Two worlds, one moment - Bridget Oko - E-Book

Two worlds, one moment E-Book

Bridget Oko

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Beschreibung

Naomi führt ein geordnetes Leben: behütet, privilegiert, mit klaren Zukunftsaussichten. Osaro kommt aus ganz anderen Verhältnissen – seine Wurzeln liegen in Nigeria, sein Alltag in Zürich ist geprägt von Kämpfen, Abstürzen und einem Neuanfang, der auf wackligen Beinen steht. Trotz aller Unterschiede finden die beiden zueinander, verbunden durch einen schicksalsträchtigen Moment. Doch als Osaro von seiner Vergangenheit eingeholt wird, bricht Naomis Welt auseinander. Sie beendet die Beziehung, obwohl ihr Herz etwas anderes sagt. Wochen später ist er verschwunden – keine Nachricht, kein Abschied. Aber manche Verbindungen lassen sich nicht einfach kappen. Was, wenn die Liebe nicht fragt, ob zwei Menschen zusammenpassen? Was, wenn genau dieser eine Mensch der einzige ist, bei dem du ganz du selbst bist?

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Seitenzahl: 602

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Two worlds, one moment

Osaro

Naomi

Osaro

Naomi

Naomi

Naomi

Osaro

Osaro

Osaro

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Osaro

Osaro

Naomi

Naomi

Osaro

Naomi

Naomi

Naomi

Naomi

Naomi

Osaro

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Osaro

Osaro

Osaro

Naomi

Naomi

Naomi

Osaro

Naomi

Naomi

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Naomi

Osaro

Naomi

Osaro

Osaro

Im Nachhinein kann Osaro nicht genau sagen, wann ihm auffiel, dass etwas nicht stimmt. Er betrachtet Naomis graue Augen, die ihn so intensiv fixieren, als wollten sie niemals wieder etwas anderes anschauen. Als ob sie nicht zulassen könnte, dass er geht. Dabei wollte er sich nur kurz verabschieden, und jetzt guckt sie so. Ihre Iris ist an den Rändern fast dunkelgrau, wird jedoch zur Mitte hin immer heller. Nie hätte er gedacht, dass er diese Augenfarbe mögen würde, er fand sie immer eher kalt und abweisend. Bei Naomi ist das nicht so, ihre Augen sind wunderschön und strahlen eine Wärme aus, die ihn anzieht. Er sollte etwas sagen, um das Gespräch wiederaufzunehmen, bloss was?

Osaro bleibt stumm. Ein unangenehmes Gefühl kriecht in seinen Kopf, eine diffuse Bedrohung, ein beklemmendes Ziehen in der Brust. Er wendet den Blick ab und lässt ihn über die Umgebung schweifen, doch er kann nichts Ungewöhnliches entdecken.

In den nächsten Minuten wird es wohl anfangen zu regnen, vermutlich gibt es ein Gewitter, mehr nicht. Trotzdem packt ihn eine Angst, bei der er nicht sagen kann, wieso sie überhaupt da ist. Ist nicht das erste Mal, dass dieses Unbehagen ihm zu schaffen macht, es bedeutet immer Gefahr. Etwas wird geschehen, etwas Schlimmes, Unerträgliches. Und er weiss mit plötzlicher, untrüglicher Sicherheit, dass er die Macht hat, es zu verhindern.

»Wenn du das Richtige tust, stehen die Ahnen dir bei«, glaubt er, eine vertraute Stimme zu hören, als der erste Regentropfen schwer auf seinen Arm fällt. Es ist die Stimme seines Onkels, der ihm früher solche Dinge zu sagen pflegte. In letzter Zeit denkt er oft an ihn und seine bedeutungsschweren Ratschläge.

Osaro spürt, dass die Zeit drängt. Die Sekunden verstreichen, doch nichts rührt sich. Die bleierne Hitze wird durch die Regentropfen durchbrochen. Ohne weiter nachzudenken und sich zu fragen, was das alles zu bedeuten hat, macht er den einen, entscheidenden Schritt auf Naomi zu, die ihn fragend anschaut. Sie hat bemerkt, wie abgelenkt er auf einmal ist. Er packt sie ohne Worte an den Schultern und stösst sie mit aller Kraft, die er aufbringt, von der Strasse.

Naomi

Naomi steht neben Osaro, um ein paar letzte Worte zu wechseln, und spürt Bedauern in sich aufsteigen, weil sie sich wohl kaum mehr wiedersehen werden. Sie haben nicht viel miteinander geredet, als er mit den beiden anderen Landschaftsgärtnern im Garten arbeitete. Worüber auch? Wollt ihr was zu trinken? Ja, genau da sollen die Sträucher hin.

Aber sie konnte die Augen nicht von ihm lassen und bei ihm war es genauso. Die Hitze des Sommertages hält sie umfangen, steigt vom Asphalt auf. Sie kann sie durch die dünnen Sohlen der Sandalen fühlen. Und nun fallen die ersten Tropfen aus den Wolken, die sich seit einigen Stunden immer höher aufgetürmt haben und Abkühlung versprechen. Gerade fragt sich Naomi, wieso Osaro plötzlich so abgelenkt ist. Und in diesem Moment stösst Osaro sie so heftig zur Seite, dass sie sofort hinfällt. Ein stechender Schmerz fährt ihr in die Handgelenke, als sie versucht, sich abzufangen. Ein roter Lieferwagen schiesst in diesem Moment heran, seine Reifen fabrizieren dieses typische Quietschen, wenn man zu schnell bremst. Es fährt ihr durch Mark und Bein. Die Luft ist nicht mehr erfüllt vom Ozongeruch des nahenden Gewitters, sondern nach verbranntem Gummi. Osaro steht nicht mehr dort, wo er eben noch war. Das ist alles unwirklich schnell geschehen, viel zu schnell, um es zu begreifen.  

Einen Moment ist Naomi vor Schreck so erstarrt, dass sie sich nicht bewegen kann. In ihren Ohren rauscht es heftig, sie glaubt, dass jemand sie ruft, doch wer es ist und woher die Stimme kommt, kann sie nicht sagen. Vor Entsetzen und Schmerz keucht sie auf. Als sich ihre Atmung etwas beruhigt hat, versucht sie sich aufzurappeln. Sicher hat sie sich Schürfungen eingefangen und die Handgelenke pochen dumpf, aber sie ignoriert alles. Osaro liegt wenige Meter neben ihr am Strassenrand, wohin ihn der Lieferwagen geschleudert hat. Naomi eilt zu ihm und kniet sich neben ihn auf die Strasse. Panik breitet sich in ihr aus, als sie ihn nach Verletzungen absucht. Der Herzschlag donnert in ihren Ohren und ihre Finger zittern. Osaro liegt regungslos da, die Augen sind geschlossen. Blut sickert zwischen seinen Locs hervor. Der immer stärker einsetzende Regen verdünnt es zu einem hellen Rot.

Ohne weiter nachzudenken, versucht Naomi, seine schlaffen Glieder in die Seitenlage zu bringen. Sie sind erstaunlich schwer und ihre Handgelenke schmerzen noch mehr. Ein Arbeitskollege von Osaro eilt herbei und versucht, ihr zu helfen. Schliesslich schaffen sie es. Immer noch füllt die Panik Naomi aus, lässt ihr Denken verschwimmen. Mit schlotternden Knien setzt sie sich neben Osaro. Es fühlt sich an, als ob ihr sämtliches Blut aus dem Kopf in die Füsse gesackt wäre. Ihr Blick fällt auf den zu Tode erschrockenen Fahrer des Lieferwagens, der hilflos und mit blassem Gesicht auf die Szene schaut. Dann wandern ihre Augen zu den schwarzen Bremsspuren auf der Strasse. Wieder nimmt sie den Geruch nach verbranntem Gummi wahr. Das Martinshorn einer Ambulanz dringt durch Naomis Benommenheit. Osaros Arbeitskollegen müssen sie gerufen haben. Tränen der Erleichterung schiessen ihr in die Augen. Die Ambulanz kommt an, die Sanitäter verschaffen sich einen ersten Überblick und ihre Professionalität beruhigt Naomi etwas. Sofort kümmern sich die Sanitäter behutsam um Osaro. Naomi stösst langsam den Atem aus. Der Anblick von Osaro, wie er auf eine fahrbare Trage gehievt und mit Gurten gesichert wird, sieht dramatisch aus, aber wenigstens wird ihm geholfen. Das Letzte, was Naomi von ihm sieht, ist Osaros Gesicht, das eine seltsam gräuliche Farbe angenommen hat. Inzwischen ist auch ein Wagen der Zürcher Kantonspolizei eingetroffen und zwei Beamte kümmern sich um den Fahrer des Lieferwagens und um die Sicherung der Strasse. Ein weiterer Polizeiwagen trifft ein. Ein Polizist kommt auf Naomi zu, um auch ihr Fragen zu stellen. Er stellt sich als Herr Jonser vor und möchte gerne von ihr hören, was passiert ist. Naomi schaut ihn an und versucht, einen Satz zu formulieren. Die Wörter verschwinden von ihrer Zunge, noch bevor sie sie aussprechen kann. Herr Jonser sieht ein, dass sie unter Schock steht, und begleitet sie ins Haus. Naomi hat immer noch wackelige Knie und bemerkt im Garderobenspiegel ihre erschreckende Blässe. Der Polizist fragt, ob sie jemanden verständigen möchte, und sie ist dankbar für diesen Vorschlag. Naomi ruft ihre Mutter an und sie verspricht, sich gleich auf den Weg zu machen. Herr Jonser notiert sich Naomis Namen und Telefonnummer und bittet sie, die Aussage in den nächsten Tagen auf dem Polizeiposten nachzuholen, bevor er sich verabschiedet.

Wie ein Sandsack bleibt Naomi auf dem Sofa sitzen und versucht zu begreifen, was gerade passiert ist. Alles ist so wahnsinnig schnell gegangen. Es kommt ihr total unwirklich vor: Innerhalb von nicht einmal einer halben Stunde geht die Bandbreite von einer zarten Verliebtheit bis zu Schockstarre über einen haarsträubenden Unfall.

Da kommt ihre Mutter schon mit ihrem kleinen roten Fiat angebraust. Wie sie das so schnell geschafft hat, ist Naomi ein Rätsel. Ganz aufgelöst kommt Caroline ins Wohnzimmer gestürmt, mit dem Anruf hat Naomi sie gewaltig erschreckt. Als sie sieht, dass ihre Tochter eigentlich völlig okay ist, nur schwer erschrocken durch den Unfall, beruhigt sie sich schnell. Sie verabreicht ihr Bachblütentropfen, die Naomi nur schluckt, weil sie keine Kraft hat, sich dagegen zu wehren. Dann kocht ihre Mutter einen Tee, stark gesüsst, der tatsächlich etwas hilft. Sie fühlt sich etwas weniger zittrig und kann die ganze Geschichte etwas zusammenhängender erzählen.

»Osaro hat mich von der Strasse gestossen«, erklärt sie ihr. »Er hat mich gerettet. Und jetzt ist er selbst so schwer verletzt worden. Du hättest sein Gesicht sehen sollen!« Die Wörter sprudeln jetzt nur so aus ihr heraus, sie muss es erzählen, um es begreifen zu können.

»Bist du sicher, dass das so gewesen ist?«, fragt ihre Mutter, mit einer guten Portion Unglauben in der Stimme.

»Ausgerechnet du solltest mir doch glauben können!«, verteidigt sich Naomi ungehalten. Ihre Mutter hat einige spezielle Vorstellungen. Schicksal, höhere Sphären, Kontakte zu Engelwesen und dergleichen sind für sie ganz normale Begriffe. Als der Dalai Lama sein erstes Album mit Mantras herausgegeben hat, hat sie es sich sofort gekauft.

Und trotzdem betrachtet sie ihre Tochter skeptisch und kann sich nicht recht entscheiden, ob da was dran sein könnte. Naomi erkennt es daran, wie sie ihre Brille abnimmt und sorgfältig putzt, bevor sie sie wieder aufsetzt. Es ist eine so typische Geste für sie, wenn sie Zeit braucht, um Gegenargumente zu suchen. Naomi ärgert sich. Klar, es mag dramatisch klingen. Aber wieso muss ihre Mutter immer ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen? Manchmal kommt es Naomi so vor, als würde sie sich die Welt so zurechtbiegen, bis alles für sie passend ist. Und so ist es schon immer gewesen. Naomi ist für sie immer noch das leicht zu beeinflussende Kind, das sie mit fünfzehn war. Da kann man schon mal etwas falsch verstehen …

Beide lassen das Thema fallen, ihnen ist nicht nach Streit zumute. Naomi spürt ihre blauen Flecken und die Handgelenke schmerzen wieder stärker. Sie legt sich aufs Sofa, während ihre Mutter anfängt, das Abendessen zu kochen.

Osaro

Ganz langsam wird er wach, lose Gedanken schwirren an der Oberfläche seines Bewusstseins, locken ihn an, nur um ihm wieder zu entgleiten. Du warst stoned, sagt er sich, denn genau so fühlt er sich. Watte im Kopf, orientierungslos und wie losgelöst von seinem Körper. Dieser Gedanke reisst ihn endgültig aus seiner Benommenheit und jagt einen Panikschub durch seine Glieder, denn das würde einen allzu krassen Rückfall bedeuten. Als er sich umsieht, merkt er, dass die Umgebung nicht passt: Er liegt auf einem Bett mit weissen Kissen und Decken. Um ihn herum herrscht gedämpftes Licht, trotzdem kommt es ihm zu hell vor. Menschen laufen unablässig hin und her. Etwas ist an seinem Arm fixiert, sein Bauch fühlt sich aufgebläht an, und sein Mund ist völlig ausgetrocknet. Endlich platzt der Knoten in seinem Kopf und er kapiert, was los ist. Er liegt im Krankenhaus und darum wuseln alle diese Leute herum und es riecht so seltsam. Erleichterung durchflutet ihn, seine erste Vermutung war komplett falsch. Auf einmal steht ein Arzt oder Pfleger oder was auch immer vor ihm und stellt sich vor, doch er kriegt den Namen nicht richtig mit. Als der Typ sieht, dass er noch echt groggy ist, geht er wieder. Nach einer Weile taucht er wieder auf.

»Wie geht es Ihnen?«, erkundigt er sich, nachdem er wieder seinen Namen genannt hat. »Haben Sie Schmerzen oder oder ist Ihnen übel?«

»Nein, nur Durst.« Osaros Stimme krächzt furchtbar, aber sein Kopf scheint wieder einigermassen klar zu sein.

»Ja, bald können Sie etwas zu trinken bekommen. Wissen Sie, was passiert ist?«

»Ich hatte einen Unfall.«

»Richtig. Ruhen Sie sich noch eine Weile aus, Sie mussten operiert werden und befinden sich im Aufwachraum. Ein Bauchtrauma, die Milz war angerissen, wir mussten die Blutung operativ stoppen. Eine Kopfwunde musste genäht werden und auch die Rippen sind in Mitleidenschaft gezogen worden. Die zuständige Ärztin wird es Ihnen bei der nächsten Visite noch genauer erläutern. Sie können jederzeit klingeln, wenn Sie Hilfe brauchen. Bald werden Sie auf die reguläre Station verlegt werden.«

Osaro antwortet nicht, der Pfleger sich entfernt und nach ein paar Minuten nickt Osaro erneut ein, obwohl sich die Worte Milzriss und Operation in seinem Kopf drehen.

Als er das zweite Mal erwacht, kommt alles wieder hoch. Dieser Lieferwagen hat ihn voll erwischt. Er erinnert sich jetzt genau an dieses beschissene Gefühl und daran, wie er Naomi wegschubste. Hoffentlich geht es ihr gut. Es muss einfach. Aber vielleicht wird er das nie in Erfahrung bringen können. Dieser Gedanke gefällt ihm gar nicht.

»Die Ahnen stehen dir bei.« Ihm fällt ein, wie die Stimme seines Onkels ihm das zuraunte. Das kommt davon, dass er in letzter Zeit so oft mit ihm telefoniert und Pläne geschmiedet hat. Da setzt sich unweigerlich solcher Stuss im Hirn fest. Sein Onkel sieht überall die Vorfahren am Werk. Osaros Meinung nach hätten die sich schon etwas mehr Mühe geben können mit dem Beschützen.

»Vielleicht rufen die Ahnen dich in die Heimat zurück. Du warst schon immer jemand, der ihnen besonders stark verbunden ist.« Solches Zeug kann sein Onkel stundenlang von sich geben, und vielleicht stimmt es ja auch. Wenn er hingegen mit seiner Tante telefoniert, meint sie, er schleppe irgendeinen Kindheitskomplex mit sich herum und solle sich besser in der Schweiz einen richtigen Job suchen, wo er genug Kohle verdient. Vielleicht hat sie auch recht. Auf jeden Fall wird er Naomi kaum wiedersehen, was eine bittere Aussicht ist. Wahrscheinlich passt sie besser zu seinen Zukunftsplänen, welche die Sicht seiner Tante nicht berücksichtigen. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in seiner Bauchgegend aus und wird immer stärker. Osaro beginnt die Klingel zu suchen. Wo war die gleich nochmal?

Naomi

Die Unfallszene verfolgt Naomi in den nächsten Tagen nahezu unablässig. Sie ist unkonzentriert und vergesslich. Während sie über ihren Büchern sitzt, die sie für ihren Physiotherapie-Bachelor lesen sollte, ertappt sie sich dabei, dass sie gar nichts aufnimmt, sondern bloss Gedanken wälzt. Jedes Geräusch hat das Potenzial, sie abzulenken. Natürlich fragt sie sich auch immer wieder, wie es Osaro wohl geht. An ihn zu denken, ist wie eine Sucht. Je stärker man die Sache vermeiden will, desto mehr drängt sie sich in den Vordergrund. Auch das Bild von ihm, wie er konzentriert und schweigsam im Garten vor dem Haus arbeitete, drängt sich immer wieder in ihren Kopf. Er hat nichts Besonderes gemacht oder gesagt, klar, doch einige Male trafen sich ihre Blicke und sie spürte eine Faszination für ihn, die sie nicht in Worte fassen kann.

Nach einer Woche liegt sie abends mal wieder schlaflos im Bett und in ihrem Kopf blitzen die Bilder von Osaro und dem Unfall durcheinander auf. Die Sommerhitze drückt durch das Dach in ihr Zimmer, die Bettdecke liegt viel zu schwer über ihr. Sie fühlt sich wie erdrückt, wütend stösst sie sie von sich. Naomi ärgert sich über ihren Zustand und fasst einen Entschluss: Sie muss versuchen, Osaro zu finden, mindestens nochmals mit ihm sprechen und sich bei ihm bedanken. So kann es nicht weitergehen. Trotzdem ist an Schlaf nicht zu denken, zu genau stellt sie sich vor, wie das Wiedersehen ablaufen könnte. Erst weit nach Mitternacht fällt sie in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen ruft sie ihre Mutter an, denn sie kann sich nicht mehr daran erinnern, wie die Landschaftsgärtnerei hiess, bei der Osaro arbeitet.

»Wieso willst du denn diesen Osaro finden?«, blockt Naomis Mutter ihr Ansinnen zuerst ab. »Das ist doch normal, etwas verstört zu sein, wenn man so einen Unfall hautnah miterlebt. Gib dir etwas Zeit, alles zu verarbeiten, und geh die Dinge langsam an. Man wird sich im Krankenhaus ausgezeichnet um ihn kümmern und er kommt bald wieder auf die Beine.«

Erst als sie merkt, dass Naomi ernsthaft sauer wird, rückt sie mit dem Namen heraus. Beim Auflegen hört sie ihre Mutter noch von blockierten Chakren murmeln. Was wiederum Naomi ärgert: Wieso muss ihre Mutter immer mit diesem Esoterikkram um die Ecke kommen? Frustriert seufzt sie auf. Immerhin hat sie jetzt den Firmennamen. Sofort sucht sie die Telefonnummer raus und ruft dort an. Als sie jedoch versucht, ihr Anliegen zu erklären, wimmelt die Sekretärin sie ab. Persönliche Daten werden nicht herausgegeben. Na klar, das hätte Naomi sich denken können. Doch so leicht will sie sich nicht geschlagen geben. Jetzt muss sie zu einer der letzten Vorlesungen fahren, morgen wird sie weitersuchen.

Der nächste Tag ist vorlesefrei, was für ein Glück. Zwar sollte sie natürlich lernen, aber first things first. Mit Kaffee und Smartphone bewaffnet setzt sich Naomi um sieben Uhr auf die Terrasse und macht sich motiviert an die Suche. Es stellt sich heraus, dass die Sache knifflig ist. Naomi hat zwar jetzt den Namen von Osaros Arbeitgeber, aber weder Nachnamen noch Geburtsdatum oder irgendwas anderes Nützliches. Sie googelt die Firma, doch die Webseite ist ziemlich spartanisch. Osaro als alleinige Suche zeigt, dass es einige Sportler mit diesem Namen gibt, ebenso eine Robotertechnikfirma. Also googelt Naomi Osaro und Zürich. Das ergibt einige Treffer, jedoch nichts, was passend zur Situation ist. Sie versucht die verschiedensten Kombinationen. Nichts. Sie braucht den verflixten Nachnamen, um weiterzukommen. Naomi macht sich einen zweiten Kaffee und nippt nachdenklich. Sie durchforstet ihre Erinnerungen an irgendetwas, das Osaro gesagt hat und ihr jetzt nützlich sein könnte. Es war bloss Small Talk und ein paar Dinge über seine Arbeit. Sie hat mehr von sich erzählt als er über sich.

Sie ruft nochmals die Webseite der Landschaftsgärtnerei auf und durchforstet sie. Bei Kontakt steht da tatsächlich nur die Nummer und Mailadresse des Büros, welches sie gestern angerufen hatte. Aber unter Team sind die Namen der Inhaber aufgeführt, auch mehrere fest angestellte Mitarbeiter, sogar ein Lernender. An dem wird sie sich abarbeiten. Dass ein Jugendlicher in Zürich nicht irgendwo auf Social Media auffindbar ist, ist wenig wahrscheinlich. Sie findet ihn in weniger als einer Minute auf Snapchat, da sie endlich Glück hat und er Jonas Steckovics heisst, ein ungewöhnlicher Name. Sie schreibt ihm annähernd die Wahrheit, im Vertrauen darauf, dass ihre Generation nicht so viel Wert auf Datenschutz legt.

»Hi, ich bin Naomi, eine Freundin von Osaro und ich würde ihn gerne im Spital besuchen, nach diesem üblen Unfall, den er hatte. Weisst du zufällig, in welchem Spital er ist?«

Naomi tigert unruhig durch den Garten und hofft, dass gleich eine Antwort kommt. Währenddessen guckt sie sich die Arbeiten nochmals an, die Osaro hier mit seinen Arbeitskollegen ausgeführt hat. Neue Platten auf der Terrasse verlegt. Sträucher eingepflanzt, einen Baum gefällt, der zu gross geworden war. Drei Tage waren sie zugange. Einmal hat Osaro Naomi gefragt, was sie denn lerne, weil sie immer mit einem Buch in der Hand anzutreffen war. Sie erklärte ihm den Physio-Bachelor. »Und du?«, fragte sie zurück. »Hast du eine Ausbildung im Gartenbau gemacht? Wie lange dauert das denn?«

Osaro antwortete knapp: »Habe ich nicht. Ich mache das nur temporär.«

Dieser Zufall, dass er gerade hier war, als der Unfall passierte. Wenn sie darüber nachdenkt, kann sie es immer noch nicht fassen. Er konnte doch nicht wissen, was passieren würde. Diesen Gedanken hat sie schon hundertmal gedacht, trotzdem kriegt sie ihn nicht aus dem Kopf. Naomis Handy plingt und ungeduldig ruft sie Snapchat auf.

»Ja, klar, im Zollikerberg. Armes Schwein, es hat ihn echt hart erwischt.«

Naomis Magen krampft sich zusammen, als sie Jonas’ Nachricht liest. Morgen wird sie da auf jeden Fall hingehen.

Naomi

Am nächsten Abend steht Naomi vor dem Haupteingang des Spitals Zollikerberg, einem auffälligen roten Gebäude. An das Hauptgebäude schliesst sich ein lang gezogener Neubau mit Fronten aus Glas an, in denen sich die Sonne spiegelt. Ein markantes, aber einladend wirkendes Bauwerk. Obwohl sie Osaro ja unbedingt finden wollte, zögert sie jetzt. Sie gibt sich einen Ruck, natürlich muss sie es tun.

Als sie durch die Glastüren tritt, hat sie ein drückendes Gefühl im Magen. Was, um Himmels willen, soll sie nur sagen, wenn sie ihn gleich trifft? All die Sätze, die sie sich zurechtgelegt hat, sind wie weggewischt. Sie kennt ihn kaum und wird plötzlich im Krankenhaus vor ihm stehen. Wie eine Stalkerin. Am Empfang erkundigt sich Naomi nach der Zimmernummer von Osaro Okosuns. Seinen Familiennamen hat sie auch von Jonas bekommen, der ihn ihr bereitwillig mitgeteilt hat. 

Das Zimmer findet sie problemlos, die Gänge sind weder verwinkelt noch dunkel, es riecht auch nicht muffig. Alles ist hell und freundlich, trotzdem fühlt sie sich kurzatmig und angespannt. Sie klopft leicht an die Zimmertüre und öffnet sie dann vorsichtig. Ja, da ist er, in einem Bett am Fenster. Ihr Magen vollführt einen freudigen Hüpfer. Osaro schläft, ein Arm über dem Kopf angewinkelt. Die langen, dunklen Dreadlocks haben sich aus dem Haarband befreit und bilden einen scharfen Kontrast zum Weiss des Kopfkissens. Sie möchte das Stillleben am liebsten fotografieren. Aber schon bewegt sich Osaro leicht, seine Augen öffnen sich langsam und nach einem Moment der Desorientierung fokussiert sich sein Ausdruck. Naomi kommt in sein Blickfeld und seine Miene wechselt von verschlafen zu erstaunt. Naomi findet, dass er nicht gut aussieht. Müde, mit dunklen Augenringen. Auch die Gesichtsfarbe wirkt nicht sonderlich gesund. Ein seltsam gelblicher Ton schimmert unter seiner dunklen Haut. Naomis Magen krampft sich erneut zusammen, nicht aus Angst dieses Mal, sondern weil sie Schuldgefühle hat. Vielleicht ist das irrational, doch sie kann sich nicht davon lösen. Alles ihretwegen, weil sie unvorsichtig auf der Strasse rumstehen musste! Rasch geht sie durch den Raum und zieht einen Besucherstuhl neben sein Bett.

»Hallo Osaro.« Naomi räuspert sich. »Ich dachte, ich besuche dich mal.«

Osaro schaut sie an wie ein Alien. Eines mit drei Augen und Tentakeln anstelle von Haaren. Als er nichts sagt, fällt ihr nichts Anderes mehr ein, als nach seinem Befinden zu fragen. »Wie geht es dir denn? Ich hatte mir um dich Sorgen gemacht.«

»Hm, ganz okay. Wie …? Warum?« Er stottert herum. Es ist ihm unangenehm, dass sie gekommen ist. Oh nein. Wie konnte sie nur!

»Es tut mir so leid, was passiert ist«, erklärt sie schnell. »Bist du schwer verletzt worden? Hast du noch Schmerzen, du bist so bleich!«, plappert sie los, wie sie es manchmal tut, wenn eine Situation sie überfordert.  Mach mal wieder die Klappe zu, ermahnt sie sich innerlich. Immer mit der Ruhe, er kann dir ja nicht weglaufen.

»Ich und bleich, echt jetzt?« Osaro hat sich gefangen. Er zieht belustigt eine Augenbraue hoch. So auf diese bestimmte Weise, wie es nicht jeder kann.

»Na ja, dein Hautton ist ein bisschen speziell.«

Die zweite Augenbraue wandert ebenfalls in die Höhe. »Wie denn?«

»Also, ich kann es schwer beschreiben.« Naomi unterbricht sich, als sie merkt, dass er sie nur neckt. Er hat dieses Funkeln in den Augen, welches sie so mochte, als sie ihm und den anderen Arbeitern im Garten Getränke anbot. 

Sie smalltalken ein wenig. Wie sie herausgefunden hat, wo er gelandet ist. Wie ihre Prüfungsvorbereitungen laufen. Je länger sie reden, desto unbefangener werden sie und Naomi verliert ihre Unsicherheit ein wenig. Sie geniesst einfach die Unterhaltung und Osaros Gesellschaft. 

»Weisst du, ich war völlig fertig nach dem Unfall. Das ging alles so schnell«, wagt sie sich in ernsteres Terrain vor.

Osaro nickt. »Gehen wir in die Cafeteria und trinken etwas«, schlägt er vor, ohne darauf einzugehen. Er guckt zu seinen Zimmergenossen und tatsächlich schauen die beiden Männer mittlerweile in ihre Richtung. »Okay, lass uns gehen«, stimmt sie darum bereitwillig zu. Osaro steigt umständlich aus dem Bett. Der hellbeige Jogginganzug, den er trägt, tut seiner Gesichtsfarbe auch nichts Gutes. Er bewegt sich zaghaft, als würde er Schmerzen erwarten.

»Findest du das wirklich eine gute Idee?«, erkundigt sich Naomi zweifelnd. »Wir können doch auch hierbleiben.« Er winkt ab, es wird schon gehen.

Mit dem Lift fahren sie nach unten in die Cafeteria und holen sich ein Wasser und einen Kaffee. Osaro lässt sich mit einem erleichterten Seufzer auf einem der Kunststoffsessel nieder und Naomi setzt sich neben ihn.

Nervös nippt sie an dem Kaffee, um ihre Hände zu beschäftigen. Schliesslich überwindet sie sich und sucht Osaros Blick. »Ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast mich da von der Strasse gestossen, und darum bist du jetzt hier und nicht ich.«

Osaro weiss nicht, was er darauf antworten soll, das sieht sie ihm an. Aber die Augen abwenden kann er auch nicht. Er studiert ihre Gesichtszüge, als wären sie viel wichtiger, als alles andere. 

»Wie konntest du das bloss wissen? Das erstaunt mich immer noch«, fügt sie trotzdem hinzu. Weil sie die ganze Sache wirklich nie so ganz begreifen konnte.

Osaro murmelt leise: »Ich habe es einfach gespürt. Und der Rest lief automatisch ab, wie ein Reflex. Du musst dich nicht bedanken, echt nicht.«

Naomi sieht ein, dass er keine Lust hat, weiter darüber zu reden. Die Arme vor der Brust verschränkt, sieht er jetzt eher abweisend aus. Sie möchte ihn keinesfalls verärgern, nachdem sie ihn hier so überfallen hat, darum schneidet sie ein anderes Thema an.  

»Welche Verletzungen hast du denn?« Das wollte sie schon die ganze Zeit fragen, sie hat sich immer mit den schlimmstmöglichen Vorstellungen gequält. »Ich hatte solche Angst um dich, es sah schlimm aus, als du in die Ambulanz gebracht wurdest.«

Osaro lächelt müde, als sie wieder ihre Fragen stellt, gibt jedoch bereitwillig Auskunft.

»Tatsächlich hatte ich eine Milzruptur, das war das Schlimmste. Und ein paar Rippen gebrochen. Riesige Prellungen.« Er deutet auf seinen Kopf. »Und da mussten sie noch was nähen. Alles in allem hatte ich wohl Glück.« Dann betrachtet er Naomi prüfend. »Und du? Bei dir noch alles dran?«

»Ja, nur ein paar Schürfungen und verstauchte Handgelenke. Aber bei dir: Milzruptur, das ist ja alles andere als harmlos. Wie lange musst du denn noch hierbleiben?«  

»Nicht mehr lange, Gott sei Dank! Ich langweile mich zu Tode.«

Schnell finden sie ihren Gesprächsrhythmus wieder und quatschen über alles Mögliche. Naomi gratuliert sich innerlich dazu, dass sie es durchgezogen hat, Osaro gesucht hat und hergefahren ist. Es ist schön, einfach so zusammen zu sein und zu reden. Als sie sich nach einer halben Stunde verabschiedet, mit dem Versprechen, bald wieder vorbeizuschauen, fühlt sie sich leicht und beschwingt. 

Im Hinausgehen hört sie, wie eine Pflegefachfrau mit Osaro schimpft. Sie hätten ihn schon gesucht. Warum er sich nicht gemeldet hat, wenn er irgendwohin will, so wie sie es vereinbart haben? Naomi muss sich ein Grinsen verkneifen, er ist anscheinend überaus stur, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Genau wie sie.

Naomi besucht Osaro also auch die nächste Woche, permanent schwirrt er durch ihren Gedanken. Ein paar Stunden in einem muffeligen Spitalzimmer sind der Höhepunkt ihrer Woche. Das ist total irre, sie kann es nicht leugnen.

»Kannst du mir vielleicht einen kleinen Gefallen tun«, bittet Osaro, nachdem sie sich über Naomis Pläne für den restlichen Sommer unterhalten haben, die alles andere als spektakulär sind. Handwerker beaufsichtigen und so was. Das Haus von Naomis kürzlich verstorbener Tante muss erst renoviert werden, bevor es in eine WG umgewandelt werden kann. Da ist es ganz praktisch, dass sie schon mal eingezogen ist und ein Auge auf alle Arbeiten haben kann.

Osaro hält inne, etwas Zögerndes huscht über seine Gesichtszüge, verschwindet aber gleich wieder. Naomi ist sich gar nicht sicher, es überhaupt gesehen zu haben.

»Könntest du mir ein paar Dinge aus meiner Wohnung holen? Meinen iPod, ein paar Klamotten. Einfach, wenn du mal Zeit hast. Mein Freund hat letztes Mal den iPod vergessen und den vermisse ich wirklich.«

»Ja klar, das mache ich natürlich gerne. Bis morgen Abend hast du alles.« Die Worte sprudeln ihr nur so über die Lippen. »Musst du denn noch länger bleiben«?

»Ja, die Wundheilung der Operationsnarbe verläuft nicht so, wie sie sollte. Eine Stelle hat sich etwas entzündet. Soll ziemlich selten sein, doch mich hat’s erwischt.«

Naomi nickt. Natürlich holt sie seine Sachen, auch wenn sie sich fragt, wieso er nicht jemanden aus seiner Familie darum bittet.

Sie fischt ihr Handy aus der Handtasche und öffnet die Notiz-App. Osaro zählt auf, was er benötigt, beschreibt auch, wo sie was finden wird, und gibt ihr seinen Wohnungsschlüssel. Der schmale Schrank neben dem Bett scheint wirklich ziemlich leer zu sein, wie ihr neugieriger Blick verrät.

Sie quatschen noch zwei ganze Stunden lang, und Naomi geht erst, als das Abendessen gebracht wird.

Sie beschliesst, gleich die Sachen aus Osaros Wohnung zu holen, schliesslich ist sie ziemlich neugierig, wie er wohnt.

Naomi holt das Auto aus der Tiefgarage des Spitals und gibt Osaros Adresse im Navi ein. Die Fahrt dauert etwas länger als geplant, es herrscht dichter Feierabendverkehr und die Blechlawine kommt nur stockend voran. Ungeduldig trommelt Naomi mit den Fingern aufs Lenkrad und verflucht das langweilige Radioprogramm. Endlich verkündet die Navistimme, dass sie ihr Ziel erreicht hat. Die Adresse liegt in einem Viertel mit zahlreichen Wohnblocks, viele Bäume dazwischen, die das Ganze etwas auflockern. Osaro wohnt in einem der älteren Gebäude. Der Anblick der verblassten Farbe erinnert Naomi daran, dass morgen der Maler kommt, um einige Zimmer zu streichen.

Sie parkt auf dem einzigen freien Besucherparkplatz. Wo sie schon mal hier ist, leert sie Osaros vollen Briefkasten und steigt die Treppe in den fünften Stock hoch, um ihre latente Klaustrophobie nicht durch den kleinen Aufzug zu triggern.

Die Wand neben der Wohnungstüre ist mit einer undefinierbaren Farbe verkleckert, und Naomi fürchtet sich plötzlich ein wenig davor, die Wohnungstüre aufzuschliessen. Vielleicht sieht die Wohnung ja fürchterlich aus? Sie fummelt den Schlüssel ins Schloss und benötigt mehrere Anläufe, bis das Ding ihren Willen erfüllt. Endlich geht die Tür auf und sie schaut sich neugierig um. Es gibt nicht allzu viel zu sehen, die Wohnung ist winzig, uralte Wohnküche und Bad, vielleicht knapp zwanzig Quadratmeter. Viel Miete muss Osaro dafür sicher nicht hinblättern. Es ist auffallend sauber, bloss ein bisschen Staub hat sich angesammelt.

Bei genauerem Hinsehen wird sofort klar, dass Osaro Musik liebt. Hinter dem Bettsofa stehen zwei Gitarren in ihren Ständern, eine elektronische und eine akustische. An der freien Wand über dem Schreibtisch ist eine riesige Collage aus CD-Covern entstanden, die Osaro dort direkt an die Wand geklebt und gepinnt hat. Sein Vermieter wird nicht erfreut sein, wenn er hier mal auszieht. Naomi tritt näher und betrachtet die Bilder. Einige Klassiker erkennt sie, dieses seltsame Haus von Led Zeppelin und das Flugzeug von Jefferson Airplane, denn das ist die Musik ihres Vaters. Die Farben sind aufeinander abgestimmt, verschlungene Muster und Schriftzüge geben den Ton an. Es ist ziemlich stylisch.

Besser, sie macht sich auf die Suche nach den von Osaro gewünschten Dingen. Der iPod liegt in der obersten Schublade des Schreibtischs, wie er gesagt hat. Sie packt auch das Ladekabel in die Plastiktüte dazu. Im Schrank findet sie T-Shirts und ebenso eine Jogginghose. Als sie alles beisammenhat, beschliesst sie, nach Hause zu fahren. Sie wird morgen nochmals bei Osaro vorbeigehen und ihm die Sachen bringen, die Besuchszeit ist jetzt schon lange vorbei.

Tags darauf steht sie wieder vor Osaros Zimmer im Spital. Es fühlt sich bereits vertraut an, anzuklopfen und in das muffig riechende Zimmer einzutreten. Heute sind die beiden Besucherstühle bereits besetzt, zwei Männer sind mit Osaro in eine lebhafte Diskussion vertieft. Jetzt zögert sie doch. Osaro bemerkt das sofort und winkt ihr einladend zu. Sie begrüssen sich förmlicher als die letzten Male und er stellt ihr seine Besucher vor.

»Das ist John.« Osaro weist auf den älteren Mann, »und sein Sohn Jordan.«

Sie schütteln sich höflich die Hände. Jordan will unbedingt, dass sich Naomi auf seinen Stuhl setzt, sie werden ohnehin bald gehen. Die beiden mustern sie unauffällig, trotzdem kann sie ihre Gedanken förmlich rattern hören. Was sie sich jetzt wohl zusammenreimen?

Die drei Männer nehmen ihr Gespräch wieder auf, auf Englisch. Es ist ein afrikanisch gefärbtes Englisch, welches sich sehr vom Oxfordenglisch unterscheidet, das Naomi in der Schule gelernt hat. Sie versteht gerade so, worum es geht. Als Jordan Naomis ratlosen Blick bemerkt, erklärt er ihr die Sache grinsend, sein Zürcher Akzent sitzt genauso wie Osaros.

»Weisst du, mein Vater hat gehofft, dass Osaro hier die Haare abgeschnitten worden wären. Er findet, sie passen einfach nicht zu einem Nigerianer. Hätte ja sein können, wegen der Kopfwunde!«

Jetzt schaltet sich John in die Unterhaltung ein, sein Deutsch ist etwas holprig. »Seriöse Nigerianer schneiden ihre Haare kurz. Keine Rastas, keine Cornrows! So muss das aussehen«, wobei er auf seinen eigenen relativ kahlen Schädel deutet.

Während des ganzen Gespräches amüsieren sich die drei prächtig und lachen sich kugelig. Die Dreadlocks-Frage scheint ein Running Gag zwischen ihnen zu sein. John findet, sie soll doch mal mit Osaro reden, ihr wird er sicher glauben, wenn sie ihm sagt, dass seine Frisur völlig unattraktiv ist. Jetzt muss Naomi auch grinsen, denn das wird sie ganz sicher nicht tun. Das wäre ein echtes Sakrileg, er muss sich die Dreads doch schon jahrelang wachsen lassen.

In diesem Moment betritt eine Pflegefachfrau das Zimmer und zieht missbilligend die Augenbrauen hoch, als sie Osaros voll belegte und nicht gerade leise Zimmerecke sieht. Auch John und Jordan bemerken ihre Miene und verabschieden sich schnell: Sie seien ja schon lange hier gewesen und jetzt sei Naomi an der Reihe. Als sie alleine sind, schauen sie sich an und prusten los.

»Du kommst also aus Nigeria«, stellt Naomi fest. Sie überlegt einen Moment, was sie über das Land weiss. Aber ihr fällt wirklich kaum etwas ein.

»Ja, das Land der Afrobeats und Boko Haram. Kurz gesagt, das Land der Gegensätze. Bis ich dreizehn war, habe ich da bei meiner Grossmutter gelebt.«

Naomi freut sich, dass er etwas über sich erzählt hat, bis jetzt knausert er nämlich mit Informationen. Und nach dem Besuch in seiner Wohnung ist sie noch neugieriger auf ihn geworden. Es kommt ihr so vor, als hätte sie einen Teil dessen gesehen, was ihn ausmacht, und sie wüsste zu gern, wie der Rest aussieht. »Erzähl mir doch ein bisschen davon«, bittet sie darum. Osaro verzieht abwehrend das Gesicht. »Ich höre lieber dir zu.«

»Bitte, ich habe dir schliesslich auch einen Gefallen getan. Und es interessiert mich wirklich.« Sie schwenkt die Plastiktüte mit Osaros Sachen.

Er muss grinsen, als er ihre triumphierende Miene sieht. »Na schön«, gibt er nach. Sie schaut ihm dabei zu, wie er sich einige Sätze zurechtlegt.

»Wie gesagt, ich bin bei meiner Grossmutter aufgewachsen. Mein Vater ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als meine Mutter noch schwanger war. Ich habe sie nicht oft gesehen, sie arbeitete in einer Bank in Lagos. Später hat sie meinen Stiefvater geheiratet, der in der Schweiz lebt, und so bin ich hier gelandet. Das war ein echt mieser Move von ihr. Stell dir einfach vor, dass ich ums Verrecken nicht herkommen wollte, dann weisst du, wie mein Start hier war.«

Naomi schaut ihn entsetzt an. Schliesslich klappt sie den Mund zu, ihr fehlen die richtigen Worte. Sie reisst sich zusammen und stottert: »Das tut mir echt leid mit deinem Vater.«

»Schon okay. Ich kannte ihn ja gar nicht. Und eine Zeit lang war mein Onkel wie ein Vater für mich.«

»Das ist ganz schön hart. Ich meine, dass du ihn gar nicht kennengelernt hast.«

Osaro zuckt mit den Schultern, als hätte er eher zwiespältige Gefühle dazu. Naomi will nicht weiter ihn dringen, zumal völlig klar ist, dass er keine weiteren Mitleidsbekundungen möchte. Ein bisschen erzählt er dann doch, wahrscheinlich um sie nicht zu enttäuschen. Osaro findet, seine Kindheit sei ansonsten unspektakulär verlaufen, seine Grossmutter war streng und er musste ihr oft mit der Hausarbeit helfen. Trotzdem hatte er alles, was er brauchte: viel Freiheit, um mit den anderen Kindern und seinen Cousins und Cousinen zu spielen, wann immer ihm danach war. An seine Mutter hat Osaro wenige frühe Erinnerungen. »Wir standen uns nie besonders nahe, was ja auch kein Wunder ist. Manchmal besuchte sie mich und meine Grossmutter für einige Wochen. Sie brachte neue Kleider und Spielzeug mit, später auch Schulsachen. Als ich jünger war, habe ich mich darüber gefreut. Später empfand ich das als eine Art Bestechungsversuch, damit ich sie ohne weitere Anstrengung ihrerseits mögen würde. Ohnehin konnten wir uns in der kurzen Zeit nicht richtig aneinander gewöhnen. Ihre Erziehungsversuche endeten meist in Tränen oder Wutanfällen. Also waren wir beide froh, wenn sie wieder abreiste.«

Osaro verstummt, schüttelt den Kopf und meint trocken: »So interessant ist das ja wohl alles nicht.«

Da ist Naomi ganz anderer Meinung. Sie saugt alles richtiggehend auf, was Osaro zu erzählen hat. Aber da er offensichtlich nicht so gern über sich redet, fragt sie ihn nach seinem Onkel. Und siehe da, hier kommt er ins Schwärmen. Es liegt viel Zuneigung in seinen Worten und Naomi hört fasziniert zu.

Sein Onkel Ochuko ist ein konservativer Mensch, oder man könnte auch sagen: altmodisch. Er hält viel vom Oba, dem traditionellen König seiner Heimatstadt Benin City, er hält viel von Respekt gegenüber den Älteren und dem Gehorsam von Kindern. Mit seinen Freunden kaut er Kolanüsse zu besonderen Anlässen und er geht nie zur Kirche wie normale Leute, nur zum traditionellen Priester. Jeden Tag betet sein Onkel am Altar der Ahnen und wettert gerne gegen die Megachurches im Land, deren einziges Ziel es ist, sich zu bereichern. Das stört Osaro nicht, im Gegensatz zu Faith, seiner Frau, die eine standfeste Gläubige ist.   

Ochuko redet nicht nur gerne, er nimmt sich auch Zeit für Osaro, geht mit ihm zu den Orten, die ihm wichtig erscheinen. Zu seinen Freunden in der Igun Street zum Beispiel, wo die kunstvollen Bronzen nach dem überlieferten Verfahren hergestellt werden. Zuzuschauen, wie die Skulpturen nach dem Abkühlen der Form aus ihrem Erdmantel gelöst wurden, das ist ein ganz besonderes Erlebnis, von dem Osaro nie genug bekommen kann.

»Das reicht jetzt aber wirklich für heute. Hast du eigentlich alles gefunden? Den iPod? « Osaro schielt auf die Plastiktüte, die Naomi immer noch neben sich stehen hat. Sie übergibt sie ihm feierlich. »Na klar, du bist einer der ordentlichsten Menschen, die ich je kennengelernt habe.«

Er bedankt sich und dieses kleine, typische Lächeln huscht über seine Züge. Sofort kramt er in der Plastiktüte nach dem iPod.

»Ah, Gott sei Dank. Das ist meine Erlösung, ich bin vor Langeweile schier umgekommen. Im Fernsehen und Radio kommt nur Müll. Und mein Uralt-Handy ist totaler Schrott, damit kann ich kaum YouTube aufrufen.«

Sein Gesicht strahlt förmlich, als er mit fast liebevollen Gesten die Kabel des Kopfhörers einstöpselt.

»Ich dachte mir schon, dass Musik was Wichtiges für dich ist.«

»Du ahnst gar nicht, wie wichtig. Magst du mithören?« Er hält Naomi fragend das eine Ende des Kopfhörerkabels entgegen. »Ja, klar. Ich frage mich nur, warum jemand heutzutage noch einen iPod benutzt, um Musik zu hören. Vielleicht solltest du dir wirklich ein besseres Smartphone zulegen, dann kannst du streamen, was und wo immer du willst.«

»Den iPod habe ich schon lange und er funktioniert tadellos. Für ein neues Smartphone fehlt mir momentan die Kohle. Oya, komm jetzt, ich brauche meinen Stoff.«

Folgsam schiebt Naomi den Besucherstuhl näher ans Bett. Doch Osaro rückt zur Seite und klopft einladend neben sich. »Setz dich hierhin, das Kabel ist nicht so lang.«

Osaros Zimmergenossen tun ihr Bestes, um sie nicht zu beobachten. Trotzdem steht Osaro nochmals auf und zieht den kurzen Vorhang vor sein Bett, der wohl normalerweise bei peinlichen Untersuchungen eingesetzt wird.

Naomi setzt sich also neben ihn aufs Bett und weiss nicht so recht, wie nahe sie sich ankuscheln soll. Osaro lächelt sie warm an, also entscheidet sie sich für ziemlich nahe und drückt sich den kleinen Stöpsel ins linke Ohr. Er sucht auf seinem Gerät herum, dann erklingen die ersten Töne. Er macht ein konzentriertes Gesicht, schliesst sogar die Augen, und sie betrachtet ihn dabei, wie sich seine Züge entspannen.

Er hat wohl auf Shuffle gestellt, denn die Musikstile und Richtungen kommen querbeet. Afrobeats, Reggae, Jazz, Rock in den verschiedensten Varianten. Auch viel Rap, Osaro bevorzugt dabei schnelle Spitter.

»Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du keinen Bock mehr darauf hast«, meint er schliesslich, als wohl bereits eine halbe Stunde vergangen ist. 

Naomi schüttelt leicht den Kopf. Sie hört gerne neue Sounds und stört sich nicht an seiner offensichtlichen Obsession. Es ist irgendwie total gemütlich, hier mit ihm in diesem Krankenhausbett zu sitzen, zu flüstern, Musik zu hören und seinen Oberschenkel an ihrem zu spüren. Und irgendwie auch aufregend. Ein jazziges, sehr melodiöses Instrumentalstück ertönt. Wunderbar harmonisch hört sich das an, mit starker Bläsersektion und einer tollen Gitarre. Naomi hätte ewig zuhören können, am Schluss schaut sie Osaro fragend an.

»Kokoroko, Abusey Junction.« Reggae schliesst an. Wieso hört sie eigentlich nicht öfter Reggae?

Die Wärme und vielleicht auch die sauerstoffarme Luft in diesem Zimmer machen sie schläfrig und Naomi muss ihr Gähnen verstecken. Osaro bemerkt es natürlich und grinst sie an.

»Du bist ja total müde. Machen wir Schluss.«

Aber Naomi will nicht gehen. Sobald sie zu Hause ist, wird sie sich wieder hierher zurücksehnen. Darum verwickelt sie Osaro in eine leise Unterhaltung über Musik. Sie weiss, dass er da viel zu erzählen hat. Er spielt sogar in einer Band, die traditionellen nigerianischen Highlife hochhält.  

Irgendwann hören sie auf zu reden, und Osaro legt seinen Arm um Naomis Schultern und sie kuschelt sich noch weiter an ihn. Das wohl schönste Gefühl von Geborgenheit, das sie je hatte, macht sich in ihr breit. Es ist wie eine innere Wärmedecke, wie ein Trost für einen Kummer, von dem sie nicht mal wusste, dass sie ihn hat. Zusammen schauen sie aus dem Fenster, wo die Sonne gemächlich hinter dem Wald versinkt und hundert Rotschattierungen an den Himmel zaubert. Ihre Hände sind ineinander verschlungen, sogar ihre Füsse berühren sich.

Naomi wird von einer leisen, aber bestimmten Stimme geweckt. »Was machen Sie denn hier? Die Besuchszeit ist schon seit zwei Stunden vorbei.«

Verwirrt öffnet sie die Augen, sie hat keine Ahnung, wo sie ist. Dann fällt ihr alles ein. Sie liegt mit schweren Gliedern neben dem schlafenden Osaro im Bett. Im Krankenhausbett. Die Pflegefachfrau, welche die Nachtschicht übernommen hat, steht neben ihr. Sie hat das Nachtlicht angemacht und sie sieht deutlich ihre belustigte Miene. Schon ziemlich peinlich. Sie entschuldigt sich flüsternd, schlüpft ungeschickt in ihre Schuhe und schnappt sich Handtasche und Jacke.

»Ich werde es ihm morgen erklären«, beruhigt die Pflegefachfrau sie leise, als sie Osaro einen langen Blick zuwirft. »Aber das darf nicht mehr vorkommen. Das ist hier kein Hotel.«

Als Naomi Osaro drei Tage später nochmals besuchen will, ist er weg, sein Bett im Spital von einem anderen Patienten besetzt. Verwirrt entschuldigt sie sich für die Störung und fragt mit klopfendem Herzen am Empfang nach. Er ist bereits entlassen worden. Ihr wird ganz kalt, Osaro hat sie ohne ein Wort abserviert. Die Mitarbeiterin am Empfang wirkt schon bald misstrauisch, als Naomi versucht herauszufinden, was passiert ist. Sie sieht ein, dass sie hier nichts mehr herauskriegen wird. Was bleibt ihr anderes übrig? Sie setzt sich wieder ins Auto und macht sich auf den Heimweg, während ihr Gedankenkarussell zu rotieren beginnt. Was ist eigentlich los mit dem Kerl, dass der sich einfach so aus dem Staub macht, nachdem er ihr seine Lieblingssongs vorgespielt hat?

Nicht mal seine Handynummer hat sie. Sie hat ihm ihre gegeben und er hatte versprochen, später bei ihr zu klingeln, damit sie seine auch abspeichern könnte. Doch er hat es nicht gemacht. Was wohl im Nachhinein alles sagt! Wahrscheinlich will er gar nichts mehr von ihr wissen. Vielleicht war sein abrupter Abgang sogar geplant. Je länger Naomi sich das vorstellt, desto stärker zieht sie es in Betracht und sie wird immer wütender auf ihn. Und auf sich selbst auch, weil sie glaubte, er empfindet auch etwas für sie. In dieser Stimmung kommt sie zu Hause an. Den ganzen Abend versucht Naomi zu begreifen, dass Osaro einfach weg ist, ohne ihr Bescheid zu geben, ohne Nachricht. Auf Abendessen hat sie keine Lust, an Schlaf ist auch nicht zu denken.

Auch als sie am nächsten Tag übernächtigt beim Frühstück sitzt, ist ihre Gemütsverfassung nicht besser geworden. Zum Glück war der Abgabetermin für ihre Bachelorarbeit schon vor ein paar Tagen. Müsste sie die jetzt fertigkriegen, sie wüsste nicht wie.

Nachdenklich rührt Naomi in den Frühstücksflocken. Natürlich könnte sie versuchen, ihn zu kontaktieren. Seine Adresse hat sie ja. Sie könnte ihm zum Beispiel einen Brief schreiben. Oder Jonas nach der Handynummer fragen, der würde sie ihr sicher ohne weiteres geben. Sie wird darüber nachdenken müssen. Heute steht ihr noch ein langer Tag an der Hochschule in Winterthur bevor und sie muss sich auf den Weg machen. Als sie die Tür hinter sich abschliesst, rammt sie den Schlüssel mit Wut ins Schlüsselloch.

Naomi

Die Sache verfolgt Naomi noch lange und beschert ihr schlaflose Nächte. Einmal schreibt sie Osaro einen kurzen Brief. Sie möchte ihn gerne wiedersehen und ihre Handynummer. Aber es kommt nichts von Osaro. Er hat sie geghostet, sie muss es akzeptieren. Sie hat mit der schmerzhaften Zurückweisung zu kämpfen, und sogar die Freude über ihren bestandenen Abschluss ist gedämpft.

Als Naomi innerlich langsam dazu bereit ist, mit dem Osaro-Debakel abzuschliessen, kommt der Zufall ins Spiel. Oder das Schicksal, welches das Wort ist, das ihre Mutter gerne anstelle von Zufall benutzt. In Wirklichkeit liegt es wohl daran, dass die Schweiz ein kleines Land ist und Zürich im Grunde genommen eine kleine Stadt.  

An einem strahlend schönen Sonntag in der ersten Oktoberwoche kommt Naomi von einer Wanderung mit einer Freundin aus der Innerschweiz zurück. Als sie nach der Rückreise vom Stanserhorn am Hauptbahnhof Zürich ziemlich groggy in Richtung Tramhaltestelle watschelt, hört sie hinter sich eine Stimme, die sie auf Englisch anspricht. Zuerst bezieht sich das nicht auf sich und hört gar nicht richtig hin. Doch dann setzen sich die Satzfetzen zusammen.

»Hey! Warte doch bitte mal. Bist du nicht Naomi?« Sie dreht sich erstaunt um, ein Typ im dunklen Anzug kommt eilig auf sie zu. Als er näherkommt, erkennt sie ihn. Es ist John, Osaros Freund, den sie damals im Spital kennengelernt hat.

»Ah, thank you for waiting. Can we talk, please?« Naomi nickt. Wenn er sich die Mühe macht, so hinter ihr herzujagen, ist es wohl wichtig. Er bedankt sich nochmals. »Es dauert nicht lange, ich möchte dich nur etwas fragen.«

Hektische Pendler und Touristen strömen um sie herum wie das Wasser um einen Felsen im Fluss, darum schlägt sie vor: »Vielleicht trinken wir etwas dort drüben.«

John ist einverstanden und sie bestellen sich einen Espresso und ein Mineralwasser im Atrio. Mit den staubigen Wanderschuhen fühlt sich Naomi etwas fehl am Platz. Ausserdem merkt sie mittlerweile, dass sie wohl einen leichten Sonnenbrand auf der Nase hat. John betrachtet sie nachdenklich, ihre Nase vor allem, so scheint es Naomi, und räuspert sich. Schliesslich fragt er geradeheraus: »Du hattest kein Interesse mehr, dich mit Osaro zu treffen? Er sagte, er habe nichts mehr von dir gehört.«

John hält inne, überlegt noch einmal. »Du solltest ihn nicht nur nach seiner Vergangenheit beurteilen, er hat sich wirklich sehr geändert.«

Was redet dieser John da bloss? Seine Vergangenheit? Über die weiss sie ja rein gar nichts! Ihre Genervtheit hilft Naomi, ihre übliche Schüchternheit zu überwinden: »Ja, wie sollte ich mich denn bei ihm melden? Ich hätte das eigentlich ganz gerne gemacht, doch ich habe seine Handynummer nicht. Er hat aber meine, er hätte mich ja anrufen können! Ausserdem kannte ich ihn ja auch noch gar nicht lange. Und was, um Himmels willen, ist denn mit seiner Vergangenheit?«, platzt sie zum Schluss heraus. Normalerweise lässt Naomi ihre Gefühle nicht so ungefiltert raus, doch die haben sich schon ganz schön lange angestaut.

Jetzt ist es John, der erstaunt das Gesicht verzieht. »Ich dachte, ihr kennt euch schon lange, so wie er von dir geredet hat. Das macht er sonst nie.«

John stockt kurz, fährt dann aber fort. »Weisst du, er ist so anders seit dem Unfall. So was steckt ja auch nicht jeder gleich gut weg. Osaro ist ziemlich hart im Nehmen, ich glaube nicht, dass ihn das so niederschlagen würde.«

Naomi lässt das Gehörte einen Moment sinken. »Wie ist er denn anders als sonst?«, hakt sie nach. »Nun ja, er redet ja normalerweise nicht so viel. Jedenfalls nicht viel Persönliches. Hast du vielleicht schon gemerkt. Jetzt muss man ihm jeden Satz aus der Nase ziehen.« Und mit leicht angewiderter Miene fügt er hinzu: »Und er hört immerzu diese grauenhafte Rockmusik! Jedenfalls gebe ich dir seine Handynummer, wenn du sie willst. Du kannst dich ja mal bei ihm melden. Und von mir grüssen.«

Er grinst plötzlich schelmisch, was ihn Naomi sympathisch macht. Er scheint ja wirklich ein guter Freund zu sein, obwohl er altersmässig eher Osaros Vater sein könnte, wenn ihm sein Wohlergehen so am Herzen liegt. Als hätte er ihre Gedanken erraten, meint er: »Er hat eben keine Verwandten hier, ausser seinem Stiefvater, und weil ich ihn mag, kümmere ich mich manchmal auch ein wenig um ihn.«

Er diktiert ihr Osaros Handynummer und verabschiedet sich. »Danke, dass du mir zugehört hast. Ich hoffe, wir sehen uns wieder einmal.« Mit finsterer Miene schaut Naomi John hinterher, der beschwingt seiner Wege geht, die gute Tat für den Tag erledigt. Was macht sie denn jetzt?

Zu Hause angekommen, stellt sich Naomi als Allererstes unter die Dusche und pflegt ihre arme Nase. Anschliessend macht sie sich etwas Kleines zu essen. Das Smartphone vor sich abgelegt, knabbert sie an ihrem Sandwich und schreibt ihrer Wanderfreundin Mia, was soeben passiert ist. Sie schreibt sofort zurück: »Lass dich nicht mehr mit dem ein. Weisst du eigentlich, wie deprimiert du warst, als du nichts mehr von ihm gehört hast?«

Das weiss sie wohl, und darum antwortet sie ihr nicht mehr. Als sie satt ist, räumt Naomi die Küche auf und fragt sich nonstop, was sie wegen der Osaro-Sache tun soll. Schliesslich vertrödelt sie etwas Zeit auf YouTube und Instagram. Nachdem sie auch noch die Nachrichten gecheckt hat, schmeisst sie sich ins Pyjama. 

Naomi ist müde, die Wanderung war lange und anstrengend, ein Muskelkater kündigt sich bereits an.

Aber natürlich, kaum liegt sie im Bett, wird ihr Blick unaufhaltsam von ihrem Handy angezogen. Soll sie sich jetzt endlich eingestehen, dass sie bereits eingeknickt ist, als John ihr Osaros Nummer diktiert hat, oder soll sie bis morgen warten? Klar, es sieht aus, als würde sie ihm schon wieder hinterherlaufen. Nein, es sieht nicht nur so aus, es ist auch so. Andererseits wird sie es sich nicht verzeihen, wenn sie ihm nicht schreibt.

Also gut. Naomi holt sich das Handy, setzt sich damit im Schneidersitz aufs Bett und ruft Osaros Nummer auf.

»Hi Osaro, ich habe heute zufälligerweise John getroffen, er hat mir deine Nummer gegeben. Wie geht es dir? Ich würde mich freuen, von dir zu hören. Naomi«, textet sie. Mein Gott, wie förmlich sich das anhört. Sie schickt die Nachricht schnell ab, bevor die Zweifel überhandnehmen. Naomi legt das Gerät vor sich auf das Bett und hypnotisiert es, damit sie jetzt gleich eine Antwort bekommt. Kleine Blasen vollführen ein Tänzchen in ihrem Bauch und platzen wie Seifenblasen, als sie sieht, dass er online ist. Online, schreibt … online … schreibt. Die Nachricht ist eingetroffen. Umso enttäuschter ist Naomi, als sie liest, was er geschrieben hat.

Alles in Ordnung, ein paar Nachkontrollen stehen noch an. Er arbeitet wieder, muss sich einfach noch etwas zurückhalten beim Tragen von schweren Gegenständen. Vielen Dank für die Nachfrage. Das ist alles! Kein persönliches Wort, keine Gegenfrage. Miese Rechtschreibung. Wieso bloss kann der verflixte Kerl ihr nicht ein wenig entgegenkommen? Sie beschliesst, erst am nächsten Tag wieder in die Tasten zu greifen. Tatsächlich gleitet sie recht schnell in den Schlaf hinüber, obwohl ihre Gedanken immerzu um Osaro kreisen. Die Wandermüdigkeit hat wohl das ihre dazugetan.

Am nächsten Tag kommt Naomi etwas später als üblich nach Hause und nach dem Abendessen ist sie ziemlich fertig. Ihr Physiotherapiepraktikum in der Hirslanden Klinik ist zwar spannend und abwechslungsreich, aber auch anstrengend. Doch um zu relaxen, ist Naomi heute viel zu angespannt. Sie läuft zu der Hollywoodschaukel, die sie im Garten unter zwei Birken gestellt hat. Es wäre ein lauschiges Plätzchen für Abende zu zweit. Vorausgesetzt natürlich, dass eine zweite Person verfügbar wäre. Sie setzt sich seitlich mit angezogenen Knien auf das Kissen und holt das Smartphone aus der Tasche. Wieder ruft sie Osaros Nummer auf und sucht nach den richtigen Worten für eine Nachricht. Sie überlegt so lange, bis ihr Hinterteil ganz taub wird. »Hättest du Lust auf ein Treffen?«, tippt sie schliesslich einfach. Aber er sieht sich die Nachricht nicht mal an, die blauen Häkchen tauchen den ganzen Abend nicht auf.

Am übernächsten Abend ist Naomi schon um fünf zu Hause, mehr als eine Stunde früher als üblich. Sie hatten in der Klinik eine grosse Teamsitzung, die schliesslich doch nicht so lange dauerte wie geplant. Meistens ist es umgekehrt, und darum freut sie sich über die unerwartet gewonnene freie Zeit. Sie sollte sich endlich darum kümmern, wer hier einziehen soll. Drei, vier Bewerber hat sie sich aus den beinahe Hundert schon herausgepickt, mit denen muss sie Kontakt aufnehmen. Das packt sie heute noch an, versichert sie sich. Als sie gerade die Haustür öffnet, gibt das Smartphone ein leises Geräusch von sich. Osaros verspätete Antwort: Er hat eine Sprachnachricht geschickt. Ja, sie können sich treffen, wenn sie immer noch mag. Ob es ihr heute passt?

Dieser Typ hält sie echt auf Trab! Sie verabreden sich in einer Stunde am Zürichsee beim Bellevue. Da bleibt gerade noch Zeit, etwas zu essen und sich zu duschen. Dann das Outfit: Naomi entscheidet sich für ein enges T-Shirt und eine lockere Stoffhose. Ja, das ist ganz okay. Jetzt schnell noch etwas Make-up. Sie wird immer nervöser, der Lidstrich gelingt nicht, und sie belässt es bei Mascara und Lipgloss.

Sie hetzt aus dem Haus und steigt bei der nächstgelegenen Haltestelle ins Tram, das ist schneller und günstiger, als am Seeufer einen akzeptablen Parkplatz zu suchen. Während der Fahrt beginnt ihr Puls langsam, aber stetig seine Frequenz zu erhöhen. Zappelig rutscht sie auf dem fleckigen Sitz hin und her. Sie ist so verflixt aufgeregt.

Am Bellevue steigt sie aus und sieht Osaro schon von weitem auf einer Parkbank sitzen. Schwarzes Shirt, khakifarbene Cargohosen und trendige, abgetretene Sneakers und die Dreadlocks mit einem Knoten auf dem Hinterkopf gebändigt. Die Ohren zugestöpselt. Es umgibt ihn eine Aura von abgewetzter Coolness.

Eigentlich sollte sie sauer auf ihn sein, doch das klappt ohnehin nicht, das ist ihr klar. Wie soll sie sich nur verhalten? Osaro hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Eine angenehme Wärme macht sich hinter Naomis Brustbein breit. Wie sie sich freut, nur noch wenige Meter von ihm entfernt zu sein, trotz allem. Sie geht hin und tippt ihm leicht auf die Schulter. Er fährt herum und mustert sie einen Moment, bevor ein Lächeln sein Gesicht erhellt. Er steht auf und Naomi beugt sich vor, um ihm ein Wangenküsschen zu geben. Noch lieber würde sie ihm um den Hals fallen, oder eine Schimpftirade loslassen. Sie entscheidet sich für den Mittelweg. »Osaro, wieso hast du das bloss gemacht?« Sie versucht, ihn so vorwurfsvoll wie möglich anzusehen. »Du hast mich geghostet.« Gerne möchte sie ihm sagen, wie verletzend das für sie war, wie viel Kummer es ihr gemacht hat. Doch so offen zu sein, das bringt sie noch nicht fertig. Osaro schaut sie ernst an. Natürlich wusste er, dass sie ihn danach fragen würde. »Es tut mir leid«, sagt er schlicht. »Es lag nicht an dir. Ich bin das Problem.«

Naomi nickt zögerlich. Sie weiss nicht recht, ob sie weiter ihn dringen soll. Ob sie erleichtert sein soll. Osaro schlägt vor, erst mal einfach ein wenig spazierenzugehen. Wahrscheinlich das Beste, sie wird später nochmals darauf zurückkommen. Gemächlich schlendern sie der belebten Promenade entlang und weichen hin und wieder den schnelleren Passanten aus. Ihre Schritte passen gut zusammen. Aber Naomi muss ständig etwas zurechtzupfen. Mal rutschen die Haare unter den Riemen ihrer Handtasche, mal muss sie den Saum ihres T-Shirts richten und so weiter.

»Entspann dich«, meint Osaro nach ein paar Minuten und nimmt ihre Hand in die seine. »Alles ist okay.«

Jetzt, wo sie die Wärme seiner Haut fühlt, geht es besser. Sie fangen an zu reden, über die Arbeit, über Naomis Sommerpläne. Ihre Hobbys. Da John es erwähnt hat, fällt Naomi umso mehr auf, dass Osaro Themen wie seine Familie oder sonst wie Persönliches möglichst ausklammert.

Sie kommen an der Bootsvermietung, diversen Eisverkäufern und am chinesischen Garten vorbei. Beim Zürichhorn hat jemand in Ufernähe Kunstwerke aus flachen, übereinandergestapelten Steinen geschaffen, sodass kleine Türmchen in die Höhe ragen. Sie suchen sich einen Weg zwischen diesen Kreationen und klettern über einige grosse Felsblöcke und setzen sich dann auf einen davon nahe ans Wasser. Ihre Knie berühren sich beinahe und es ist, als würde ein unberechenbares Elmsfeuer zwischen ihnen flackern. Eine Art Energie, die zwischen ihnen hin und her springt.

Die Weite des Sees verbreitet eine ruhige Atmosphäre. Die Sonne lässt das Wasser silbern aufglänzen und Möwen ziehen ihre Runden über dem See. Geräuschfetzen von Jugendlichen mit ihrer Boombox und spielenden Kindern dringen zu ihnen. Sie geben ein friedliches Hintergrundrauschen ab.

»Ich fühle mich immer total wohl am Wasser. Es ist so friedlich«, bemerkt Naomi.

Osaro nickt. »Ich auch.« Ein Lächeln zieht über sein Gesicht, das Naomi nicht ganz einordnen kann. Es ist von Erinnerungen durchzogen, das sieht sie.

»In letzter Zeit denke ich oft an meinen Onkel. Er hat mir früher oft erzählt, dass es einen Grund dafür gibt, dass sich die Menschen zum Wasser hingezogen fühlen. Stell dir einen Wassergott vor, sein Name ist Olokun. Im Götterpantheon der Edo in Nigeria ist er der Sohn des Schöpfergottes Osanobua. Olokun lebt in einem mystischen Palast unter dem Fluss Ethiope. Von dort schickt er seinen Segen, speziell an Frauen, die sich Kinder wünschen, durch das Wasser. Aus diesem Fluss speisen sich alle Gewässer der Welt.«

So viele Sätze am Stück hat Osaro heute noch nicht herausgekriegt.

»Und du, was hältst du davon?«, erkundigt sich Naomi neugierig. Er klang so ernst, als er das erzählt hat.

»Na ja, es ist eine hübsche Geschichte. Und Wasser ist der Lebensspender schlechthin, sie passt schon.«

Osaro stützt den Kopf in die Hände, als würde er nicht mehr darüber reden wollen. Naomi sieht plötzlich eine Verletzlichkeit in ihm, die ihr bis jetzt noch nie aufgefallen ist. Sie hängen beide einen Moment ihren Gedanken nach.

»Ich sollte dir wohl erklären, warum ich plötzlich weg war«, nimmt Osaro das Gespräch nach einer kurzen Pause wieder auf. Gut, dass er selbst davon anfängt. Ein Teil von Naomis Nervosität rührt daher, dass sie so unsicher ist, ob er sich überhaupt noch für sie interessiert. Obwohl er schlussendlich einverstanden war, sie zu treffen.

Osaro seufzt. Es kostet ihn offensichtlich auch Überwindung, den Anfang zu machen.

»Das Ding ist, ich will in ein paar Monaten nach Nigeria zurück. Mir ist schon klar, dass ich es mir zu einfach gemacht habe.« Osaro sieht so zerknirscht aus, wie er sollte. Er zupft unruhig an seinen Haaren herum, bevor er hinzufügt: »Schon seit Ewigkeiten will ich nach Nigeria zurück, ich hatte einfach Angst, dass ich es gar nicht mehr schaffe. Mir war schon klar, dass du das Potenzial hast, meine Pläne durcheinanderzubringen. Da bin ich eben einfach gegangen.«

Naomi hat einen Kloss im Hals. Während sie noch dabei ist, Osaros Aussage zu verdauen, fährt er bereits fort. Anscheinend beabsichtigt er, seine Beichte in einem Aufguss abzulegen.

»Ausserdem habe ich Schulden. Alles, was über dem Existenzminimum liegt, muss ich blechen. Die Schulden werde ich zwar bald abbezahlt haben, aber dann muss ich sparen, damit ich mir ein Ticket nach Nigeria kaufen kann.«

»Okay.« Mit grossen Augen schaut Naomi ihn an. Was will er ihr damit genau sagen?

»Du kannst dir nicht vorstellen, was das genau bedeutet, ist mir schon klar.«

Da hat er recht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie zu wenig Geld, um sich die Dinge zu leisten, die sie auch wirklich wollte.

»Das heisst: kein Ausgang, kein Kino, keine Restaurantbesuche, keine Konzerte und so weiter. Bei mir ist nicht viel los. Und ich weiss, wie schwer das Menschen wie dir fällt.«

»Jetzt mach mal einen Punkt. Du kennst mich doch kaum, du weisst gar nicht, was mir wichtig ist.« Irgendwie trifft es sie, dass er der Meinung ist, Materielles und Konsum seien ihr so wichtig. Darauf gibt Osaro ihr keine Antwort, doch sie sieht ihm an, was er darüber denkt. 

»Wieso hast du überhaupt Schulden?« Diese Unterhaltung verwirrt sie, sie verläuft total anders als erwartet.

»Ich bin früher malen gegangen. Dafür habe ich Geldstrafen kassiert, auch für ein paar andere Sachen.«

»Was meinst du mit malen gegangen?« Wovon spricht er jetzt schon wieder? Osaro gluckst leise, das muss an ihrem Gesichtsausdruck liegen.

»Sorry, das sagt man so. Ich habe Graffiti gesprayt, illegale. Jede Menge davon.«

Okay, jetzt kapiert sie es. Sie weiss nicht, was sie davon halten soll. Eigentlich ist diese Schuldensache doch hier nicht das Hauptthema.

»Du willst die Schweiz verlassen? Weshalb denn?«

»Ach, ist ne lange Geschichte.«

»Dann erzähl sie mir doch.«

»Jetzt?«

»Na klar.«

»Das ist eine echt lange Geschichte.«