Über die Schönheit der Seele - François Cheng - E-Book

Über die Schönheit der Seele E-Book

François Cheng

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Beschreibung

Vierzig Jahre ist es her: Ein noch wenig bekannter Schriftsteller sitzt in der Pariser Metro einer Frau gegenüber, deren Schönheit ihn bewegt, ja erschüttert. Sie erkennt ihn und spricht ihn an. Mehrfach treffen sie sich wieder, verlieren sich dann aber aus den Augen. Doch nun, Jahrzehnte später, erreicht ihn ein Brief: In vorgerücktem Alter denke sie immer mehr über die Seele nach. Und sie bittet ihn, ihr von der Seele zu erzählen. Seine Antwort gibt François Cheng der fernen Geliebten in sieben Briefen, nachdem er selbst ein Leben lang nach den Geheimnissen der Seele gesucht hat. Tastend durchquert er die Landschaft in unserem Innersten und befragt die großen Weisen und Dichter des Ostens wie des Westens, des Altertums und der modernen Zeit. Dabei nähert er sich der Einsicht an, dass es am Ende doch – trotz allen Einsprüchen der Moderne – die Seele ist, die bleibt, auch wenn Körper und Geist von Schwäche befallen werden. Sie ist das Einzigartige und darum das Kostbarste in jedem Menschen und zugleich das Geschenk, das jeder in das Leben der Welt einbringen kann. François Chengs Briefe mit ihrem schlichten, poetischen, zarten Ton sind ein berührendes Trostbuch für unsere Zeit.

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FRANÇOIS CHENG

Über die Schönheit der Seele

Sieben Briefe an

eine wiedergefundene

Freundin

Aus dem Französischen von Thomas Schultz

C.H.Beck

Zum Buch

Vierzig Jahre ist es her: Ein noch wenig bekannter Schriftsteller sitzt in der Pariser Metro einer Frau gegenüber, deren Schönheit ihn bewegt, ja erschüttert. Sie erkennt ihn und spricht ihn an. Mehrfach treffen sie sich wieder, bevor sie einander aus den Augen verlieren. Doch nun, Jahrzehnte später, erreicht ihn ein Brief von ihr: In vorgerücktem Alter denke sie immer mehr über die Seele nach. Und sie bittet ihn, ihr von der Seele zu erzählen.

Seine Antwort gibt François Cheng der fernen Geliebten in sieben Briefen, nachdem er selbst ein Leben lang nach den Geheimnissen der Seele gesucht hat. Gibt es sie überhaupt? Wie zeigt sie sich? Was verdanken wir ihr? Wie können wir die Seele eines anderen erblicken? Tastend durchquert François Cheng die Landschaft in unserem Innern und befragt die großen Weisen und Dichter des Ostens wie des Westens, des Altertums und der modernen Zeit. Dabei nähert er sich der Einsicht an, dass es am Ende doch – trotz allen Einsprüchen der Moderne – die Seele ist, die bleibt, auch wenn Körper und Geist von Schwäche befallen werden. Sie ist das Einzigartige und darum das Kostbarste in jedem Menschen und zugleich das Geschenk, das jeder in das Leben der Welt einbringen kann. François Chengs Briefe mit ihrem sanften, lebensweisen Ton sind ein berührendes Trostbuch für unsere Zeit.

«Ein Buch, das man mit dem beglückenden Gefühl aus der Hand legt, einen Gefährten an seiner Seite gefunden zu haben.»

Libération

Über den Autor

François Cheng, geboren 1929 in China, siedelte mit neunzehn Jahren nach Frankreich über. Er hat Romane, Gedichte und philosophische Sachbücher verfasst und ist darüber hinaus ein berühmter Kalligraph. 1998 wurde er mit dem Prix Femina ausgezeichnet. Seit 2002 ist er Mitglied der Académie française. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Fünf Meditationen über die Schönheit (32017) und Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben (2015).

Inhalt

Erster Brief

Zweiter Brief

Dritter Brief

Vierter Brief

Fünfter Brief

Sechster Brief

Siebter Brief

Nachweis der zitierten Übersetzungen

Erster Brief

Liebe Freundin,

auf Ihren ersten Brief habe ich Ihnen unverzüglich geantwortet. Als ich nach mehr als dreißig Jahren eine Nachricht von Ihnen erhielt, hat mich das so berührt, dass meine Reaktion nur ein Ausruf der Überraschung sein konnte. Ihren zweiten Brief, der hier vor mir liegt, habe ich lange mit mir herumgetragen, und erst heute versuche ich, Ihnen eine Antwort zu geben. Den Grund für diese Verzögerung haben Sie vermutlich schon erraten, denn Ihr Brief enthält eine eigentümliche Aufforderung.

«Spät in meinem Leben», so schreiben Sie mir, «entdecke ich, dass ich eine Seele habe. Nicht dass ich ihre Existenz zuvor ignoriert hätte, aber ich spürte nicht, dass sie wirklich war. Hinzu kam, dass in meinem Umkreis niemand dieses Wort mehr aussprach. Doch nachdem ich eine ganze Weile gelebt und mich von vielen Dingen losgemacht habe, drängt sich mir jetzt dieses unauflösbare, ungreifbare und zugleich körperlich reale Gebilde auf. Es wohnt tief in mir und lässt mich nicht mehr los. Und dann, eines Tages, erinnerte ich mich an diese so weit zurückliegende, schon verschwommene, wie aus einem anderen Leben stammende Begegnung, in deren Verlauf Sie ganz nebenbei dieses Wort in unser Gespräch einfließen ließen. Ich war zu jung, um es so im Vorübergehen aufzufangen. Inzwischen habe ich mehrere Ihrer Schriften gelesen, und heute bin ich ganz Ohr. Sind Sie einverstanden, mir von der Seele zu erzählen? Mir scheint, von da aus würde alles wieder wichtig und offen.»

Meine erste Regung auf Ihre Anfrage, die ich hier wörtlich wiedergeben wollte, war, mich davor zu drücken. Ist die Seele nicht gerade das, worüber man nicht reden darf, will man sein Gegenüber nicht verstören? Weder darf man es noch kann man es. Soll es einer doch versuchen! Er wird sich ebenso hilflos fühlen wie jemand, der zu definieren suchte, was die Zeit, das Licht oder die Liebe ist. Und doch sind all das Dinge, deren Existenz niemand von uns leugnen kann und von denen sogar unsere Existenz abhängt.

Heißt das, dass ich mich nun damit abfinde, Ihnen nur mein Schweigen entgegenzustellen? Nein. Kurz nachdem ich Ihre Zeilen gelesen hatte, änderte ich meine Meinung. Denn Ihren Satz «Spät in meinem Leben entdecke ich, dass ich eine Seele habe» meine ich mehrmals selbst gesagt zu haben. Aber ich habe ihn stets sofort in mir erstickt aus Angst, lächerlich und altmodisch zu wirken. Allenfalls in einigen meiner Texte und Gedichte habe ich es gewagt, diese nicht mehr gebräuchliche Bezeichnung zu verwenden, was Sie sicher dazu bewogen hat, mich so entschieden zu ersuchen: «Erzählen Sie mir von der Seele.» Angesichts Ihrer Aufforderung begreife ich, dass für mich der Moment gekommen ist, die Herausforderung anzunehmen, oder anders gesagt, mich mit dem nötigen Mut auszustatten, gegen den Wind zu segeln. Wo befinden wir uns eigentlich? In Frankreich. In diesem Land, das als der toleranteste und freizügigste Flecken der Erde gilt und wo dennoch eine Art intellektuelle «Schreckensherrschaft» regiert, die als freidenkerisches Lächeln in Erscheinung tritt. Im Namen des Geistes, in seiner engstirnigsten Auffassung, sucht sie jegliche, als unterlegen oder obskurantistisch erachtete Idee der Seele herabzusetzen, um den Geist-Körper-Dualismus aufrechtzuerhalten, an dem sie so großen Gefallen findet. Mit der Zeit gewöhnt man sich an diese stickige, auslaugende geistige Atmosphäre. Seltsamerweise scheint dieses Phänomen vor allem das französische Mutterland zu betreffen; anderswo, in Übersee, kommt das Wort «Seele» natürlicher über die Lippen und ohne eine Grimasse oder ein Achselzucken hervorzurufen, obwohl auch dort sein Inhalt oft vage und verschwommen geworden ist.

Hier jedenfalls neigt der Begriff der Seele dazu, von unserem Horizont zu verschwinden, um nur noch in feststehenden Redewendungen zu überleben, die die Sprache uns bewahrt hat: «ein Herz und eine Seele», «Seelenstärke», «etwas ohne Seele tun», «verwandte Seelen», «eine schwarze Seele haben», «eine Seele von Mensch», «seine Seele retten» usw. Um die Wirklichkeit zu bezeichnen, die das Wort «Seele» ursprünglich erfassen sollte, greift man auf immer zahlreichere und unbestimmtere Begriffe zurück, die unsere geistige Welt überschwemmen. Man erzählt uns etwas von der «inneren Welt», vom «Innenleben» oder noch platter vom «Innersten». Man spricht uns vom «Feld», von der «Tiefe» und in besonders dramatischen Fällen vom «Schlund» oder «Abgrund». Um mehr Poesie bemühen sich Ausdrücke wie «Seelenlandschaft», «innerer Garten» … Bei einem eher theoretischen Ansatz geht man von der Idee der Psyche aus und führt Begriffe wie «psychischer Apparat» und «Identitätszentrum» ins Feld. Speziell aus dem Bereich der Psychoanalyse erreicht uns ein vielfältiges Vokabular, das die miteinander verknüpften und zugleich versprengten Aspekte unseres innersten Wesens zu erfassen sucht: das «Unbewusste» natürlich, sei es individuell oder kollektiv, das «Ich», das «Über-Ich», das «Es», die «Triebe» …

Angesichts dieser Fülle von Begriffen fühlt sich der moderne Zeitgenosse verloren. Die Einheit seines Wesens ist zerbrochen. Er nimmt es als einen Haufen bunt zusammengewürfelter, beliebig zusammengefügter Elemente wahr, als ein bruchstückhaftes Gesicht, mit Verweisen gespickt, die keine echte Einheit der Person ergeben. Wagt er sich vor einen Spiegel, um seinem zersprungenen Bild gegenüberzutreten, weiß er nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, weiß nicht mehr aus noch ein. Ein Porträt ganz im Stil von Picasso oder Bacon! Kurzum, er ist nur noch «ein kümmerliches Häufchen von Geheimnissen», wie André Malraux sagte, und er weiß nicht, wie er aus diesem «Haufen ein Ganzes» machen soll, so die Formulierung von Régis Debray. Er wendet sich häufig um Hilfe an Glückshändler und Schönheitschirurgen, damit sie ihm ein neues, scheinbar stimmiges Gesicht anfertigen, das dem von irgendeiner gesellschaftlichen Instanz festgelegten Kanon entspricht. Ein geliehenes Gesicht, dem wohl genau ein Bestandteil fehlt, ein ganz entscheidender: die Seele.

Ich schreibe Ihnen aus der Touraine, wo ich ein wenig Erholung suche. Ein vorzeitiger Frühling empfängt mich hier. Die plötzliche Blüte der Kaiserbäume und Kirschbäume überzieht die alten Mauern mit ihrer violett und rosa leuchtenden Pracht. Voller Freude über das frische zarte Grün an den Zweigen und das dunklere Grün der von Schneeglöckchen übersäten Wiesen erwachen überall die Vögel. Während die Spatzen und Meisen Körner vom Erdboden picken, zwitschern sie sich munter zu, und der ganze von ihren Rufen widerschallende Hang ist ein einziges Erwarten. Am Himmel durchschneiden die zurückgekehrten Schwalben die Luft gleich den flinken Händen der Schneiderlehrlinge, die fieberhaft die erste Modenschau des Jahres vorbereiten. Gegen Abend treffen sich die Wasser des Flusses mit der untergehenden Sonne. Bereitwillig lassen sie sich nach den Gesetzen der Verklärung in flammende Wolken verwandeln. Das Universum, in seiner ganzen Unermesslichkeit da, zeigt sich einen Augenblick lang wundersam bewegend. Und jemand, der verloren dastand, inmitten der Ewigkeit, hat es gesehen und war davon bewegt. All das, ich weiß es, hat mit der Seele zu tun. Ich versetze mich zurück in jenen Augenblick vor fast vierzig Jahren.

Wir waren jung – Sie noch viel jünger als ich –, und wir begegneten uns in der U-Bahn. Ich saß auf einem Klappsitz, Sie saßen auf dem gegenüberliegenden. Fasziniert fragte ich mich: «Woher kommt diese Schönheit? Wie ist es möglich, dass es diese Schönheit gibt? Und warum ist sie plötzlich da, diese eigentlich unmögliche, meinem Blick geschenkte Schönheit?» Meine Faszination wich dem Erstaunen, als Sie sich lächelnd von Ihrem Platz erhoben und sich neben mich setzten.

Was geschah da? Ich war ein kaum bekannter Autor, und Sie haben mich inmitten der anonymen Menge erkannt. Wir hatten, stotternd vor Aufregung, ein Gespräch zwischen zwei Haltestellen. Unter anderem stellte ich Ihnen ohne Umschweife die Frage: «Wie akzeptieren Sie Ihre Schönheit? Und wie kann jemand, der weiß, dass Sie eine andere Schönheit anstreben, Sie akzeptieren?» Arglos lächelnd antworteten Sie: «Wenn es Schönheit gibt, muss ich sie wohl akzeptieren. Aber wie sollte man die Fähigkeit einer anderen Person zu akzeptieren ermessen, da sie doch anders ist?»

Wir haben uns mehrmals wiedergesehen. Sie baten mich nachdrücklich darum auszuführen, was ich unter «die Schönheit akzeptieren» verstehe. Ich erinnere mich, Ihnen diese lapidare Antwort zugeworfen zu haben: «Schließlich hat Schönheit immer ein Schicksal zur Folge!» Und ich fuhr fort: «Der Anblick einer staunenswert schönen Frau ergreift, ja, erschüttert einen. Gleichzeitig wird man von einer bebenden Besorgnis erfasst, oder genauer, von einem innigen Mitgefühl. Man steht vor einer Art Wunder der Natur, vor einem wahrlich göttlichen Geschenk, und in diesem Sinne ist diese Schönheit zerbrechlich wie feines Porzellan. Man fragt sich: Was ist hier passiert? Woher kommt es, dass diese Schönheit da ist und dass sie Entzücken, Rührung, Suche auslöst – oder aber, in verhängnisvoller Form, das Verlangen nach Eroberung? Kann das lebendige Universum sich nicht damit begnügen, schlicht und einfach zu existieren? Warum muss es sich durch eine so gebieterische Präsenz Ausdruck verleihen?»

Ja, diese Frage, die Ihre Schönheit mir eingab, beschäftigt mich noch immer. Alle Morgenröten und alle Sonnenuntergänge, jener Berg und dieses Meer, alle Bäume und alle Blumen, diese Raubkatze und jener Vogel, die grenzenlose Prärie, durch die prächtige Pferde galoppieren, der bodenlose Himmel, der von glühenden Gestirnen erstrahlt … subtile oder sublime Schönheiten. Wer wollte uns davon überzeugen, dass sie auf Zufälligkeiten beruhen? Sehen wir denn nicht, dass von Anfang an das Lebensbegehren von dem Begehren nach Schönem, dem ersten Anzeichen von Sinn und Wert, begleitet wird? Die Seele der Welt strebt nach Schönheit, und die menschliche Seele antwortet darauf mit dem künstlerischen Schaffen in seinen mannigfaltigen Facetten, mit der inneren Schönheit, die einer liebenden und magnetisierenden Seele eigen ist – der Schönheit des Blicks, der Gestik, der Schönheit des Schenkens, die den schönen Namen «Heiligkeit» trägt.