Über die Grenzen hinaus - Anne Gold - E-Book

Über die Grenzen hinaus E-Book

Anne Gold

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Beschreibung

Ein stadtbekannter Richter, der sich im Milieu unter falschem Namen eine Zweitwohnung gemietet hatte, wird in der Brantgasse tot aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass das Opfer ein Doppelleben führte, das ihm schliesslich zum Verhängnis wurde. Kommissär Francesco Ferrari und seine Assistentin Nadine Kupfer übernehmen den brisanten Fall, der unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit dringen darf. Im Lauf der Ermittlungen stellt sich heraus, dass sich der Richter durch seine Urteile eine Menge Feinde gemacht hatte. So wird aus dem eindeutigen Mord im Milieu bald schon ein komplexer Fall mit einer unvorhersehbaren Entwicklung.

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anne Gold

Über die GRENZENhinaus

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2025 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Korrektorat: Daniel Lüthi

Gestaltung: Bernadette Leus

Illustration: Tarek Moussalli

eISBN: 978-3-7245-2832-6

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2812-8

Verlag: Friedrich Reinhardt AG, Rheinsprung 1, 4051 Basel, Schweiz, [email protected]

Produktverantwortliche: Friedrich Reinhardt GmbH, Wallbrunnstr. 24, 79539 Lörrach, Deutschland, [email protected]

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

www.reinhardt.ch

www.annegold.ch

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Sobald wir unsere Grenzen akzeptieren, gehen wir über sie hinaus.

Albert Einstein

Liebe Leserinnen und Leser

Mein Verlag wird öfters auf zwei Dinge angesprochen: Das Erste betrifft die Protagonisten, die immer wieder in den Krimis auftreten. Wer das erste Mal eines meiner Bücher liest, kann schon mal den Überblick verlieren. Aus diesem Grund habe ich am Ende des Krimis eine Art Personenregister erstellt. Der andere Punkt befasst sich mit der Frage, wie ich es mit dem Gendern halte. Hier gehe ich ganz pragmatisch vor und verzichte aufgrund des Lesef lusses auf zusätzliche sprachliche Mittel wie Sternchen oder Doppelpunkt. Ich hoffe dennoch, dass sich alle Geschlechtsidentitäten von meinen Texten angesprochen fühlen.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Herzlich

Anne Gold

Die Laune von Kommissär Francesco Ferrari hielt sich in Grenzen. Verloren und erst noch gegen den FC Lugano, der ganz schlecht in die neue Saison gestartet war.

«Guten Morgen, Herr Kommissär.»

«Was soll an diesem Morgen gut sein?»

«Oh, es ist wohl besser, wenn ich später wiederkomme», der Erste Staatsanwalt Jakob Borer zögerte einen Moment, bevor er weitersprach: «Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, was Sie von der neuen Kollegin halten?»

«Sehr viel. Sie tritt bei Vernehmungen manchmal etwas zu forsch auf, aber sie kommt analytisch immer auf den Punkt. Sonst noch was?»

«Das ist bereits alles. Dann sollten wir sie Ihrer Meinung nach übernehmen?»

«Ihre Entscheidung. Sie sind der Boss.»

Nadine Kupfer, die langjährige Assistentin von Francesco Ferrari, trat fröstelnd ins Büro.

«Verdammtes Sauwetter.»

«Das kann dir doch egal sein. Du besitzt ja einen Parkplatz im Waaghof.»

Nadine schaute überrascht zum Ersten Staatsanwalt.

«Ist er schlecht gelaunt?»

«Katastrophal käme der Bezeichnung näher.»

«Und warum?»

«Seine Lieblinge sind gegen Lugano kläglich untergegangen. Am Schluss stand es 3:1 für die Tessiner.»

«Das ist wie beim ESC.»

«Was heisst das nun wieder?»

«Der Kandidat fährt mit null Punkten nach Hause.»

«Sehr witzig. Ich kann auf deine zynischen Bemerkungen verzichten.»

«Neues Spiel, neues Glück. Beim nächsten Match gewinnt der FCB bestimmt wieder.»

«Und wenn nicht? Dann stehen wir bald wieder am gleichen Punkt wie in den 90er-Jahren», jammerte Ferrari.

«Das heisst?»

«Damals war Basel am Ende. Niemand kannte uns. Eine Stadt ohne Highlights, eine unter vielen.»

«Es ist besser, wenn wir jetzt gehen, Frau Kupfer. Womöglich will er uns weismachen, dass der Aufschwung unserer Stadt direkt mit den Erfolgen des FCB zu tun hat.»

«Das ist auch so. Nach sechs Jahren in der Nati B stiegen wir am 3. Mai 1994 wieder auf. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Wir spielten gegen Étoile Carouge und ein Unentschieden reichte uns. Die Mannschaft f log mit der Crossair nach Basel, das allein zeigt, wie wichtig der Club für uns war und auch heute noch ist. Vier Jahre später erfolgte der Baubeginn des neuen Stadions, das 2001 eröffnet wurde. In dieser Zeit blühte Basel auf. Plötzlich wussten die Menschen in ganz Europa, was sage ich, auf der ganzen Welt, wer wir sind. Denn wir spielten in der Königsklasse, in der UEFA Champions League.»

«Dass in Basel die Art, die Swiss Indoors, die Baloise Session und immer wieder bedeutende Kunstausstellungen stattfinden, kann dabei leicht in Vergessenheit geraten.»

«Wie wahr, Frau Kupfer, wie wahr.»

«Natürlich sind die auch wichtig, doch diese Veranstaltungen haben längst nicht die Ausstrahlung des FCB.»

«Glaubst du diesen Mist wirklich?»

«Das ist kein Mist!»

«Wenn das so ist, dann stehen uns wirklich schlechte Zeiten bevor. Dann könnt ihr euer Lied ‹Nie meh, nie meh Nati B› vergessen.»

«Wir sollten den Kommissär nicht noch wütender machen», versuchte Borer die Gemüter zu beruhigen.

«Blödsinn, meine Geduld und mein Verständnis haben auch Grenzen. Es ist nur Fussball. Man könnte meinen, der Weltuntergang stehe bevor, dabei haben nur elf Idioten im Tessin einen Match verloren. Letzte Saison lief es zu Beginn auch nicht optimal. Shaqiri wirds schon richten.»

«Wenns so einfach wäre.»

«Ihr könnt auch die alten Spieler zurückholen. Mit Xhaka, Sommer und nicht zu vergessen mit Mohamed Salah blüht die Stadt wieder auf. Ihr werdet Champions-League-Sieger und die EU macht Basel zur Kulturstadt Europas.»

«Sie sollten ihn nicht weiter provozieren, Frau Kupfer. Er läuft schon rot an … Jetzt platzt er dann gleich.»

Kommissär Ferrari wandte sich wortlos ab, liebevoll strich er über seinen FCB-Wimpel.

«Ich wollte Sie auch noch fragen, was Sie von der neuen Kollegin halten?», wandte sich Borer an Nadine.

«Sie ist eine sehr gute Ermittlerin. Ab und zu schiesst sie übers Ziel hinaus, aber sie verfügt über eine grossartige Kombinationsgabe.»

«Das wundert mich nicht.»

«Was wundert Sie nicht?»

«Dass die neue Kollegin übers Ziel hinaus schiesst.» Borer deutete mit dem Kopf auf Ferrari. «Vermutlich war es ein Fehler, sie euch für einige Monate zuzuteilen.»

«Sie ist übrigens auch FCB-Fan.»

«Das wusste ich nicht, aber es passt.»

«Wem wollen Sie sie zuteilen?»

«Kollege Strom.»

«Eine gute Entscheidung», befand Nadine.

«Danke.»

«Weshalb gerade ihm?», fragte der Kommissär.

«Ah, du redest noch mit uns.»

«Das kann ich Ihnen gern sagen: Alberts bisherige Partnerin zog mit ihrem Mann nach Luzern. Er braucht also jemand Neues an seiner Seite.»

«Das weiss ich.»

«Und weil Strom eine Schnarchnase ist. Die neue Kollegin wird ihn hoffentlich aus seiner Lethargie reissen. In der Kombination werden sie ein perfektes Team abgeben – exakt wie bei Ihnen beiden.»

«Damit ist der Tag für Francesco endgültig gelaufen. Haben Sie vielen Dank, Herr Staatsanwalt.»

«Das ist nur die Wahrheit. Zudem wollte er ja den Grund wissen.»

«Den hätten Sie ihm auch schonender beibringen können.»

«Man muss ab und zu Tacheles reden. Ferrari braucht das, um aufzuwachen.»

«Kein Kommentar?», Nadine schielte vorsichtig zu ihrem Chef.

«Wir werden es euch Ketzern zeigen. In dieser Saison werden wir erneut Meister. Das garantiere ich euch. Und dann mischen wir Europa auf.»

«Ein hoffnungsloser Fall …»

Kommissär Stephan Moser trat zögernd ins Büro.

«Entschuldigt, wenn ich störe. Ich möchte zu Francesco … Es gibt einen Mord.»

«Wo ist die Leiche?»

«In einem Haus in der Brantgasse.»

«Ein Milieumord?»

«Das würde ich so nicht sagen.»

Ferrari schaute Kommissär Moser fragend an.

«Der Tote ist Robert Burckhardt.»

«Ich kenne nur einen Robert Burckhardt, den Richter.»

Moser nickte.

«Mein Gott! Los, worauf warten Sie, Ferrari? Und Sie, Moser, lassen nichts, rein gar nichts nach aussen dringen. Abschotten heisst das Zauberwort. Die Presse darf nichts davon erfahren. Allein die Vorstellung, es könnte etwas durchsickern, lässt mich schaudern. Das würde einen riesigen Skandal auslösen, ich darf gar nicht daran denken. Der ehrenwerte Richter Burckhardt hat nichts in der Brantgasse verloren.»

Ferrari griff nach seinem Jacket.

«Komm schon, Schnarchnase. Das wird dich auf andere Gedanken bringen. Immerhin leben deine Fussballidole noch, was man von unserem Opfer nicht behaupten kann.»

«Hm.»

Gerichtsmediziner Peter Strub hetzte seine Leute in bekannter Manier durch den Tatort, während einige Beamte in Zivil vor dem Haus Stellung bezogen hatten.

«Stephan überlässt nichts dem Zufall. Da kommt niemand durch.»

«Ein bisschen zu viel Staatsschutz für meinen Geschmack. Vermutlich wird die Presse dadurch erst recht auf den brisanten Fall aufmerksam.»

Ferrari zuckte nur mit den Schultern und drängte sich an zwei Beamten vorbei.

«Wen sehe ich denn da?», begrüsste ihn Strub. «Ich hätte ein Jahresgehalt darauf gewettet, dass Borer euch mit dem Fall betreut.»

«Das läuft unter Therapie, um Francesco von seinen trüben Gedanken abzulenken.»

Strub sah Nadine erstaunt an.

«Seine Nullen haben es am Sonntag versaut.»

«Verstehe. Ich schaute mir die erste Halbzeit an. Das war richtig peinlich, ein zusammengewürfelter Haufen ohne Ideen. Exakt so spielen mein kleiner Enkel und die anderen Kids. Sobald einer den Ball hat, rennt er nach vorne und bleibt natürlich in der gegnerischen Abwehr hängen. Danach sprinten alle wieder zurück. Fehlt nur noch, dass sich alle auf den Ball stürzen, wenn sie ihn sehen. Während die Jungen null Erfahrung haben, muss man die alten Kämpfer demnächst aufs Spielfeld tragen. Nach der ersten Halbzeit beendete ich das Trauerspiel und schaltete auf ein Premier-League-Spiel um.»

Strub sah dabei Ferrari mit unschuldiger Miene an.

«So schlimm wars auch wieder nicht.»

«Schlimmer, aber das merken du und die anderen zwanzigtausend Fans immer noch nicht. Ihr jubelt, selbst wenn ihr gegen eine mehr als bescheidene Mannschaft verliert.»

«Wir stehen halt zusammen.»

«Ja, klar – der zwölfte Mann. Warten wir ab, wie lange noch.»

«Können wir über den Toten sprechen?», schaltete sich Nadine ein.

«Selbstverständlich. Er wurde erstochen, jedoch nicht hier.»

«Wie kommst du darauf?»

«Es gibt drei Einstiche: einen in den Arm, einen in die Seite und einen in den Rücken. Der letzte war der entscheidende. Das Opfer muss also stark geblutet haben.»

«Und hier ist nur wenig Blut.»

«Korrekt, das ist nicht der Tatort. Der Tote wurde vermutlich vom Mörder hier abgelegt.»

«Keine Mörderin?»

«Da der Richter zwischen neunzig und hundert Kilo wiegt, tippe ich eher auf einen kräftigen Mann. Natürlich kommt auch eine Frau mit einem Komplizen infrage.»

«Wie lange ist er tot?»

«Ich vermute zwölf bis vierzehn Stunden.»

«Wer hat ihn gefunden?»

«Eine Prostituierte, so sieht sie zumindest aus. Hast du sonst noch eine Frage?»

«Warum schaust du einen FCB-Match? Normalerweise interessiert du dich doch nur für Randsportarten wie Bowling oder Darts, das höchste der Gefühle ist gerade noch Handball.»

«Im Handball spielte ich erfolgreich in der Nationalliga A, nur damit es einmal erwähnt ist.»

«Das muss aber hundert Jahre her sein … Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.»

«Weshalb ich mir ein FCB-Spiel anschaue? Die Antwort hast du dir selbst gegeben.»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Weil ich mich für Randsportarten interessiere, so wie ihr spielt.»

Kopfschüttelnd wandte sich der Kommissär an Nadine.

«Stephans Leute sollen so diskret wie möglich die Nachbarn befragen. Es muss doch jemand gesehen haben, wie Burckhardts Leiche hergebracht wurde.»

«Wird sofort erledigt.» Zwei Minuten später informierte Nadine ihren Chef: «Stephans Leute sind bereits aktiv geworden. Hoffentlich finden sie einen Hinweis.»

«Sehr gut, danke. Dann reden wir jetzt mit der Frau, die den Toten fand.»

Eine Frau um die vierzig mit langen lockigen Haaren sass mit einer Tasse Kaffee am Tisch. Offenbar hatte sie eine schlaf lose Nacht hinter sich.

«Auch einen?», begrüsste sie den Kommissär und Nadine.

«Nur, wenns nicht zu viel Umstände macht.»

«Kein Problem. Es ist gestern etwas spät geworden. Der Kaffee ist meine Rettung.»

«Wohl eher früh.»

«Kann man so sagen.» Sie stellte zwei Tassen Kaffee auf den Tisch. «In der Elefantendose ist Zucker, die Giraffe spendet Milch.»

Nadine nahm etwas Zucker aus der Dose.

«Sie haben den Toten gefunden, Frau …?»

«Roth, Jenny Roth. Ja, heute Morgen, als ich nach Hause kam.»

«Stand die Tür offen oder warum schauten Sie bei Herrn Burckhardt vorbei?»

«Wieso Burckhardt? Er heisst Sarasin, Robert Sarasin.»

«Wie? So hat er sich bei Ihnen vorgestellt?»

«Ja. Und soviel ich weiss, hat er auch unter diesem Namen die Wohnung gemietet. Der Vermieter nennt ihn auch Sarasin. Seltsam, dann hat er unter falschen Namen hier gewohnt. Wobei, wohnen ist übertrieben, er war höchstens zwei Mal in der Woche hier. Irgendwie war mir der Typ von Anfang an nicht geheuer.»

«Weshalb?»

«Der gehört nicht hierher, er war ein richtig feiner Basler aus dem Daig. Die Wohnung diente ihm bloss als Hochsitz.»

«Sie glauben, dass er sich von hier aus angepirscht und die Opfer an einem anderen Ort erlegt hat?»

«Sie gefallen mir, Frau Kupfer. Den Spruch merke ich mir», Jenny Roth lachte heiser. «Aber genau so war es. Von seinem Fenster aus beobachtete er, was auf der Strasse abging. Wenn ihm eine oder einer gefiel, pirschte er sich an.»

«Einer?»

«Der war bestimmt bi. Bei mir versuchte er es zum Glück nie, er bevorzugte junges Gemüse, aber sein irrer Blick ging mir jedes Mal durch Mark und Bein. Spass verstand er keinen. War er eine grosse Nummer?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Euer Aufgebot ist ziemlich gross und die Beamten wirkten total nervös. Ich kenne einige von euch. Normalerweise sprudeln sie drauf los, wenn wir mit ihnen plaudern. Doch heute Morgen sprach keiner ein Wort. Also muss der Tote wichtig sein.»

«Das ist er, mehr können wir Ihnen im Moment nicht sagen. Zurück zu heute Morgen: Warum gingen Sie zu Burckhardt alias Sarasin?»

«Wegen den Blutspuren. Als ich um halb acht nach Hause kam, sah ich Blut auf dem Boden. Die Spur führte direkt zu Sarasins Wohnung. Also klopfte und klingelte ich mehrmals, doch niemand antwortete. Da die Tür nicht abgeschlossen war, ging ich rein. Sarasin lag auf dem Bauch im Wohnzimmer. Das war kein schöner Anblick. Ich rief sofort einen Fahnder an, den ich gut kenne. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er angeschlurft. Als er den Toten sah, kam plötzlich Bewegung ins Ganze. Er telefonierte sofort und innert wenigen Minuten standen drei Streifenwagen vor der Tür, die Bullen riegelten alles ab... He! Ist das einer von euch?»

«Nein, er ist kein Polizist.»

«Zum Glück, sonst würde womöglich dieser Wahnsinnige mit der Nationalratstochter auftauchen.»

«Sie meinen Daniel Winter und Andrea Christ.»

«Genau. Dieser Dani spinnt doch, dem will ich nicht in der Nacht begegnen. Wie hält es die Christ nur mit einem solchen Psycho aus? Die Menschen sind schon komisch. Finden Sie nicht?»

«Doch, in diesem Punkt gebe ich Ihnen recht.»

«Sagen Sie mir, wer der Tote ist?»

«Der Bruder von Wladimir Putin.»

«Und ich bin die Schwester von Xi Jinping. Nach einer Gesichtsoperation, versteht sich.»

«Wo arbeiten Sie?»

«In einer Bar in der Rheingasse. Normalerweise komme ich kurz nach Mitternacht heim. Gestern gab es bei uns eine private Fete, die wollten und wollten nicht Schluss machen. Mein Boss hat sich dabei eine goldene Nase verdient. Ich hoffe, dass ich auch einen kleinen Zustupf abbekomme. Sicher bin ich mir aber nicht. Er kann den Hals nicht vollkriegen. Ständig jammert er über die starke Konkurrenz. Die beiden Grossen würden ihm das Leben versauern.»

«Hotz und Belinski.»

Jenny Roth sah den Kommissär erstaunt an.

«Ja, genau … Moment mal, im Milieu gibt es einige Gerüchte, dass zwei Bullen unter dem Schutz von Hotz und Belinski stünden. Eine sensationell gut aussehende Frau und ein alter fetter Kommissär. Das trifft voll auf euch zu. Seid ihr die zwei?»

«Das müssen Sie Jake Förster fragen.»

«Noch so ein Psycho. Den habe ich einmal erlebt, das reicht mir fürs ganze Leben. Das könnt ihr mir glauben. Warum beschützen die euch? Ihr steht doch auf der anderen Seite oder etwa nicht? Geben Sie mir Ihre Visitenkarte, vielleicht kann ich euch ja mal brauchen.»

Nadine reichte ihr ihre Visitenkarte.

«Wem gehört das Haus?», erkundigte sich Ferrari.

«Christoph Kohler, auch so ein Idiot. Er besitzt mehrere Liegenschaften im Kleinbasel.»

«Wieso ist er ein Idiot?»

«Wenn du deine Miete nicht pünktlich bezahlst, schickt er seine Eintreiber los. Der begreift nicht, dass man ab und zu Geldprobleme hat. Ich verdiene an der Bar dreitausendfünf hundert Franken plus Trinkgeld, das leider extrem schwankt. In einem guten Monat komme ich auf mehrere Hunderter, in einem schlechten höchstens auf knapp hundert Franken. Dann wirds verdammt eng.»

«Wurden Sie auch schon von Kohlers Leuten bedroht?»

«Oh ja. Zuerst warnten sie mich, doch ich konnte das Geld auf die Schnelle nicht auftreiben. Also kamen sie wieder und schlugen mich zusammen. Seither bezahle ich immer pünktlich, lieber lasse ich die Krankenkasse weg.»

«Haben Sie eine Anzeige erstattet?»

«Ich bin doch nicht doof.» Sie warf einen Blick auf Nadines Visitenkarte. «Der Fahnder, den ich gut kenne, wollte mir nur helfen, wenn ich die Mistkerle anzeige. Wie sieht es bei euch aus?»

«Das gilt auch für uns.»

«Wirklich? Wer sich mit Hotz, Förster und Belinski einlässt, nimmt es nicht so genau. Die Visitenkarte werde ich hüten wie einen Schatz. Sollte ich wieder mal in Schwierigkeiten stecken, rufe ich Sie an.»

«Tun Sie das. Wir werden uns dann um die Sache kümmern.»

«Voll geil. Wollen Sie noch einen Kaffee?»

«Nein, danke. Er war übrigens ausgezeichnet. Noch eine letzte Frage: Bekam Sarasin ab und zu Besuch?»

«Sie sagten doch, er hiess Burckhardt.»

«Stimmt.»

«Nein, zumindest habe ich nie jemanden gesehen und auch nie was gehört. Es war immer total ruhig, auch wenn er in der Wohnung war. Das wird sich jetzt vermutlich ändern. Kohler holt bestimmt eine Prostituierte rein. Ich glaube, es ist an der Zeit, eine neue Wohnung zu suchen.»

«Ein alter fetter Kommissär.»

«Jaja. Ich habs gehört.»

«Und eine sensationell gut aussehende Frau.»

«Auch das war nicht zu überhören.»

«Scheint nicht dein Tag zu sein.»

«Ich trags mit Fassung … Was kommt da noch alles ans Licht? Warum mietet einer der wichtigsten Richter von Basel im Milieu eine Dreizimmerwohnung?»

«Erst noch unter falschem Namen.»

«Sarasin ist der Name seiner Frau.»

«Hat sie etwas mit der Bank zu tun?»

«Nein, das ist ein anderer Zweig. Ich glaube, diese Sarasins waren an einer Pharmafirma beteiligt, die von Olivia Vischer geschluckt wurde. Durch den Verkauf ihrer Anteile sprang für sie sicher ein hübsches Sümmchen heraus.»

«Also eine eheliche Verbindung von zwei Baslern aus dem Daig. Wenn Robert Burckhardt nicht hier ermordet wurde, wo dann?»

«Gute Frage. Er wohnte in Bettingen. Ruf bitte Borer an und frag ihn, ob er dabei sein will, wenn wir Frau Sarasin über den Tod ihres Mannes informieren.»

Nach fünf Minuten war der Fall klar.

«Nein, Borer hat keine Zeit, mitzukommen, aber wir sollen diskret vorgehen.»

«Wie immer.»

«Er sagte, nicht wie immer.»

«Das kann ich mir gut vorstellen. Lass deine Porschepferdchen nach Bettingen galoppieren.»

Die Villa der Familie Burckhardt-Sarasin thronte imposant auf einer Anhöhe mit wunderbarem Blick ins Grüne, passend dazu schimmerte die elegante Fassade in einem feinen Lindgrün. Maria Sarasin stand im parkähnlichen Garten, der in warmen Rottönen leuchtete.

«Wir kennen uns von einer Einladung bei Olivia», begrüsste sie Ferrari und Nadine. «Sie waren mit Yvo Liechti an dem Anlass und Sie mit Ihrer Frau.»

«Ich … Ich kann mich nicht daran erinnern, bitte entschuldigen Sie.»

«Das ist auch schon eine Weile her, ich schätze zehn Jahre. Olivia feierte ihren Geburtstag, die Stimmung war sehr ausgelassen. Sie sind mir aufgefallen, weil Agnes und Sabrina Sie in Beschlag nahmen.»

«Nicht zur Freude von Nadine und meiner Partnerin Monika.»

«Olivia war auch nicht begeistert, doch das interessierte ihre Schwestern überhaupt nicht. Nehmen Sie doch bitte Platz. Möchten Sie etwas trinken?»

«Nein, danke. Wir sind aus einem sehr traurigen Grund hierher nach Bettingen gefahren.»

Sie sah Ferrari interessiert an.

«So schlimm wirds nicht sein, raus mit der Sprache.»

«Wir haben heute früh Ihren Mann gefunden … Er wurde ermordet.»

«Von wem?»

«Von … Ich … Wir wissen es nicht.»

Irritiert und Hilfe suchend blickte der Kommissär zu Nadine.

«Sie sind bestimmt überrascht, dass ich nicht in Tränen ausbreche.»

«Allerdings.»

«Robert und ich gehen seit einigen Jahren getrennte Wege. Er bat mich, unsere Ehe wegen seines Amts als Richter aufrechtzuerhalten. Das gesellschaftliche Ansehen ist … war ihm sehr wichtig. Ich konnte damit leben.»

«Jetzt nehme ich gerne einen Kaffee, einen starken.»

«Dem schliesse ich mich an.»

Maria nickte einer Bediensteten zu, die sofort in der Küche verschwand.

«Warum haben Sie sich getrennt?»

«Ich war es leid, die fünfte, was heisst die fünfte, die fünfzigste Geige in unserem Orchester zu spielen. Robert musste seine Männlichkeit immer und überall beweisen. Am Anfang, ich erfuhr es durch eine Freundin, die ihm ebenfalls verfallen war, arrangierte ich mich mit seinen Seitensprüngen. Das passiert ja in jeder Ehe. Doch mit der Zeit stieg die Wut in mir auf. Wo ich auch hinging, alle wussten davon. Ich wollte ihn nicht mehr in meiner Nähe und so zog er in eines unserer Stadthäuser im Gellert.»

«Aber bei offiziellen Anlässen waren Sie stets dabei.»

«Ja, das entsprach unserer Vereinbarung. Jetzt ist er also tot … Das tut mir leid, wirklich.» Sie schaute dem Kommissär in die Augen und lächelte. «Ich meine es aufrichtig, aber Robert ist in den letzten Jahren ein Fremder geworden. Irgendwann musste es schiefgehen.»

«Wie meinen Sie das?»

«Du kannst nicht mit den Frauen deiner Freunde und Bekannten schlafen und glauben, dass du ungeschoren davonkommst. Entweder wirst du von einem eifersüchtigen Ehemann oder von einer sitzen gelassenen Geliebten zur Rechenschaft gezogen. Wie wurde er umgebracht?»

«Durch drei Messerstiche.»

«In der Villa im Gellert?»

«Wir fanden ihn in einer Wohnung in der Brantgasse.»

«Das glaube ich jetzt nicht, Frau Kupfer.»

«Können Sie uns sagen, wer eine solche Wut auf ihn hatte, dass er ihn ermordete?»

«Bedaure. Das müssen Sie Rahel fragen.»

«Wen?»

«Rahel Schär, seine Assistentin am Gericht.»

«Und eine seiner Geliebten?»

«Das glaube ich nicht. Rahel ist nicht sein Typ.»

«Können Sie uns die Adresse seines Hauses im Gellert geben?»

«Selbstverständlich.» Sie schrieb sie auf einen Zettel. «Hier, bitte. Kann ich ihn nochmals sehen?»

«Ja, natürlich. Ich rufe Sie an, sobald Sie ihn sehen können.»

«Danke, Frau Kupfer. Ein solches Ende wünscht man niemandem. Robert sagte immer, wir müssen das Leben in vollen Zügen geniessen, denn wir leben nur einmal. Jetzt hat ihn sein Lebensstil gerichtet … Nun muss ich es unserem Sohn schonend beibringen, das wird sehr schwer. Daniel liebt seinen Vater abgöttisch, studiert sogar wegen ihm Jura. Es mag eigenartig klingen, doch Robert war der beste Vater, den man sich wünschen kann, und gleichzeitig der lausigste Gatte, den man sich vorstellen kann.»

«Studiert Daniel in Basel?»

«Ja, er ist im dritten Semester und wohnt hier im Haus.»

«Wir wünschen Ihnen viel Kraft.»

«Danke, das kann ich gebrauchen. Sie müssen wissen, Daniel gibt mir die Hauptschuld an unserer Trennung. Das belastet unsere Beziehung. Der Tod seines geliebten Vaters wird ihn hart treffen. Das Leben meint es im Moment nicht gut mit uns.»

«Ist sonst noch etwas passiert?»

«Daniels Freundin Michele von der Mühll hatte vor gut zwei Wochen einen schweren Unfall. Die Ärzte im Unispital sind sehr besorgt, Daniel ist jeden Tag bei ihr. Jetzt kommt ein weiterer Schicksalsschlag hinzu … Wollen Sie mich nicht nach meinem Alibi fragen?»

«Bis jetzt besteht kein Verdacht gegen Sie, aber fürs Protokoll: Wo waren Sie gestern zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr früh?»

«Zuerst war ich mit Freundinnen im Theater. Das Stück heisst ‹Pferd frisst Hut›, eine musikalische Komödie, von Herbert Fritsch inszeniert. Ich ging nur mit, weil Herbert Grönemeyer die Musik komponierte. Ich liebe seine Songs. Die Aufführung war grossartig. Danach sassen wir noch lange bei einer meiner Freundinnen zusammen, tranken Wein, redeten und lachten viel.»

«Verraten Sie uns die Namen?»

«Selbstverständlich, die meisten kennen Sie sowieso: Olivia Vischer, ihre beiden Schwestern Agnes und Sabrina sowie Ines Weller, eine erfolgreiche Basler Unternehmerin.»

«Ines ist auch eine gute Freundin von Francesco», schmunzelte Nadine.

«Sieh an, das hätte ich mir denken können. Ines fuhr mich um etwa ein Uhr nach Hause. Zufrieden?»

«Wie gesagt, wir verdächtigen Sie nicht.»

«Sehr gut, dann begleite ich Sie jetzt hinaus.»

«Wow! Maria ist knallhart.»

«Ich bekam Gänsehaut, als sie so cool reagierte.»

«Man hats dir angesehen. War Robert Burckhardt selbst vermögend oder lebte er von Marias Geld?»

«Eine gute Frage. Bestimmt weiss das unser Erster Staatsanwalt. Schauen wir uns jetzt einmal in Burckhardts bescheidenem Eigenheim um.»

«Gibts so etwas im Gellert?»

«Wir werdens sehen. Und danach unterhalten wir uns mit dieser Rahel Schär.»

Stephan Moser hatte einen Beamten mit dem Schlüsselbund des Toten zur Villa geschickt.

«Die Spurensicherung und Strub sind ebenfalls unterwegs. Peter verlangt, dass ihr vor dem Haus wartet», begrüsste er den Kommissär und Nadine.

«Na prima», murrte Ferrari. «Hoffentlich dauert es keine Ewigkeit.»

Nach zehn Minuten traf der Polizeiarzt mit dem ganzen Team ein.

«Schön hier, sieht aus wie ein kleines Schloss. Ein richtiger Fall für dich, Francesco. Schickimicki lässt grüssen … Los, gehen wir an die Arbeit. Ihr dürft uns begleiten, aber rührt ja nichts an. Verstanden?!»

Im Wohnzimmer, das in feinen Beigetönen gehalten war, herrschte ein heilloses Durcheinander. Stühle waren umgekippt, zersprungene Gläser, Bücher und Zeitschriften lagen am Boden, und es gab mehrere grosse eingetrocknete Blutf lecken.

«Das ist unser Tatort, hier fand ein richtiges Gemetzel statt. Vermutlich sassen sie zuerst am Tisch und tranken Wein», kombinierte Strub. «Dann lief das gemütliche Beisammensein aus dem Ruder. Burckhardt versuchte zu entkommen. Nach dem ersten Messerstich, der ihn im Arm erwischte, drehte er sich ab und zack, der zweite Stich traf ihn in die Seite. Burckhardt kam nicht mehr weit. Der Mörder versetzte ihm den Todesstoss eiskalt von hinten in den Rücken, und zwar dort bei der Tür zum Garten.»

«Ich sehe aber keine Fussabdrücke und nur wenige Schleifspuren.»

«Der Täter brachte das Opfer durch den Garten raus, das sieht man an den Schleifspuren im Gras und an den Blutspuren auf den Marmorplatten. Der Täter zog Burckhardt hinter sich her und brachte ihn sehr wahrscheinlich mit einem Auto in die Brantgasse. Aber keine Sorge, wir finden irgendwo Fussabdrücke und ich gehe davon aus, dass wir an den Gläsern Fingerabdrücke sichern werden. Mörder und Opfer tranken übrigens einen exklusiven italienischen Wein. Davon verstehe ich etwas. Das sagt dir natürlich nichts, Francesco. Du trinkst ja nur Bier, wie man deutlich sieht», der Polizeiarzt zeigte grinsend auf Ferraris Bauch.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als ob sich der Kommissär auf Strub stürzen wollte, doch dann wandte er sich wortlos ab und sah sich zusammen mit Nadine die Villa an.

«Ein ordentlicher Mensch. Alles aufgeräumt und sauber.»

«Ja, beeindruckend. Die Inneneinrichtung ist sehr geschmackvoll und die Kunstsammlung kann sich auch sehen lassen.»

«Dieses Bild gefällt mir», Nadine zeigte auf ein Ölbild, das eine abstrakte Landschaft zeigte.

«Mir auch, ich mag die Kunst von Lenz Klotz. Die Reduktion auf Linien …»

«So, wir sind fertig», unterbrach sie Peter Strub. «Ihr könnt jetzt auch durchs Wohnzimmer trampeln. Wir haben ein Handy gefunden, aber von der Tatwaffe fehlt jede Spur.»

«Könnte es ein Küchenmesser gewesen sein?»

«Du vermutest einen Mord im Affekt? Ich glaube nicht, doch mehr nach der Obduktion. Wir werden mit Hochdruck daran arbeiten, es läuft sonst nichts. Spätestens morgen Vormittag liegen die ersten Ergebnisse auf deinem Tisch, Nadine. Ihr müsst euch unbedingt noch die Küche anschauen, die ist toll eingerichtet. Burckhardt kochte anscheinend gern.»

«Danke.»

«Keine Ursache.»

«Wir können den Bericht auch bei dir abholen», schlug der Kommissär vor.

«Wag es ja nicht! Ich verbiete dir, die Gerichtsmedizin zu betreten. Ist das ein für alle Mal klar?»

«Ich bin nicht schwerhörig.»

«Aber ein Schussel. Wobei ich nicht weiss, ob du ein Schussel bist oder bewusst jedes Mal bei mir etwas zerstörst.»

«Also, ich muss schon bitten.»

«Leute, packt eure Sachen zusammen. Es gibt heute noch viel zu tun.»

«Und warum bringst du deinen Bericht zu Nadine und nicht zu mir?», hakte Ferrari nach.

«Weil du ihn sowieso nicht begreifst.»

Ohne eine Reaktion abzuwarten, rauschte Strub davon.

«Das muss ich mir von dem Trottel nicht gefallen lassen.»

«Wie gesagt, es ist nicht dein Tag.»

«Was glaubt der Idiot, wer er ist?!»

«Der Chef der Gerichtsmedizin.»

«Du geniesst es … Heute habe ich mich beherrscht, doch damit ist Schluss. Wenn er mich noch einmal beleidigt, mache ich ihn fertig. Und niemand – auch du nicht – wird mich daran hindern.»

«Ist dir im Haus etwas aufgefallen, irgendein Hinweis?»

«Du lenkst vom Thema ab, aber nein, nichts. Dir?»

«Nein, auch nicht. Ich frage mich, wer war Robert Burckhardt wirklich?»

«Eine gute Frage. Burckhardt war ein erfahrener und stadtbekannter Richter, der Tag für Tag über andere Menschen urteilte.»

«Und diese Urteile wurden nicht infrage gestellt. Da gibts andere Richter, die kommen laufend in die Schlagzeilen.»

«Stimmt. Gleichwohl schien bei ihm einiges nicht in Ordnung zu sein. Maria scheidet als Täterin aus. Sie könnte natürlich den Mord in Auftrag gegeben haben, aber mit welchem Motiv? Sie gewinnt nichts durch Burckhardts Tod.»

«Aufgrund seines Lebenswandels und auch gemäss Marias Äusserungen gibt es genügend Verdächtige: entweder ein gehörnter Ehemann, der ihm auf die Schliche kam, oder eine sitzen gelassene Geliebte.»

«Oder jemand, den er hinter Gitter brachte und der jetzt wieder auf freiem Fuss ist. Bekanntlich ist Rache süss. Befragen wir Rahel Schär, sie weiss bestimmt einiges.»

Selbst die Ich-darf-überall-parkieren-Karte verliert ihren Wert, wenn eine Baustelle die ganze Strasse blockiert. Fluchend fuhr Nadine ihren Porsche ins Parking Kunstmuseum und drückte dem Kommissär das Parkticket in die Hand.

«Was soll ich damit?»

«Du bist der Chef, also kannst du auch bezahlen.»

«Auf einmal bin ich der Chef.»

«Klar», lächelte Nadine zuckersüss und bog am Ende des Luftgässleins in die Bäumleingasse ein.

«Ich dachte immer, Burckhardt sei Richter am Strafgericht in der Schützenmattstrasse gewesen, nicht am Appellationsgericht. Tja, da lag ich wohl komplett falsch.»

«Soviel ich weiss, fielen zivilrechtliche Fälle in seinen Zuständigkeitsbereich. Aber das können wir Burckhardts Assistentin fragen.»

Rahel Schär liess nicht lange auf sich warten. Sie war von kleiner Statur und trug eine auffällig grosse Brille, ihre langen braunen Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt.

«Eine schreckliche Geschichte», seufzte sie. «Jakob hat mich informiert. Weiss es Maria schon?»

«Ja, wir informierten sie als Erste. Sie nimmt es gefasst auf.»

«Verständlich, nach all dem, was sie alles mit Robi erlebt hat … erleben musste. Für Daniel wird es ein Schock. Setzen Sie sich doch. Die Akten auf dem Stuhl können Sie einfach auf den Boden legen.»

«Was genau ist Ihre Aufgabe, Frau Schär?»

«Ich arbeite Robi zu, Herr Ferrari. Er muss – musste so viele Fälle beurteilen, dass er gar nicht alle Akten studieren konnte. Ich gehe die Urteile und die Begründung durch und mache ihn auf die kritischen Punkte aufmerksam.»

«Sind Sie auch Juristin?»

«Ja, das bin ich. Vor fünfzehn Jahren sind wir vor Gericht aneinandergeraten. Es ging um eine Erbschaftsstreitigkeit. Mein Klient hatte in der ersten Instanz verloren. Als ich bemerkte, dass der Richter nicht alle Details des Falls kannte, wies ich ihn ohne Umschweife darauf hin. Naja, vielleicht wurde ich auch etwas ausfallend. Das ist sonst nicht meine Art. Robi verwarnte mich mit der Begründung, dass ich das Gericht beleidigt hätte. Ich widersprach ihm: Ich hätte nicht das Gericht beleidigt, aber der Gerichtsvorsitzende sei eine Beleidigung für den Rechtsstaat, da er nicht einmal alle Akten kenne. Trotz dieses Umstandes würde er sich anmassen, ein Urteil zu sprechen. Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag, als ob es gestern gewesen wäre.»

«Starke Aussage. Was geschah dann?», fragte Nadine.

«Robi sah mich nur an und nach einer gefühlten Ewigkeit vertagte er den Prozess. Er forderte mich auf, unverzüglich in sein Büro zu kommen und bot mir die Stelle als seine persönliche Assistentin an.»

«Was wurde aus dem Prozess?»

«Robi trat vom Fall zurück und eine Richterin schlug einen Kompromiss vor, den die Parteien annahmen. Einen Monat später wühlte ich mich bereits hier durch die Aktenberge. Ich mag meinen Job sehr.»

«Sind es alles Zivilprozesse, die Sie bearbeiten?»

«Ja, vor allem Erbschaftsstreitigkeiten. Sie glauben gar nicht, wie viele es davon gibt.»

«Wer könnte Burckhardts Mörder sein, haben Sie einen Verdacht?»

«Da ich mit dieser Frage gerechnet habe, ging ich kurz die Falllisten der letzten Jahre durch. Dabei stiess ich auf zwei Fälle – hier sind meine Beurteilungen dazu.» Sie schob ein paar lose Blätter zu Nadine hinüber. «Wenn Sie die Akten einsehen möchten, müssen Sie diese über Jakob anfordern.»

«Um was ging es bei den Fällen?»