Unter den Trümmern verborgen - Anne Gold - E-Book

Unter den Trümmern verborgen E-Book

Anne Gold

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Beschreibung

Der elfte Fall von Kommissär Ferrari. Kurz vor der Fertigstellung fällt der Neubau des Stararchitekten Yvo Liechti im St. Johannquartier wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sein Schulfreund Kommissär Francesco Ferrari und dessen Assistentin Nadine Kupfer, die mit dem Architekten liiert ist, sind entsetzt. Tatenlos müssen sie zuschauen, wie das Baudepartement mit den Ermittlungen beginnt. Doch es kommt noch schlimmer – kurz darauf wird der zuständige Bauinspektor ermordet. An einen Zufall glauben weder Nadine noch der Kommissär. Steckt der Stararchitekt womöglich hinter dem Mord? Und was soll mit dieser Tat vertuscht werden? Eine heikle Situation, in die Ferrari und seine Kollegin geraten, obwohl sie den Fall aus Befangenheit schon längst hätten abgeben müssen …

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Anne Gold

Unter den

TRÜMMERN

verborgen

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Gestaltung: Bernadette Leus, www.leus.ch

Illustration: Tarek Moussalli

ISBN 978-3-7245-2175-4

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2150-1

www.reinhardt.ch

Lüge schlägt immer in Trümmer. George Sand

Inhalt

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

«Aber sicher. Francesco freut sich auch. Bis morgen Abend … Tschüss.»

«Worauf freue ich mich auch?», fragte Kommissär Francesco Ferrari misstrauisch, als er ins Wohnzimmer trat.

«Hallo, mein Schatz!»

Monika küsste ihren Lebenspartner zärtlich.

«Wer war das?»

«Och, niemand. Hattest du einen guten Tag?»

«Ja, danke. Nur dieses Wetter! Die Temperaturschwankungen sind ganz schön anstrengend. Am Morgen ist es kalt und bereits am Mittag verschmachte ich. Und dann diese Regengüsse aus heiterem Himmel.»

«Bist du hungrig?»

«Schon, aber …»

«Es gibt Saltimbocca alla romana.»

Vorsicht, Francesco! Wenn sie dir eines deiner Lieblingsgerichte an einem normalen Arbeitstag vorsetzt, läufst du blindlings in eine Falle.

«Saltimbocca an einem gewöhnlichen Montag?»

«Ist es dir nicht recht?»

«Doch … schon … aber …»

«Was aber? Nadine kommt auch. Yvo kann leider nicht, er muss an eine Sitzung.»

Spätestens jetzt klingelten alle Alarmglocken. Meine hochgeschätzte Kollegin Nadine Kupfer hatte den ganzen Tag kein Sterbenswörtchen darüber verloren, dass sie zum Nachtessen kommt. Wenn das nicht seltsam ist? Ganz zu schweigen vom geheimnisvollen Telefongespräch … Über was freut sich Francesco? Ha! Na wartet. Dieses Mal durchkreuze ich eure Pläne. Puma, die kleine schwarze Katze der Nachbarin, schmiegte sich an Ferraris Bein. Liebevoll strich er über ihr glänzendes Fell.

«Du bist ja ganz nass!»

Vorsichtig schaute sich der Kommissär um. Die Luft schien rein zu sein. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte er Monika aus der Küche rufen.

«Untersteh dich! Wag es ja nicht, ein Handtuch zu benutzen. Hier, nimm Haushaltspapier.»

Sie muss ohne mein Wissen Kameras im Haus eingebaut haben. Irgendwie unheimlich. Big Sister is watching me. Monika warf ihm eine Rolle zu, ihr Blick duldete keine Widerrede. Ferrari riss drei Blatt ab und rieb die schnurrende Katze trocken.

«Komm, Puma, wir setzen uns in den Wintergarten.»

«Francesco!»

«Ja, mein Schatz?»

«Hast du nicht etwas vergessen?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

Monika deutete auf das Haushaltspapier. Brav sammelte der Kommissär den Abfall zusammen und brachte die Rolle in die Küche zurück.

«Schon besser! Hier, ein Glas Blauburgunder Reserva 2011.»

Wow! Das volle Programm. Saltimbocca, Blauburgunder Reserva 2011, fehlt nur noch, dass es zur Nachspeise …

«Zum Dessert gibt es übrigens Tiramisu!»

Eine Henkersmahlzeit! Mir wird ganz flau im Magen. Was hecken die beiden Hyänen wieder aus, dass sie es mir derart versüssen wollen? Puma schmiegte sich eng an den Kommissär. Wenn du sprechen könntest, wärst du meine Spionin und würdest mich auf die heimtückischen Fallen aufmerksam machen, die mir im eigenen Haus gestellt werden. Was solls! Ich geniesse das Essen und sage ganz einfach immer Nein, und zwar zu allem. Ah, die zweite Intrigantin ist auch eingetroffen, winkt mir wie ein Engel zu. Zwei Teufelinnen in Engelsgestalt.

«Schmeckt dir das Saltimbocca nicht?», fragte Monika besorgt.

«Doch, schon.»

«Wieso stocherst du denn so im Teller herum? Ist was mit dem Risotto?»

«Nein, nein. Alles bestens.»

Nur ist mir irgendwie der Appetit vergangen angesichts der Gefahren, die da auf mich lauern.

«Noch etwas Wein, Liebling?»

Das ist ja nicht zum Aushalten. Monika schenkte lächelnd nach.

«Das vorhin am Telefon war Olivia.»

Aha, jetzt gehts endlich los. Wir rüsten uns zur entscheidenden Schlacht. MNO! Monika, Nadine, Olivia! Und jedes Mal, wenn die drei unter einer Decke stecken, ziehe ich den Kürzeren.

«Olivia?», sülzte Ferrari. «Was darf es denn dieses Mal sein? Soll ich einen Marathon laufen? Nackt im Rhein schwimmen? Natürlich für einen guten Zweck. Oder soll ich in einem Zirkus den Clown spielen? Diese Rolle ist mir auf den Leib geschrieben.»

«Du bist unfair, Francesco.»

«Soso. Unfair ist, dass ihr nicht von Anfang an mit offenen Karten spielt. Ihr bezirzt mich, setzt mir ein Wahnsinnsessen vor, um zum Schluss, wenn ich satt und leicht beschwipst bin …»

«Du meinst wohl eher sturzbetrunken!»

«Ich muss doch bitten. Von einem oder zwei Gläsern bin ich noch längst nicht betrunken.»

«In dem Tempo, wie du den Wein in dich hineinleerst, wird es sicher nicht bei einer Flasche bleiben.»

«Also wirklich …»

«Ich glaubs einfach nicht. Da stehe ich den ganzen Nachmittag in der Küche, um dich zu verwöhnen, und was ist der Dank? Du wirfst mir vor, dass ich mich hinter deinem Rücken mit Nadine und Olivia gegen dich verschwöre. Ich glaube, du leidest an Verfolgungswahn.»

«Monika hat recht. So ein super Essen und von deiner Seite kommen nur Vorwürfe. Und nur, weil du nicht mehr abschalten kannst und überall Gespenster siehst», setzte Nadine nach.

«Aber … ich meine …»

«Schon gut! Du hast es wieder einmal geschafft. Die Stimmung ist kaputt.»

«Monika, bitte … ich meine … es tut mir leid.»

«Schon gut!»

«Ich dachte nur, Olivia … dann dieses Essen …»

«Man könnte meinen, dass dir Monika sonst nur irgendeinen Frass auftischt.»

«So war es nicht gemeint, Nadine. Nur Saltimbocca und Tiramisu … es tut mir wirklich leid, Monika. Kannst du mir verzeihen?»

«Ich bin ja nicht nachtragend, du Brummbär.»

Monika zupfte ihm am Ohr.

«Lass das. Das mag ich nicht!»

«Oh, der Herr ist heute aber arg empfindlich.»

«Was … was … wollte Olivia eigentlich?»

«Ach das? Sie rief mich vor einigen Wochen an und lud uns zusammen mit Nadine und Yvo ans Basel Tattoo ein.»

«Oh! Ich kann zwar nichts mit der militärischen Art anfangen, aber einmal möchte ich es schon sehen.»

«Sehr gut. Sie möchte uns vorher zum Essen einladen. Deshalb rief sie an.»

«Das ist doch super.» Der Kommissär strahlte. «Weshalb sagst du das nicht gleich?»

«Du lässt mich ja nicht zu Wort kommen.»

Ferraris Appetit stieg von Minute zu Minute. Das Saltimbocca samt Risotto war im Nu weggeputzt.

«Ganz ausgezeichnet. Du bist eine sensationelle Köchin, mein Schatz.»

Auch die Nachspeise war ihr hervorragend gelungen.

«Hoffentlich regnet es morgen nicht in Strömen.»

«Wir sitzen oben in der Lounge.»

Noch besser! Ferraris Laune steigerte sich ins Unermessliche. Gediegenes Essen, das war bei Olivia so sicher wie das Amen in der Kirche, und als Tüpfelchen auf dem i sitzen wir während der Veranstaltung in der Lounge. Was will man mehr!

«Yvo kommt auch mit.»

Das lässt sich durchaus verschmerzen. Mein Schulfreund, seines Zeichens Architekt, wird zwar in gewohnter Manier um Nadine balzen, aber die Festung schien bisher noch nicht gestürmt worden zu sein. Gut so.

«Was grinst du so blöd, Francesco?»

«Ich? Wegen nichts, überhaupt nichts.»

«Was du nicht sagst. Damit das ein für alle Mal klar ist – ob zwischen Yvo und mir etwas läuft, hat dich nicht zu interessieren. Verstanden?»

«Also, bitte. Das ist deine Angelegenheit, Nadine. Wenn du auf alte Männer stehst, dann mach, was du willst. Das geht mich überhaupt nichts an.»

«Wers glaubt!»

«Du musst deine eigenen Erfahrungen machen. Du bist alt genug, um zu wissen, was für dich gut ist und was nicht.»

«Noch etwas Tiramisu?»

«Nur noch ein kleines bisschen. Ich platze beinahe.»

«In der Tat. Du wirst langsam fett.» Nadine klopfte auf seine Wampe. «Zehn Kilo weniger wären nicht schlecht.»

Ich lasse mich von euch nicht provozieren! Ich bin mit mir zufrieden, schliesslich wird man ja nicht jünger, und übe mich im Schweigen. Om, der Klang des Unendlichen.

«Hör mit deinem selbstgefälligen Grinsen auf, Francesco. Das mag ich nicht. Ganz und gar nicht.»

Der Kommissär liess sich seine gute Stimmung nicht verderben. Puma schaute warnend zu ihm hoch. Nur keine Angst, kleine Maus, ich habe alles im Griff. Dieses Mal verlässt König Francesco der Erste das Schlachtfeld als Sieger.

«Olivia bringt noch Agnes und Sabrina mit», fügte Monika so beiläufig wie nur möglich an.

«Was? Ihre Schwestern? Sind sie nicht zerstritten?»

«Sie haben sich versöhnt.»

«Umso besser. Es ist nicht gut, wenn sich die Familie in den Haaren liegt.»

«Sabrinas Sohn, Christian, arbeitet für Yvo.»

«Ich wusste gar nicht, dass sie verheiratet ist und einen Sohn hat.»

«Sie war nur kurz mit dem Vater von Christian zusammen. Als sie merkte, dass er auf ihr Geld scharf war, gab sie ihm den Laufpass.»

«Komisch. Olivia hat nie etwas von diesem Christian erzählt.»

«Olivia wäre dir dankbar, wenn du dich ein wenig um Agnes und Sabrina kümmern könntest.»

«Kümmern? Ich?», Ferraris Stimme überschlug sich beinahe.

«Nur morgen Abend. Du weisst doch, Sabrina fährt ziemlich auf dich ab.»

«Hm. Wie … wie soll ich mich um die beiden kümmern?»

«Olivia möchte, dass du während des Essens zwischen den beiden sitzt.»

«Zwischen den beiden sitzen?»

«Was soll das? Bist du mein Echo?»

«Moment mal! Ich soll mich um die beiden fetten Flundern kümmern, während ihr euch amüsiert?»

«Sprich nicht so von Olivias Schwestern.»

«Wieso nicht? Das ist nur die Wahrheit. Die bringen zusammen locker zweihundertfünfzig Kilo auf die Waage. Damit ich das richtig verstehe – ich soll also zwischen den zwei vollgefressenen frustrierten Weibern sitzen, die trotz ihres vielen Geldes keinen Mann abkriegen oder vielmehr nur einen, der hinter ihrem Geld her ist, und den Hanswurst spielen? Kommt nicht infrage.»

«Es ist ja nur für einen Abend», versuchte Nadine die Wogen zu glätten.

«Das beruhigt mich ungemein! Während ihr das sicherlich feine Essen geniesst, werde ich von den Kolossen eingeklemmt, betatscht und womöglich sogar aufgefressen.»

«Jetzt hör aber auf! Agnes und Sabrina sind zwei liebenswerte Damen, zwar etwas korpulent, aber wirklich ganz nett.»

«Korpulent! Da war die dicke Bertha, die es früher auf den Jahrmärkten gab, geradezu magersüchtig.»

«Du bist auch kein Adonis.»

«Also, ich muss schon bitten. Jetzt vergleicht ihr die beiden Specktanten auch noch mit mir. Das lass ich mir nicht gefallen. Hör gefälligst damit auf, auf meinen Bauch zu klopfen, Nadine!»

«Gut, beenden wir die Diskussion. Dann nehmen wir eben Plan B. Einverstanden, Nadine?»

«Klar. Ich habe mit Yvo gesprochen, er nimmt sich der beiden Damen an.»

So ist das also. Bevor ich überhaupt gefragt werde, stellen die beiden Hyänen ein Notprogramm auf die Beine.

«Wunderbar. Agnes und Sabrina werden von Yvo begeistert sein. Er sieht gut aus, ist intelligent, weltoffen und vor allem ein grossartiger Entertainer. Das wird die beiden auf andere Gedanken bringen.»

«Yvo ist schon ein toller Typ, Nadine.»

Na prima. Jetzt stehe ich mit abgesägten Hosen da. Und was noch viel schlimmer ist, ich werde mit diesem Womanizer verglichen. Francesco, die griesgrämige Schlafmütze, engstirnig, unflexibel, unsportlich, kein Mann von Welt wie der berühmte Stararchitekt Yvo Liechti, der immer und überall seine allseits beliebten und überaus spannenden Geschichten zum Besten gibt, von denen wahrscheinlich die Hälfte, was sage ich, neunzig Prozent aus den Fingern gesogen sind.

«Was ist, Francesco? Du machst so ein komisches Gesicht.»

«Yvo ist schon ein toller Hecht im Karpfenteich! Schön, gebildet, charmant, ein Mann mit Format! Wenn ich das dumme Gesäusel schon höre.»

«Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Yvo nimmt Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen. Er hat Verständnis dafür, wenn jemand unter seinem Aussehen leidet, so wie Agnes und Sabrina.»

«Wenn ich jeden Tag eine Konditorei leer fressen würde, sähe ich auch so aus.»

«Siehst du, genau das ist der Unterschied. Yvo fragte als Erstes, was für Probleme die beiden haben.»

«Die Fresssucht! Nichts als die Fresssucht aus purer Langeweile. Da helfen auch die Milliarden auf dem Konto nichts.»

«Das ist deine Sicht der Dinge. Yvo hinterfragt so etwas, er ist sensibel.»

«Ha! Sensibel! Er ist ein eitler Pfau, das war er schon in der Schule. Ein Möchtegernjunggebliebener, der bei Nadine punkten will.»

«Was ihm gelingt. Du könntest bei Monika auch punkten», konterte diese.

Indem ich zwischen den beiden fetten Puten sitze, wie in einem Sandwich eingeklemmt nach Luft japse und mit viel Glück ab und zu selbst einen Happen zwischen die Zähne schieben kann? Tolle Aussichten.

«Gut, ich setze mich zwischen die beiden Monster und spiele den Pausenclown. Dir zuliebe, Monika.»

«Das ist so lieb von dir! Danke.»

Monika küsste ihn zärtlich, was den Kommissär augenblicklich erröten liess. Noch bevor Nadine eine Bemerkung machen konnte, klingelte es.

«Das wird Yvo sein. Er holt mich ab.»

Der Architekt klopfte seinem Schulfreund zur Begrüssung auf die Schulter.

«Möchtest du ein Glas Wein, Yvo?»

«Gerne, Monika. Das war kein guter Tag. Tut mit leid, dass ich nicht zum Essen kommen konnte, aber bei meinem neusten Projekt geht alles schief. Die Nachbarschaft läuft Sturm gegen die Überbauung. Ich musste heute Abend vor den Leuten antraben, das war ein richtiges Spiessroutenlaufen.»

«Aha, der Star kriegts nicht auf die Reihe.»

«Schlechte Laune, Francesco?»

«Überhaupt nicht. Doch irgendwie freut es mich schon ein wenig, wenn der Star auch einmal einen Dämpfer erleidet.»

«Überhör es einfach, Yvo.»

«Hoffentlich bist du morgen besser drauf, wenn wir zusammen ans Tattoo gehen.»

«Du musst dich ja nicht um Agnes und Sabrina kümmern.»

«Kommen die denn auch mit? Ich dachte, Olivia hat sich mit ihren Schwestern zerstritten.»

Puma erhob sich und trabte davon. Offenbar hatte sie genug gehört, während Monika und Nadine den Kommissär mit ihrem strahlendsten Lächeln bedachten.

Ausgetrickst! Von meiner Partnerin und meiner Kollegin aufs Kreuz gelegt. Der Kommissär sass am Schreibtisch und haderte mit sich. Ich bin schon eine taube Nuss! Statt einfach auf dem Standpunkt «Nein, nein und nochmals nein!» zu verharren, falle ich immer wieder auf ihre Ränkespiele herein.

«Einen wunderschönen guten Morgen.»

«Was soll an diesem Morgen schön sein, werte Frau Kollegin?»

«Oh, sind wir heute aber förmlich. Hat das einen Grund?»

«Und ob. Ihr habt mich voll auflaufen lassen.»

«Ach das! Komm schon, tief in deinem Herzen und bestimmt auch Olivia zuliebe möchtest du dich doch um Agnes und Sabrina kümmern. Wir haben das nur ein wenig forciert, weil du nie aus dir herausgehst. Du kannst deine Gefühle nicht zeigen.»

«Sagt genau die Richtige.»

Nadine setzte sich auf Ferraris Bürotisch.

«Nach dem heutigen Abend wirst du der ungekrönte König von Basel sein.»

«Wohl eher der grösste Volltrottel.»

«Es kommen viele wichtige Leute ans Tattoo. Wie gewohnt lässt sich Olivias Gästeliste mehr als sehen. Natürlich sitzen nicht alle in der Lounge wie wir. Das ist echt ein Privileg und der Herr Kommissär thront erst noch zwischen den reichsten und mächtigsten Frauen der Stadt. Du wirst grausam punkten.»

«Wenn man mich überhaupt sieht.»

«Nun sei kein Frosch. Andere würden weiss was tun, um in Olivias Nähe sein zu dürfen. Unser Hampelmann da drüben würde für eine solche Audienz auf den Knien das Bruderholz hoch- und runterrutschen.»

«Ja, ja. Alles gut und recht. Ihr hättet mir einfach sagen können, was Sache ist.»

«Und dann wärst du voller Freude in die Bresche gesprungen. Ha! Das glaubst du doch selbst nicht. Immer, wenn wir dich um einen kleinen Gefallen bitten, lehnst du ab. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als dich ein wenig zu überlisten.»

«Und dein Yvo ist wieder einmal davongekommen. Er wird heute Abend wie ein Pfau balzen, das Rad schlagen, um dich zu beeindrucken, während ich platt gedrückt werde.»

«Das glaube ich kaum.»

«Guten Tag, Herr Staatsanwalt. Was glauben Sie kaum?»

«Dass Yvo Liechti heute Abend irgendwo balzt … Wo eigentlich?»

«Am Basel Tattoo. Olivia hat Monika, Nadine, Yvo und mich eingeladen.»

«Sicher in die Lounge.»

«Aber selbstverständlich. Zuerst gehen wir ins Cheval Blanc essen. Olivias Schwestern sind übrigens auch mit von der Partie.»

«Nur nicht so schnippisch, Frau Kupfer. Man könnte meinen, dass mir das etwas ausmachen würde.»

«Etwa nicht?»

«Nun … ich denke … Agnes und Sabrina Vischer sind auch dabei?»

«Sowie eine Anzahl geladener Gäste.»

«Sicher eine erlesene Gesellschaft. Ich hatte vor einem Jahr das Vergnügen, die beiden Damen kennenzulernen. Damals bei der Eröffnung der grossen Gauguin-Ausstellung in der Fondation Beyeler. Sie können sich sicher noch daran erinnern, Ferrari.»

Und ob! Du bist um die beiden herumgeschlichen und hast eine Schleimspur hinterlassen.

«Es war ein interessanter Abend.»

«Das kann man so sagen. Bis zu dem Moment, als Sie auftauchten.»

«Also, ich muss schon bitten …»

«Ich war ganz nah dran. Ganz nah.» Borer schaute Nadine an und tippte auf den Kommissär. «Die Damen waren nicht abgeneigt, meinen nächsten Wahlkampf zu finanzieren und dann …»

«Ja, ja! Schon gut.»

«Nichts ist gut. Dann kam Ihr trotteliger Chef …»

«Das verbitte ich mir!»

«… und plauderte einfach locker drauflos, anstatt sein vorlautes Mundwerk zu halten. Politik sei ein Dreckgeschäft, Politiker seien meistens Leute, die es in einem normalen Beruf zu nichts bringen. Spitzenleute würden sich nicht mit politischem Krimskrams herumschlagen.»

«Stimmt doch!»

«Sehen Sie, meine Worte. Die beiden Damen hingen diesem sturen Bock richtiggehend an den Lippen. Francesco hin, Francesco her. Zum Schluss stand ich nicht nur bedeppert da, sondern auch ganz allein. Die Schwestern zogen einfach mit ihm ab. Auf und davon.»

«Und Ihre Träume vom grossen Wahlkampf lösten sich schlagartig in Luft auf.»

«Exakt, Frau Kupfer. Alles wegen dem da.»

«Das war aber nicht nett von dir, Francesco.»

«Harmlos ausgedrückt. Eine Hinterhältigkeit sondergleichen. Ich bin sicher, dass er sich bewusst dazwischendrängte, um mir eins auszuwischen.»

«Du solltest dich schämen.»

Borer runzelte die Stirne.

«Und Ihnen nehme ich Ihre Anteilnahme auch nicht ab. Sie sind doch genau gleich wie Ihr Francesco. Zynisch, hinterhältig und arrogant. Sie passen hervorragend zusammen.»

«Vielen Dank für das Kompliment. Weshalb soll übrigens Yvo heute Abend nicht mitkommen?»

«Weil ihn im Augenblick ganz andere Probleme plagen.»

«Und die wären?»

«Ich war kurz auf dem Bauinspektorat. Anscheinend ist heute Morgen ein Teil seines Neubaus im St. Johann eingestürzt. Zum Glück gab es keine Verletzten, aber der Schaden ist beträchtlich.»

«Nein!» Nadine setzte sich bleich auf den Besucherstuhl. «Und Yvo?»

«Der wird in den nächsten Tagen ziemlich unter Druck geraten. Gebäude stürzen nicht einfach so in sich zusammen. Da wurde sicher gepfuscht.»

Nadine rannte mit ihrem Handy auf den Flur hinaus.

«Was ist denn mit der los?»

«Yvo ist ein guter Freund von uns. Sie ist besorgt.»

«Ein guter Freund? Oder vielleicht etwas mehr als ein guter Freund?»

«Das, Herr Staatsanwalt, geht weder Sie noch mich etwas an. Wie kommen Sie darauf, dass beim Bau gepfuscht wurde?»

«Eine rein logische Vermutung, die auf gesundem Menschenverstand beruht, zumal ein Neubau im Normalfall nicht einfach wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Oder sehen Sie das anders?»

«Nein. Wer untersucht die Angelegenheit?»

«Die Staatsanwaltschaft. Kollege Rolf Lustig ist mit dem Fall betraut, deshalb weiss ich es auch. Yvo Liechti hat offenbar sofort Anzeige gegen unbekannt erstattet. Das Verfahren ist eingeleitet und die ersten Abklärungen laufen … Aha, so läuft der Hase! Kommt nicht infrage. Unterstehen Sie sich, sich dort einzumischen. Das ist nicht unser Spielplatz. Auch nicht, wenn Yvo Liechti ein guter Freund Ihrer Kollegin ist.»

Die beiden Worte «guter Freund» betonte er ziemlich anzüglich.

«Keine Angst. Das überlassen wir ganz Ihrem Kollegen.»

«Ich würde es gerne glauben. Nur …», Borer stützte sich auf den Schreibtisch, «so, wie Sie mit Ihrem Kugelschreiber spielen, glaube ich Ihnen kein Wort. Ich sehe förmlich, wie Sie sich einmischen werden. Ihre Sache. Eines garantiere ich Ihnen, dieses Mal decke ich Sie nicht. Laufen Sie nur getrost gegen die Wand und schlagen Sie sich den Kopf ein.»

«Vielen Dank für Ihre Unterstützung.»

«Keine Ursache. Also, weiterhin einen schönen Tag. Und viel Spass am Tattoo heute Abend.»

Ferrari stand am Fenster und blickte in den Hof hinunter. Der Spass ist mir gründlich vergangen. Ich muss Monika anrufen, sie soll die Einladung absagen. Yvo Liechti hat definitiv Priorität. Hm, vielleicht sollten wir noch abwarten. Es könnten ja bereits heute Nachmittag erste Ergebnisse vorliegen. Ferrari blätterte den Staatskalender durch. Wen kenne ich beim Bau- und Verkehrsdepartement? … Koch! Sebastian Koch, seines Zeichens Bauinspektor. Der hat mich einige Male an einen FCB-Match begleitet und wird mir bestimmt helfen. Und wirklich, ein Anruf genügte. Koch versprach, sich zu erkundigen und schnellstmöglich zurückzurufen. Kaum eine halbe Stunde später informierte er den Kommissär über den Stand der Dinge.

«Der Fall liegt bei der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Wenn du Genaueres wissen willst, musst du dich mit einem Rolf Lustig unterhalten. Schlimme Sache. Der Schaden soll in einem siebenstelligen Bereich liegen. Offenbar ist die eine Hälfte des neuen Gebäudes am Voltaplatz in sich zusammengesackt, der Rest steht noch. Kannst du dich an das Archiv in Köln erinnern, das beim Bau der Metro zur Hälfte in die Baugrube rutschte?»

«Es sah aus wie bei einem aufgeschlitzten Puppenhaus.»

«Genauso sieht es am Voltaplatz jetzt aus. Willst du es dir anschauen? Und wieso interessiert dich das?»

«Nein, danke. Ich kann es mir gut vorstellen. Der Architekt Yvo Liechti ist ein Schulfreund.»

«Aha, daher weht der Wind. Wie gesagt, die Untersuchung wird von der Staatsanwaltschaft durchgeführt, das kann natürlich dauern. Vonseiten des Baudepartements waren wir für den Bau zuständig, das heisst konkret mein Kollege Daniel Martin. Er ist Baukontrolleur und wurde von einem weiteren Kollegen, Thorsten Harr, vor Ort unterstützt. Beide sind gute Kumpels. Sobald ich mehr weiss, informiere ich dich.»

«Danke dir, Sebastian. Noch eine Frage, was könnte deiner Meinung nach den Einsturz verursacht haben?»

«Schwierig zu sagen. Ich bin jetzt bald dreissig Jahre im Baudepartement, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Entweder liegen Planungsfehler vor oder die Handwerker haben gepfuscht oder beides.»

«Wird Yvo von der Staatsanwaltschaft verhört?»

Koch lachte.

«Sie werden ihn befragen. Verhören ist euer Metier. Wenn sich aber herausstellt, dass etwas faul ist …»

«Wie meinst du das?»

«Wenn zum Beispiel an allen Ecken und Enden gespart wurde. Pfusch am Bau nennt man das bei uns …»

«Das musst du mir genauer erklären.»

«Möglicherweise hat man zu wenig oder schlechtes Material verwendet, um Geld zu sparen oder für sich abzuzweigen. Dann liegt Betrug vor und einer deiner Kollegen wird von der Staatsanwaltschaft mit der Untersuchung betreut. Aber sicher nicht du. Du bist ja nur für Morde zuständig.»

«Mal den Teufel nicht an die Wand.»

«Mach dir keine Sorgen. Liechti hat einen tadellosen Ruf. Da muss etwas Unvorhergesehenes passiert sein. Dani ist jetzt sicher bei der Bauruine. Sobald er zurück ist, rufe ich dich an.»

«Yvo nimmt nicht ab.»

Nadine fuhr sich nervös durch die Haare.

«Er ist bestimmt mit Dani Martin am Unglücksort und antwortet deshalb nicht.»

«Mit Dani wem?»

«Daniel Martin, dem zuständigen Baukontrolleur.» «Ein Freund von dir?»

«Der Freund eines Freundes. Komm schon, Nadine. Mach dich nicht verrückt. Ein Gebäude ist eingestürzt. Das ist zwar schlimm für Yvo, aber zum Glück gibts keine Verletzten oder Toten.»

«Ich fahre hin.»

«Vergiss es. Die Bauruine ist abgesperrt. Was sollen wir auch dort? Sobald wir auftauchen, heisst es doch gleich, dass wir Einfluss nehmen wollen. Wir halten uns am besten zurück. Du versuchst, Yvo zu erreichen, und danach kümmern wir uns um die Leiche aus den Langen Erlen.»

«Peter obduziert die Frau. Er vermutet Herzversagen beim Joggen.»

«Sport ist Mord.»

«Dir würde ein wenig Joggen guttun.»

«Ich mag aber nicht. Es gibt auch andere Methoden, abzunehmen. Ich gehe vielleicht ins John Valentines.»

«Oh, der Herr gibt Geld für seine Fitness aus, obwohl er es billiger haben könnte. Du hast ja den Wald direkt vor der Nase.»

«Ich renne doch nicht durch die Hard. Alle paar Minuten treffe ich auf jemanden, den ich kenne, oder werde womöglich von einem Hund angefallen.»

«Angefallen?»

«Es gibt so viele Hundebesitzer, die sich nicht an die Leinenpflicht halten.»

«Das ist sowieso eine blödsinnige Anweisung, Hunde an der Leine sind gereizt. Und wenn dann ein Jogger oder ein anderer Hund vorbeirennt, schnapp! und die Nudel ist ab.»

«Tolle Vorstellung. Deshalb bevorzuge ich ein Fitnesszentrum.» Ferrari kramte einen Prospekt aus seiner Schublade hervor. «Schau, hier. Mit einem Schnupperabo könnte ich praktisch einen Monat lang gratis trainieren.»

«Daher weht der Wind. Du testest einen Monat zum Nulltarif alle Geräte und dann heisst es, das war nicht das Richtige.»

«Wenns mir gefällt, mache ich weiter.»

«Weshalb gerade der John Valentine Fitness Club? Vorne an der Ecke ist doch der Fitnesspark Heuwaage.»

«Weil dort die FCB-Spieler und der ganze Staff trainieren.»

«Das wusste ich nicht.»

«Vielleicht kommen Matías oder Birkir einmal vorbei.»

«Träum weiter, Kumpel! Die trainieren auf einem ganz anderen Niveau. Keine Altherrengymnastik, wie du sie betreibst.»

«Hm!»

Nadines Natel krähte. Im wahrsten Sinn des Wortes. Es jault, es kräht, es jodelt oder lacht psychisch gestört, nur einen ganz normalen Ton kriegt es nicht auf die Reihe. Nadine hörte geduldig zu, nickte ab und zu und steckte das Handy dann in die Handtasche.

«Gibts das auch mit normalen Tönen?»

«Ist doch viel lustiger. Gruss von Yvo. Es ist soweit alles in Ordnung. Er wirkt allerdings deprimiert.»

«Wäre ich als Stararchitekt auch, wenn mir meine Kunstwerke um die Ohren fliegen.»

«Er ist vollkommen ratlos. Aus seiner Sicht war alles in Ordnung. Beim Bau gabs keine Probleme, auch die Bauabnahme verlief einwandfrei. Zum Glück kommt Yvo heute Abend trotzdem mit. Kennst du einen Rolf Lustig? Yvo nannte seinen Namen, der leitet die Untersuchung.»

«Rolf Lustig ist ein Kollege von unserem Jakob. Er erwähnte ihn vorhin, als du versucht hast, Yvo zu erreichen.»

«Ein Staatsanwalt? Wieso wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet?»

«Yvo hat Anzeige gegen unbekannt erstattet. In einem solchen Fall muss die Staatsanwaltschaft ermitteln.»

«Davon hat er gar nichts gesagt. Ist das normal?»

«Ja natürlich. Persönlich kenne ich Rolf Lustig nicht, genauso wenig wie die Baukontrolleure … wie heissen sie noch?» Der Kommissär kramte nach dem Zettel. «Daniel Martin und Thorsten Harr.»

«Okay, das beruhigt mich ein wenig. Borer hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.»

«Dann kümmern wir uns jetzt um die Joggerin in den Langen Erlen und besuchen unseren witzigen Leichenfledderer. Wie alt ist die Tote?»

«Sechsunddreissig.»

Es ist wohl am besten, mein Fitnessprogramm etwas aufzuschieben. Gut Ding will Weile haben und auch reiflich überlegt sein. Man bedenke, dass schon eine junge Frau beim leichten Training tot zusammenbricht, von einem Mord gehe ich nicht aus, dann gehöre ich hundertprozentig zu einer viel höheren Risikogruppe. Wenn ich mir nur vorstelle, ich stehe auf einem dieser Laufgeräte und kriege eine Herzattacke. Nicht auszudenken.

«Was ist jetzt?»

«Nichts, ich komme.»

Die anfängliche Vermutung bewahrheitete sich. Die Frau erlag einem Herzversagen! Ganz einfach ein Sekundentod, wie der leitende Polizeiarzt Peter Strub trocken kommentierte. Ferrari warf einen Blick auf die Tote. Sie sieht sportlich aus, durchtrainiert und kein Gramm Übergewicht. Automatisch befühlte er seinen Bauch. Da sitzen schon zwei oder drei Kilo zu viel. Aber wahrscheinlich konnte sie nicht genug kriegen. Immer schneller, immer weiter. Bis ans Ende.

«Gehen wir?»

«Wie? … Ach so, ja … Ciao, Peter. Bis zum nächsten Mal.»

Strub schüttelte nur den Kopf.

«Dein Partner wird immer komischer, Nadine. Steht wie versteinert da, starrt auf die Tote, nimmt nicht an unserer Diskussion teil …»

«Was für eine Diskussion?»

«Über Sport im Allgemeinen und Anabolika im Besonderen.»

«Doping?»

«Echt, du bist ein schräger Vogel, Francesco. Aber jetzt raus, ich muss arbeiten. Zwei Tote warten auf mich.»

Der Polizeiarzt schob den Kommissär unsanft aus seinem Büro.

«Spinnt der? Ich gehe zurück und …», wandte sich Ferrari an seine Kollegin.

«Nichts da. Wir fahren zum Waaghof.»

«Hm. Was sollte das mit dem Doping?»

«Die Tote war bis zur Haarspitze mit Anabolika vollgepumpt, um ihre Leistungen zu steigern. Eine Tablette oder eine Spritze zu viel und aus ist es. Du musst echt aufpassen. Wenn du erst einmal in einem Fitnessclub bist und dich die Sportgirls mit den Waschbrettbauchtypen vergleichen, greifst du auch zu diesen Mittelchen. Die kriegst du an jeder Strassenecke.»

«Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Daher die Superbodys.»

«Das ist ein offenes Geheimnis. Der Handel mit Anabolika ist in der Schweiz zwar verboten, der Konsum hingegen nicht.»

«Und das bringt wirklich mehr Muskeln?»

«Ja, dank den Wachstumshormonen in den anabolen Steroiden vergrössern sich die Muskeln beim Training extrem schnell. Leider blenden die meisten die nicht unproblematischen Nebenwirkungen aus. Nebst psychischen Problemen können Nieren-, Leber-, Herzschäden und Impotenz die Folge sein. Ganz geschweige von Hodenverkleinerungen, Prostatavergrösserungen …»

«Stopp! Das ist ja grauenhaft. Wer tut sich denn so was an?»

«Vorwiegend junge Menschen. Für sie ist der Körper ein Ausstellungsstück, den es zu modellieren gilt. Die Wirkung auf andere steht klar im Zentrum.»

«Da esse ich lieber Spinat wie Popeye oder noch besser, ich verweigere mich jeglichem Sport und Körperwahn und besinne mich auf meine inneren Werte. Genau. Kennst du das Lied ‹Lieber Orangenhaut› von Ina Müller?»

«Ina … wer?»

«Ina Müller. Sie singt davon, dass sie nie wieder achtzehn sein möchte, so niedlich, dumm und klein und eben, dass sie lieber Orangenhaut hat als gar kein Profil. Monika hört ihre Lieder vor- und rückwärts, die Texte sind echt gut.» Ferrari warf den Prospekt des Fitnessclubs theatralisch in den Papierkorb. Als sein Blick die offene Bürotür streifte, zuckte er zusammen. «Puh! Sie können einen ja erschrecken, Herr Staatsanwalt.»

«Ich wusste gar nicht, dass Sie so schreckhaft sind. Oder plagt Sie etwa Ihr schlechtes Gewissen? Hat es etwas mit der Toten aus den Langen Erlen zu tun?»

«Wie? Was? … Nein. Die Frau starb an einem Herzversagen, vermutlich aufgrund ihres Anabolikakonsums.»

Borer grapschte den Fitnessprospekt aus dem Papierkorb.

«Interessant. Vielleicht sollte ich von dem Angebot Gebrauch machen.»

«Lassen Sie die Finger davon, Herr Staatsanwalt. Sonst enden Sie wie die Frau im Wald.»

«Wieso denn das?»

«Um mit den Jungen im Fitnessclub mithalten zu können, greifen Sie automatisch zu Anabolika. In Nullkommanichts sind Sie abhängig.»

«Echt?» Borer warf Nadine einen fragenden Blick zu.

«Die Leistung», setzte der Kommissär fort, «können Sie nur bringen, solange Sie das Zeug schlucken. Ihr Körper verändert sich. Äusserlich sehen Sie dann aus wie Arnold Schwarzenegger, aber das ist nur Fassade. In Wirklichkeit ruinieren Sie sich Ihre Gesundheit.»

«Echt?»

«Und schliesslich liegen Sie bei Peter auf dem Schragen und werden seziert.»

«Eine interessante Theorie!»

«Keine Theorie, die reine Wahrheit. Und alle machen die Augen zu, wollen sportlich und schön sein. Sobald Sie jedoch am Lack kratzen, kommt die schmutzige Seite dieser Fitnesswelle an die Oberfläche. Werfen Sie den Prospekt wieder in den Papierkorb, Herr Staatsanwalt.»

Nadine stand am Kaffeeautomaten, hielt einen Espresso in der Hand und liess für ihren Chef einen Cappuccino heraus.

«Dreht er jetzt vollkommen durch?», raunte ihr Jakob Borer beim Vorbeigehen zu.

«Sie sollten auf ihn hören, Herr Staatsanwalt. Er meint es nur gut mit Ihnen.»

Borer ging kopfschüttelnd durch den Flur zu seinem Büro. Und das sind meine beiden besten Leute! Gute Nacht, mein lieber Schwan!

Gegen Abend, nachdem der Kommissär einen längst fälligen Abschlussbericht zu Ende geschrieben hatte, kam langsam Vorfreude auf. Das Tattoo wird sicher eindrücklich. Ferrari schlurfte mit der Akte zu Nadine hinüber, wo Yvo bereits wartete. Gelangweilt blätterte er die Zeitung durch.

«Ciao, Yvo. Du bist schon da? Wie geht es dir?», begrüsste ihn Ferrari.

«Ganz okay. Zuerst war ich schockiert, dann frustriert und jetzt bin ich sauer. Es ist mir schleierhaft, wie das passieren konnte. Ich baue auf der ganzen Welt Türme bis in den Himmel, die jedem Erdbeben standhalten, und dieser verdammte Vierstöcker bricht ein.»

«Weiss man schon mehr?»

«Das dauert, wahrscheinlich Monate. Da kommen einige Schadenersatzforderungen auf mich zu.»

«Du bist doch hoffentlich gut versichert.»

«Ja, klar. Das macht mir keine Angst. Es ist mein guter Ruf. Der geht nach so einem Mist voll in die Binsen. Du weisst ja, wie das ist. So etwas spricht sich schnell herum. Ein befreundeter Architekt, der gerade in Taipeh ein Bürohochhaus hochzieht, rief mich an. Der wusste es bereits von einem meiner Konkurrenten. Krass.»

«Gab es irgendwelche Probleme?»

«Allerdings. Zuerst hagelte es Einsprachen, viele Nachbarn waren gegen den Bau, dann kämpften wir mit einem Wassereinbruch. Die Verzögerung konnten wir nur durch Nachtschichten wieder aufholen, was bei den Anwohnern verständlicherweise nicht auf Begeisterung stiess. Und dann kracht das Gebäude einfach zusammen. Ich kann mir das überhaupt nicht erklären.»

«Die Untersuchungen werden von Rolf Lustig geleitet, kennst du ihn?», fragte der Kommissär.

Überrascht blickte Yvo zuerst zu Ferrari, dann zu Nadine.

«Nadine war beunruhigt. Ich kenne Sebastian Koch vom Bauinspektorat und da dachte ich … na ja, ich habe ihn angerufen.»

Yvo küsste Nadine, die zart errötete, auf die Wange.

«Megalieb, dass du dich um mich sorgst. Aber lasst uns den Ärger für heute vergessen und den Abend so richtig geniessen.»

Olivia Vischer liess sich nicht lumpen. Sie sassen auf der Terrasse im Les Trois Rois, Ferrari genoss den herrlichen Blick auf den Rhein und die Fähre, die unermüdlich von einem Ufer zum anderen schaukelte. Das Leben konnte so schön sein. Mitten in der Altstadt von Basel und erst noch im besten Hotel der Stadt, dessen Küche von einem Sternekoch geführt wird und wo schon Napoleon, Queen Elizabeth II., Pablo Picasso und die Crème de la Crème aus Kunst und Musik ein- und ausgingen. Das Essen war hervorragend, Filet de veau, sauce d’artichauts et pousses de poireaux. Was will man mehr? Es gelang dem Kommissär sogar, die beiden fetten Wachteln auf Distanz zu halten. Die zwei schlucken noch mehr als Olivia, dagegen bin selbst ich ein Waisenknabe. Als Ferrari kurz einen Blick auf die Weinkarte warf, lief es ihm kalt den Rücken runter. Der Wein kostete hundertachtzig Franken pro Flasche. Wo bleibt denn da der berühmte Basler Geiz?

«Nehmen wir noch ein Glas Champagner, bevor wir ans Tattoo gehen, oder lieber einen Dessertwein, Francesco?»

«Wenn ich die Wahl habe, dann lieber Champagner, Agnes. Dessertweine sind mir zu süss.»

«Ich bin ganz deiner Meinung. Olivia, bestellst du uns eine Flasche, nein, lieber gleich zwei Dom Pérignon?»

Ein weiterer Blick auf die Karte reichte, um festzuhalten, dass heute Abend ein Monatsgehalt von Ferrari für Speis und vor allem Trank über den Tisch floss. Was kümmert mich das? Statt es zu geniessen, sorge ich mich ums Geld. Typisch. Kurz nach neun drängte Olivia zum Aufbruch. Agnes und Sabrina wären lieber noch etwas im Les Trois Rois geblieben – und wenn ich ehrlich bin, ich auch, sinnierte Ferrari. Noch ein oder zwei Gläser Champagner, es muss ja nicht gleich eine Flasche Dom Pérignon sein, ein bisschen auf den Bach hinuntersehen und die Seele baumeln lassen.

«Hör auf zu saufen!», flüsterte ihm Monika ins Ohr. «Du lallst bereits.»

Agnes und Sabrina hakten sich beim Kommissär unter. Alle drei schwankten leicht. Wer hat eigentlich die Rechnung beglichen?

«Ich habe mich noch gar nicht bei Olivia bedankt.»

«Wofür?»

«Für die Einladung und das super Essen, Sabrina.»

«Ach das? Ich weiss gar nicht, ob wir bezahlt haben. Die schicken uns sicher eine Rechnung. Und dann schauen wir, wer sie begleicht.»

Das ist ein Leben. Die Stadt, was heisst hier die Stadt, die Welt gehört uns! Diesen Moment gilt es zu geniessen. Kaum gedacht, versetzte ihm Monika einen Stoss in die Rippen. Nur nichts anmerken lassen. Die Gesellschaft spazierte über die Mittlere Brücke zur Kaserne, wo sie bereits erwartet und zu ihren Loungeplätzen geführt wurden. Olivia unterhielt sich mit einigen Personen, während Ferrari mit den Schwestern zielstrebig zu den Stühlen wankte.

«Die kennt wirklich alle», lispelte Agnes Sabrina zu.

«Ja, aus der Zeit, als sie noch mit diesem Künstler … jetzt fällt mir der Name nicht ein …»

«Frank Brehm.»