Twyns, Band 3: Der dunkle König - Michael Peinkofer - E-Book

Twyns, Band 3: Der dunkle König E-Book

Michael Peinkofer

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Mädchen, zwei Welten, ein Schicksal​ ​ So haben sich die Zwillinge Wynn und Anny das immer gewünscht: die Sommerferien mit ihren Eltern in einem Ferienhaus an der Küste zu verbringen – wie eine richtige Familie! Doch dann gehen die Ferien zu Ende und Anny muss mit ihrer Mutter in die Anderwelt zurückkehren. Dort erleben die beiden einen großen Schrecken: Die Gobblingburg liegt in Trümmern! Der dunkle König Gorgon hat den Schutzschild der Burg auf der Suche nach den magischen Twyns durchbrochen – als seine Falle zuzuschnappen droht, flieht Anny in ihrer Verzweiflung zurück zu Wynn in die Menschenwelt. Doch auch dort lauern die Schergen des dunklen Königs ...​ ​ Abschluss der Verwechslungsgeschichte à la "Das doppelte Lottchen" mit vertauschten Welten und viel Magie von Bestseller-Autor Michael Peinkofer – für alle abenteuerlustigen Mädchen ab 10 Jahre! Sommerferien! Gemeinsam mit ihren Eltern! Wie eine richtige Familie! Für kurze Zeit können die magischen Zwillinge Wynn und Anny ihr Glück kaum fassen. Doch dann stellt der dunkle König ihnen eine Falle – denn nur mit der Macht der Twyns kann er die Mauern zwischen den Welten einreißen ... *** Abschluss der magischen Verwechslungsgeschichte von Bestseller-Autor Michael Peinkofer *** Durch das Tor, das der Elfenstein geöffnet hatte, gelangten Anny und ihre Mutter in die Anderwelt. Doch schon unmittelbar nach ihrer Ankunft war klar, dass etwas nicht stimmte.Ganz und gar nicht stimmte ..."Was ist?", fragte Anny, als sie in das besorgte Gesicht ihrer Mutter blickte."Es ist nicht so, wie es sein sollte", erwiderte Königin Ygraine ernst. "Der Schutzschirm um die Gobbling-Burg ... er ist offenbar erloschen.""Was?", sagte Anny erschrocken. "Aber dieser Schutzschirm soll Gorgons Spione doch davon abhalten, die Burg zu sehen!""Genau", bestätigte ihre Mutter und fuhr zusammen, als sie nach Westen sah.Beunruhigt drehte Anny sich um und bemerkte es ebenfalls: Eine dunkle Rauchsäule stieg hinter dem mit Bäumen bestandenen Hügelkamm auf. Genau dort, wo sich die Gobbling-Burg befand ...Michael Peinkofers fantastische Anderwelt-Reihen im Überblick: Gryphony • Band 1: Im Bann des Greifen • Band 2: Der Bund des Drachen • Band 3: Die Rückkehr der Greife • Band 4: Der Fluch der Drachenritter Twyns • Band 1: Die magischen Zwillinge • Band 2: Zwischen den Welten • Band 3: Der dunkle König

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2019 by Michael Peinkofer und Ravensburger VerlagDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.Umschlaggestaltung: Carolin LiepinsLektorat: Ulrike SchuldesAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47969-6www.ravensburger.de

Mit einem Ruck fuhr Rick Driscoll aus dem Schlaf.

Er hatte geträumt, schon wieder … und immer war es derselbe Traum: Es war Nacht, und da war dieses Haus auf dem Hügel, in dem seine Lehrerin Miss Collins wohnte. Als Nächstes tauchte immer Anny auf, ein Mädchen aus der Schule, das er gut leiden konnte … und dann geriet alles völlig durcheinander, und es passierten Dinge, wie sie nur im Traum geschehen konnten.

Miss Collins verwandelte sich in ein seltsames Wesen ohne Gesicht, und Anny gab es plötzlich zweimal. Und als wäre das noch nicht genug, flog anschließend auch noch das Haus in die Luft wie in einem richtig guten Actionfilm. Und zuletzt kam dieses seltsame, unheimliche Wesen …

Wie ein Schatten senkte es sich über ihn und riss den Rachen auf, als wollte es ihn bei lebendigem Leib fressen. Rick versuchte dann zu schreien, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er wollte davonlaufen, aber auch seine Beine taten nicht das, was er wollte. Und das war jedes Mal die Stelle, an der er schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte.

Mit pochendem Herzen schaute er sich um.

Er war zu Hause in seinem Zimmer.

Blasser Mondschein fiel zum Fenster herein und tauchte alles in blaues Licht – den Schrank, den Schreibtisch, die Urkunden, die er für seine Siege mit der Schulmannschaft im Cross-Country-Fahren erhalten hatte. Und auch das Poster von Evel Knievel, seinem großen Vorbild.

Der Anblick der vertrauten Dinge beruhigte Rick ein wenig. Sein Herzschlag verlangsamte sich, und schließlich sank er wieder auf das Kissen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte er zur Zimmerdecke.

Noch immer konnte er alles genau vor seinen Augen sehen.

Miss Collins, wie sie sich verwandelte.

Die doppelte Anny.

Die Explosion.

Und schließlich das Ding mit den Flatterflügeln, das ihn fressen wollte. Was sollte das überhaupt sein? Ein zu klein geratener Drache? Eine zu groß geratene Fledermaus? Und was hatte es mit der doppelten Anny auf sich?

Rick wusste natürlich, dass Träume nicht unbedingt einen Sinn ergaben … aber wenn man jede Nacht genau denselben Traum hatte, und das wochenlang, dann musste das doch etwas bedeuten, oder nicht?

Die Sommerferien hatten begonnen, und das war großartig. Sieben herrliche Wochen, in denen man nicht an die Schule denken oder sich Gedanken über Hausaufgaben, Prüfungen oder Lehrer machen musste.

Außerdem war die Familie endlich zusammen, worüber Anny und Wynn sich gar nicht genug freuen konnten. Dabei hatten sie vor einigen Monaten noch nicht einmal etwas voneinander gewusst.

Anny hatte bei ihrem Vater Bryan in der Welt der Menschen gelebt und Wynn bei ihrer Mutter Ygraine in der Anderwelt, und es war einem Zufall zu verdanken gewesen, dass sie sich überhaupt getroffen hatten … oder war es mehr als Zufall gewesen? Vielleicht hatte ja auch das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt, als Annlea und Wynlon, wie die beiden eigentlich hießen, einander begegnet waren. Dass sie sich glichen wie ein Ei dem anderen, war ihnen sofort aufgefallen, die Wahrheit jedoch hatte sich ihnen erst nach und nach enthüllt.

Sie waren die Twyns, die magischen Zwillinge, Kinder beider Welten. Während ihr Vater aus der Wirklichkeit der Menschen kam, war ihre Mutter eine echte Königin der Dynai, wie die menschlichen Bewohner der Anderwelt genannt wurden.

Die Anderwelt war ein Reich, in dem es all die Tiere, Wesen und Gestalten, die man in der Menschenwelt nur aus Sagen und Märchen kannte, tatsächlich gab: Drachen, Gestaltwandler, Greife, Wasserspeier und noch vieles mehr. Was man bei den Menschen für pures Hirngespinst hielt, war hier ganz normal. Von der Wirklichkeit der Menschen war die Anderwelt durch eine unsichtbare Barriere getrennt, aber es gab die Möglichkeit, durch magische Kraft von einer Seite auf die andere zu wechseln.

Anny und Wynn waren schon kurz nach ihrer Geburt voneinander getrennt worden. Denn in der Anderwelt gab es einen bösen König namens Gorgon, der das friedliche Reich Anwyn angegriffen und unterworfen hatte. Doch da Gorgons Gier nach Macht und Besitz damit noch längst nicht gestillt war, wollte er auch die Welt der Menschen plündern, und um die Barriere zwischen der Anderwelt und der Menschenwelt dauerhaft zu öffnen, brauchte er die beiden Twyns.

Sein erster Versuch, Annlea und Wynlon zu sich zu locken, war gescheitert,1 und nun hatten Anny, Wynn und ihre Eltern zum ersten Mal Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen.

Ihr Vater hatte ein Häuschen auf der Insel Anglesey gemietet, das auf einer steilen Klippe direkt am Meer stand. Über einen Steg und einen schmalen Felsweg gelangte man hinab zum Strand. An warmen Tagen und wenn man mutig war (denn das Wasser war ziemlich kalt), konnte man in der Bucht baden oder angeln gehen, an kühleren Tagen ausgedehnte Spaziergänge unternehmen und dabei jede Menge ausgefallene Muscheln und Versteinerungen entdecken. Wenn es regnete (und es regnete ziemlich oft an der walisischen Küste), saß die ganze Familie in dem aus Natursteinen gemauerten Häuschen und spielte Karten oder Monopoly und hatte großen Spaß dabei. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ihre Mutter Ygraine, immerhin eine waschechte Königin, im Mau-Mau jeden an die Wand spielte?

Manchmal machten die Mädchen und ihre Eltern auch zusammen Musik. Anny packte dann ihre Geige aus und ihr Vater spielte Gitarre, während Wynn und ihre Mutter dazu alte Weisen aus Anwyn sangen oder Lieder der Gobblinge.

Und wo auch immer die Familie war, ob oben in der Hütte oder unten am Strand, war Blodo dabei und hielt Wache. Blodo – oder Blodowin, wie er eigentlich hieß – war ein Gargoyler. Ein Wasserspeier wie die, die an manchen Dachfirsten und Erkern alter Kirchen angebracht waren. Nur dass dieser hier lebte – ein beinahe mannsgroßes Wesen mit einer rüsselförmigen Schnauze, steingrauer Schuppenhaut und ledrigen Schwingen, die denen einer Fledermaus ähnelten und mit denen er tatsächlich fliegen konnte. Und da Blodowin aus Brokilien stammte, sprach er mit einem eigentümlichen Akzent. Auch war er schnell beleidigt, was ihn jedoch nicht davon abhielt, immer gut auf Anny und Wynn aufzupassen, wie er es einst geschworen hatte.

Tatsächlich ließ er sie während der gesamten Ferien nicht aus den Augen, versuchte jedoch, dabei möglichst unauffällig zu bleiben. So konnte es durchaus sein, dass er nachts auf dem Dach des Häuschens saß und Wache hielt oder dass am Strand plötzlich ein Felsblock stand, der tags zuvor noch nicht da gewesen war und der verdächtig nach einem Gargoyler aussah. Sich jederzeit in einen Stein verwandeln zu können, gehörte nämlich zu den besonderen Dingen, die Wasserspeier beherrschten. Und noch einige andere …

Anny und Wynn genossen es, zum ersten Mal in ihrem Leben so viel Zeit miteinander verbringen zu können. Gemeinsam spielten sie am Strand und gingen schwimmen oder unternahmen lange Wanderungen an der Küste. Oder sie saßen nur in dem kleinen Dachzimmer, das sie sich teilten, und unterhielten sich stundenlang. Sie hatten ja so viel nachzuholen! All die Jahre, in denen sie nichts voneinander gewusst hatten – obwohl sie insgeheim gespürt hatten, dass ihnen etwas fehlte. Und so wuchsen die beiden Schwestern mit jedem Tag, den sie zusammen verbrachten, noch ein bisschen enger zusammen, bis sie am Ende unzertrennlich waren.

Was ihre Eltern betraf, war die Sache allerdings etwas schwieriger.

Wie bei Erwachsenen überhaupt alles kompliziert und schwierig zu sein schien …

Rund fünfzehn Jahre war es her, dass ihr Vater und ihre Mutter einander kennengelernt hatten. Wie genau es dazu gekommen war, dass die Königin von Anwyn und ein junger Schriftsteller aus London sich begegnet waren, daraus hatten die beiden immer ein großes Geheimnis gemacht. Jedenfalls hatten sie sich ineinander verliebt und waren ein Paar geworden, und schließlich hatte Königin Ygraine Zwillinge erwartet – genau zu der Zeit, als sich eine dunkle Bedrohung über ihrem Reich zusammenzog und der Dunkle König ihr Volk überfiel. In ihrer Not blieb den beiden nichts anderes übrig, als die magischen Zwillinge zu trennen. Anny war mit ihrem Vater in die Welt der Menschen geflohen und Wynn hatte mit ihrer Mutter Zuflucht in der Burg der Gobblinge gesucht. Und seither hatten Annys und Wynns Eltern sich auch nicht mehr wiedergesehen. Natürlich mochten die beiden einander noch immer – aber würden sie jemals wieder zusammen sein?

Es verging kein Tag, an dem Anny und Wynn es sich nicht sehnlichst wünschten, und irgendwann sah es so aus, als würden sich ihre Hoffnungen tatsächlich erfüllen.

Denn obwohl ihre Eltern zu Beginn der Ferien immer wieder gesagt hatten, dass sie sich fremd geworden seien und Anny und Wynn nicht zu viel erwarten durften, hatte es doch den Anschein, dass sie sich gut verstanden und gern zusammen Zeit verbrachten. Jeden Abend gingen sie hinunter zum Strand, spazierten barfuß im Spülsaum der Brandung und hielten einander an den Händen – und Anny und Wynn beobachteten sie heimlich dabei.

Vielleicht, dachten sie, war ja alles doch ganz einfach …

Der Kampf gegen den Gestaltwandler war bald nur noch eine dunkle Erinnerung. Was blieb, waren Fragen. Besonders eine, die Anny und Wynn ihren Eltern aber erst stellen wollten, wenn ein geeigneter Zeitpunkt gekommen war …

Sie warteten damit bis zur letzten Woche ihres Urlaubs. Denn da war ihr Geburtstag, und zum ersten Mal in ihrem Leben feierten sie ihn gemeinsam.

„Schöner Geburtstag“, sagte ihr Vater zerknirscht. „Es tut mir wirklich leid, dass wir keine Geschenke besorgen konnten. Aber hier gibt es im weiten Umkreis nichts zu kaufen!“

„Das macht doch nichts“, versicherte Anny und strahlte Wynn dabei überglücklich an. „Ich habe das schönste Geschenk überhaupt bekommen.“

„Ich auch“, stimmte Wynn grinsend zu.

Wenn sie so nebeneinander standen, sahen sie sich wirklich zum Verwechseln ähnlich: die gleichen grünen Augen, die gleiche blasse Haut, die gleichen Sommersprossen um die etwas zu spitze Nase. Und beide hatten langes schwarzes Haar, nur dass Anny es gern offen trug, während Wynn es meist zum Pferdeschwanz bändigte. Und auch die Kleidung der beiden war unterschiedlich: Während Wynn am liebsten Jeans und T-Shirts anhatte, trug Anny ein Kleid aus grüner Seide, das die Gobblinge für sie genäht hatten.

„Auch eure Mutter und ich sind reich beschenkt worden“, sagte ihr Vater lächelnd. „Und das ist auf den Tag genau dreizehn Jahre her.“

„Danke, Paps.“

Er breitete die Arme aus, und es gab dicke Küsse für die Zwillinge. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Anny und Wynn. Ich kann mein Glück nicht fassen, euch endlich beide um mich zu haben.“

„Geht uns auch so“, versicherte Wynn, wobei sie kaum zu verstehen war, denn ihr Gesicht war ganz im weichen Flanell seines Hemdes verschwunden.

Noch einmal drückte ihr Vater sie ganz fest. Als er sie wieder losließ, verdrückte er eine Träne.

„Ich bin so stolz auf euch beide“, versicherte er. „Und ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass wir noch nicht mal daran gedacht haben, einen Kuchen zu besor…“

„Wer sagt denn das?“, drang es aus der winzigen Küche des Häuschens, und eine Sekunde später stand ihre Mutter auf der Schwelle. In den Händen hielt sie ein Tablett mit einer Torte, die jedem Kuchen aus einer Konditorei Konkurrenz gemacht hätte: rund und zweistöckig, in Rosa und Blau, Annys und Wynns Lieblingsfarben. Kleine Blumen aus Zuckerguss waren überall angebracht und Schleifen aus Marzipan. Dazwischen leuchteten dreizehn Kerzen, eine für jedes Lebensjahr.

„Aber Mama!“ Anny schlug eine Hand vor den Mund. „Das ist ja unglaublich!“

„Ja“, stimmte Wynn zu, „wo hast du die denn her?“

„Das würde ich auch gern wissen“, fügte ihr Vater verblüfft hinzu.

„Nun ja.“ Ygraine stellte das Tablett mit der Torte auf dem Tisch ab und strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars hinters Ohr. „Ehrlich gesagt habe ich in der Küche ein bisschen gezaubert – und das im wörtlich Sinn“, gab sie mit Blick auf den magischen Elfenstein an ihrem Armband zu.

„Unglaublich!“, rief Anny begeistert, während Wynn und sie die Torte von allen Seiten betrachteten. Sie war wirklich ein Meisterwerk.

„Macht man das immer so in der Anderwelt?“, fragte ihr Vater mit gespieltem Ernst. „Wenn man etwas dringend braucht, dann zaubert man es sich einfach?“

„Warum nicht?“, entgegnete Ygraine lächelnd. „Wenn ihr in der Menschenwelt Hunger habt, lasst ihr euch doch auch einfach eine Pizza kommen.“

„Auch wieder wahr“, musste er zugeben und alle lachten. Dann holten Anny und Wynn tief Luft und bliesen die Kerzen aus, was ihnen auf Anhieb gelang.

„Bravo!“ Ihr Vater klatschte. „Habt ihr euch auch etwas gewünscht?“

Die Zwillinge wechselten einen Blick und nickten.

„Gut, aber man darf nicht darüber sprechen, sonst geht es nicht in Erfüllung.“

„Aber Bryan, das ist doch Aberglaube“, wies Ygraine ihn zurecht. „Du solltest den Kindern nicht solchen Unsinn erzählen …“

„… sagt die Frau, die gerade einen Kuchen gezaubert hat.“

Wieder lachten alle und nahmen am Tisch Platz, während Ygraine bereits die Torte aufschnitt, ein großes Stück für jeden von ihnen und ein doppelt so großes für Blodo, der draußen Wache hielt.

„Diesmal“, begann Anny zögernd, „müssen wir aber über unseren Wunsch reden …“

„… und zwar, damit er in Erfüllung geht“, fügte Anny vorsichtig hinzu.

„Tatsächlich?“ Ihre Mutter gab jedem ein großes Stück auf den Teller und setzte sich dann zu ihnen an den Tisch. „Worum geht es denn?“

Wieder sahen sich die beiden an.

Entweder jetzt oder nie …

„Wir haben uns gefragt“, begann Anny zögernd. „Also, die Ferien sind ja bald zu Ende, und da dachten wir …“

„Wir würden gern gemeinsam die Schule besuchen“, platzte Wynn heraus, die es nicht mehr länger aushielt.

„Die Tywyn Highschool?“ Ihr Vater hob die Brauen.

„Ja, als Geschwister.“ Wynn und Anny lächelten sich an und nahmen sich an der Hand.

„Aber das … das geht nicht“, wehrte ihr Vater ab. „Nur eine von euch ist dort angemeldet, und ich habe immer allen erzählt, dass du ein Einzelkind bist, Anny …“

„Wenn es an der Tywyn High nicht geht, könnten wir auch eine andere Schule besuchen“, schlug Anny vor.

„Nun, also …“ Ihr Vater strich sich durch den Bart, den er sich im Urlaub hatte wachsen lassen, und rückte seine Brille zurecht. Ein wenig hilflos sah er zu Ygraine.

„Ihr wisst, dass das nicht geht“, sagte sie prompt und schien in diesem Augenblick mehr Königin als Mutter zu sein. „Der Dunkle König ist noch nicht besiegt. Und er hat seine Agenten in der Menschenwelt.“

„Dann ziehen wir eben woandershin!“, rief Wynn.

„So einfach ist das nicht.“ Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Man würde uns erneut aufspüren. In Tywyn hingegen schützt uns die Kleinstadt, hier sehen wir den Feind schon von Weitem kommen.“

„Und wenn wir alle in die Anderwelt gehen?“, fragte Anny und sah ihn dabei mit großen Augen an. „Bitte, Paps – wir wollen nicht wieder getrennt sein!“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte ihre Mutter. „Aber solange die Gefahr nicht gebannt ist, können wir weder das eine noch das andere erlauben. Der Dunkle König darf euch nicht beide in seine Hände bekommen, denn das wäre das Ende unserer Welt, und auch das Ende der Menschenwelt. Schon dass wir alle hier sind, ist ein großes Risiko. Dennoch haben euer Vater und ich entschieden, dass wir euch diese gemeinsamen Tage ermöglichen wollen – und uns ebenso“, fügte sie hinzu, und beide sahen sich fest in die Augen. „Aber danach“, fuhr sie fort, „müssen unsere Wege sich wieder trennen, ob es uns gefällt oder nicht.“

„Es gefällt mir nicht“, stellte Wynn klar und stocherte mit der Gabel in ihrem Tortenstück herum.

Sie hatte noch nicht einmal davon probiert, aber der Appetit war ihr gründlich vergangen. So schön die vergangenen Wochen auch gewesen waren – schon bald würde sich alles wieder ändern.

1 nachzulesen in „Twyns, Band 1: Die magischen Zwillinge“

Die grauen, von weißem Schaum gekrönten Wellen brandeten rauschend an Land, wo sie sich brachen und in Sand und Kies verloren. Und wann immer sie heranrollten, brachten sie Treibholz mit oder manchmal auch kleine Steine, Seetang, Muscheln und tote Quallen. An diesem Tag jedoch lag noch etwas anderes am Strand des Städtchens Tywyn.

Vielleicht wäre es gar nicht entdeckt worden, wäre nicht Taffy, der vorwitzige Hund von Mrs Maddox, gerade am Strand gewesen. Von der Leine gelassen, spazierte der Corgi auf seinen kurzen Beinen am Meeresufer entlang. Er schnupperte hier und dort und nahm sich dabei vor der schäumenden Gischt in Acht, die immer wieder heranrauschte. Als wollte er nicht, dass sein rötliches Fell nass wurde. Und während er so schnupperte, stieß Taffy auf etwas, das ihm seltsam vorkam.

Es gehörte nicht an den Strand.

Es war kein Stein, dafür war es viel zu groß. Und auch kein Holz, das stand fest. Und es roch auch nicht nach See und Fisch wie alles andere, das im Spülsaum des Meeres herumlag. Und plötzlich bewegte sich das fremde Ding auch noch!

Mit einem Jaulen sprang der Corgi zurück.

Das fremde Ding … war ein Mensch!

Die großen Ohren erschrocken aufgestellt und auf seinen kurzen Beinen hin und her springend, rief Taffy kläffend nach seinem Frauchen.

„Taffy?“

Mrs Maddox, eine elegante Dame, die in einem kleinen Haus am Ortsrand von Tywyn wohnte, kam tatsächlich herbei – wenn auch viel langsamer, als Taffy es sich gewünscht hätte. Das lag daran, dass auch sie recht kurze Beine hatte und auch nicht mehr die Allerjüngste war.

„Was hast du denn?“, keuchte sie, jetzt doch ein bisschen angesäuert über den Hund, der keine Ruhe geben wollte. Über ihrem Mantel trug sie einen Umhang aus durchsichtiger Plastikfolie, um sich vor dem Spritzwasser der Gischt zu schützen. „Bist du verrückt geworden, hier so einen Lärm zu machen wegen nichts und …“

Sie verstummte jäh.

Irrte sie sich, oder …?

Mit dem Zeigefinger wischte sie die Wassertröpfchen von ihrer Brille – und erschrak.

Denn vor ihr lag ein Mensch am Strand!

Seine Kleidung klebte klatschnass an ihm, und er war von oben bis unten voller Sand, sodass man ihn kaum erkennen konnte.

„Um Himmels willen!“, rief Mrs Maddox, jetzt nicht weniger aufgeregt als Taffy. Auf zitternden Beinen ging sie zu dem reglos daliegenden Körper und war unsagbar erleichtert, als sie bemerkte, dass er sich nun doch ein wenig bewegte und ein leises Stöhnen von sich gab. Es war ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren. Er hatte blondes Haar und trug seltsam mittelalterliche Kleidung. Vermutlich, so nahm Mrs Maddox an, war er irgendwo auf einem dieser Festivals gewesen und dabei ins Wasser gefallen.

Hektisch überlegte die alte Dame, was jetzt zu tun war. Sie trat auf den Jungen zu und berührte ihn an der Schulter, worauf er sich zu ihr herumwälzte.

„Hallo?“, sprach sie in das reglose, leichenblasse Gesicht. „Kannst du mich hören?“

Der Junge blinzelte, aber schon das Öffnen der Augen schien ihm schwerzufallen. Und er bibberte und fror offenbar am ganzen Leib.

„Ein Krankenwagen“, sagte Mrs Maddox entschieden. „Wir brauchen hier einen Krankenwagen.“

Sie ließ Taffys Leine, die sie zusammengerollt in der Hand hielt, einfach fallen, öffnete ihre Handtasche und kramte darin nach ihrem Handy. Es war ein Modell für Senioren, mit großen Tasten, in dem die wichtigsten Nummern gespeichert waren. Ihre Enkelin hatte ihr das moderne Ding zum Geburtstag geschenkt. Mrs Maddox war nie sehr überzeugt davon gewesen, das sie so etwas brauchte. Aber in diesem Augenblick war sie froh darüber.

„Hallo?“, sagte sie hinein, nachdem sie die Nummer des Notrufs gewählt hatte. „Hier spricht Ophelia Maddox, wohnhaft in 33 A, Sandilands Road, Tywyn … Ich bin am Strand von Tywyn und habe einen jungen Mann im Wasser gefunden. Bitte, schicken Sie schnellstens einen Krankenwagen, es geht ihm nicht besonders gut.“

Damit legte sie auf. Und wie um ihre Worte zu bestätigen, ließ der Junge wieder ein Stöhnen vernehmen. Nun schlug er doch die Augen auf und sah zu ihr hoch. Sein Blick wirkte verwirrt, er schien nicht zu wissen, wo er sich befand.

„Keine Angst, lieber Junge“, meinte Mrs Maddox großmütterlich. „Ich habe bereits Hilfe gerufen, sie wird jeden Augenblick hier sein.“

Der Junge erwiderte etwas Unverständliches. Vergeblich versuchte er sich aufzurichten, aber er war einfach zu schwach dazu. Taffy schnupperte interessiert an ihm, während der Junge verständnislos auf ihn starrte, als hätte er noch nie in seinem Leben einen Corgi gesehen.

„Wie heißt du denn?“, wollte Mrs Maddox wissen und legte ihren Mantel aus Plastikfolie ab. Sie hatte einmal gelesen, dass man Menschen, die unterkühlt waren, warm halten musste. Und dass man mit ihnen reden sollte, damit sie bei Bewusstsein blieben.

Der Junge sah sie an und runzelte die Stirn, als müsste er angestrengt nachdenken.

„Was ist denn?“, fragte sie, während sie die Folie über ihn breitete. „Kannst du dich nicht an deinen Namen erinnern?“

„Doch, natürlich“, sagte der Junge, der genau wie Mrs Maddox Walisisch sprach, wenn auch mit einem ziemlich seltsamen Akzent.

„Und? Wie heißt du?“

Der Junge sah sie seltsam an.

„Mein Name“, sagte er dann leise, „ist Jack.“

Rick hatte im Fernsehen einmal einen Krimi gesehen. Darin ging es um einen Mann, der einen Unfall gehabt hatte, sich aber an nichts mehr erinnern konnte. Also hatte ihm der Arzt in dem Film empfohlen, immer wieder zu der Stelle zurückzukehren, wo sich der Unfall ereignet hatte, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

Und genau das hatte auch Rick vor. Ob es so gut funktionieren würde wie in dem Film, musste sich allerdings erst herausstellen.

Ricks Frühstück schmeckte ihm nicht.

Lustlos stocherte er in seinen Cornflakes herum. Er hatte keinen Appetit. Schon seit Tagen nicht. Nacht für Nacht schlecht zu schlafen und dabei immer dasselbe zu träumen war nicht nur ziemlich anstrengend, sondern machte Rick auch allmählich richtig Angst. Was, zum Henker, stimmte nicht mit ihm?

Er hatte überlegt, jemanden ins Vertrauen zu ziehen – aber wen? Sein Vater, der eigentlich Fischer war, inzwischen aber hauptsächlich Touristen durch die Bucht von Cardigan schipperte, hatte jetzt im Sommer alle Hände voll zu tun. Ricks Mom war damit beschäftigt, seine kleine Schwester zu bemuttern, und seine Freunde aus der Cross-Country-Mannschaft waren mit ihren Familien in Italien oder Frankreich, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Auch Anny Jones war mit ihrer Familie weggefahren …

Sie fehlte ihm.

Von allen seinen Freunden konnte Rick mit ihr am besten reden. Sie konnte gut zuhören, und wenn sie etwas sagte, war es nicht nur irgendein dummer Spruch, sondern meistens vernünftig. Was nicht hieß, dass sie nicht auch heftige Sprüche raushauen konnte …

Bei der Erinnerung daran, wie cool Anny die größte Zicke der Schule, Kayla Queen, abgefertigt hatte, musste er grinsen. Doch irgendwie war da auch ein dummes Gefühl, ein schaler Nachgeschmack. Denn seit jener Nacht, als in der Turnhalle der Schule das große Konzert stattfand und Anny ihren großen Auftritt hatte, verfolgten ihn diese Träume.

Er konnte sich noch an den Applaus erinnern und an Annys glückliches Lächeln – sie hatte verdammt hübsch ausgesehen an diesem Abend, und er war unglaublich stolz auf sie gewesen. Doch was weiter passiert war, wusste er nicht mehr, denn das Nächste, woran er sich erinnerte, war seine kleine Schwester Ava, die auf sein Bett sprang und ihn weckte.

Das war alles, was ihm von jener Nacht geblieben war – und die Träume, die ihn verfolgten. Hing womöglich beides miteinander zusammen? Schließlich träumte er immer wieder, wie das Haus ihrer Lehrerin Miss Collins explodierte – und tatsächlich war es in jener Nacht bis auf die Grundmauern abgebrannt.

Rick konnte sich auf all das keinen rechten Reim machen und beschloss daher, einmal dort vorbeizuschauen. Für seinen Sport musste er sowieso ständig mit dem Fahrrad trainieren, und vielleicht würde es ihm dabei ja genauso gehen wie dem Typ aus dem Krimi und er würde sich wieder erinnern. Auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, was Miss Collins’ Haus mit ihm und seinen Träumen zu tun haben könnte.

Gleich nach dem Frühstück brach er auf. In seiner grauen Kapuzenjacke mit dem Logo der Schulmannschaft ging er zur Garage. Rick entschied sich für die schwarze Rennmaschine, und wenig später war er auch schon unterwegs. Statt jedoch die Hügel hinaufzufahren, die sich nordöstlich der Stadt erstreckten, wo er für gewöhnlich trainierte, fuhr er geradewegs zu der Stelle, wo bis vor einigen Wochen noch das Haus von Miss Collins gestanden hatte. Jetzt war nur noch das Fundament davon übrig und der Kamin, der wie ein einsames Mahnmal oben auf dem Hügel stand. Mehr hatte das Feuer nicht übrig gelassen.

Es war eine Gasexplosion gewesen, hatten sie in der Zeitung geschrieben.

Doch irgendwie hatte Rick das Gefühl, dass das nur die halbe Wahrheit war …

Er stieg vom Fahrrad und lehnte es an einen der Bäume, die in der Nähe des Hauses standen. Dann ging er zur Unglücksstelle, um sich dort ein wenig umzusehen.

Es war ein später Vormittag im August. Rauer Wind blies von der See landeinwärts und trieb graue Wolken heran. Bald würde es regnen.

Rick zog die Kapuze seiner Jacke hoch und stieg über das Absperrband, das die Feuerwehr angebracht hatte, um das Grundstück einzugrenzen und Schaulustige fernzuhalten.

Unschlüssig trat er auf das leere Fundament. Vom Haus selbst war nichts übrig geblieben, es war bis auf den letzten Stein verschwunden.

Auch das war seltsam, irgendwie …

„Entschuldigung?“

Rick erschrak, als er hinter sich eine Stimme hörte.

Mit einem scharfen Atemzug fuhr er herum und stand niemand anderem als Miss Collins gegenüber. Sie war die Lehrerin, deren Haus das einmal gewesen war, und sie sah fürchterlich aus. Nicht so hübsch und gepflegt wie sonst, sondern ziemlich mitgenommen.

„Rick?“, fragte sie, als sie den Jungen erkannte. Sie trug einen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Trotzdem schien sie zu frieren.

„Hey, Miss Collins.“ Er winkte ihr verlegen zu.

„Darf ich dich fragen, was du hier tust?“

„Oh, äh … nichts“, druckste Rick herum und trat von einem Bein auf das andere. „Schätze, ich war nur neugierig.“

„Das kann ich verstehen.“ Miss Collins rang sich ein Lächeln ab. „Es passiert ja auch nicht alle Tage, dass ein Haus mit allem, was sich darin befunden hat, ganz plötzlich verschwindet.“

Rick konnte sehen, wie traurig sie war. Er fühlte sich elend, denn ihm wurde mit einem Mal klar, dass er überhaupt noch nicht darüber nachgedacht hatte, wie schrecklich das alles für seine Lehrerin sein musste.

„Ist es … sehr schlimm?“, fragte er. „Ich meine, Ihre ganzen Sachen …“

„Es geht.“ Wieder zwang sie sich zu einem Lächeln. „Ich denke, ich muss noch mal ganz von vorn anfangen.“

„Sie schaffen das“, meinte Rick, und es schien sie ein kleines bisschen zu trösten. „Falls Sie beim Umzug Hilfe brauchen – meine Jungs von der Cross-Country-Mannschaft und ich packen gern mit an.“

„Das ist lieb von dir. Aber ehrlich gesagt habe ich nichts mehr, das man in Kartons packen könnte.“

„Stimmt.“ Rick biss sich auf die Zunge. Darauf hätte er auch selbst kommen können. „’tschuldigung.“

„Nicht doch, du hast es ja gut gemeint. Alle in Tywyn meinen es gut mit mir. Das wird schon wieder.“

Rick nickte. Miss Collins mochte mit ihrer Hornbrille, dem hochgesteckten Haar und ihren meist geblümten Kleidern eher zart und zerbrechlich wirken. Aber sie war wirklich tapfer, wie sich jetzt herausstellte.

„Miss Collins?“ Er ging ein paar Schritte auf sie zu.

„Ja, Rick?“

„Darf … ich Sie etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Was wissen Sie noch von dieser Nacht, in der Ihr Haus abgebrannt ist?“

„Nun“, erwiderte sie, während der Wind über das Fundament blies und es zu regnen begann, „es war die Nacht, als das Schulfest stattfand und Kayla Queen und ihre Band ihr großes Konzert gaben …“

„Genau“, erwiderte Rick. Den Regen merkte er gar nicht. Alles, was er wollte, waren Antworten.

„Ich weiß noch, dass ich mich gerade mit Bryan Jones unterhielt, dem Vater von Anny.“

„Und dann?“

„Na ja, ehrlich gesagt …“ Sie wurde ein bisschen rot. „Ich weiß noch, dass Bryan – Mr Jones – mich nach Hause gefahren hat. Aber danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Mein Arzt sagt, das käme von dem Schock, den ich erlitten habe, als mein Haus brannte. Und dann weiß ich nur noch, dass ich im Krankenhaus aufgewacht bin.“

„Verstehe“, meinte Rick.

Miss Collins sah ihn fragend an. „Warum willst du das wissen, Rick?“

„Weil …“ Er sah auf den nackten Betonboden, auf dem sich hier und dort schon Pfützen bildeten. Sollte er es ihr sagen? „Weil ich mich auch nicht mehr daran erinnern kann, was in dieser Nacht passiert ist“, rückte er endlich heraus. „Alles ist total verschwommen.“

„Dafür kann es viele Gründe geben“, erwiderte sie.

Rick nickte und schaute sie durch den Regenschleier an. „Haben Sie auch manchmal Träume?“

„Was für Träume?“

„Na ja … Albträume, die immer wieder kommen und in denen Sie irgendwelches seltsames Zeug sehen“, erklärte Rick.

Miss Collins schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Aber wenn du darüber reden willst …“

Rick wusste, dass das Angebot gut gemeint war, denn Miss Collins lächelte freundlich dabei. Aber plötzlich war sie wieder die Lehrerin und er der Schüler, und er kam sich vor, als würde er vorn an der Tafel stehen und ausgefragt werden.

„Nein danke“, sagte er deshalb nur und warf einen Blick auf seine Uhr. „Es wird sowieso langsam Zeit für mich.“

„Aber …“

„Schon gut, Miss Collins“, erwiderte Rick, der schon den Rückwärtsgang eingelegt hatte. „Ich wünsche Ihnen alles Gute und dass Sie schnell ein neues Zuhause finden.“

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging schnurstracks zurück zu den Bäumen, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. Seine Lehrerin blieb hinter ihm zurück, allein und im Regen.

Was hatte er sich bloß dabei gedacht, sie nach diesen merkwürdigen Träumen zu fragen? War doch klar, dass eine Erwachsene – und noch dazu eine Lehrerin – ihn nicht für voll nehmen würde!

Als er sein Fahrrad erreicht hatte, schwang er sich hinauf und radelte über den Waldweg davon.

Weit kam er allerdings nicht.

Denn während er gedankenverloren in Richtung der Hügel steuerte, sprang plötzlich eine Gestalt hinter einem der Bäume hervor: schwarze Lederjacke, löchrige Jeans, blonde Mähne und gepiercte Nase.

Es war Kayla Queen.

Rick riss den Lenker herum, um auszuweichen. Sein Fahrrad geriet ins Schlingern, und er musste all sein Können aufwenden, um nicht zu stürzen.

„Sag mal, bist du bescheuert?“, schnauzte er Kayla an, sobald er zum Stehen gekommen war.

„Tut mir leid“, sagte Kayla. Und zu Ricks Verblüffung klang es sogar ehrlich. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Hast du nicht“, erwiderte Rick. „Aber was machst du hier draußen im Wald, noch dazu bei dem Regen? Ich meine …“

„Das könnte ich dich auch fragen. Oder was du Heimliches mit Miss Collins zu bereden hast …“

„Heimliches?“ Rick zog die Stirn kraus. „Sag mal, spionierst du mir etwa hinterher?“

„Vielleicht, ein bisschen.“ Kayla lächelte und fuhr sich durch das lange blonde Haar.

„Na super.“ Rick wollte in die Pedale treten und weiterfahren, doch Kayla hielt ihn davon ab.

„Warte“, bat sie.

Mit ihren großen grauen Augen sah sie ihn an, dann blickte sie betreten zu Boden.

„Ich weiß, dass in den letzten Wochen einiges schiefgelaufen ist“, sagte sie leise und so zerknirscht, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. „Ich bin eine schreckliche Zicke gewesen.“

„Manchmal.“ Rick nickte.

„Aber ich möchte es wiedergutmachen“, sagte Kayla und hob den Kopf. Der Regen hatte schnell wieder aufgehört, was in Wales keine Seltenheit war. Ein verirrter Sonnenstrahl fiel ihr ins Gesicht und ließ es sanft und liebenswürdig aussehen. „Ich meine, wir waren einmal Freunde, und es wäre schön, wenn wir es wieder sein könnten … Würdest du mir eine zweite Chance geben?“

Rick sah sie an.

Er war verblüfft, die sonst selbstbewusste Kayla Queen so kleinlaut zu erleben, und da er selbst ja gerade eher einsam war, konnte er etwas Gesellschaft ganz gut gebrauchen.

„Okay“, sagte er und lächelte.

Und Kayla Queen erwiderte dieses Lächeln.

Die Zeit nahm keine Rücksicht.

Ganz gleich, was man auch versuchte, sie ließ sich nicht aufhalten. Nicht einmal dann, wenn man einen magischen Elfenstein zur Verfügung hatte. Und so kam irgendwann der Tag, an dem die Ferien endeten und die Familie sich wieder trennen musste. Natürlich waren Anny und Wynn alles andere als froh darüber, aber wirklich traurig waren sie nicht. Denn gegen Ende ihres gemeinsamen Urlaubs, am vorletzten Tag, war ihr größter Wunsch in Erfüllung gegangen.

Es war ein schöner Sommertag gewesen. Die Sonne hatte den ganzen Tag über geschienen und am Abend den Himmel schließlich in Flammen gesetzt. Warmes orangerotes Licht warf lange Schatten und ließ das Meer wundervoll glitzern, als Wynns und Annys Eltern einen ihrer gemeinsamen Spaziergänge am Strand unternahmen – und es endlich geschah: Im Schein der untergehenden Sonne umarmten sie einander und küssten sich lange und innig. Wynn und Anny, die von der Veranda der Hütte aus zum Strand hinuntersahen und alles beobachteten, brachen in Jubel aus.

Was sie kaum zu hoffen gewagt hatten, war geschehen: Die Liebe, die ihre Eltern einst zueinander empfanden, war von Neuem erwacht, und sie waren wieder zusammen.

Doch solange der grässliche Gorgon in Anwyn herrschte, mussten sie auf der Hut sein und es würde für ihre Familie auch kein Happy End geben. Aber wenigstens gab es jetzt die Aussicht darauf, und das war immerhin schon etwas.

Mit dem alten Vauxhall ihres Dads fuhren sie zurück nach Tywyn. Doch noch ehe sie das Städtchen erreicht hatten, das von bewaldeten Hügeln umgeben an der Bucht von Cardigan lag, steuerte er einen Parkplatz an. Als sie ausstiegen, wurden sie bereits erwartet – von Blodo, der ihnen vorausgeflogen war und geprüft hatte, ob die Lichtung dort auch sicher war. Es war ein stilles Plätzchen im Wald und wie geschaffen dafür, allein zu sein … und Abschied zu nehmen.

„Nicht traurig sein“, schärfte ihr Vater Wynn und Anny ein. „In den Herbstferien seht ihr euch ja schon wieder.“

„Das ist noch lange hin“, wandte Wynn ein. „Fast zwei Monate. Wie soll ich es bloß aushalten ohne dich?“

„Das weiß ich auch nicht“, erwiderte Anny – und beide mussten lachen. Es war ein seltsames Lachen. Die Sorte von Lachen, bei dem man einen Kloß im Hals hatte und es gleichzeitig ein bisschen wehtat. Die beiden Mädchen umarmten sich und drückten sich so fest, als wollten sie einander nie wieder loslassen.

Noch vor einem halben Jahr hatten sie sich nicht einmal gekannt, und nun kam es ihnen vor, als könnte die eine ohne die andere nicht mehr leben … zwei Hälften eines Bildes, die nur zusammen Sinn ergaben.

„Wir magifonieren, in Ordnung?“, sagte Anny, als sie sich wieder voneinander lösten, und musste sich tatsächlich ein paar Tränen aus den Augen wischen.

„Auf jeden Fall“, sagte Wynn.