Twyns, Band 2: Zwischen den Welten - Michael Peinkofer - E-Book

Twyns, Band 2: Zwischen den Welten E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Nachdem sie ihre Eltern aus den Fängen des Dunklen Königs befreit haben, tauschen die Zwillinge Wynn und Anny erneut die Rollen – während Wynn mit ihrem Vater in die Menschenwelt geht, bleibt Anny bei ihrer Mutter in der Anderwelt. Doch der Rollentausch sorgt für etliche Verwirrungen und Chaos. Und auch der Dunkle König hat die Jagd auf die magischen Twyns noch nicht aufgegeben – denn gemeinsam haben die Zwillinge große Macht ... *** Band 2 der magischen Verwechslungsgeschichte von Bestseller-Autor Michael Peinkofer *** "Pssst, leise!""Aber ich kann nichts sehen!", wandte Anny flüsternd ein. Vergeblich versuchte sie, an der Augenbinde vorbeizulinsen, die Jack ihr umgebunden hatte."Kein Problem." Die warme und etwas schwitzige Hand des Jungen griff nach ihrer. "Ich werde dich führen."Anny beschloss, Jack zu vertrauen. "Wohin führst du mich?" Es war ein komisches Gefühl, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zu wissen, wohin es ging. Vor allem wenn man barfuß war und ein Nachthemd trug. "Und es kann wirklich nicht bis morgen früh warten?""Nein, kann es nicht", sagte Jack entschieden. "Es ist eine Überraschung.""Was denn für eine Überraschung?""Das darf ich nicht sagen", erklärte der Junge ernst. "Sonst ist es ja keine Überraschung mehr."Anny beschloss, sich in Geduld zu üben. Vorsichtig setzten sie ihren Weg fort und durchquerten etwas, das ein Tunnel oder unterirdischer Gang zu sein schien. Dann ging es ein paar steile Stufen hinauf, und plötzlich waren sie von kühler Nachtluft umgeben. Würzig süßer Blütenduft stieg Anny in die Nase, und ein lauer Wind ließ Blätter rascheln."Wir sind im Burggarten, richtig?", riet sie."Ja", räumte Jack ein. "Aber wir sind nicht wegen der Blumen hier.""Warum dann?", wollte sie wissen."Nur noch ein kleines Stück", ermunterte er sie und schubste sie sanft weiter. "Und jetzt stehen bleiben", wies er sie an. Dann trat er hinter sie und öffnete den Knoten der Augenbinde. "Bereit?", fragte er feierlich.Anny musste kichern. "Wofür?"Statt zu antworten, zog er den Stoff beiseite – und Anny blieb vor Staunen der Mund offen stehen.Michael Peinkofers fantastische Anderwelt-Reihen im Überblick: Gryphony • Band 1: Im Bann des Greifen• Band 2: Der Bund des Drachen• Band 3: Die Rückkehr der Greife• Band 4: Der Fluch der Drachenritter Twyns • Band 1: Die magischen Zwillinge• Band 2: Zwischen den Welten• Band 3: Der dunkle König

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2019 by Michael Peinkofer und Ravensburger Verlag GmbHDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.Umschlaggestaltung: Carolin LiepinsLektorat: Ulrike SchuldesAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47951-1www.ravensburger.de

In Minas Gorgon

Einst war es ein fröhlicher Ort gewesen.

Ein Schloss mit hohen Türmen und lichtdurchfluteten Hallen, die von frohem Gelächter erfüllt waren.

Doch das lag lange zurück.

Beinahe dreizehn Jahre.

Seitdem herrschte hier die Dunkelheit. Die Türme waren eingestürzt, das bunte Glas der Fenster stumpf geworden, die Mauern waren schwarz von Schmutz und Schimmel. Und in den düsteren Gewölben, in die kein helles Licht mehr drang, hausten dunkle, niedere Gestalten. Es waren Unholde mit grüner Haut und schwarzem Fell, Zerrbilder der Kobolde, die sie einst gewesen waren. Grimmlinge nannten sie sich, und sie waren ebenso grausam wie einfältig und ergebene Diener des Dunklen Königs.

Von seinem Platz im alten Thronsaal aus konnte Blodowin sie gut beobachten. Sie eilten geschäftig um ihn herum und grunzten in ihrer hässlichen Sprache, sodass er sich vor Abscheu am liebsten geschüttelt hätte. Aber das konnte er nicht. Denn Blodo war ein Wasserspeier und in dem Augenblick, als es brenzlig geworden war, zu Stein erstarrt, sodass die Grimmlinge ihm nichts anhaben konnten.

Wie lange er nun schon so stand, wusste er nicht.

Es war schwer, über Zeit nachzudenken, wenn man steinern war. Sekunden wurden dann zu Stunden und Tage zu Ewigkeiten – oder war es umgekehrt?

Blodowin stand noch immer genau so, wie er in jener schicksalhaften Nacht zurückgeblieben war: die Flügel halb ausgebreitet und einen Arm emporgestreckt – so war er versteinert. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, die Menschen zu retten, denen er diente, und sich zugleich selbst zu schützen. Denn wäre er nicht zu Stein geworden, hätten die giftigen Speere der Grimmlinge ihn durchbohrt.

Und jetzt stand er hier.

Tagein, tagaus …

Anfangs hatten die Grimmlinge noch versucht, ihn zur Rückverwandlung zu überreden, indem sie ihm alles Mögliche versprochen hatten. Aber darauf war er nicht hereingefallen, deshalb waren sie wütend geworden. Sie hatten ihn mit Unrat beworfen und sich über ihn lustig gemacht, aber Blodo war hart geblieben … im wahrsten Sinn des Wortes.

Stein, sagte er sich immer wieder, überdauert alles. Und irgendwann würde sich schon alles wieder zum Guten wenden.

Er brauchte bloß zu warten.

Das Problem war nur – er wollte nicht warten.

Denn auch wenn sein Körper aus Stein war, seine Gedanken waren frei, und sie waren bei denen, die er gerettet hatte, bei Annlea und Wynlon, den beiden Mädchen, die zu beschützen er geschworen hatte.

Bei den Twyns.

Und wann immer er an sie dachte, fühlte Blodowin einen Stich in seinem steinernen Herzen, und er schwor sich, alles daranzusetzen, aus dieser düsteren Festung zu entkommen und zu Anny und Wynn zurückzukehren.

Er musste einen Weg finden.

Irgendwie …

„Nein!“

Schweißgebadet schoss Wynlon in die Höhe.

Mit pochendem Herzen schaute sie sich um, und erst ganz allmählich wagte sie aufzuatmen.

Sie befand sich nicht mehr im Thronsaal von Minas Gorgon, und auch nicht in jener schicksalhaften Nacht, in der ihre Zwillingsschwester Annlea und sie versucht hatten, ihre Eltern aus der Gewalt des Dunklen Königs zu befreien.1

Es war nur ein böser Traum gewesen.

Wieder einmal.

Beinahe drei Wochen lagen diese dramatischen Ereignisse nun zurück, aber es verging keine Nacht, in der Wynn nicht davon träumte. Vermutlich lag es daran, dass sie vor dem Einschlafen immer an Blodowin denken musste, ihren armen Leibwächter, der sich für sie geopfert hatte. Zu Stein erstarrt, war der treue Gargoyler zurückgeblieben, und wann immer Wynn die Augen schloss, sah sie ihn dort stehen, die Flügel halb ausgebreitet und den Arm erhoben, um ihr zum Abschied zuzuwinken.

Sie hatte ihn nicht dort zurücklassen wollen, alles in ihr hatte sich dagegen gesträubt. Aber in jenem Moment war ihnen keine andere Wahl geblieben. Es war Blodos Entscheidung gewesen, sich selbst zu opfern, damit seine Freunde entkommen konnten. Wann immer Wynn darüber nachdachte, wurde sie furchtbar traurig, denn dann fiel ihr auch ein, wie gemein sie zu Blodo gewesen war und wie oft sie sich mit ihm gestritten hatte. Und das war noch gar nicht lange her …

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Nachtkästchen stand und die sie inzwischen zu lesen gelernt hatte.

Halb drei.

Noch immer fühlte sie sich fremd in der Welt der Menschen, und das war auch kein Wunder. Schließlich war sie auf der anderen Seite der Pforte aufgewachsen, in der Anderwelt, von deren Existenz die meisten Menschen nichts ahnten. Alle Wesen, die sie nur für Sagen- und Märchengestalten hielten, existierten dort wirklich: Zauberer, Kobolde, Drachen und Greife – und leider auch ein dunkler König namens Gorgon, der die Herrschaft über das magische Reich Anwyn an sich gerissen hatte. Wynns Mutter Ygraine, die Königin von Anwyn gewesen war, hatte er aus ihrem Schloss vertrieben, und sie war in die Obhut der Gobblinge geflohen. Dort war Wynn aufgewachsen, freilich ohne zu ahnen, dass sie noch eine Zwillingsschwester hatte.

Das war ihr erst klar geworden, als sie nach haarsträubenden Verwicklungen, an denen niemand anders Schuld trug als sie selbst, Annlea begegnet war.

Oder Anny, wie sie lieber genannt wurde.

Vom ersten Augenblick an hatten die beiden gemerkt, dass sie etwas miteinander verband – obwohl sie kurz nach ihrer Geburt getrennt worden waren. Während Wynn bei ihrer Mutter in der Anderwelt blieb, war Anny bei ihrem Vater in der Welt der Menschen aufgewachsen. Und das alles nur, damit der böse König Gorgon die beiden Mädchen nicht fand. Denn mit ihrer Hilfe ließ sich das Tor zwischen den Welten öffnen, und genau das war es, was Gorgon wollte, um mit der Armee seiner Unholde in die Welt der Menschen einzufallen. Das aber durfte auf keinen Fall passieren.

Also hatte man die Existenz der Zwillinge geheim gehalten, und nicht einmal Anny und Wynn hatten von der jeweils anderen gewusst. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem ihr großes Abenteuer seinen Lauf nahm …

Inzwischen hatte Gorgon die Zwillinge ausfindig gemacht. Aber das Tor zwischen den Welten war wieder fest versiegelt, und Wynn und Anny hatten beschlossen, ihre Rollen zu tauschen, um die jeweils andere Welt kennenzulernen: Anny, die nie zuvor bei ihrer Mutter gewesen war, lebte jetzt in der Anderwelt auf der Burg der Gobblinge, während Wynn in der Welt der Menschen bei ihrem Vater wohnte.

Und was für eine aufregende Welt das war!

Obwohl Wynn nun schon einige Wochen hier war, kam sie noch immer nicht aus dem Staunen heraus. Dabei schienen selbstfahrende Kutschen, tiefgefrorene Teigfladen und Samartofone noch einigermaßen normale Dinge zu sein, die die Menschen erfunden hatten. Es gab auch Fernseher, Flugmaschinen und ein Internetz, das offenbar so groß war, dass es die ganze Welt umspannte.

Wynn ließ sich von der Bettkante gleiten und ging zum Fenster des kleinen, aber gemütlich eingerichteten Zimmers, das früher Anny gehört hatte. Jetzt wohnte sie darin, während Anny Wynns Kammer in der Burg der Gobblinge übernommen hatte.

Die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, schaute Wynn hinaus. Es war eine sternklare Nacht, und der Mond tauchte alles in blaues Licht, sodass man bis zum Meer blicken konnte. Es war eine spannende, geheimnisvolle Welt, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Und Anny ging es mit der Anderwelt vermutlich ganz genauso. Vielleicht, dachte Wynn, stand auch sie gerade am Fenster und schaute hinaus und war aufgeregt wie sie.

Wynn verspürte plötzlich Neugier.

Sie musste wissen, wie es Anny ging. Ganz abgesehen davon, dass es ihr guttun würde, mit ihrer Schwester zu reden. Und vielleicht würde es ihr auch helfen, die düsteren Albträume zu vertreiben.

Auf Zehenspitzen schlich sie zurück zum Bett und zog die oberste Schublade des Nachtkästchens auf. Annys altes Spielzeug-Walkie-Talkie lag darin, in quietschigem Rosa und mit Hasenohren daran. Aber darauf kam es nicht an, denn nur die inneren Werte zählten. Die beiden Schwestern hatten die Batterien herausgenommen und sie durch winzige Elfensteine ersetzt, die bewirkten, dass man über die Weltengrenze hinweg magifonieren konnte.

Wynn schaltete das Walkie-Talkie ein und flüsterte das Zauberwort, das die Kraft des Elfensteins heraufbeschwor.

„Ar-aragur!“

Sofort begann es in dem kleinen Gerät zu rauschen.

„Wynn an Anny“, sprach Wynn leise hinein. „Wynn an Anny, bitte kommen! Kannst du mich hören?“

Keine Antwort.

Sie ging auf Empfang.

„Wynn an Anny“, wiederholte Wynn noch einmal. „Hey, aufwachen, du Schlafmütze! Ich bin’s, Schwesterherz …“

Aber wieder war nur ein dumpfes Rauschen zu hören.

Wynn probierte es noch einmal, dann schaltete sie das Magifon wieder ab und legte es in die Schublade zurück.

Entweder, dachte sie, Anny schlief so tief und fest, dass sie das Gerät nicht hörte. Oder sie fand genauso wenig Schlaf wie sie und war unterwegs, um ihre neue Heimat zu erforschen …

1 nachzulesen in „Twyns – Die magischen Zwillinge“

„Pssst, leise!“

„Aber ich kann nichts sehen!“, wandte Anny flüsternd ein. Vergeblich versuchte sie, an der Augenbinde vorbeizulinsen, die Jack ihr umgebunden hatte, aber sie war blind wie ein Maulwurf.

„Kein Problem.“ Die warme und etwas schwitzige Hand des Jungen griff nach ihrer. Sie zitterte vor Aufregung. „Ich werde dich führen.“

Anny beschloss, Jack zu vertrauen.

Zwar kannte sie den Menschenjungen, der bei den Gobblingen aufgewachsen war und in ihrer Burg als Stallbursche arbeitete, erst seit ein paar Tagen, aber in dieser kurzen Zeit hatte er sich sehr bewährt. Als die Eltern von Anny und Wynn vom Dunklen König entführt und gefangen genommen worden waren, hatte Jack nicht gezögert, sie bei der Befreiung zu unterstützen. Er mochte vielleicht nicht der Allerklügste sein, aber er war ehrlich und hatte ein gutes Herz – und das war weit mehr, als sich von vielen anderen behaupten ließ.

„Wohin führst du mich?“, fragte Anny. Es war ein komisches Gefühl, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zu wissen, wohin es ging. Vor allem wenn man barfuß war und ein Nachthemd trug. Aber Jack, der so lange kleine Steinchen an das Fenster ihrer Kammer geworfen hatte, bis sie endlich aufgewacht war, hatte darauf bestanden, dass sie auf der Stelle mit ihm kam.

„Und es kann wirklich nicht bis morgen früh warten?“

„Nein, kann es nicht“, sagte Jack entschieden. Da er wie die meisten Bewohner der Burg die Sprache der Anderwelt, das Dynai, beherrschte, konnten sie sich problemlos unterhalten. Diese Sprache ähnelte nämlich sehr dem Walisischen, das bei Anny zu Hause gesprochen wurde.

„Es ist eine Überraschung“, fügte er feierlich hinzu.

„Was denn für eine Überraschung?“

„Das darf ich nicht sagen“, erklärte der Junge ernst. „Sonst ist es ja keine Überraschung mehr.“

Anny beschloss, sich in Geduld zu üben. Vorsichtig setzten sie ihren Weg fort und durchquerten etwas, das ein Tunnel oder unterirdischer Gang zu sein schien. Dann ging es ein paar steile Stufen hinauf, und plötzlich waren sie von kühler Nachtluft umgeben. Würzig süßer Blütenduft stieg Anny in die Nase, und ein lauer Wind ließ Blätter rascheln.

„Wir sind im Burggarten, richtig?“, riet sie.

„Ja“, räumte Jack ein. „Aber wir sind nicht wegen der Blumen hier.“

„Warum dann?“, wollte sie wissen.

„Nur noch ein kleines Stück“, ermunterte er sie und schubste sie sanft weiter. „Und jetzt stehen bleiben“, wies er sie an. Dann trat er hinter sie und öffnete den Knoten der Augenbinde. „Bereit?“, fragte er feierlich.

Anny musste kichern. „Wofür?“

Statt zu antworten, zog er den Stoff beiseite – und Anny blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

Sie befanden sich tatsächlich in dem kleinen Garten der Burg, wo die Gobblinge Kräuter und ihr berühmtes Pfeifenkraut anpflanzten. Aber Anny hatte nur Augen für den Busch, vor dem sie gerade standen.

Zwar war es finstere Nacht, und ein Himmel voller glitzernder Sterne erstreckte sich über den Türmen und Mauern, doch der Busch leuchtete in bunten Farben! Unzählige winzige, lila- und türkisfarbene Lichter glommen zwischen den grünen Blättern, sodass sich Anny unwillkürlich an die Weihnachtsbäume erinnert fühlte, mit denen die Menschen von Tywyn ihre Vorgärten im Dezember zu schmücken pflegten – und Anny liebte die Weihnachtszeit!

Ihr wurde ganz warm und wohlig, während sie die Lichter betrachtete, und sie seufzte glückselig. „Oh Jack“, flüsterte sie. „Das ist wunderschön.“

„Das ist noch gar nichts, Prinzessin“, versicherte Jack. Er griff in den Busch, bog einen der Zweige ein wenig herab und ließ ihn zurückschnappen. Daraufhin geschah etwas Unerwartetes: Die vielen kleinen Lichter flatterten auf und verließen den Busch – eine große Wolke, die türkis und lila funkelte, während sie in den dunklen Nachthimmel schwebte.

Anny konnte nicht anders, als begeistert zu klatschen, so zauberhaft sah das aus.

„Was ist das?“, fragte sie, während sie der Wolke nachsah. „Etwa Glühwürmchen?“

„Die Gobblinge nennen sie Gollys“, erklärte Jack, „das heißt ‚kleine Lichter‘. Sie sind mit den Pixlingen verwandt, aber noch viel kleiner. Am Tag sehen sie aus wie gewöhnliche Käfer, aber bei Nacht …“

„Sie sind wirklich wunderschön“, bestätigte Anny und nickte ihm begeistert zu. „Danke, dass du mich hergeführt hast.“

Er nickte und strahlte sie an. Dann wurde er plötzlich rot und blickte zu Boden. „Vielleicht sollte ich dich jetzt wieder zurückbringen, Prinzessin“, meinte er. „Es ist schon spät, und wenn man uns hier draußen erwischt …“

„… wird dir ganz bestimmt nichts passieren“, sagte Anny. „Denn ich werde sagen, dass ich unbedingt die Glühwürmchen sehen wollte und dass du keine andere Wahl hattest, als sie mir zu zeigen.“

„Sie heißen Gollys, Prinzessin“, verbesserte Jack ein bisschen verlegen.

„Und ich heiße Anny und nicht Prinzessin“, erwiderte sie lächelnd, worauf er noch ein wenig röter wurde und sich am Hinterkopf kratzte. Sein ohnehin schon wirres blondes Haar geriet dadurch nur noch mehr in Unordnung.

Anny musste wieder kichern.

„Warum lachst du?“

„Nur so.“ Anny zuckte mit den Schultern. Sie wollte ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. „Weißt du was, Jack?“

„Was, Prin… äh, Anny?“

„Ich bin froh, hier zu sein. Hier in der Anderwelt, meine ich. Sieh dich doch nur einmal um!“ Sie drehte sich um ihre eigene Achse und blickte an den ehrwürdigen Burgmauern empor zum Sternenhimmel. „Hier scheint jeder Tag ein Abenteuer zu sein. Und ständig gibt es neue Wunder zu entdecken!“

„Na ja.“ Jack wog seinen Kopf hin und her. „Wenn man ein gewöhnlicher Stalljunge ist, dann …“

„Warum ist das so?“, fiel sie ihm ins Wort.

„Warum ist was so?“

„Warum bist du ein Stallbursche?“

Jack machte große Augen und ein langes Gesicht. „Eigentlich weiß ich das gar nicht so genau“, gestand er dann. „Wahrscheinlich, weil ich Tiere mag und mich immer schon gern um sie gekümmert habe. Also haben mich die Gobblinge zum Stalljungen gemacht.“

„Und die Schule?“, fragte Anny.

Jack schüttelte den Kopf.

„Soll das heißen, du bist nie in einer Schule gewesen?“, fragte sie erstaunt. „Kannst du nicht lesen und schreiben?“

„Doch“, widersprach er leicht angesäuert. „Natürlich kann ich lesen. Und schreiben auch.“

„Und rechnen?“, hakte Anny nach.

„Für einen Stalljungen reicht’s.“

Anny verzichtete darauf, ihn zu fragen, wie es in den anderen Fächern aussah. Dafür hatte sie plötzlich eine Idee.

„Jack“, rief sie so begeistert, dass er zusammenzuckte, „würde es dir vielleicht gefallen, mit mir gemeinsam zur Schule zu gehen?“

„Zur Schule?“ Er sah sie ungläubig an. „Ich?“

„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, lenkte sie ein. „Hier in der Anderwelt scheint das ein bisschen … na ja, anders zu sein als dort, wo ich herkomme. Aber vielleicht würde es dir Spaß machen, etwas Neues zu lernen.“

„Mei-meinst du?“

„Unbedingt! Möchtest du nicht etwas über andere Länder erfahren oder über die Vergangenheit? In Büchern lesen oder andere Sprachen lernen?“

Jacks Miene zerknitterte sich, er schien angestrengt nachzudenken.

„Na ja“, meinte er schließlich und lächelte dabei, „das wäre schon ganz nett. Aber ich habe doch meine Arbeit zu erledigen!“

„Gleich morgen früh rede ich mit meiner Mutter“, kündigte Anny an. „Ich bin sicher, dass sie sich darum kümmern kann. Dann bräuchtest du vorerst nicht mehr im Stall zu arbeiten. Außerdem“, fügte sie etwas leiser hinzu, „hätte ich so auch keine Angst mehr, hier in die Schule zu gehen.“

„Du?“ Jack sah sie fassungslos an. „Du hast Angst?“

Anny nickte – nun war sie es, die verlegen war.

„Aber du bist doch eine echte Prinzessin!“

„Erst seit Kurzem“, erwiderte Anny. „Und wer sagt, dass Prinzessinnen keine Angst haben? Ich fürchte mich immer ein bisschen, wenn etwas neu ist oder ungewohnt.“

„Kann ich verstehen.“ Jack nickte. „Den jungen Fohlen geht es genauso, wenn sie zu mir in den Stall kommen.“

„Siehst du?“ Anny nickte, dann legte sie den Kopf schief und sah Jack herausfordernd an. Ihr Haar, das sie schon für die Nacht gekämmt und mit einem Reif gebändigt hatte, glänzte blauschwarz im Sternenlicht. „Also? Wie sieht es aus? Willst du mich zum Unterricht begleiten?“

Ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment, ehe er wieder scheu zu Boden blickte.

„A-also gut“, sagte er schließlich. „Ich kann’s ja mal versuchen.“

„Gute Entscheidung“, lobte Anny und merkte, wie ihre eigene Furcht schon viel kleiner wurde.

In der Welt der Menschen, wo Anny bis vor Kurzem gelebt hatte, hatte sie kaum Freunde gehabt. Sie war eine Außenseiterin gewesen und meistens allein. In der Anderwelt sollte sich dies nun ändern.

Und in Jack hatte sie bereits einen ersten Freund gefunden.

Dass die Bewohner der Menschenwelt komische Dinge zum Frühstück aßen, daran hatte sich Wynn inzwischen gewöhnt. Ihr Vater löffelte zum Beispiel jeden Tag sein Porridge, von dem er behauptete, dass es der Mörtel des britischen Empire gewesen sei, und schüttete ein bitteres Gesöff namens „Kaffee“ in sich hinein. Neu für sie war jedoch, dass man nicht einfach in einen benachbarten Turm gehen musste, um die Schule zu besuchen, sondern das Haus verlassen.

Die Tywyn Highschool, die Wynn von nun an besuchen würde, befand sich in dem kleinen Städtchen Tywyn, das direkt an der Küste lag. Vor Kurzem war Wynn schon einmal dort gewesen und hatte sich als ihre Schwester Anny ausgegeben. Doch von heute an würde sie regelmäßig am Unterricht teilnehmen, sie würde lernen, Hausaufgaben machen und Noten kriegen wie alle anderen auch.

Und sie freute sich darauf.

Okay, vielleicht nicht so sehr auf die Hausaufgaben und die Noten. Aber darauf, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein und mit ihnen spannende Sachen zu machen. Bestimmt ging es auf den Schulen der Menschenkinder nicht so langweilig zu wie daheim auf der Burg der Gobblinge.

Und außerdem war da noch Rick … Rick Driscoll, der die Klasse über ihr besuchte und den sie ziemlich nett fand.

„Na, Prinzessin?“ Ihr Vater, der das Auto über die kurvige Strecke nach Tywyn hinuntersteuerte, schaute sie von der Seite an. „Alles in Ordnung bei dir?“

„Klar.“ Wynn schürzte die Lippen. „Was sollte nicht in Ordnung sein?“

„Na ja, es ist dein erster Schultag hier. Bist du nicht aufgeregt?“

„Keine Spur“, behauptete Wynn.

„Also, ich an deiner Stelle wäre furchtbar aufgeregt. Das erste Mal an einer Schule der Menschenwelt, das erste Mal unter neuen Klassenkameraden …“

„Ich bin schon mal da gewesen“, erinnerte ihn Wynn. „Außerdem ist eine Schule doch wie die andere.“

„Meinst du?“ Wieder schaute er sie fragend an. „Also gut“, gab er dann zu. „Ich bin aufgeregt.“

„Du? Warum denn, Paps?“, fragte Wynn. Anny nannte ihren Vater „Paps“, und Wynn hatte beschlossen, das auch zu tun.

„Also …“ Er behielt eine Hand am Lenkrad, mit der anderen gestikulierte er wild in der Luft herum. „Ich kann mir das gut vorstellen. Als ich in deinem Alter war, ist meine Familie nämlich umgezogen. Ich musste eine andere Schule besuchen, und das mitten im Schuljahr. Ich kannte niemanden, hatte keine Freunde … Wie muss es dir da erst gehen? Ich bin nur in eine andere Stadt gezogen, du dagegen …“

Er sprach nicht weiter, aber es war auch so klar, was er meinte. Wynn stammte nicht nur aus einer anderen Stadt oder einem anderen Land, sondern aus einer ganz anderen Welt. Ihr Vater war ein Mensch und ihre Mutter eine Dyna, wie die Bewohner der Anderwelt genannt wurden. Und Wynn selbst hatte ihr ganzes Leben in der Burg der Gobblinge verbracht. Kein Wunder, dass die Welt der Menschen ihr neu und irgendwie auch ziemlich verrückt vorkam.

Aber Wynn hatte keine Angst. Sie war neugierig und wollte diese Menschenwelt kennenlernen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich auf ein solches Abenteuer gefreut.

Als ihr Vater schließlich in die Straße einbog, an deren Ende das große Backsteingebäude ihrer neuen Schule stand, hatte sie allerdings doch ein wenig Herzklopfen.

„Mach dir keine Sorgen, okay?“, redete er ihr zu, während er den Blinker setzte und an den Straßenrand fuhr.

Wynn nickte und rang sich ein Lächeln ab. Dann nahm sie ihre Schultasche (die eigentlich Annys Schultasche war) und stieg aus.

Es nieselte leicht an diesem Morgen, aber Wynn machte das nichts aus. Viel unangenehmer fand sie die Schuluniform, die sie als Schülerin der Tywyn High tragen musste – ein dunkler Faltenrock und dazu ein brombeerfarbenes Oberteil. Das war nicht gerade der letzte Schrei. Nicht mal für jemanden, der aus der Anderwelt kam …

Sie hatte das Schulhaus kaum betreten, als jemand von hinten rief.

„Hallo, Anny!“

Wynn fuhr herum, denn sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, mit dem Namen ihrer Schwester angesprochen zu werden, deren Platz sie eingenommen hatte. Schließlich hatte ihr Vater sie ja nicht zusätzlich bei der Rektorin anmelden können – als Annys Schwester, die in einer fernen Märchenwelt aufgewachsen war.

„Hallo, Rick.“ Sie lächelte.

„Du bist wieder da“, stellte er fest.

„Wie du siehst.“ Wynn lächelte wieder, und Rick lächelte ebenfalls. Es war ein ganz besonderes Lächeln, das sein sonnengebräuntes, von dunkelbraunem Haar umrahmtes Gesicht noch viel hübscher aussehen ließ, als es sowieso schon war.

„Und wo bist du in den vergangenen drei Wochen gewesen?“, fragte er. „Nach unserem Klassenausflug nach Ynyslas warst du plötzlich verschwunden.“

„Eine Familienangelegenheit“, erwiderte Wynn, was ja nicht gelogen war. Die Wahrheit behielt sie trotzdem lieber für sich.

„Das ist seltsam“, sagte Rick, „ich kann mich nämlich an nichts erinnern. Ich meine, ich weiß noch, dass du bei mir warst und wir gemeinsam mit dem Rad auf die andere Seite der Bucht gefahren sind, aber dann …“

Wynn schluckte. Ihr war völlig klar, warum sich Rick an nichts erinnern konnte. Schließlich hatte der Atem des Gargoylers ihn getroffen und ihm sein Gedächtnis genommen. Aber auch das konnte sie ihm ja schlecht ins Gesicht sagen.

„Das war wirklich ein schöner Ausflug“, sagte sie deshalb nur. „Sollten wir bei Gelegenheit mal wiederholen.“

„Okay“, sagte Rick nur. Restlos überzeugt schien er nicht zu sein. Ob er Verdacht geschöpft hatte? Ob er etwas ahnte?

In der Aula der Schule hing ein großes Plakat, von dem Wynn ziemlich sicher war, dass es bei ihrem letzten Besuch noch nicht da gehangen hatte. Dankbar dafür, das Thema wechseln zu können, blieb sie davor stehen und las laut vor.

LIVEINCONCERT:KAYLAANDTHEQUEENS

Auf dem Foto darunter war Kayla Queen zu sehen, die größte Zicke der Schule, mit der Anny in eine Klasse ging und die ihr das Leben stets schwer gemacht hatte. Ihre lange blonde Mähne war auf dem Bild so beleuchtet, dass es aussah, als würde ihr Kopf in Flammen stehen, und die Gitarre in ihrer Hand wirkte, als wollte Kayla jeden Augenblick damit zuschlagen. Ihre Freundinnen Alice, Marnie und Barla, die ebenfalls in der Band spielten, waren nur ganz verschwommen im Hintergrund zu erkennen.

„Was ist denn das?“, fragte Anny.

„Die Einladung zum Schulfest am Wochenende“, erklärte Rick. „Kayla und ihre Band werden dieses Jahr spielen.“

„Ja.“ Wynn zog die Augenbrauen hoch. „Das ist nicht zu übersehen.“

„Bist du etwa neidisch, Anybody?“

Wynn seufzte.

Die krächzende Stimme, die hinter ihr ertönt war, hätte sie unter Hunderten herausgekannt. Sie gehörte dem Mädchen auf dem Plakat.

„Hallo, Kayla“, sagte Wynn und wandte sich zu ihr um.

Kayla stand mit verschränkten Armen vor ihr. Ihre Mähne wallte offen über ihre breiten Schultern, ihre gepiercte Nase war hochmütig gerümpft. Auch Alice, Marnie und Barla waren dabei und grinsten wie grüne Frocklinge.

„Lange nicht gesehen, Anyone“, erwiderte Kayla – so pflegten die Zicken Anny zu nennen. Irgendein Name mit any- davor, ganz egal, ob es das Wort wirklich gab oder nicht. Das fanden sie wohl witzig. „Dass du dich auch mal wieder in die Schule traust. Ich meine, nicht dass ich dich groß vermisst hätte …“

Alice, Marnie und Barla kicherten.

„Sie hatte etwas Familiäres zu klären“, sprang Rick für Wynn ein. „Aber jetzt ist sie wieder da.“

„Na, da freuen wir uns aber.“ Kayla zog angewidert die Oberlippe hoch. „Und noch jemand wird sich freuen.“

„So? Wer denn?“, fragte Wynn.

„Mrs Hopkins, unsere Rektorin“, sagte Kayla mit einem fiesen Grinsen. „Du sollst in der großen Pause in ihr Büro kommen.“

„Das glaubst du doch selber nicht.“ Wynn sah ihre Klassenkameradin misstrauisch an. In der Vergangenheit hatten Kayla und ihre Freundinnen Anny häufig üble Streiche gespielt. Einer davon war der Grund dafür gewesen, dass Wynn und Anny sich überhaupt kennengelernt hatten.

„Natürlich“, versicherte Kayla ihr und lächelte süßlich. „Damit würden wir doch niemals scherzen. Nicht wahr, Mädels?“

Alice, Marnie und Barla schüttelte einhellig die Köpfe. Dabei grinsten sie breit und schadenfroh.

In diesem Moment erklang die Schulglocke.

Der Unterricht begann.

Fängt ja gut an, dachte Wynn.

Anny hatte recht behalten. Ihre Mutter hatte nichts dagegen, dass Jack die Schule besuchte. Sie hatte sogar gleich nach dem Frühstück mit den Ältesten der Gobblinge gesprochen und dafür gesorgt, dass Jack von seinen Pflichten in den Stallungen entbunden wurde. Und schon wenig später saß er zusammen mit Anny im Klassenzimmer.

Es ließ sich allerdings nicht mit ihrem alten Klassenzimmer in der Tywyn Highschool vergleichen. Zwar gab es auch hier ein Pult für den Lehrer und kleine Tische, an denen die Schüler saßen, aber sonst fand Anny keine weiteren Gemeinsamkeiten. Die Schule der Gobbling-Burg bestand nur aus einem einzigen Raum, einer alten Dachkammer, die bis zum Gebälk hinauf mit uralten Büchern vollgestopft war sowie mit allerhand kuriosen Gegenständen und Ausstellungsstücken. Von der Decke hing zum Beispiel ein großer ausgestopfter Fisch. Dazu kamen Landkarten, die bekannte Gegenden zeigten, allerdings trugen sie Namen, die Anny völlig unbekannt waren.

Auch hier gab es Fächer wie Naturkunde oder Geografie, aber es wurden ganz andere Inhalte unterrichtet als auf der anderen Seite der Grenze, und was man in der Anderwelt in Geschichte lernte, galt bei Anny zu Hause als Sagen- und Märchenstoff. Am meisten freute sich Anny, die für ihr Leben gern Geige spielte, auf die Musikstunden und darauf, die uralte Sprache der Elfen zu lernen, die wunderbar melodisch und geheimnisvoll klang und in der Anderwelt als Sprache der Gelehrten galt, ein bisschen wie Latein oder altes Griechisch bei den Menschen.

Entsprechend anders waren natürlich auch die Lehrer, die den Unterricht erteilten. Da war zum Beispiel Meister Cathbad, ein verschrumpelter alter Elderling, der wie eine knorrige Baumwurzel aussah, nur mit langem weißem Bart und einer Brille im Gesicht. Und natürlich Talwythia Teg, die Lehrerin für Musik und Tanz. Sie war ein Pixling und nur etwa eine Handspanne groß und hatte Flügel wie ein Schmetterling und eine Stimme süß wie Honigtau. Trotzdem konnte sie ziemlich streng sein, wenn man sie ärgerte.

Was Annys Mitschüler betraf, so gab es von ihnen nicht viele. Nur drei junge Gobblinge besuchten außer ihr den Unterricht, die Gwydd, Nogg und Unny hießen. Nogg und Unny waren Geschwister, wobei Unny stets alles besser wusste und ihren Bruder gern herumkommandierte. Gwydd war groß für sein Alter und für einen Gobbling sowieso. Er war meist zu Scherzen aufgelegt und hatte einen verschmitzten Blick und immer rote Wangen. Und ab diesem Morgen war auch Jack in Annys Klasse.

Schüchtern betrat er den Unterrichtsraum und setzte sich folgsam an den kleinen Tisch, den Meister Cathbad ihm zuwies. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten gleich wieder gegangen wäre. Anny konnte sich gut vorstellen, wie einschüchternd das alles auf jemanden wirken musste, der noch nie eine Schule besucht hatte. Von ihrem Platz aus winkte sie ihm freundlich zu, um ihn ein wenig aufzumuntern, aber Jack wurde rot und schaute weg.

„Nun, Kinder“, wandte sich Meister Cathbad mit krächzender Stimme an die Klasse, „sicher habt ihr schon bemerkt, dass wir ab heute einen neuen Schüler unter uns haben. Sein Name ist Jackel und er …“

„Jack“, sagte Jack leise.

„Was?“ Über den Rand seiner Brillengläser hinweg sah Meister Cathbad ihn fragend an.

„Mein Name ist Jack“, erklärte der Junge.

Nogg und Unny kicherten, was Anny ziemlich unpassend fand, aber so waren die beiden eben.

„Nun gut, Jackel …“, wollte der alte Waldschrat gerade fortfahren.

„Sagen Sie einfach Jack.“

„Wie auch immer.“ Meister Cathbad räusperte sich und rückte die Brille zurecht, um ihn von seinem Pult aus eingehend zu betrachten. „Jedenfalls bist du ab heute ein Teil dieser Klasse und wirst eine umfassende Ausbildung erhalten. Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, dass für dich keine Sonderrechte gelten, Jackel.“

„Jack“, verbesserte Anny.

„Natürlich.“

Meister Cathbad nickte zufrieden, und dann begann der Unterricht. Zuerst lernten sie einige elfische Adjektive und wie sie verwendet wurden, und anschließend hielt Nogg einen Vortrag über die rauen Nordmänner von Skandia, die mit ihren Drachenschiffen das Eismeer befuhren. Unny verbesserte ihn ständig und ergänzte Dinge, die er angeblich vergessen hatte, was Anny und Gwydd ziemlich lustig fanden. Nur Jack lachte nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Noggs Schilderungen von wilden Kriegern, abenteuerlichen Seefahrten und grässlichen Meeresungeheuern zu lauschen.

Solche Abenteuergeschichten, so schien es, hatte er noch nie gehört. Verzückt hörte er zu, und Anny war froh, Jack mitgenommen zu haben. Der Junge, der kaum etwas anderes kannte als seine Arbeit im Stall, sog alles Neue wissbegierig in sich auf und konnte gar nicht genug davon bekommen. Als Nogg mit seinem Vortrag fertig war, überschüttete Jack ihn mit unzähligen Fragen und wollte gar nicht mehr aufhören.

Als Meister Cathbads Unterricht zu Ende ging, war Jack zunächst enttäuscht, weil es noch so viel gab, das er hätte fragen wollen. Aber das nächste Fach – es war Musik bei Fräulein Teg – schien ihn nicht weniger zu interessieren. Fröhliche Pirouetten drehend, schwebte die winzig kleine Lehrerin in das Klassenzimmer und verteilte Musikinstrumente. Unny und Nogg bekamen Flöten, Anny sollte auf der Fiedel spielen und Gwydd und Jack dazu die Handtrommel schlagen.

„Wir spielen den ‚Tanz der Barden‘, Kinderchen“, kündigte Fräulein Teg an. Leichtfüßig landete sie auf dem Pult und blickte in die Runde. Alle warteten darauf, dass sie den Einsatz gab, aber keiner schaute sie auch nur annähernd so erwartungsvoll an wie Jack. Mit hochrotem Gesicht, die Trommel in der einen und den Schlägel in der anderen Hand, schien er vor Tatendrang fast zu platzen. Wie schön es war, ihn so begeistert zu erleben! Anny war richtig glücklich.

Dann hob Fräulein Teg endlich ihre winzigen Hände und das Konzert begann. Unny und Nogg flöteten, was das Zeug hielt, und Anny ließ den Bogen über die Saiten tanzen. Die Gobbling-Fiedel war viel einfacher zu spielen als ihre Violine zu Hause, und es machte ihr Freude, zu musizieren. In der Menschenwelt war ihre Geige Annys bester Freund gewesen, und sie hatte davon geträumt, irgendwann vielleicht auf einer großen Bühne zu stehen – doch jetzt hatte sie neue Träume gefunden. Ihre Welt war größer, schöner und bunter geworden, und genau das wünschte sie sich auch für Jack.