Über Buddhismus und Naturwissenschaft - Jürgen Henning - E-Book

Über Buddhismus und Naturwissenschaft E-Book

Jürgen Henning

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Beschreibung

Fragen an die Natur in Form von Experimenten sind die Grundlage aller Naturwissenschaften. Die Natur liefert die Antworten und wenn die ´Frage´ geschickt gestellt war, dann ist die Antwort eindeutig. Dies ist der riesige Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften und den Religionen, denn dort behauptet man und fragt nicht (wenn, dann höchstens rhetorisch)! Dieses Buch geht direkt auf die Schnittlinie zwischen tibetischem Buddhismus und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, es geht also um neurologische Erkenntnisse, um Psychologie und um Psychotherapie. Es entführt rund 700 Millionen Jahre in der Vergangenheit, um zu erklären, weshalb sich unsere Störgefühle (Charakterfehler) notwendigerweise entwickeln mussten und landet später bei meditativen Zuständen. Denn auch die sind (wahrscheinlich nicht vollständig) naturwissenschaftlich und psychologisch erklärbar. Viele Erklärungen im Buddhismus aus den letzten 2.500 Jahren halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Folglich sollten die Erklärungen und nicht die Tatsachen geändert werden. Der Buddhismus liefert erlebte Erfahrungen und die Wissenschaft liefert auf extrem breiter Basis überprüftes Wissen. Es geht darum, ob und wie man sich gegenseitig ergänzen könnte. Wenn es wirklich nur eine Wahrheit gibt, was meine felsenfeste Überzeugung ist, dann kann und sollte man stimmige Erklärungen über die Welt und den Geist liefern können!

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Zum Adler sprach die Taube:

Auf das Denken folgt der Glaube.

Recht, sprach jener, mit dem Unterschied jedoch,

wo du schon glaubst, da denk' ich noch!

Ludwig Robert

Gestaltung Frontcover:

Jürgen D. Henning unter Verwendung des Fotos einer Statue von Buddha Shakyamuni vom Los Angeles County Museum of Art, das es ´public domain´ stellte.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wer war der historische Buddha?

Wie ich zum Buddhismus kam

Ein paar Grundlagen vorweg

Befreiung und Erleuchtung

Karma

Seele

Atman / Brahman

Glücksgefühle

Warum es Störgefühle geben muss

Anhaftung und Ablehnung

Stolz

Eifersucht

Wut / Hass / Rache

Wunsch nach Macht

Grundnatur

Beweise, Experimente & Logik

Beweise

Experimente

Logik

Determinismus, Chaostheorie und freier Wille

Meditation, die Grundlagen

Aufbau des Geistes

Lernen

Ameisen

Bienen

Grundlage des aktiven Lernens

Echtes Lernen und Umlernen

Traumkörper (nicht spirituell)

Botox und Mitgefühl

Sprache

Das Auge und der Sehsinn

Künstliche Intelligenz & Bewusstsein

Expertensysteme

Schach

Evolutionäre Programmierung

Durchbruch mit neuronalen Netzen

Künstliche Intelligenz; ist Bewusstsein definierbar?

Watson

Autonomes Fahren und Objekterkennung

Assoziativer Speicher

Künstliche neuronale Netze

Mustererkennung

Kontext

Aufmerksamkeit und Konzentration

NLP und autogenes Training

Scheinerinnerungen

MDR-Therapie

Einige Kontemplationen

Wo findet das Denken statt

Die Zahl Pi und die Unendlichkeit

Kann es einen Schöpfergott geben?

Kann es das absolut Böse geben?

Navigation & Rituale

Buddhistische Belehrungen über das Ich

Ist Buddhismus gut für mich?

Der Effekt des hundertsten Affen

Ich oder Nicht-Ich, das ist hier die Frage

Spiegelneuronen & Mitgefühl

Ngöndro

Trickst der Buddhismus das Ego aus?

Das Tibetische Totenbuch

Man soll nicht immer alles glauben

Das Tibetische Totenbuch

Geheimlehren Tibetischer Totenbücher

Einführung in tantrische Praktiken

„The Hidden History of the Tibetan Book of the Dead“

Was sagt der Zen-Buddhismus dazu?

Zusammenfassung: Tibetisches Totenbuch

Tibetischer Buddhismus und Politik

Ein Universum aus Superstrings

Alles Geist oder doch nicht?

Epilog

Weiterführende Ideen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Vor rund 25 Jahren fand ich mit Ende 30 meinen Weg zum tibetischen Buddhismus. In gewisser Weise könnte ich auch sagen, ich wurde konvertiert. Dahinter steckte jedoch weder physischer noch psychischer Zwang. Es war, sagen wir mal einfach, schlicht unvermeidlich; ich komme demnächst darauf zurück. Wenige Jahre später machte ich eine Weltumrundung per Motorrad; unabhängig davon, dass ich in dieser Zeit sehr viel gesehen und erlebt habe, das waren 1 ½ Jahre Zeit zum Nachdenken. Ich hatte ein paar Bücher über buddhistische Philosophie mit dabei, abends habe ich darin gelesen und am nächsten Tag beim Fahren darüber nachgedacht (was soll man sonst auf dem Motorrad machen, wenn die Strecke langweilig ist?). Dies war die beste Zeit in meinem ganzen Leben und viele meiner damaligen Gedanken wurden zum Grundstock für dieses Buch.

Ich kann nicht von mir behaupten, ein besonders fleißiger Schüler gewesen zu sein, weder ganz früher in der Schule, noch an der Universität, noch als praktizierender Buddhist, eher im Gegenteil. Andererseits steckt in meinem Charakter etwas von einem Terrier. Wenn ich mich in etwas verbissen habe, dann lasse ich einfach nicht mehr locker. Also bin ich das Thema Buddhismus immer und immer wieder angegangen, jedes mal aus einer etwas anderen Richtung. Es gab da etwas, das ich unbedingt verstehen wollte, das sich aber meinem Zugriff immer wieder völlig entzog, als versuchte ich nach Nebel oder Schneeflocken zu greifen!

Ein Teil des Problems war mit Sicherheit darin begründet, dass ich ein abgeschlossenes technisches Studium (Elektrotechnik an der TU Braunschweig) hinter mir habe. Ohne etwas grob falsch zu machen kann man so ein Ingenieurstudium als eine Mischung aus Mathematik und Physik ansehen, wobei die praktische Anwendung nur selten vollkommen aus den Augen verloren wird. Am Ende des Studiums hat man also, zumindest was die Naturwissenschaften angeht, ein ziemlich fest gefügtes Weltbild.

In den letzten 25 Jahren habe ich mich dann in die Philosophie gestürzt und Fachbücher über Psychologie bis hin zur Neurologie durchgearbeitet, immer auf der Suche nach dem Schlüssel zum Verständnis von verschiedenen buddhistischen Schriften. Und immer wieder tauchte beim Lesen der buddhistischen Schriften in meinen Gedanken die Frage auf: “Worüber, bitte, reden die da überhaupt?“ Natürlich galt das nicht für alle Bücher oder alle Vorträge, aber für viele und insbesondere die, die ich für wichtig hielt.

Mein Lama, Ole Nydahl, ist wohl einer der bekanntesten Vertreter des tibetischen Buddhismus im Westen und er brachte häufiger den Spruch: „Man kann sich den Weg zur Befreiung auch durch Zweifel erarbeiten. Man darf nur nicht den Fehler machen, immer wieder die gleichen Dinge anzuzweifeln!“ Das Problem ist nur, man muss die gleichen Dinge immer wieder anzweifeln, wenn man nicht in der Lage war, die Zweifel auszuräumen. Man kann sie dann nur gedanklich auf den Stapel mit der Beschriftung „Noch zu erledigen“ packen und auf spätere Eingebungen hoffen.

Dieses Buch hier handelt unter anderem von meinen Irrungen und hat daher auch einen etwas autobiographischen Touch, nur ist der letztlich völlig unwichtig, wenn man von einem einzigen Aspekt absieht: Er macht dieses Buch authentisch, denn es steckt eine reale Person dahinter. Sie halten keinen Roman in Händen, sondern eher ein Fachbuch. Ich hasse langweilige Fachbücher, also habe ich versucht ein unterhaltsames Fachbuch zu schreiben, das allerdings keinen streng wissenschaftlichen Anspruch stellt (es ist schon alles hübsch logisch, aber es gibt beispielsweise keine Fußnoten). Möge es Ihnen Erkenntnis bringen und zumindest häufiger mal ein Lächeln aufs Gesicht zaubern oder ein erstauntes „Oh“ entlocken.

Die Grundlage für diesen Text bildet meine Überzeugung, dass es nicht verschiedene Wahrheiten geben kann; es gibt nur verschiedene Darstellungen der Wahrheit, es gibt Missverständnisse in Bezug auf die Wahrheit und es gibt auch die vorsätzliche Verdrehung der Wahrheit (leider viel zu oft). Ich bin mir sicher, dass Buddhismus und Wissenschaft die gleiche Münze beschreiben, jedoch, zumindest teilweise, jeweils die andere Seite.

Ich möchte Ihnen zwei Beispiele geben. Im asiatischen Raum wird oft von den vier Elementen gesprochen, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer (im damaligen Griechenland gab es diese Einteilung übrigens auch). Ein normaler Nordeuropäer mit guter Schulbildung wird diese Einteilung etwas befremdlich finden. Wenn wir jedoch eine einfache Ersetzung vornehmen, dann klingt es sofort völlig anders: „Alle Stoffe dieser Welt kommen in den Aggregatzuständen fest, flüssig oder gasförmig vor und werden von Energie in Bewegung gehalten.“ Da passt kein Blatt mehr zwischen fernöstliche Sicht und Wissenschaft (man kann als 5. Element auch noch den Raum hinzunehmen).

Das andere Beispiel kommt aus den Belehrungen über die Vorgänge beim Sterben. Dort heißt es etwa, dass sich der Geist aus dem Körper zurückzieht, etwa, wenn man so langsam das Gefühl in den Fingern verliert. Wenn man nichts von Nerven und ihrer Funktion weiß, dann kann man auch nicht wissen, was passiert, wenn die Synapsen nicht mehr richtig mitmachen wollen / können. Von daher ist die Erklärung wissenschaftlich gesehen sehr wahrscheinlich falsch (ganz genau weiß ich es nicht, denn ich bin in diesem Leben noch nicht wissentlich gestorben), es ist jedoch eine sehr gute Beschreibung der Symptome.

Auf der Suche nach passenden 'Übersetzungen' habe ich mich immer wieder von dem gut abgesicherten Fundament der Wissenschaft aus an die Arbeit gemacht. Ob Sie meine Interpretationen für richtig oder überhaupt sinnvoll halten, ist mir persönlich letztlich nicht wichtig. Wenn aber auch nur ein paar Leser sagen „Ach, so ist das gemeint!“, dann hat sich meine Mühe mehr als gelohnt.

Dieses Zitat aus Kalu Rinpoches Buch „Über das Wesen des Geistes“ ist letztlich der rote Faden durch dieses Buch hier. Wenn man nicht weiß, wie der eigene Geist funktioniert, dann sind alle Methoden, um ihn zu verändern, ziemlich sinnlos:

Gestern abend und heute morgen hat Kalu Rinpoche uns erklärt, dass die Meditationstechnik, die jemand anwendet, nur in dem Maße effektiv ist, wie das Verständnis des Geistes, mit dem der Übende meditiert. Die Anwendung der Meditationstechnik gleicht einem Gimmick, einem speziellen Trick, der nur auf einer sehr beschränkten Basis wirksam ist. Deshalb sollte man verstehen, dass die Technik eben nur eine Technik ist, um den Geist von einem Zustand der Erfahrung in einen anderen zu bringen. Hat man nun eine generelle Bewusstheit, eine Erfahrung des Geistes selbst, über den man ja meditiert, dann ist eine Meditation natürlich sehr viel effektiver. Denn je mehr man den Geist versteht, der diese Technik erfährt, umso erfolgreicher ist jede Methode. Fehlt es aber an einem solchen Verständnis, bleibt die Methode immer nur eine Technik, die nicht besonders tief wirkt.

Deshalb finden Sie in diesem Buch eine Sammlung an wissenschaftlichen Erkenntnissen, buddhistischen Belehrungen und ein paar (gut begründete) Spekulationen, um Ihr Bild des Geistes ein wenig abzurunden.

Spiritueller Disclaimer: Falls ich irgendwelche Irrtümer in die Welt gesetzt habe oder sich bei irgend jemandem die geistige Verwirrung wegen mir vergrößert haben sollte, dann geht das eindeutig auf mein karmisches Konto und ich bitte die Schützer der Lehren um Nachsicht. Alle anderen Fehler befinden sich im Bereich Ihrer eigenen Verantwortung.

Wer war der historische Buddha?

Um das Jahr 563 v. Chr. wurde Siddharta Gautama als Sohn eines Fürsten geboren. Jetzt muss man wissen, dass in Indien die Verklärung von Dingen nichts außergewöhnliches ist. Je klebriger und süßer, desto lieber ist es dem Inder (oder zumindest vielen von ihnen; es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass hiermit keine Abwertung beabsichtigt ist). Ob sein Vater nun Fürst war oder ein Bezirkskönig, ist letztlich ziemlich bedeutungslos, es sei denn, man ist Historiker.

Fest steht, dass er eine für seine Zeit sehr gute Bildung bekam, also in unserem heutigen Sinne ein Intellektueller war mit einer kompletten Allround-Bildung; er wusste und konnte alles, was man damals in Indien in der Oberklasse für wichtig hielt. Das beinhaltete auch Jura, Religion, Meditation, Philosophie und Waffenkunde. Irgendwann heiratete er, hatte ein Kind, und ob die vielen Gespielinnen eine indische Erfindung sind oder nicht, spielt eigentlich keine wichtige Rolle.

Was eine Rolle spielt ist, dass er wahrscheinlich ein sehr gut abgeschirmtes Luxusleben führte. Doch irgendwann fing etwas in ihm an zu nagen. Wenn man ein Luxusleben führt, dann gibt es viele Dinge, über die man nie nachdenkt, weil sie irrelevant in so einem Leben sind. Gautama sah jedoch bei Ausflügen in die Stadt Alter, Krankheit und Tod. Diese Erfahrung brachte ihn aus der Fassung und je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurde ihm, dass niemand vor Alter geschützt ist, dass jeder krank werden kann und dass jeder ganz gewiss sterben wird. Plötzlich fehlte die 'spirituelle' Grundlage für sein Luxusleben, denn wozu war es gut, wenn es irgendwann mit absoluter Sicherheit damit vorbei sein würde?

Hinzu kam ein großes philosophisch-religiöses Problem. Wenn Alter, Krankheit und Tod alle betreffen, dann betrifft es nicht nur alle Menschen und Tiere, sondern auch die Halbgötter und Götter. Auch wenn man es im Kreislauf der Wiedergeburten (und im damaligen Indien glaubten eigentlich fast alle, dass es den gibt) geschafft hatte, ein Gott zu werden, dann war das keine Garantie auf Ewigkeit. Letztlich muss sogar Vishnu, der von sich meint, er habe diese Welt erschaffen, irgendwann seinen Thron verlassen und zirkuliert wieder im Kreislauf. Doch wozu ist eine Religion gut, die einem nur auf beschränkte Zeit hilft?

Man sieht hier, dass seine Gedanken sehr tiefschürfend gewesen sein müssen, denn viele Menschen würden sagen, man solle sie doch bitte ein wenig in Luxus leben lassen und über den Rest würde man sich Gedanken machen, wenn es so weit ist. Genau genommen sind es nicht nur viele Menschen, die so denken, sondern mit extrem wenigen Ausnahmen eigentlich alle. Wenn sich jetzt im Westen jemand mit Alter, Krankheit und Tod beschäftigt (und nicht Buddhist ist), dann hat er / sie fast immer beruflich mit diesen Fragen zu tun, etwa weil es die Arbeit in einem Krankenhaus oder Hospiz mit sich bringt. Alle anderen vermeiden so gut wie irgend möglich alle Fragen, die mit diesem Themenkreis zu tun haben. Es wäre nicht sehr übertrieben, von einem Tabu zu sprechen, denn wir alle in den sogenannten entwickelten Ländern führen ein Luxusleben und möchten so lange wie möglich nicht daran erinnert werden, dass es da noch etwas anderes geben könnte.

Die Gedanken über Alter, Krankheit und Tod zogen ihm also den Teppich unter den Füßen weg und er war ratlos, bis er einen der ´Heiligen´ sah, von denen in Indien immer noch viele herum laufen. Dass sein bisheriges Leben ihm keine verlässliche Grundlage mehr gab, war ihm klar und bei diesem Heiligen spürte er wahrscheinlich eine tiefe Ruhe und eine tiefe Verbundenheit mit dem Sein. Der Entschluss reifte und schließlich ging er in die Hauslosigkeit, also mit anderen Worten in den Dschungel.

Über mehrere Stationen, aufgrund seiner Vorbildung und Intelligenz war er seinen Lehrern meist schnell überlegen, kam er zu den Asketen, die sich durch Fasten verwirklichen wollten. Irgendwann war Gautama extrem stark abgemagert und sagte später über diese Zeit, dass er nur seine Bauchdecke berühren musste, um sein Rückgrat zu spüren. Dann sah er ein, dass auch dieser Weg nicht zu einem verlässlichen Fundament führen konnte und verließ die hungernden Asketen.

Nicht, dass er anschließend viel aß, denn es wird über ihn aus der Zeit danach berichtet, dass sogar ein kleiner Vogel verhungert wäre, hätte er nur so viel zu fressen bekommen, wie der Buddha aß; da die damaligen und auch heutigen Yogis eine Körperbeherrschung erlangen, die weit über unseren Vorstellungen liegt, kann man davon ausgehen, dass diese Berichte stimmen.

In der damaligen Zeit war, wie schon gesagt, der Glaube an Wiedergeburt in ganz Indien verbreitet und Gautama war zu der Erkenntnis gekommen, dass er bisher überhaupt nichts gefunden hatte, was ihn aus diesem Kreislauf heraus führen könnte, denn nur wenn es aus dem Kreislauf heraus führt, dann kann es dauerhaft und somit letztlich sinnvoll sein. Irgendwann in dieser Zeit fiel ihm ein, dass er in seiner Jugend einmal ein Meditationsgefühl von Lockerheit und Freude gehabt hatte und beschloss auch diesen Weg bis zum Ende zu verfolgen. Er setzte sich unter den Baum, der heute als Bodhi-Baum bekannt ist, und begann mit dieser Art der Meditation und sie führte ihn zur vollen Erkenntnis darüber, wie die Welt in ihrer Grundnatur beschaffen ist. Er hatte die Ausgangstür gefunden.

Das, was er in den vielen folgenden Jahren lehrte, nennt sich Dharma, was man mit Belehrungen übersetzen könnte. Wesentlich besser passt die Übersetzung „Wie die Dinge sind!“. Es wird nichts interpretiert, es wird nichts hinzu gefügt, es wird nichts beschönigt, es ist ganz simpel die Darlegung, wie die Welt nun einmal letztlich ist. All dies legte Buddha dar, wobei es Belehrungen auf verschiedenen Stufen gab und immer noch gibt, um den Fähigkeiten der jeweiligen Zuhörer zu entsprechen (es gibt also, zumindest scheinbare, Widersprüchlichkeiten in den Belehrungen). Am Ende seines Lebens sagte er, dass er keine Belehrung in der geschlossenen Hand zurückgehalten hätte, alles, was man für Befreiung und Erleuchtung braucht, wurde gegeben!

Jetzt kommen wir zu dem Hauptproblem, weshalb dieses Buch hier überhaupt existiert. Das Weltbild damals war völlig anders als unser heutiges Weltbild. Man wusste damals nichts über das Universum und auch Evolution war völlig unbekannt (selbst wenn Buddha es so gesehen hätte, wie wir es jetzt tun, es hätte ihn niemand verstehen können; also hat er alles so erklärt, dass er zu seinen Lebzeiten verstanden werden konnte). Man kann es auch pragmatisch ausdrücken: Wenn die Belehrungen helfen, dann ist es doch ziemlich egal, ob sie zu 100% korrekt dargelegt wurden. Die Welt, wie man sie damals in Indien wahrnahm, hatte sich nicht irgendwie im Laufe von Milliarden Jahren entwickelt, sie war vor ungewisser Zeit exakt so entstanden und war immer noch so, woraus sich natürlich einige philosophische Konflikte ergeben (darauf gehen wir noch gründlich ein).

Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Bücher über Buddhismus außerhalb von Asien meistens Übersetzungen von Interessierten oder noch öfter von Religionswissenschaftlern. Beide Gruppen gaben die Inhalte auf die traditionelle Art und Weise wieder. Ein Leser musste sich schon intensiv mit dem Themenkreis befassen, um diese Bücher zumindest in Grundzügen verstehen zu können, wobei man sich noch nicht einmal sicher sein konnte, ob der jeweilige Autor selber die Sachverhalte überhaupt ansatzweise verstanden hatte.

Stellen Sie sich einfach einmal vor, was dabei heraus kommt, wenn ein streng gläubiger Anhänger einer christlichen Kirche ein tibetisches Rollbild (Thangka) beschreibt, auf dem auch sogenannte Schützer zu sehen sind (man erkennt sie daran, dass sie ein drittes Auge in der Stirn haben, das Auge der Weisheit), die manchmal recht wild und zornvoll aussehen (in vielen Beiträgen findet man den Ausdruck 'rasend' und diese Charakterisierung ist sicherlich nicht wirklich richtig; sie haben das Potential zum Wüten, aber diese Eigenschaft entwickeln sie ausschließlich, wenn ihre Schützerqualitäten benötigt werden; das ist eher so, als ob der 150 kg schwere Rockerpräsi hinter einem steht und sagt: „Ich werde persönlich auf dich aufpassen und wenn dir einer ans Leder will, den dengel ich weg!“). Dann sind Buddhisten natürlich sofort Götzenanbeter oder weit schlimmeres, denn die Flammen des Mitgefühls werden sofort zum Höllenfeuer, aus dem die Götzen als Gehilfen von Satan kommen. Diese Situation änderte sich, als in Europa und Nordamerika buddhistische Zentren eröffnet wurden, die häufig von Asiaten geleitet wurden. Doch auch diese gaben die Belehrungen in der dem jeweiligen Herkunftsland entstammenden klassischen Art weiter.

Mit Ole Nydahl, den seine Hochzeitsreise zusammen mit seiner Frau Hannah in den Himalaya führte, kam eine ´Trendwende´. Die beiden wurden Schüler von Karmapa (später mehr Info über ihn), der die beiden, nachdem sie eine längere Ausbildung durchlaufen hatten, zurück in den Westen schickte, damit sie die buddhistischen Lehren verbreiten (rein formal müsste ich von Lama Ole Nydahl reden, aber Ole ist Däne und dort hat man kein Vertrauen zu jemandem, der auf Titel oder ´Sie´ besteht und ich habe Vertrauen zu ihm). Ole sagt, dass die Essenz des Buddhismus wie ein Diamant sei. Hält man ihn vor einen blauen Hintergrund, dann strahlt er blau. Hält man ihn vor einen roten Hintergrund, dann strahlt er rot. Das ändert aber überhaupt nichts an der Natur des Diamanten selbst. Der farbige Hintergrund steht hier für verschiedene Kulturen und dafür, was die Leute erwarten.

Wenn Tempeltänze und laute Musik in Tibet notwendig waren, um die Bewohner der Bergdörfer ins Tal zu locken, damit sie einer Zeremonie oder einer Einweihung beiwohnten, dann gab es eben laute Musik und Tempeltänze. Wenn wir uns so etwas ansehen, dann finden wir das vielleicht recht spannend, aber es bleibt vielleicht doch unterschwellig die Frage, wo denn genau der Unterschied hiervon zu bayrischen Lederhosenträgern liegt, die herum hüpfen und sich zu lauter Musik auf Schenkel und Fußsohlen klatschen. Also begann Ole damit, den Diamanten zu beschreiben, und kümmerte sich immer weniger um den farbigen Hintergrund.

Praktisch alle buddhistischen Belehrungen wurden 2.500 Jahre lang aus einem Kulturkreis heraus gegeben, der uns in Europa oder den Amerikas schlicht völlig fremd ist. Natürlich kann man die Ikonographie und Symbolik im Laufe von vielen Jahren erlernen, doch es ist ein mühsamer und langer Weg. Ole sagte einmal (wahrscheinlich eher ziemlich oft), wir im Westen müssen es genauso machen, wie damals die Tibeter; wir müssen die buddhistischen Belehrungen in unseren Kulturkreis übersetzen. Es ist wichtig, hierbei die Essenz zu wahren, das Lokalkolorit ist unwichtig. Und die Essenz muss verstanden worden sein, denn sonst gibt es mehr Verwirrung statt weniger.

In manchen klassischen Belehrungen gibt es endlose Auflistungen von Höllen mit zusätzlichen Unterteilungen, die einfach vorausgesetzt aber nicht begründet werden. Man soll das glauben. Das erinnerte mich irgendwie immer an den Spruch von Fritz Teufel, als er im Gerichtssaal war und aufgefordert wurde sich (wegen der Würde des Gerichtes) zu erheben. Er tat dies mit den Worten: “Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient!“ Wenn es etwa im „Juwelenschmuck der geistigen Befreiung“ von Gampopa seitenweise über diverse Höllen und Nebenhöllen geht und die jeweiligen Leiden, die man dort erfährt, dann kommt man zwangsweise zu dem Ergebnis, dass das tibetische Kindermärchen sind, die im Westen der Wahrheitsfindung kaum dienlich sein können (ich setze eine absolut positive Intention voraus, nur das ändert nichts an den Umständen).

In der Einleitung schreibt der Autor / Übersetzer vom „Juwelenschmuck der geistigen Befreiung“, Herbert Guenther, auf Seite 12:

Die intellektuelle Ausrichtung macht sich gleich von Anfang dadurch bemerkbar, dass in diesem scholastischen Werk fast ausschließlich nur Sutras (didaktische Lehrreden, in denen der historische Buddha die Hauptrolle spielt) zitiert werden, um gewisse Punkte zu unterstreichen. Nur ganz wenige aphoristische Aussprüche der sogenannten Mahasidas, die samt und sonders der tantrischen, sich auf das innere Erlebnis und dessen Ausdruck in symbolhafter Weise berufenden Richtung angehören, werden angeführt. Als ein scholastisches Werk, das nichtsdestoweniger ein literarisches Werk von hohem Wert ist, besitzt es alle Vorzüge und Nachteile der Scholastik: Klarheit im Aufbau und ein Übermaß an Pedanterie.

Man wird dieses Buch also nicht aus Spaß an der Freude lesen. Der gesamte „Juwelenschmuck der geistigen Befreiung“ besteht nur aus der Peitsche und nicht einer einzigen Karotte; versuchen sie mal, einen Westler mit guter Ausbildung, mit solchen Methoden nachhaltig zu beeindrucken. Das geht völlig in die Hose und es wird sich im Westen wegen solcher ´Märchen´ kaum einer überhaupt auf den tibetischen Weg zur Befreiung und Erleuchtung machen! Von freudvoll wollen wir noch nicht einmal reden und auf die Leute, die sich nicht freudvoll an den Buddhismus heran machen, kann man, wenn man etwas völlig Neues im Westen auf die Beine stellen will, ohne großen Verlust sowieso verzichten (ich meine die Leute, die 24 Stunden am Tag mit moralinsaurer Miene durch die Gegend schleichen und nicht nach dem eigentlichen Sinn, sondern nach der absolut korrekten Auslegung suchen und ewig darüber debattieren wollen). Achtsamkeit ja, aber moralisierende Bürokratie bitte nicht!

Auch wenn es viele Leute gibt, die Ole Nydahl skeptisch bis feindselig gegenüber stehen: Jede andere Art, den tibetischen Buddhismus wirklich im Westen zu verankern, hätte überhaupt nicht funktionieren können. Meine Motivation ist es, einen Beitrag dafür zu leisten, dass Ole in diesem Punkt recht behält! Ich glaube, da kann ich ein bisschen helfen!

Wie ich zum Buddhismus kam

Eigentlich ist dies ein Kapitel, das in einem (mehr oder weniger) Fachbuch nichts zu suchen hat. Warum es drin sein muss, werden Sie in wenigen Seiten verstehen.

Ich hatte ja schon erwähnt, dass ich in Braunschweig Elektrotechnik studiert hatte. Meine damalige Freundin, Sabine, studierte Englisch und Wirtschaftswissenschaften, was damals in Braunschweig nur bis zum Vordiplom möglich war. Wir wechselten fast zeitgleich nach Kiel. So etwa zwei Jahre später sahen wir ein, dass wir uns wohl besser trennen sollten, beschlossen jedoch, weiter guten Kontakt zu halten. Folglich sahen wir uns zwei, drei mal im Jahr.

In den Folgejahren wurde ich immer ingenieurmäßiger und war im Bereich Projektmanagement für Kommunikationsanlagen beschäftigt. Wenn ich morgens zur Arbeit fuhr, dann wusste ich normalerweise nicht, welches Problem auftauchen würde; ich war nur sicher, dass genügend Probleme auftauchen würden. Probleme sind nämlich gute Freunde und bringen immer ein paar Kumpel mit. Sabine wurde im Laufe der Jahre immer flippiger und abgedrehter. Als sie in einer alternativen Land-WG lebte, besuchte ich sie dort. Sie hatte irgendwann einen Kalligraphiekurs mitgemacht und einen rund 10 Zentimeter hohen Stapel Din-A4-Blätter produziert, wobei jedes Blatt mit gut zwanzig erfundenen chinesischen Schriftzeichen bedeckt war. Welche Einschätzung ihrer Psyche ich damals hatte, muss ich wohl nicht näher erläutern.

Eines schönen Tages klingelte das Telefon und Sabine fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mir mal einen tibetischen Lama anzusehen. Also machten wir einen Treffpunkt aus, der Termin stand ja schon fest. Das war das erste mal, dass ich Ole sah und ich war doch etwas überrascht, statt eines Tibeters einen durchtrainierten aber etwas zu kurz geratenen Wikinger zu sehen. Die ganze Veranstaltung fand übrigens in einer Privatwohnung knapp außerhalb von Kiel statt (mit einer riiiesigen Badewanne im Badezimmer).

Ole war weit über zwei Stunden zu spät angekommen (das machte er zu der Zeit häufiger), was er mit einem Autounfall begründete. Das Auto wäre total Schrott, aber es wäre niemandem etwas passiert. Freunde hätten auch schon einen Ersatz besorgt, einen Audi 100. Dann gab er die technischen Daten und meinte abschließend: „Der hat aber keinen Katalysator oder so´n Quatsch!“ Ich sah bei einigen Leuten die Kinnlade absacken und dachte mir nur, dass er so nicht allzu viele Anhänger finden wird (später habe ich begriffen, dass dies durchaus Absicht war; Stichwort: moralinsauer!). Ansonsten fand ich ihn sehr charismatisch, aber das, was er erzählte, hielt ich für recht wenig durchdacht (das war jetzt extrem höflich ausgedrückt!).

Meine Eltern, zu denen ich eigentlich kein besonders gutes Verhältnis hatte, lebten in Schleswig. Mein Vater war bettlägerig und hatte heftige Diabetes, weshalb er schon mehrfach mit Koma im Krankenhaus war. Ich erwartete eigentlich fast täglich einen Telefonanruf meiner Mutter, dass er nicht mehr sei. Eines Tages kam ich im Büro an meinen Schreibtisch zurück und mein Schreibtischnachbar teilte mir mit, es habe einen Anruf gegeben, meine Mutter sei verstorben.

Ich setzte mich also in meinen VW-Bulli und düste los. In irgendeinem Laden kaufe ich noch schnell eine Flasche Whisky und zwei Flaschen Cola, nur so für alle Fälle. Die Nachbarin meiner Eltern hatte meiner Mutter bei der Pflege meines Vaters geholfen und sie hatte schon alles erledigt, was für sie machbar war. Meine Schwester und ich mussten nur noch ein paar Formalien erledigen.

Dann beratschlagten meine Schwester und ich, was mit unserem Vater zu machen sei. Da wir nicht damit rechneten, dass mein Vater noch sehr lange leben würde, beschlossen wir, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben sollte. Er hatte sein Bett in einem Zimmer zum Garten hin mit einem schönen Blick ins Grüne. Die Nachbarin war bereit, sich um die eigentliche Pflege zu kümmern und wir würden abwechselnd von Kiel zwischen fahren, damit er abends nicht alleine sein musste.

Die erste Hälfte der Woche würde meine Schwester übernehmen und ich die zweite Hälfte. Die Wochenenden wollten wir abwechselnd machen und ich hatte schon mal die erste Nachtschicht gewonnen.

Mein Vater war ja im Gartenzimmer, von dort kam man in den Flur und von dort ins Wohnzimmer und weiter ins Esszimmer. Dort stand eine Klappcouch, die einzige freie Schlafgelegenheit im Erdgeschoss, auf der meine Mutter in der Nacht zuvor gestorben war. Mit anderen Worten, die Whiskyflasche war am nächsten Morgen leer und ich war wohl eher noch ziemlich voll, als ich zur Arbeit fuhr. So ging es dann Monat um Monat weiter (allerdings mit deutlich weniger Alkohol) und ich war wirklich die ganzen Monate am Rande meiner Belastungsgrenze.

Irgendwann hatte sich Sabine von Kiel verabschiedet, denn sie wollte im buddhistischen Zentrum in Wuppertal wohnen. Wiederum einige Zeit später rief sie mich im Büro an und erzählte mir, dass sie jetzt nach Indien gehen wolle, um dort Buddhismus zu studieren. Das Problem sei ihre restliche Habe und ich würde doch meinen Keller praktisch gar nicht nutzen. O.k., geht in Ordnung. Und du hast doch so einen praktischen VW-Bus!? Also machten wir einen Termin aus, wann ich sie und ihre Habe abholen würde.

Wenige Tage vor dem Termin rief Sabine wieder an. Da käme ein ganz hoher tibetischer Lama nach Deutschland und da müsste sie unbedingt hin, also müsse der Umzug auf einen anderen Termin verlegt werden. Ich erklärte ihr, dass ich für das Wochenende schon in Schleswig vorgearbeitet hätte. Entweder sie würde jemand anderen für den Transport finden oder es müsste an exakt dem Wochenende über die Bühne gehen. Nach einigem Hin und Her machte ich ihr den Vorschlag, sie könne mich doch einfach auch für den zweitägigen Kursus anmelden, dann bekäme sie ihren Umzug gemacht und ich könnte mir mal wieder merkwürdige Buddhisten ansehen.

Neben einem stattlichen Landhaus in der weiteren Umgebung von Köln war ein großes Bierzelt aufgebaut worden mit Holzfußboden drin. Insgesamt werden etwa 150 Leute da gewesen sein. Die Stirnseite des Zeltes war mit einem gestreiften bunten Wandbehang geschmückt und davor stand ein rot lackierter Kastenthron. Kurz bevor es losging meinte Sabine noch, es könne sein, dass man für die Teilnahme am Kursus die buddhistische Zuflucht bräuchte. Dabei würde man eigentlich nur versprechen keine Menschen umzubringen, nicht zu stehlen und keine schlimmen Drogen zu nehmen. Ansonsten sei es eine Übertragung von positiver Energie! Erzählen sie mal einem Elektrotechniker etwas von positiver Energie. Sie werden dann zwei nach oben verdrehte Augen sehen.

Dann gab es Belehrungen und irgendwann hieß es, man könnte jetzt die buddhistische Zuflucht nehmen, wenn man möchte. Hätte man mich ein paar Stunden zuvor gefragt, wäre meine Antwort wahrscheinlich gewesen: „Also wenn andere vor mir flüchten, dann kann ich das ja bisweilen verstehen. Aber ich? Zuflucht nehmen?“ Also stand ich einfach auf und ging nach vorne und ich weiß bis heute nicht genau, warum eigentlich. Hätte ich damals meine nähere Zukunft gekannt, ich hätte es ganz sicher nicht gemacht; ich wäre in meinen Bulli gehechtet und mit Vollgas verschwunden.

Abends passierte dann etwas, das mich aus den Socken haute. Shamarpa (der hohe Lama) sagte, wir würden jetzt gemeinsam eine Friedensmeditation machen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was das sein sollte. Ich hatte zum Ende meiner Schulzeit ein Weilchen Transzendentale Meditation gemacht, also beschloss ich, mich einfach im Schneidersitz hinzusetzen, meinen Geist zu entspannen und die Augen offen zu halten, damit ich mitbekommen könnte, was denn gemacht werden solle.

Plötzlich füllte sich das Bierzelt, als ob es aus dem Wandteppich kam, mit goldfarbenem Licht. „Was?!“ Das Licht war wieder weg. Also entspannte ich meinen Geist wieder und das goldfarbene Licht kam wieder. Ich fing bewusst an zu denken und das Licht war wieder weg. Das Licht kam wieder und ich bewegte bewusst meine Augen und das Licht war wieder weg. Dieses Spielchen wiederholte ich noch so zwei, dreimal und saß dann nur noch völlig baff da. Direkt vor mir saß eine junge Frau mit langen blonden Haaren und ich sah, wie es überall auf ihren Armen glitzerte und ihre Haare waren ein kleines Meer aus Gold.

Die folgende Nacht war sehr kurz. Schon so gegen vier in der Frühe geisterte ich durch die Felder. Was war da passiert? Die sinnvollste Erklärung war für mich, dass da Hypnose eine Rolle spielen könnte, aber ich ging auch alles andere durch, was ich mir nur irgendwie vorstellen konnte. Ich beschloss, dass ich an diesem Tag nichts, aber auch gar nichts unbeobachtet lassen würde. Ich schaute sogar hinters Zelt, ob da vielleicht irgendetwas 'Besonderes' aufgebaut sei, fand aber nichts.

Als der Kursus dann weiter ging setzte ich mich als erstes im Schneidersitz hin und entspannte den Geist. Egal wie lange ich es probierte, es blieb alles normal. Ich hielt weiter alles unter Beobachtung und das einzig Ungewöhnliche an dem Tag war die Aufforderung von Shamarpa, die Damen in den ersten Reihen möchten doch bitte ihre Beine etwas mehr bedecken, die Mönche würden nervös werden.

Abends wieder eine Meditation und wieder kam das goldfarbene Licht, wieder anscheinend aus dem Wandteppich heraus. Es gab hier also ein Rätsel, das ich ergründen wollte. Auf der Fahrt nach Schleswig, abends musste ich wieder meine Schicht antreten, ging ich noch mal alle Argumente durch und plötzlich war es wie ein echter Schlag in die Magengrube (die Muskelzuckung war wirklich so heftig, dass ich mich tief übers Lenkrad beugte!). Mir war bewusst geworden, dass man goldfarbenes Licht überhaupt nicht erzeugen kann! Physikalisch völlig unmöglich!

Die folgenden Monate waren mit Abstand die heftigste Zeit meines Lebens. Tagsüber in der Firma musste ich funktionieren und das meistens gut 9 Stunden am Tag. Dann fuhr ich nach Hause oder nach Schleswig und setzte mich zum Meditieren hin. Meistens dauerte es keine zehn Minuten und meine Bauchmuskeln fingen an zu flattern, was sich dann langsam zu heftigem Zucken steigerte. Dann wurde ein sehr weiter Pullover angezogen (das musste ja nicht jeder sehen) und ich machte mich auf den Weg in meine Stammkneipe (in Schleswig war es ein griechisches Restaurant) und ich kippte mir solange Bier in den Schädel, bis das Zucken wieder aufhörte. Hierbei dachte ich immer wieder an dieses goldfarbene Licht; ich konnte es einfach nicht ignorieren, denn dann hätte ich genauso gut auch den Tresen vor mir wegdiskutieren können. Dieses Erlebnis war wissenschaftlich gesehen nicht haltbar, aber für mich war es eindeutig bewiesen!

Manchmal hatte ich in diesen Tagen schon Angst, dass ich über den geistigen Jordan gehen könnte (Sie wissen schon, dann kommen die freundlichen, weiß gekleideten Herren und schenken einem eine wunderschöne Ich-Habe-Mich-Lieb-Jacke). Ungefähr einen Monat nachdem ich mit dieser 'Therapie' anfing, kam Ole zu einem norddeutschen Zentrum und ich fuhr mit Sabine dort hin. In der Pause fragte ich Ole, ob er mich als Schüler annehmen würde, was er mit den Worten „Wann immer du mich brauchst, ich bin für dich da!“ auch machte.

Jetzt, sozusagen mit einer Versicherungspolice in der Tasche, ging ich noch zielstrebiger an die Meditationsarbeit. Ein bisschen Ausgleich kam etwas später daher, dass meine Schwester, sie ging damals mental schon völlig auf dem Zahnfleisch, mit der Nachbarin gesprochen hatte und diese gebeten hatte, natürlich gegen entsprechende Entlohnung, die Woche über die komplette Pflege und Betreuung zu übernehmen. Wir mussten nur noch am Wochenende hin. Das schaffte die notwendige Luft für das nächste Vorhaben: Phowa!

Ich hatte von diesem Kursus im Kieler Zentrum erfahren (das befand sich in einem Uraltbau in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock, Klo auf halber Treppe; in dem einen Zimmer wohnte Joachim und das andere Zimmer diente als Meditationsraum und dort ging ich nun jeden Mittwoch hin; dass ich hinterher noch in meiner Stammkneipe vorbeischaute, muss hier niemanden interessieren). Das Phowa sollte in einem buddhistischen Zentrum in Spanien stattfinden und in dieser Praxis sollte man sich angeblich ein physisches Loch in die Schädeldecke meditieren. Ich war wild entschlossen, diesen Kursus mitzumachen; wenn das mit dem Loch auch noch klappen sollte, dann würde ich mich sehr tiefgründig mit dem Buddhismus beschäftigen müssen. In der Vorbereitung für diesen Kursus musste / sollte man das Mantra von Buddha Amitabha 111.111 mal wiederholen (natürlich mit der zugehörigen Visualisierung) und das braucht ja auch einige Zeit. Also intensivierte ich meine Meditationspraxis deutlich. Wie meine Bauchmuskeln darauf reagierten, lasse ich mal unerwähnt.

Auf dem Weg nach Málaga besuchte ich noch meine Cousine Gabi und einige Freunde von mir; die wohnten alle in der Mitte zwischen Valencia und Alicante. Dann ging es weiter bis Velez-Málaga in Andalusien und dann ab in die Berge. Die Wegbeschreibung war nicht besonders gut, aber ich fand trotzdem dort hin und ergatterte sogar noch einen Stellplatz für meinen VW-Bulli.

Dann ging der Kursus los. Es gab jeden Tag drei Sitzungen zu je drei Stunden und der aufmunternde Spruch von Ole war: „Für die Kopfschmerzen habt ihr bezahlt. Die Schmerzen im Rücken und in den Knien, die gibt es gratis von mir dazu!“ Es war Pfingsten und zu der Jahreszeit kann es in Spanien schon ganz schön warm werden. Man saß zwar im Halbschatten, der von einem dünnen Plastikgewebe erzeugt wurde, aber abends war man völlig fertig. Zuvor hatte ich nie gedacht, dass meditieren so anstrengend sein kann.

Das Phowa ist eine geheime Praxis, also werde ich darüber keine Details verbreiten. Aber man darf sagen, worum es geht. Man lernt die Vorgänge kennen, die beim Sterben nacheinander vor sich gehen, und in der eigentlichen Meditation geht man diesen Vorgang aktiv durch. Immer und immer wieder, mehrere Tage lang.

Das äußere Zeichen für den Erfolg ist eine kleine Wunde mit Blutschorf oder eine kleine Öffnung, aus der Gewebeflüssigkeit ausgetreten ist, direkt oben auf dem Schädel. Damit dieses Zeichen sichtbar blieb, war Haare waschen vom zweiten Tag an verboten. Am vierten Tag wurden die ersten Kopfinspektionen durchgeführt. Man setzte sich auf eine Bank (eigentlich waren es zwei Obstkisten mit einem Balken drauf) und Ole und Kati, seine damalige Assistentin, schauten sich die Schädel an. Bei mir sagte Ole „Ah, hier!“ und drückte mit seinem Fingernagel auf meine Schädeldecke. Mir schoss ein Stromschlag (es war natürlich keiner, es fühlte sich aber so an) von der Schädeldecke bis in die Zehenspitzen, wurde dort reflektiert und schoss zurück zur Schädeldecke und wurde wieder reflektiert; dreimal hin und zurück in direkter Folge. Anschließend waren wirklich alle Nervenzellen in meinem Körper hellwach; wieder eine absolut persönliche Erfahrung, die sich jedoch nicht leugnen ließ.

Ja, und so fing das große Grübeln und Denken bei mir an.

Schon auf dem Weg zurück nach Deutschland bemerkte ich, dass sich irgendetwas verändert haben musste. Den Weg zu meiner Cousine und meinen Freunden kannte ich praktisch auswendig, aber alles sah anders aus. Farbiger, frischer? Keine Ahnung, das Gefühl war so, als würde ich durch Orte und Landschaften fahren, die ich noch nie gesehen hatte, kannte aber jede Kreuzung und Abfahrt. Bei einem späteren Phowa fragte eine der Teilnehmerinnen, dass sie nach ihrem ersten Phowa ihren gesamten Bekanntenkreis verloren habe und ob es da einen Zusammenhang gäbe. „Es gibt ein Leben vorm Phowa und es gibt ein anderes Leben nach dem Phowa. Durch dein erstes Phowa hat sich deine Persönlichkeit so stark geändert, dass du fast keine Gemeinsamkeiten mehr mit deinen früheren Freunden hattest. So etwas kommt vor.“

Wie das Phowa meistens wirkt, möchte ich an einer kleinen Begebenheit darstellen. Als ich im Kieler Zentrum wohnte, hatte Ole einen Vortrag in Lübeck gehalten und wir waren mit mehreren Leuten aus Kiel dort hin gefahren. Nachts so gegen drei waren wir auf einer Landstraße auf dem Rückweg nach Kiel. Natürlich mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und im Wagen war ein allgemeines Geschnatter. Plötzlich kam von rechts aus einem Feldweg ein Auto heraus und bog auf die Gegenfahrbahn ein. Unser Fahrer machte eine Vollbremsung und wir schossen mit kreischenden Reifen an dem anderen Wagen vorbei. Es ist sehr schwer in so einer Situation den Abstand zu schätzen, aber viel mehr als 20 Zentimeter waren es ganz sicher nicht, bei einer Restgeschwindigkeit von weit über 40 km/h.

Was anschließend passierte hatte etwas leicht Irreales. Der Fahrer schaltete in den zweiten Gang zurück und beschleunigte schon wieder. Jemand sagte: „Hui, das war aber knapp!“ Und das Geschnatter um Themen wie Mode und Einkaufen ging weiter. Alles klar, alle fünf in dem Auto hatten schon zumindest einen Phowakursus hinter sich! Man hat vielleicht noch Angst vor den Begleitumständen, wie Siechtum und Schmerzen, aber das Sterben selbst sieht man nach einem Phowa-Kursus eher locker. Warum das so ist, weiß ich nicht.

Ein paar Grundlagen vorweg

Es gibt ja nicht nur den tibetischen Buddhismus, sondern auch andere Ausprägungen. Zusätzlich gibt es den Hinduismus und auch dort gibt es sehr viele verschiedene Ausrichtungen. Dann gibt es die Jäger und Sammler, die sich bei allen bedienen und das nehmen, was sie in ihr spezielles Weltbild einbauen möchten; statt einer geistigen Umgebung, die zum ruhigen Meditieren einlädt, haben diese Leute eine spirituelle Rumpelkammer, fühlen sich aber toll damit und wollen auch andere dafür begeistern. Folglich gibt es das Problem, dass gleiche Worte mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt werden und dass identische Sachverhalte mit unterschiedlichen Worten bezeichnet werden. Deshalb ein paar Erklärungen, die nicht den Anspruch haben, vollständig oder gar allgemein gültig (oder absolut korrekt) zu sein.

Im tibetischen Buddhismus geht man davon aus, dass jedes Lebewesen schon immer die Buddhanatur hatte, nur bisher zu dumm war, das zu begreifen. Der Urgrund dieser Dummheit ist die Aufteilung der Welt in ein „ich hier“ und „die Welt dort draußen“, also Dualismus. Wir werden uns noch intensiv mit diesem Aspekt beschäftigen.

Auf diesem Dualismus bauen dann unsere Charakterfehler wie Wut/Hass, Stolz, Eifersucht, Begierde und so weiter auf. Wir werden diese Gefühle, die im tibetisch-buddhistischen Kontext als Störgefühle bezeichnet werden, gleich noch genauer betrachten. Die Gesamtheit der grundlegenden Dummheit zusammen mit diesen Störgefühlen sorgt dafür, dass wir nicht sehen können und auch überhaupt nicht sehen wollen (das ist meiner Meinung nach der wichtigere Aspekt dabei), wie die Welt denn tatsächlich funktioniert.

Buddha begann seine Lehrtätigkeit mit den vier noblen (oder edlen) Wahrheiten.

Die erste noble Wahrheit ist: „Es gibt Leiden!“

Jeder, der schon mal im Berufsleben stand, wird das bestätigen können. Buddha meinte das aber sehr viel umfassender. Natürlich gibt es das Leiden durch physischen Schmerz, wenn man sich aber ansieht, was sonst noch alles auf dieser Welt passiert, dann stellt man fest, dass alles, und sei es auch noch so subtil, letztlich Leiden ist. Auch eine phantastische Liebesnacht geht vorbei und wird irgendwann zu einer schmerzlich-süßen Erinnerung, denn man kann nichts, aber auch überhaupt nichts, auf Dauer festhalten. Man leidet also auf jeden Fall, entweder, weil man das Gewollte nicht festhalten kann, oder weil man es gar nicht erst bekommt.

Die zweite noble Wahrheit ist: „Leiden hat einen Grund!“

Hier spricht Buddha die grundlegende Dummheit und die Störgefühle an. Diese sind letztlich der Grund für unser Leiden, denn hätten wir diese Dummheit nicht, dann könnten wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist und wir wären nicht mehr im karmischen Kreislauf gefangen (ich unterstelle mal, dass es so etwas wie Wiedergeburt gibt, in welcher Form auch immer). Wenn man sieht, dass alles aufgrund von Ursache und Wirkung existiert, dann besteht man nicht mehr darauf, sich mit dem Hammer auf den Daumen zu hauen. Man sieht den Zusammenhang zwischen Ursache und Schmerz und hält es prinzipiell für sinnvoller, so ein Zusammentreffen von Daumen und Hammer zu vermeiden. Man könnte also lernen, wie man unschöne Wiedergeburten vermeidet, wenn man den Grund für das Leiden erkennt.

Die dritte noble Wahrheit ist: „Es gibt einen Zustand ohne Leiden!“

Na Klasse, das haben schon alle Heilsbringer behauptet. Der eine nennt es Paradies und der nächste Nirwana. Und wenn man sich so verhalten hat, dass man hinreichend lieb gewirkt hat oder den richtigen Gott mit genügend Opfergaben bestochen hat, dann kommt man dort hin. Nichts Neues so weit. Warum so ein Ansatz nie funktionieren kann, sehen wir bei der vierten Wahrheit.

Die vierte noble Wahrheit lautet: „Es gibt einen Weg in diesen Zustand hinein!“

Nichts ist es mit lieb aussehen oder den richtigen Gott bestechen, denn diesen Weg muss man selber gehen. Man könnte diese Wahrheit dem historischen Buddha auch so in den Mund legen: „Ich habe mein Leben damit verbracht, an allen wichtigen Stellen Wegweiser aufzustellen. Mehr konnte ich nicht tun!“ Man geht den Weg oder man lässt es bleiben. Das liegt völlig in der eigenen Entscheidung! Ich möchte allerdings noch darauf hinweisen, dass man schon auf dem Weg viele Früchte der Arbeit einsammeln kann. Ich komme gleich hierauf zurück.

Aus diesen vier noblen Wahrheiten ergibt sich unter anderem, dass es im Buddhismus keine Gebote oder Verbote gibt. Es gibt Tipps und Hinweise, wie eine schlauere Lebensführung aussehen könnte, aber die Entscheidung liegt bei jedem selbst. Buddha ist kein Gott und keiner, der Buddhaschaft erlangt, hat etwas heiliges oder gar göttliches. Folglich stört es keinen Buddha, wenn jemand irgendwelche 'fremden' Götter anbetet. Buddha ist wie die Sonne, die genauso für Mörder wie für Sozialarbeiter scheint. Ein spanisches Sprichwort sagt: „Du kannst das Pferd zur Tränke führen, aber du kannst es nicht zwingen zu saufen!“ Buddha führt noch nicht einmal zur Tränke, er sagt nur, wo man sie finden kann! Im Buddhismus gibt es also nichts, aber auch überhaupt nichts, das süß und klebrig ist. Es ist eher brutale Klarheit und ob irgend jemand meint, es würde ihm gefallen oder auch nicht, spielt nicht einmal ansatzweise eine Rolle. Im Zen wird dies einfach und klar so gesagt: „Love it or leave it!“ Entweder du liebst es oder du lässt es komplett bleiben; dazwischen gibt es im Zen überhaupt nichts.

Befreiung und Erleuchtung

Um grundsätzliche Missverständnisse zu vermeiden, müssen auch die Begriffe Befreiung und Erleuchtung näher betrachtet werden. In dem Augenblick, wenn jemand auch nur den kleinsten Aspekt davon, wie die Welt tatsächlich funktioniert, geistig gesehen hat, dann hat er Befreiung erlangt. Als technisch Vorbelasteter stelle ich mir das wie eine Singularität in der Mathematik vor. Als Beispiel könnte folgende Funktion dienen:

Die würde ungefähr wie im folgenden Bild aussehen und man muss sie sich dann nur dreidimensional vorstellen (praktisch ein riesiger Trichter, der nach oben hin (fast) unendlich hoch wird.

Alle Wesen, egal ob Götter oder Menschen, bewegen sich auf der unendlich großen Ebene der Wiedergeburten im Samsara. Wenn man sich hierbei der Singularität nähert, dann gibt es einen gewissen Abstand um die Singularität herum, der definiert, ob man wieder von dieser Singularität komplett weg kann. Bleibt man in seinen vielen Leben immer außerhalb von diesem Radius, dann ist man im ewigen Kreislauf der Wiedergeburten gefangen. Kommt man irgendwann (der Buddhismus sagt, aufgrund von positiven Taten) an einen Punkt, der innerhalb von diesem Einfangradius liegt, dann ist man im sehr positiven Sinne eingefangen. Egal wie weit man sich zukünftig von dieser Singularität entfernen mag, man entkommt ihr nie mehr (das ist im buddhistischen Kontext jedoch noch nicht die Befreiung). Egal, wie weit man in einem aktuellen Leben in niedere Bereiche abgleitet, auch wenn es mehrere Wiedergeburten benötigt, man kommt dort zuverlässig und relativ schnell wieder heraus, aber man hat noch nicht gesehen, wie die Welt wirklich ist.

Es gibt hierzu eine überlieferte Geschichte, dass jemand die Belehrungen des historischen Buddha hören wollte, aber die Schüler Buddhas wollten ihn nicht durch lassen, denn sie konnten nicht sehen / feststellen (fragen Sie mich nicht, wie und warum das gehen könnte), welchen Kontakt er zum Buddhismus habe und schließlich wurde Buddha selbst gefragt. Dieser ging kurz in eine Versenkung und sagte, dass dieser Mensch vor langer Zeit eine Ameise gewesen sei, die sich nach einem heftigen Regen an einem Blatt festklammerte. Auf dem Blatt hockend hatte sie eine Stupa dreimal umkreist und das war die karmische Verbindung. Als Techniker muss ich sagen, dass das recht merkwürdige Strömungsverhältnisse gewesen sein müssen (Wasser fließt immer abwärts, nur bei manchen Buddhisten fließt es zwischenzeitlich halt auch dreimal aufwärts, damit man um die Stupa herum kommen kann; eine Stupa ist übrigens ein tibetisch-buddhistischer Sakralbau).

Wenn man die wahre Natur unserer Existenz 'gesehen' hat, dann gibt es keinen Grund mehr, im karmischen Kreislauf zu verbleiben und man erlangt einen Zustand, der oftmals als die erste Bodhisattva-Stufe bezeichnet wird und diese geht mit der Befreiung einher. Jetzt muss ich zunächst das 'oftmals' erklären. Es gibt zwei Wege, die auf diese Erkenntnisstufe führen. Es gibt diejenigen, die dort angekommen sind, um für sich selbst die Befreiung zu erlangen. So eine Person wird als Arhat bezeichnet, was 'würdige Person' bedeutet. Wer sich etwa das Werk von Gampopa „Juwelenschmuck der geistigen Befreiung“ zu Gemüte führt, stößt auf die Auflistung der verschiedenen Lebensbereiche und wie viele Wesen sich in ihnen aufhalten. Ein Mensch ist in diesem Zusammenhang schon ein extremer Ausnahmefall. Ein Mensch, der sich zum Arhat erhebt, ist demzufolge der absolute Ausnahmefall von allen Ausnahmefällen! Das Problem eines Arhat ist, dass er nur die ´halbe Wahrheit´ gesehen hat, nämlich, dass es kein Ich gibt.

Jetzt komme ich zum Weg der Bodhisattvas. Ein Bodhisattva ist jemand, der aus welchem Grund auch immer, einen riesigen Überschuss hat (also noch sehr viel seltener als ein Arhat ist). Befreiung nur für sich selbst sieht er als ein kleinliches Ziel. Was damit gemeint ist, kann ich vielleicht am besten mit einem Ausschnitt aus einem Gebet verdeutlichen (ich weiß nicht, von wem es stammt, aber demjenigen, der es aussprach, wäre es sehr wahrscheinlich auch völlig egal, ob er hier genannt wird):

Was auch immer die Grenzen des Universums sind,

dies sind auch die Grenzen für alle fühlenden Wesen.

Solange es innerhalb dieser Grenzen noch Leiden gibt,

ist der Sinn dieses Gebetes nicht erfüllt!

Ein Bodhisattva ist also jemand, der versprochen hat, alle anderen aus Samsara (also aus dem leidvollen Leben) heraus zu führen, bevor er das Licht ausknipst und selber geht. Ein Bodhisattva beschließt also, obwohl er es nicht mehr müsste, solange eine Wiedergeburt anzunehmen, bis sein Versprechen erfüllt ist.

Es gibt insgesamt elf Bodhisattva-Stufen, wobei die erste Stufe die Befreiung bedeutet und die elfte Stufe die Erreichung der Buddhaschaft. Ein Buddha ist jemand, der selber und ohne einen höher stehenden Lehrer den Weg zur Erleuchtung gefunden hat. Ein Erleuchteter ist demzufolge jemand, der die gleiche geistige Stufe erreicht hat, jedoch einem Buddha und seinen Belehrungen folgte. Das ändert überhaupt nichts an seinen Qualitäten, es ist nur eine 'akademische' Unterscheidung.

Dass sich Buddhisten auch mit einem kleinen Bohrer mit Handkurbel an richtig dicke Bretter heran machen, kann man auch beim Begriff Kalpa spüren. Ein Kalpa ist der Zeitraum, den ein Universum benötigt, um zu entstehen und wieder zu vergehen; zusätzlich gibt es auch noch lange Kalpas. Hierbei wird auch noch zwischen hellen / glücklichen und dunklen Kalpas unterschieden. Die dunklen Weltzeitalter sind die, in denen es keinen Buddha geben wird oder gab, in denen also auch keine entsprechenden Belehrungen existieren. Die glücklichen Weltzeitalter sind dementsprechend diejenigen, in denen es mindestens einen Buddha gibt, der auch lehrt. Die Person, die von uns als historischer Buddha angesehen wird, war der vierte Buddha in unserem Weltzeitalter und es soll insgesamt 1.000 geben. Wir leben also in einem extrem glücklichen Weltzeitalter (ob das für Sie persönlich im Moment irgendeinen Unterschied macht, lasse ich einfach mal offen).

Als die buddhistischen Belehrungen ihren Weg von Indien nach Tibet fanden, sie hätten sonst wahrscheinlich nicht überdauert, kam noch eine Personengruppe ins Spiel, die sogenannten Tulkus. Normalerweise, wenn jemand stirbt, dann löst sich die Persönlichkeit dieser Person im Bardo (Zwischenzustand) fast vollständig auf. Was übrig bleibt ist nur eine Tendenz / Zielrichtung, die nach Eltern für eine passende Wiedergeburt sucht, sodass Tendenz, Erbgut und Lebensumstände zusammenpassen (ich habe keine Ahnung, wie das genau funktionieren soll).

Ein Tulku ist ein Bodhisattva, der eine bewusste / geplante Wiedergeburt erlangt. Der erste Tulku, von dem man in der uns bekannten Historie berichten kann, war Karmapa, der Linienhalter der Karma-Kagyü-Linie aus Tibet. In Tibet gibt es vier Hauptlinien in der Übertragung und die Karma-Kagyü-Linie ist eine davon. Die Besonderheit von Tulkus ist, dass sie sich zumindest teilweise an ihr früheres Leben erinnern können. Sie können sich beispielsweise bei der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit (etwa wenn sie wieder als Klostervorstand eingesetzt werden sollen) in früher Jugend an Gegenstände erinnern, die ihnen im letzten Leben gehörten, oder sie erkennen Personen wieder, mit denen sie damals zu tun hatten, die sie aber in diesem Leben nie gesehen haben können.

Damit Sie die grundsätzliche Bedeutung einer 'Linie' überhaupt erfassen können, benötigt es eine Erklärung. Buddha gab 84.000 Belehrungen in seinem Leben. Die Bedeutung einer 'Linie' ist, dass die Erkenntnisse Buddhas, sei es von Mund zu Ohr oder von Geist zu Geist, ohne irgendeine Unterbrechung von einem Lehrer zu einem Schüler bis in die heutige Zeit weitergegeben wurden. Wenn man also an einer buddhistischen Einweihung teilnimmt, dann ist die Wirkung so, als hätte man sie direkt vom Buddha persönlich erhalten, denn die ungebrochene Übertragungslinie besteht immer noch! Ob dies für jede einzelne Belehrung gilt, möchte ich bezweifeln, aber für alle essentiellen Inhalte und Einweihungen gilt es sicherlich.

Karmapa war nicht nur ein Tulku, sondern er war der erste, der vor seinem Ableben eine Vorhersage darüber machte, wo seine nächste Reinkarnation zu finden sein wird. Karmapa und Shamarpa, wenn man so will sein Statthalter, wechselten sich seit Jahrhunderten gegenseitig ab, damit die Übertragungslinie nicht unterbrochen wird. Ein junger Karmapa erhält also wesentliche Belehrungen und Übertragungen von einem älteren Shamarpa und etliche Jahre später ist es umgekehrt.

Karma

Das Wort Karma wurde früher oftmals mit Schicksal übersetzt, doch das ist irreführend. Im tibetischen Buddhismus beinhaltet das Wort Karma, dass man bei jeder Handlung die dazu gehörige Motivation 'speichert'. Eine Handlung mit positiver Motivation führt irgendwann später zu einer positiven Erfahrung; entsprechend sieht es bei einer negativen Motivation aus. Es ist also nicht die Tat selber, die ausschlaggebend ist. Wenn also jemand ein Tier aus Spaß quält und tötet, dann wird das einen heftigen Effekt auslösen. Wenn man es tötet, weil man selber am verhungern ist, dann wird die Auswirkung wesentlich schwächer ausfallen. Wenn man es versehentlich und vielleicht völlig unbemerkt macht, dann ist der karmische Effekt absolut minimal.

Es wird gesagt, dass sich die volle karmische Wirkung entfaltet, wenn diese vier Faktoren zusammen kommen:

Man muss sich der Situation voll bewusst sein

Man muss die Tat wollen

Man muss die Tat selbst begehen oder jemanden direkt damit beauftragen

Man muss sich hinterher über das Ergebnis freuen.

Dies gilt sowohl für positive als auch für negative Handlungen und ob sie positiv oder negativ sind hängt letztlich nur von der eigenen Motivation ab. Buddhas Belehrungen besagen, dass sich die Wirkung zuverlässig einstellen wird. Oftmals schon in diesem Leben, ansonsten in irgendeinem späteren Leben. Vielen Menschen kann man schon jetzt im Gesicht oder an ihrer Haltung oder ihren Gestik ansehen, was für ein karmisches Paket sie mit sich herum schleppen; man kann es mit Botox kurzzeitig übertünchen, aber die Spuren sind schon da (später mehr zu Botox)!

Seele

Dies ist ein Begriff, der im Buddhismus nicht verwendet wird; hier spricht man von Geist. Der Grund ist, dass das Wort ´Seele´ natürlich stark christlich vorbelastet ist und es sehr viel verklärendes Beiwerk gibt, etwa, dass sich nach dem Tod eines Menschen Engel und Teufel darum streiten, wer die Seele bekommt.