U5 - Pol Sax - E-Book

U5 E-Book

Pol Sax

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Beschreibung

Paul und Barbara bringt der Zufall zusammen: In der Lebensmittelabteilung eines Warenhauses fällt sie ihm auf, weil ihr Lachen ihn an seine große Liebe Tina erinnert, die tödlich verunglückt ist. Zwei Stunden später sitzen die beiden in einem Restaurant und erzählen ihre Geschichten – allerdings nicht vollständig: Paul spart Tina aus, und Barbara, dass sie auf den Strich geht. Und dann tritt der verwirrte Heinrich, mehr auf U-Bahnhöfen und in Parkanlagen zu Hause, in die junge Beziehung: Barbaras zweite Zufallsbekanntschaft kennt Paul bereits aus der Studentenzeit; damals allerdings ist er noch ein außergewöhnlich begabter Künstler gewesen … Entlang der Berliner U-Bahnlinie U5 zwischen Alexanderplatz und Hönow erleben diese drei vom Schicksal Zusammengeführten ihre gemeinsame Geschichte – und erzählen aus ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven vom Leben und von der Liebe.

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Seitenzahl: 170

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Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Widmung und Motti
Text

Pol Sax

U5

Roman

Elfenbein

© 2008 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-72-5 (E-Book)

ISBN 978-3-932245-94-7 (Leinen)

ISBN 978-3-941184-08-4 (Broschur)

für Christine Matthes

Versiegelt wie in einem Beutel wäre meine Missetat,

und meine Schuld würdest du zudecken.

Hiob 14, 17

Alles ist Verkettung, und wir sind Urheber von Handlungen, ohne mitschuldig zu sein. Alles, was uns in der Welt an wirklich Bedeutendem zustößt, ist deshalb nichts anderes als Schicksal.

Casanova: Geschichte meines Lebens

Heinrich

Ich wünsche mir, ich könnte fliegen. Hoch über der Stadt meine Runden drehen, unter mir all die vielen Menschen, ganz klein. Die Wolken mit der Hand berühren, mich im hellen Blau langsam auflösen, ganz langsam durchsichtig werden, und leicht, so leicht.

Statt dessen fahre ich U-Bahn. Auch gut. Ich mag es, wenn die gelben Züge durch die langen, dunklen Tunnel rasen. Vor allem in Kurven, oder wenn sich die Trasse senkt, hat man das Gefühl zu schweben und ist so sicher dabei. So behütet. Allerdings, ich habe kein Geld. Deswegen muss ich mich vor den Kontrolleuren in Acht nehmen. Ich bekomme natürlich Geld vom Amt, aber irgendetwas ist da schiefgelaufen. Der Mann vom Amt war auch ganz komisch letztes Mal. Der war sauer auf mich! Hat mich zweimal rausgeschickt, ich solle »mich sammeln«. Jörg, der im­mer mit zum Amt kommt, hat auf mich eingeredet, aber ich weiß nicht, Jörg ist auch manchmal etwas merkwürdig. Aber mein Freund ist er natürlich trotzdem. Auch wenn ich ihn nicht oft sehe, weil er doch nie Zeit hat, wegen seiner Frau und den Kindern. Ich bin jedenfalls schwer auf Zack. Kontrolleure erkenne ich sofort.

Weil ich mir nämlich alle Menschen im Zug ganz genau anschaue. Am liebsten mag ich Kinder, die sind lus­tig, und ganz alte Leute. Und schöne Frauen. Am liebs­ten die Kinder. Und die Frauen, wenn sie sehr, sehr schön sind. Wunderbare Engel. Ob sie wirklich fliegen können?

Barbara

Ich kam von einem Freier in der Warschauer Straße. Einem freundlichen älteren Herrn, dessen Frau vor ein paar Jahren gestorben war und der mich hauptsächlich fürs Zu­hören bezahlte. Ein lieber, witziger Kerl; vielleicht verbarg er hinter seinen Späßen aber auch nur seine Verzweiflung. Er hatte lustige Augen, die ganz traurig werden konnten. Irgendwie mochte ich ihn. Aber heute war einer dieser Tage, ich fühlte mich schmutzig. Die Wohntürme am Frankfurter Tor krallten sich im grauen Himmel fest, und ich lief eilig die Treppe zur U-Bahn hinunter. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause.

Anfang Mai, ein Montagnachmittag, Regenwetter, auf dem Bahngleis kaum Betrieb. Nur am Zeitungskiosk stand eine ältere Dame, am anderen Ende konnte man ein paar Jugendliche hören. Ich lief um den Treppenaufgang herum und setzte mich auf die Bank, um endlich meine hochhackigen Pumps gegen bequemere Turnschuhe zu tauschen. Tote Ecke. Kein Mensch an diesem Ende des Bahnsteigs.

Ich kramte in meiner Tasche, nestelte meine Turnschuhe heraus und suchte nach meinem Terminkalender. Als ich den Kopf wieder hob, sah ich den Mann. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören. Er war groß und schlaksig und bewegte sich fahrig, flatterhaft. Er ging an der Bahnsteigkante auf und ab, den Kopf tief gesenkt, so dass seine schulterlangen Haare sein Gesicht verbargen. Jedes Mal bevor er wendete, legte er den Kopf in den Nacken, warf unentschlossen die Arme kurz hoch und drehte dann auf der Ferse um. Lautlos. Vor der gelben Notrufsäule blieb er schließ­lich stehen, beide Fußspitzen genau an der Bahnsteigkante, und ruckelte langsam hin und her. Als wollte er seine Schuhe an dem schwarzweißen Karomuster der Bodenfliesen ausrichten. Kindisch. Plötzlich warf er den Oberkörper nach hinten, lehnte sich weit zurück, bogenförmig, ruderte kurz mit den Armen, dann stand er wieder kerzengerade. Sekundenlang. Schließlich hob er das linke Bein, streckte es weit vom Körper ab, seitlich, wie ein Hampelmann. Zurück. Rechtes Bein. Ein Verrückter. Wieder weit nach hinten, die Füße immer noch beide genau an der Kante. Armrudern. Linkes Bein, rechtes Bein. Gegen alle Gesetze der Schwerkraft. Ein leichter Luftzug strich durch den Bahnhof, wurde stärker. Staub wirbelte auf. Der Fremde stand wieder auf einem Bein, den Blick zur Decke, mit abgespreizten Armen. Eine weiße Plastiktüte flog hoch, schwebte in der Luft, zitterte kurz und sackte wieder zu Boden. Reglos, nur die Arme wippten ganz leicht. Ein leises, helles Sirren der Schienen. Bogenförmig nach hinten, mit rudernden Armen. Noch immer auf einem Bein. Den Blick unverändert zur Decke.

Ganz Gelb und Glas und Stahl und Licht rauschte der Zug in den Bahnhof. Ich hatte schreien wollen, aber ich war zu spät, längst füllte der Lärm des Zuges den ganzen Bahnhof aus.

Der Verrückte stand immer noch am Gleisrand, unbewegt, kerzengerade, keine zehn Zentimeter trennten ihn vom einfahrenden Zug, der unendlich langsam zum Stehen kam. Dann drehte er sich zur Tür, und mit weit ausholenden Schritten stieg er ein.

Paul

Es war das gleiche Lachen. Das gleiche Lachen und die hellblauen Augen, die mich anstrahlten. Vier Jahre lang hatte ich das vermisst. Täglich, stündlich, jede Sekunde, immerzu. Tina! Seit sie nicht mehr da war, war alles anders. Und nun saß mir plötzlich diese fremde Frau gegenüber und lächelte mich an. Ich war so verwirrt, dass ich nicht einmal zurücklächeln konnte. Ich starrte sie einfach nur an. Nach all den Jahren!

Tina: Vor fünf Jahren waren wir zusammen nach Berlin gezogen. Weil es hier billige Ateliers gab, einen Haufen Galerien und Tina eine Stelle an der Charité bekommen hatte. Nach einer Ausstellung in Brüssel war ein kleiner Geldsegen über uns gekommen, und nun wollte ich mich endgültig im deutschen Kunstbetrieb etablieren. Und Tina wünschte sich ein Kind von mir. Nach acht Monaten wurde sie schwanger, neun Wochen später erfuhr sie von ihrem Frauenarzt, dass es ein Junge werden würde. Felix sollte er heißen, das war längst unter uns ausgemacht, sein Name sollte ihm Glück bringen. Was kann man seinen Kindern Besseres wünschen?

Es war die schönste Zeit meines Lebens. Wenn Tina morgens in die Klinik ging, verschwand ich in meinem Friedrichshainer Atelier. Ich hatte mir eine ganze Wagenladung Baumstämme liefern lassen: rotkernige Kiefer, helle Eiche, einen riesigen Block Balsaholz. Kirsche, Buche und Pappel. In der »Kunstzeitung« war ein großer Artikel über meine Figuren erschienen, im Atelier tauchten die ersten Interessenten auf. Ich sägte, bohrte und hobelte, was das Zeug hielt. Ich meißelte und schnitzte wie ein Be­klopp­ter. Kurz vor drei schmiss ich Beitel und Klüpfel in die Ecke und fuhr wieder zurück nach Mitte, um Tina von der Klinik abzuholen und mit ihr in der Stadt spazieren zu gehen.

Wir liefen Arm in Arm an der Spree entlang und bummelten händchenhaltend durch die Alte Schönhauser Straße. Zusammen warfen wir sehnsüchtige Blicke durch die Schaufenster von Spielzeugläden. Nichts konnte uns trennen. Wir fütterten Tauben am Alexanderplatz. Wir tranken Kaffee im Stehen. Wir kauften Obst beim Thai und Gemüse vom Türken. Manchmal legte sie meine Hand auf ihren Bauch und sagte: »Die Liebe wächst.« Wir verdarben uns den Magen mit Schokoladeneis und tranken Rotwein beim Italiener. Ich rannte den Enten im Volkspark hinterher, und Tina redete mit den Spatzen. Wir liebten uns in heimlichen Hauseingängen. Und abends lagen wir im Gras und zählten die Sterne.

Barbara

Als ich am Alexanderplatz die Treppe von der U-Bahn hinauflief, fiel mir ein, dass ich zu Hause keine Milch mehr hatte, und ich beschloss kurzerhand, noch schnell in die Markthalle zu laufen.

Zwei Stunden später saß ich lachend im »Kaufhof«-Restaurant und hörte immer noch diesem fremden Mann zu, der mich an der Kühlvitrine gefragt hatte, ob er mich zu einem Kaffee einladen dürfe.

Keine Ahnung, wieso ich überhaupt mitgegangen war. Ich hatte wirklich niemanden mehr sehen wollen, aber ir­gend­etwas an ihm zog mich magisch an. Vielleicht waren es seine grünen Augen, aus denen er mich unentwegt ansah, vielleicht die kleinen Fältchen um seinen Mund, wenn er lachte. Wie sollte ich da nein sagen. Ich weiß es nicht.

Er erzählte mir, dass er Bildhauer sei, und machte sich über seine eigenen Skulpturen lustig. Er nannte sich einen Epigonen. Das weiß ich noch, denn ich hatte nachfragen müssen, was das denn eigentlich sei, ein Epigone. Ich interessiere mich nicht für moderne Kunst. Er erzählte, dass er jahrelang Holzfiguren gemacht habe, und ich stellte mir dabei große Marionetten vor.

Es passiert mir nicht oft, dass ein Mann erotisch auf mich wirkt. Paul tat es. Mir gefiel, wie er rauchte. Als wir uns mit unseren Kaffeetassen an einen freien Tisch am Fens­ter gesetzt hatten, zog er eine Packung Tabak aus seiner hinteren Hosentasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Er öffnete sie vorsichtig und hob sie langsam an seine Nase, um daran zu riechen. Dann kramte er ein Päckchen Zigarettenpapier hervor und riss ein Blättchen heraus. Zwischen seinen groben Bildhauerhänden sah das durchsichtige Papier so zart und empfindlich aus. Er legte es neben seine Tasse und strich es mit dem Zeigefinger vorsichtig glatt. Dann nahm er etwas Tabak und verteilte ihn langsam und bedächtig auf dem Papier. Zum Drehen stützte er beide Handballen an der Tischkante ab und führte die fast fertige Zigarette plötzlich mit einer schnellen Bewegung zum Mund, beleckte sie mit der Zungenspitze und zupfte an beiden Enden den Tabak sauber ab, warf die Brösel in den Aschenbecher und legte die fertige Zigarette vor sich auf den Tisch. Dann kramte er in seiner Jackentasche, entnahm ihr eine Schachtel Streichhölzer und legte sie neben seine Zigarette. Es war ein Ritual. Ich war mir sicher, dass er nicht einfach so rauchen konnte wie andere Menschen. Er musste jede einzelne Kippe zelebrieren. Er nippte erst kurz an seiner Espressotasse, bevor er sich die Zigarette zwischen die Lippen klemmte. Da wusste ich, dass ich gerne mit ihm schlafen würde.

Als er mich endlich fragte, ob er mich mal zum Essen einladen dürfe, sagte ich sofort ja. Er schlug das folgende Wochenende vor, ich vertröstete ihn auf Dienstag und gab ihm meine Handynummer.

Paul

Ich bin ihr einfach gefolgt. Die Rolltreppen hoch, durch das Bahnhofsgebäude, über den Platz am Taxistand vorbei zu »Kaufhof«, der eher einer Baustelle glich als einem Wa­renhaus. Zwischen Salattheke und Biogemüse nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach sie an. Ich ließ irgendeinen dämlichen Spruch los, von dem ich hoffte, dass sie ihn witzig finden würde, und als sie lachte, fragte ich sie, ob ich sie zum Kaffee einladen dürfe. »Ja gerne, wo denn?« Ich war sprachlos. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, und so schlug ich auf die Schnelle das Restaurant in der vierten Etage vor.

Worüber spricht man mit einer fremden Frau? Ich weiß es nicht. Ich plapperte einfach drauflos. Ich redete und redete, nur damit sie nicht einfach aufstehen und gehen konnte. Ich wollte ihr von Tina erzählen, und es war klar, dass das nicht ging. Ich wollte ihr etwas von mir erzählen, ohne dauernd über mich quatschen zu müssen.

Seit ich siebzehn war, hatte ich Künstler werden wollen. Ich hatte es mit der Malerei versucht, wozu mir das Talent fehlte, ein bisschen in Fotografie herumdilettiert und schließlich angefangen, Skulpturen zu machen. Zuerst aus Pappmaché, dann aus Blech, aus Bronze und Stahl. Ich war nicht ungeschickt, aber mir fehlte die klare Linie. Und erst als ich Tina kennenlernte, wurde mir deutlich, woran es meinen Skulpturen mangelte: an Natürlichkeit. Alles, was ich machte, war angestrengt und überkünstelt. Das genaue Gegenteil von Tina. Das brachte mich auf die Idee mit den Holzmännern. Holz ist ein ehrliches Material. Es zeigt beim Bearbeiten seinen eigenen Willen, ohne widerspenstig zu sein. Holz birgt Überraschungen. Holz ist warm und menschlich. Holz lebt. Wenn man den Beitel an einen Holzblock anlegt, dann beginnt er zu sprechen. Und wenn man auf ihn hört, kann man eigentlich gar nichts mehr falsch machen.

Ich meißelte nur noch Holzfiguren. Männer und Frauen in Lebensgröße. Meist mit hängenden Armen, manchmal mit den Händen in der Hosen- oder Manteltasche. Manche saßen auf Stühlen und Bänken. Grob zugehauen waren sie. Wenn man näher hinschaute, konnte man genau sehen, wo ich den Beitel angesetzt hatte. Zwei oder drei hatte ich lediglich mit der Motorsäge bearbeitet, skizzenhafte Skulpturen nannte ich das. Das raue, klobige Holz verlieh ihnen Charakter. Sie waren kleine Persönlichkeiten. Jede hatte ihre eigene Würde. Nur eines hatten all meine Holzmänner und Holzfrauen gemeinsam: Sie waren genau wie ich exakt hundertdreiundachtzig Zentimeter groß. Ich wollte sie auf Augenhöhe mit mir haben. Das war eine Frage des gegenseitigen Respekts.

Ich ging völlig in meiner Arbeit auf. Man kann sagen, ich war glücklich. Glücklich mit Tina und mit meinen Figuren. Ich liebte es, die Holzstämme mit der Motorsäge und dem Fuchsschwanz grob zuzusägen. Es war eine schweiß­treibende und zeitraubende Arbeit, bei der ich unter enormer Spannung stand, weil ich es nicht erwarten konnte, endlich mit dem Beitel zu beginnen und dem Holz menschliches Aussehen zu geben. Denn erst beim Meißeln sah ich, wie die Figur später aussehen musste. Die Holzmaser verriet mir, wo ich welchen Beitel anzusetzen hatte. Ich verwendete viele verschiedene Hölzer, und manche Sorten waren immer für eine Überraschung gut. Ich arbeitete jeden Morgen wie ein Rasender, bis ich knöcheltief im Abfall stand, und mit den Spänen und Holzresten befeuerte ich den alten Kolonnenofen in meiner Werkstatt.

Langsamer wurde ich erst, wenn eine Figur fast fertig war. Nicht, weil ich da hätte genauer meißeln müssen, das war bei der Grobheit meiner Skulpturen eigentlich egal, sondern weil ich den Moment genießen wollte, in dem sie zu leben begannen.

Von Zeit zu Zeit strich ich mit den Fingerkuppen dann sanft über das Holz. Und wenn dabei so etwas wie eine erotische Spannung entstand, dann wusste ich: Diese Figur war fertig. Es war nicht der Anblick, es war die Oberfläche, die entscheidend war. Aus ihr wuchs diese eigenartige Spannung, die Ausstellungsbesucher so lange vor man­chen meiner Skulpturen stehen bleiben ließ. Mir waren meine fertigen Figuren immer fremd, und doch war ich eigenartig vertraut mit ihnen. Wie mit wirklichen Menschen.

Die erste Ausstellung war ein Riesenerfolg. Wir hatten eine stillgelegte Fabrik angemietet, in deren weitverzweigten Räumen das Publikum meine Holzmenschen erst finden musste. Ein paar lümmelten einfach so herum, und aus der Entfernung konnte man sie für Besucher halten. Manche standen versteckt in Türeingängen oder hinter den mächtigen Stützstreben, die das Hallendach trugen. Einer stand sogar draußen, an die Fassadenwand gelehnt, auf einem wackligen Gerüst auf Höhe der dritten Etage, das irgendwelche Bauarbeiter hier vergessen hatten. Die Besucher mussten ihre Köpfe aus dem Fenster strecken, um ihn überhaupt sehen zu können. Auf den Klos und in den gammligen Duschräumen: überall meine Holzmenschen. Und im Direktionszimmer baumelte einer am Strick von der Decke.

Ich erzählte Barbara von meinen Skulpturen. Ich sprach, ohne groß zu überlegen. Ich dachte nicht mehr an Tina.

Heinrich

Ich habe mich zu ihr auf die Parkbank gesetzt. Sie ist ein Engel. Zumindest sieht sie so aus. Ich glaube, sie hat sich ein wenig erschreckt, als ich plötzlich etwas sagte. Sie hatte mich ja nicht kommen sehen. Sie ist so schön. Ich würde sie gerne berühren, aber ich traue mich nicht, sage einfach nur: »Hallo, ich bin Heinrich.« Die Sonne scheint, und die Vögel machen einen Heidenkrach. Wir sprechen nicht viel. Sie ist so schön. Wenn sie in meiner Nähe ist, schweigen die Stimmen. Ich habe ihr Blumen geschenkt. Ich weiß, wo sie wohnt.

Barbara

Als ich meinen Bruder am darauffolgenden Montag im Krankenhaus besuchte, nahm mich der behandelnde Arzt beiseite und sagte mir, dass es Peter wieder schlechter gehe. Die neue Therapie hatte nur kurzzeitig gewirkt, und nun fraß der Krebs sich wieder weiter durch seinen Körper. Die Medikamente halfen gegen den Schmerz, aber nicht mehr gegen die Krankheit.

Peter schien davon nichts zu wissen. Er war guter Dinge, richtiggehend fröhlich war er, und als ich ihn in seinem Rollstuhl durch die breiten Gänge der Charité schob, redete er fast ohne Unterbrechung. Er erzählte mir, was er alles machen wolle, wenn er wieder gesund sei, einen ­kleinen Laden in seinem Kiez eröffnen, wo er mit den Stammkunden tratschen könne, eine neue Freundin finden, vielleicht sogar am Wochenende wieder Rad fahren. Er ges­tikulierte beim Reden mit beiden Armen und steigerte sich dabei Gott sei Dank so in seine Phantasien hinein, dass er nicht merken konnte, wie ich hinter seinem Rücken mit den Tränen kämpfte. Nur einmal hörte er kurz zu reden auf und sah mich über die linke Schulter hinweg ver­schwörerisch an, so wie er das früher auch immer gemacht hatte, als wir noch Kinder waren, wenn er mir sagen wollte: »Alles wird gut.« Er erzählte noch ein paar Krankenhausgeschichten, und ich glaube, er schwärmte heimlich für Sonja, die rothaarige Krankenschwester.

Als ich ihn wieder in sein Zimmer zurückgebracht hatte und mich von ihm verabschiedete, wollte er, dass ich ihn ein zweites Mal umarme. »Wir haben keine Zeit mehr, mit Zärtlichkeiten zu geizen«, sagte er und versuchte dabei fröhlich zu zwinkern.

Ich war völlig geflasht, als ich die Klinik verließ. Ich setzte mich im Monbijoupark auf eine Bank, um wieder zu Sinnen zu kommen. Mein Bruder war zwei Jahre jünger als ich. Unsere Eltern waren früh gestorben. Ich war damals neun und musste für uns beide sorgen. Die alte Großmutter meinte es immer gut mit uns, aber sie war eine stille, traurige Frau, die oft stundenlang grübelnd in der dunklen Küche auf ihrem Stuhl saß. Wir Kinder trauten uns dann gar nicht, sie anzusprechen.

Wir wohnten mit unserer Großmutter in einem kleinen Dorf und es gab dort nur wenige Kinder in unserem Alter. Aber Peter war ohnehin ein scheuer Junge, der lieber alleine in einer ruhigen Ecke saß oder auf der Wiese hinter dem Haus lag, um Enid-Blyton-Bücher zu lesen, als sich mit den anderen um einen Platz auf der alten Wippe in Nachbars Garten zu kloppen. Wir fuhren oft auf unseren Rädern zum nahegelegenen Wald, um dort über die schmalen Trampelpfade zu heizen oder im Moos nach winzigen Käfern zu suchen. Mein kleiner Bruder war auch mein bester Freund. Und nun saß ich hier in dem kleinen Park an der Spree und weinte.

Bis Heinrich mich ansprach. Er musste schon eine ganze Weile neben mir gesessen haben, ich hatte sein Kommen gar nicht bemerkt. Als er zu reden anfing, sah ich zu ihm. Das war doch dieser merkwürdige Mensch, der neulich im U-Bahnhof am Frankfurter Tor so verrückt am Bahngleis herumgeturnt hatte! Ich erkannte ihn gleich wieder. Er sagte etwas von Engeln, die sich im Blau des Himmels auflösen, wirres Zeug, aber es klang sehr poetisch aus seinem Mund, so leise und ruhig, wie er sprach. Er hatte ein schönes, weiches Gesicht und helle, kluge Augen. Er saß unbewegt neben mir, die Hände auf die Knie gelegt, und sah einfach vor sich hin. Seine Nase war einen Tick zu groß, sein Mund um eine Nuance zu breit. Ein schöner Charakterkopf. Er trug einen abgewetzten dunklen Anzug, dessen Ärmel zu kurz waren, und schwarze, abgetretene Halbschuhe. Trotzdem wirkte er nicht ungepflegt, vor allem wegen seiner seidigen, braunen Haare, die ihm in sanften Wellen bis zu den Schultern fielen. »Ich heiße Hein­rich«, sagte er, und das klang so, als ob er mit sich selbst redete. »Wenn die Menschen alle aus Glas wären«, fuhr er fort, »dann könnte man immer ihr Innerstes sehen. Das wäre schön, denn die Menschen hier sind alle sehr freundliche Menschen. Deswegen gefällt mir die Stadt so gut.« Wieder Schweigen. »Neulich habe ich mit einer Prinzessin gesprochen, aber sie war nicht so schön wie du.« Ich hatte fast lachen müssen. Heinrich schwieg wieder. Ich blieb noch fünf Minuten neben ihm sitzen, dann verabschiedete ich mich und lief wieder zur Oranienburger Straße hinauf. Erst in der Unterführung zum Alexanderplatz bemerkte ich, dass er mir gefolgt war. Ich lief einfach durch das »Kaufhof«-Gebäude, um ihn abzuhängen.

Abends rief Paul an, um mich zum Essen einzuladen. Ein merkwürdiges Gespräch. Er alberte ein wenig am Telefon herum, und ich erzählte ihm von meiner neuen Bekanntschaft. »Heinrich?«, fragte er. Ob er ihn etwa kenne? »Kann sein«, bemerkte er nur, ging aber nicht näher darauf ein.

Wir unterhielten uns noch ein bisschen, aber ich hatte das Gefühl, dass er nicht so recht wusste, was er mir sagen sollte. Zumindest wirkte er etwas hilflos, vielleicht, dachte ich, ist er schüchtern. Schließlich fragte er, was ich denn davon hielte, zum Italiener zu gehen. Wir könnten doch im »Due Forni« essen, die Pizza dort sei sensationell, oder ob mir etwas anderes lieber sei. Als ich das »Ossena« in Mitte vorschlug, wurde er plötzlich still. Wir verabredeten uns schließlich für den nächsten Abend um acht.

Paul