz und ich weiß nicht, ob ich wissen will, wie er weitergegangen wäre. »Nenne mir einen Grund. Nur einen.«
Ich kann nichts erwidern. Arthurs Blick wird hart. »Siehst du, es gibt keinen. Wir sollten …«
»Er will seinen Freund befreien.« Die Worte entweichen mir, bevor ich sie aufhalten kann. Sofort schlage ich meine Hand auf den Mund, mein Blick zuckt zu Rémi und als etwas in seinen Augen aufflammt, weiß ich, dass ich etwas Schlimmes getan habe. Ich sehe Schmerz. Nur einen Moment, einen halben Herzschlag vielleicht, dann ist der Ausdruck wieder verschwunden. Sein Blick ist nun wieder beinahe leer, seine Augenbrauen sind herabgesunken, fast gelangweilt, doch die Art, wie er noch immer sein Kinn hebt, wie er langsam seine Hände in seine Hosentaschen schiebt, sagt mir, dass ich ihn tief getroffen habe hinter seiner Fassade, die er so sorgsam um sich herum errichtet hat.
»Einen Freund?«, kommt es ungläubig von Arthur. Noch immer kann ich nicht von Rémi wegsehen. »Mein Bruder hat keine Freunde, Evie. Er …«
»Sie hat recht.« Rémis Stimme jagt eine Gänsehaut über meinen Rücken, so tonlos klingt sie. »Ich habe einen Freund, der in der Widerwelt gefangen ist. Enif kann meine Hand lesen, wenn du mir nur so Glauben schenkst. Es gibt ihn und er ist der Grund, weshalb ich mit Genevieve diesen Handel eingegangen bin und weshalb wir die Tempsaint bestohlen haben. Ich brauche einen Schlüssel und nur Evie konnte herausfinden, wo die Tempsaint ihn versteckt haben.« In einer fließenden Bewegung zieht Rémi etwas aus seiner Jacketttasche. Die Phiole ist unversehrt und die dickflüssig blau schimmernde Flüssigkeit schwappt darin wie eine ruhige Welle hin und her. »Flüssige Zeit. Nur damit lässt sich die Widerwelt betreten.«
»Dann stimmt es.«
»Ja«, sagt Rémi, obwohl es keine Frage war. »Meinen Freund habe ich aber noch nicht befreien können. Daher …« Er atmet tief ein. »Werdet ihr mich wohl doch nicht so schnell los. Ihr müsst die Widerwelt genauso dringend finden wie ich.« Dann, endlich, richtet er seinen Blick auf mich. Kalt und distanziert, und ich spüre, wie etwas zwischen uns bricht. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Nicht wirklich«, kommt es von Arthur, der nicht versteht, an wen sein Bruder diese Frage wirklich gerichtet hat. Ich schüttle den Kopf, ganz leicht nur, aber Rémi ist schon dabei, den Raum zu verlassen.
»Warte. Bitte.« Panik schießt durch meine Adern, er könnte nach all meinen Bemühungen, Enif und Arthur davon zu überzeugen, dass er bleiben muss, doch einfach gehen. »Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen …«
Er bleibt stehen, dreht sich zu mir um. Sein harter Blick sticht direkt in mein Herz. »Ich will mich nur nützlich machen, Genevieve. Damit wir hier wirklich sicher sind, brauchen wir eine Illusion, die uns schützt. Aber lass dich nicht aufhalten, jetzt ist dein Moment gekommen, um ihm alles zu erzählen. Wieso fängst du nicht damit an, was du alles für deine große Liebe bereit warst zu tun?« Damit verschwindet er und lässt mich mit einem schrecklichen Gefühl zurück. Als Blue sich erhebt und ihm folgt, ist Enif plötzlich neben mir und legt eine Hand auf meinen Arm. »Es ist wirklich besser, wenn du mit Arthur redest«, stimmt sie Rémi zu und geht dann zu einer der Vitrinen. Auf einem der Bücher liegt ein kleines Kästchen. »Ich muss zurück zur Bibliothek …«
»Enif, bitte«, beschwöre ich sie. »Es ist zu gefährlich. Was ist, wenn der Drache noch wütet? Oder du diesen … diesen Zeitwächtern begegnest? Bleib, bitte, bis wir einen Plan haben, bei dem wir alle helfen können.«
Ein sanftes Lächeln erscheint auf Enifs Gesicht. »Mir wird nichts passieren, versprochen. Ich habe uns nicht nur zu diesem Haus geführt, weil wir hier sicher sind, sondern …« Mit einem leisen Klicken öffnet sich das Kästchen in ihren Händen. »Wegen dem hier.«
»Ein Kompass?« Ich betrachte den runden Gegenstand mit einem Gefühl zwischen Erstaunen und Verwirrung. Er ist wunderschön – aus dunkler Bronze, in der Mitte eine nachtblaue Bodenplatte mit Verzierungen. Die Kompassnadeln selbst sind so glatt wie ein Morgenhimmel. Nur … nur die Himmelsrichtungen fehlen. Stattdessen ist dort, wo Norden sein müsste, ein Vollmond auf die Platte gezeichnet und dort, wo die Nadel nach Süden zeigt, ein Neumond.
»Du hast ihn noch?«, fragt Arthur begeistert und nimmt ihn aus dem Kästchen an sich, als Enif nickt. »Wahnsinn. Ich dachte, er ist verloren gegangen.«
»Nein«, sagt Enif und nimmt den Kompass wieder an sich. »Irena hat ihn nur vor meiner Mutter verstecken müssen. Das ist kein gewöhnlicher Kompass, wie dir vielleicht aufgefallen ist, Evie.« Sie hält ihn in meine Richtung und in der Tat: Die Nadel dreht sich im Kreis. Noch ein ungewöhnliches Merkmal. »Dieser Kompass hilft einem, unentdeckt zu bleiben, indem er anzeigt, wann eine Person auftaucht, der man aus dem Weg gehen will. Dann zeigt die Nadel in die Richtung, aus der die Person sich nähert. Er funktioniert natürlich auch in die andere Richtung, wenn man jemanden unbedingt finden will. Allerdings haben Irena und ich ihn immer nur genutzt, um uns vor unserer Mutter zu verstecken. Und eventuell …« Sie gibt dem Gehäuse einen kleinen Klaps. Sofort hält die Nadel an. »Eventuell ist er schon ganz schön alt.«
»Das ist ziemlich beeindruckend«, murmle ich, dennoch immer noch nicht überzeugt von Enifs Idee. Was ist, wenn der Kompass nicht funktioniert? Wenn sie sich in die Bibliothek teleportiert und direkt vor den Füßen der Zeitwächter oder des Drachen landet? All das scheint Enif jedoch nicht einmal in den Sinn zu kommen. Sie nickt zufrieden und steckt den Kompass in die Taschen ihrer weit ausgestellten Hose.
»Also, ich bin bestimmt gleich wieder da. Mach dir keine Sorgen, Evie.«
»Nimm wenigstens einen von uns mit«, versuche ich es, bis mir auffällt, dass Enif dann niemanden mit zurücknehmen könnte. Schließlich kann sie nur eine Person teleportieren. »Schon gut, ich weiß«, gebe ich auf und ziehe sie an mich. »Sei vorsichtig, bitte.«
»Das bin ich, und wenn ich mit Atlas und Lavender zurück bin, erzählst du uns alles über diese Widerwelt. Wir lassen dich nicht im Stich, Evie«, sagt sie und drückt mich kurz und kräftig an sich. »Rede aber erst mal mit Arthur«, wispert sie noch, ehe sie einen Schritt von mir weicht und dann von der Zeit verschluckt wird.
Zurück bleiben Arthur und ich. Wir stehen uns gegenüber, wie damals, als wir uns das erste Mal sahen, und wieder steht etwas zwischen uns. Nur ist es diesmal kein Bach und auch nicht meine Familie. Es sind Fragen, unbequeme Wahrheiten und … sein Bruder.
Eine seltsame Stimmung legt sich über den Raum. Selbst der Dampf aus den Teetassen, vier Stück, die unberührt auf dem Tisch zwischen Arthur und mir stehen, löst sich auf, als wolle er sich den nächsten Minuten entziehen. Ich will es auch. Ich will nichts lieber, als mich zu verstecken, die Augen vor dem zu verschließen, was vor mir liegt. Was ist nur mit uns passiert?
Als ich es wage, den Blick zu heben, erkenne ich, dass es ihm auch so geht. Dass er nicht wiedererkennt, was aus uns geworden ist. Seine hochgezogenen Schultern, das Misstrauen in seinem Blick und diese entsetzliche Mauer zwischen uns.
Arthurs schöne Künstlerhände umklammern die Lehne des Stuhls fester als nötig. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen ist so tief, dass darin wohl alle Gedanken ertrinken könnten. Er zieht seine Unterlippe ein, sein Blick wandert langsam über mich. Wieder frage ich mich, was er wohl sieht. Eine Fee, wie damals am Bach? Oder ein Monster, an das mich Rémi so gnadenlos erinnert hat? Ich schlucke schwer und so laut, dass Arthur seinen Kopf hebt. Er räuspert sich und ich schrecke auf.
Ein schüchternes Lachen huscht über sein Gesicht. »Ich habe mir unser Wiedersehen anders vorgestellt«, sagt er, umrundet langsam mit vorsichtigen Schritten den Tisch und kratzt sich dabei am Hinterkopf.
»Ich auch.« Ich löse meine verkrampften Hände. »Es tut mir so leid, Arthur. Ich … Es ist alles so kompliziert geworden. Dabei war alles, was ich wollte, dich zu finden. Glaub mir, ich bin nur deshalb diesen Handel mit Rémi eingegangen und …«
»Evie«, unterbricht er mich mit brüchiger Stimme. Ich halte wieder die Luft an. »Evie, bevor wir über den Handel und die Widerwelt reden, muss ich etwas anderes wissen. Sag mir: Hast du Gefühle für ihn?«
Seine Frage trifft mich wie eine Welle mitten in die Brust und mein Atem schwindet, meine Worte erst recht.
»Ich muss es wissen.« Arthur kommt näher, die Verzweiflung, die von ihm ausgeht, greift nach mir. »Ich habe gesehen, wie ihr euch umarmt habt. Und auf dem Weg hierher …« Er schüttelt den Kopf, vermutlich hofft er, die Bilder würden ihm aus dem Gedächtnis fallen. »Ich habe euch beobachtet. Rémi wollte eine Illusion über mich legen, ich habe die Wut und sein Verlangen danach in seinen Augen gesehen, aber du hast es verhindert. Die Sache ist aber, mein Bruder lässt sich nicht umstimmen.« Nun steht Arthur direkt vor mir. »Von dir aber schon. Und auf dem Weg hierher«, redet er weiter. »Da hast du ihn angeschaut, als … als wünschtest du dir, ich wäre nicht da.«
»Arthur, ich …« Ich ringe noch immer nach Worten, nach Luft, nach allem, was diesen Moment erträglicher macht und eine Antwort hinauszögert.
»Du hast gesagt, du brauchst ihn.«
»Das war ein Fehler, ich …«
»Ich weiß, dass wir ihn brauchen, um den Weg in die Widerwelt zu finden. Aber wofür brauchst du ihn, Evie?« Vorsichtig greift er nach meiner Hand und führt sie zu seinem Herzen. Kräftig donnernd spüre ich es unter seiner Brust. »Sei ehrlich mit mir. Ich habe zwar keine Magie mehr, aber eine Lüge erkenne ich dennoch.«
Mein Blick wandert von seinem Herzen zurück zu seinem Gesicht. Dann ziehe ich meine Hand zurück, meine Stimme ist nur ein Flüstern.
»Ich weiß es nicht.«
»Was, Evie? Was weißt du nicht?«
Ich rechne mit weiteren Tränen, die mir die Sicht nehmen und in meinen Augen brennen wie die Wahrheit auf meiner Zungenspitze. Aber sie bleiben aus und vielleicht macht das meine nächsten Worte nur schmerzhafter.
»Ich weiß nicht, ob ich Gefühle für Rémi habe.«
Arthur nickt. Ein-, zwei-, dreimal. Mit jedem Nicken entfernt er sich einen Schritt von mir. Mit jedem Nicken bekommt mein Herz einen weiteren Riss. Und mit jedem Nicken hasse ich mich selbst ein bisschen mehr.
»Ich wollte das nicht. Ich wollte das wirklich nicht.« Meine Worte verschlucken sich in dem Zittern, das meinen Körper erfasst. Ich will auf Arthur zugehen, aber er weicht weiter zurück, hebt sogar eine Hand, als wäre ich gefährlich. Würde er dich immer noch lieben, wenn er sich eingestehen würde, wie sehr er sich eigentlich vor dir fürchtet? Rémis Worte peitschen durch meine Gedanken, wollen sich in meinen Adern ausbreiten wie Gift. Nein, nein, nein. Ich schüttle den Kopf, bis meine rosa Schmuckfalter klimpern, während Arthur noch mit meinen Worten ringt. So verloren steht er nun in der Ecke dieses gemütlichen Zimmers, als suche er nach einer Antwort oder nach irgendetwas, das ihn aufrecht hält. Ich sehe, dass er ebenfalls zittert und auch, wie seine Hände sich verkrampfen und Schmerz in seine Augen tritt. Was habe ich da nur gesagt?
Falsch, falsch, falsch. Ich liebe Arthur, er war es doch, den ich mir immer gewünscht habe. Weshalb sollte mir der Spiegeljunge meine große Liebe schicken, wenn ich mich dann in einen anderen verliebe? Das ist unsinnig, so funktionieren Geschichten nicht. So kann meine nicht sein!
»Irgendetwas stimmt nicht mit mir, Arthur«, beginne ich und wage es erneut, auf ihn zuzugehen. Diesmal weicht er nicht zurück. »Ich liebe dich. Dich. Du warst es, den ich mir gewünscht habe. Für dich war ich bereit, mein Herz zu geben. Nur für dich. Aber irgendetwas ist da zwischen ihm und mir. Ich weiß nicht … ich weiß nicht, was. Ich weiß nur, dass ich das nicht will.« Nun bin ich es, die in den Zimmerecken nach einer Lösung sucht, doch bis auf lose Spinnweben und einzelne Staubfäden gibt es nichts. »Ich finde, Rémi ist ein schrecklicher Mensch, er tut schreckliche Dinge«, sage ich und denke auch: Aber er hat mich aus dem Sternschnuppensee gezogen. »Er hat mit mir gespielt, die ganze Zeit«, zähle ich weiter auf. Und hat mir ein Museum geschaffen, um mit mir darin zu tanzen. »Er hat Atlas versteinert und dich aus dem Zirkus werfen lassen.« Er hat mir Blumen geschenkt, ein ganzes Meer aus Blumen. »Er hat … er hat mir grausame Illusionen gezeigt«, meine Stimme wird immer verzweifelter, meine Gedanken auch. Sie erinnern mich an den Sternenhimmel, in dem wir hingen, an den Moment kurz vor meinem ersten Auftritt, als er mich geschminkt hat. Es passt nicht. Nichts passt hier zusammen. Nicht, wie er ist, und nicht, was ich fühle. »Er … aber ich … Ich verstehe mich selbst nicht.« Ich sinke zu Boden und wünsche mir, davon einfach verschluckt zu werden. Wie seltsam es ist, dass ich mich genau jetzt nach dem Keller im weißen Schloss sehne, nach den Fliesen, die ich als Strafe immer säubern musste. Und wie seltsam ist es, denke ich, dass sich eine Strafe auch nach Sicherheit anfühlen kann.
Arthur weicht nicht noch einmal zurück, sondern geht nun vor mir in die Hocke und sucht nach meinem Blick. Mit seinen Händen umfasst er mein Gesicht. Wie habe ich ihn nur verdient? Wieso ist er noch immer hier? Er muss wirklich einem Wunsch entsprungen sein, anders kann ich es mir nicht erklären.
»Evie«, raunt er und beugt sich vor, bis seine Stirn meine berührt. Wärme flutet mich und vertreibt die eisige Kälte, die in mir wütet. »Ich will nicht, dass du etwas für ihn empfindest. Und ich werde nie aufhören, um dich zu kämpfen.«
»Ich will es auch nicht«, antworte ich leise. Ich will es wirklich nicht, ich will dieses Chaos nicht, das es mit sich bringt. Ich will die Sicherheit, die Arthur mir schenkt, ich will die Evie sein, die ich bei ihm bin. Die, die niemals versuchen würde, ihren Freunden ein Geheimnis mit einem Zaubertrank zu entlocken. Die, die niemanden verletzt. Aber ich weiß nicht, ob es möglich ist, diese Evie zurückzuholen.
Plötzlich rückt Arthur von mir ab. Kurz erfasst mich Panik, diese Gedanken laut ausgesprochen zu haben, aber da ist keine Wut, keine Abscheu in seinem Blick. Es ist eher eine Idee, getränkt von wahnsinniger Hoffnung, die darin aufblitzt.
»Was ist?«, frage ich und folge Arthur, der sich erhebt und beginnt, auf und ab zu laufen. »Arthur, was …« Ich stocke, als er abrupt stehen bleibt. Seine Hand fährt ruppig durch sein Haar. Dann kommt er wieder auf mich zu, umfasst mein Gesicht erneut, diesmal fast panisch, während sein Blick mich durchdringt, als suche er nach etwas. Dann scheint er es gefunden zu haben.
»Arthur …« Ich winde mich aus seinem Griff, sofort lässt er mich los.
»Was ist, wenn es nicht echt ist?«
Ich blinzle heftig, versuche seinen Gedanken zu folgen. »Ich verstehe nicht.«
»Du hast gesagt, du verstehst dich selbst nicht, richtig?« Ich nicke, doch er redet schon weiter. »Du hast dir deine große Liebe gewünscht und dann … dann war ich da. Aber trotzdem hast du eine Verbindung zu ihm, die du dir nicht erklären kannst.« Wieder nicke ich, immer noch ahnungslos, worauf er hinauswill. »Was ist, wenn du all das spürst und nicht spürst, weil es eben nicht echt ist?«
Etwas in mir beginnt zu klingen. Nur kann ich es immer noch nicht richtig fassen. »Was meinst du damit?«
»Du liebst mich, richtig?«
Ich nicke, heftig und schnell. Arthur sieht mir fest in die Augen. »Aber ob du meinen Bruder liebst, weißt du nicht.«
»Ja.«
»Und trotzdem hast du Gefühle für ihn. Nur kannst du sie nicht erklären.«
»Arthur, kannst du nicht einfach sagen, was du denkst?«
