Über die See - Mariette Navarro - E-Book
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Über die See E-Book

Mariette Navarro

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Beschreibung

Die Besatzung eines Containerschiffs möchte einmal mitten auf dem offenen Meer schwimmen gehen. Ihre Kapitänin lässt sich tatsächlich darauf ein … Wie sich behaupten und gleichzeitig in Frage stellen, davon erzählt dieser wunderbar sinnliche Roman aus Frankreich, der u.a. mit dem Prix Léonora Miano ausgezeichnet wurde. »Erst hängen sie in der Luft. Dann tauchen sie zum allerersten Mal beide Füße in den Ozean. Sie gleiten hinein. Tausende Kilometer von jedem Strand entfernt.« Auf einer Fahrt in die Tropen, kurz hinter den Azoren richtet die Besatzung eines Containerschiffs eine ungewöhnliche Bitte an die Kapitänin: Sie möchten hier, auf dem offenen Meer, schwimmen gehen. Das hat es noch nie gegeben. Zu ihrer eigenen Überraschung lässt die Kapitänin es zu. Sie bleibt allein auf dem Schiff, mit all den Zweifeln, ob sie das Richtige entschieden hat. Werden die Männer zurückkommen? Das Schiff wird immer langsamer, ein mysteriöser Nebel kommt auf. Wieso kann die Kapitänin auf einmal das Herz des Schiffes schlagen hören? Und warum drängt sich ausgerechnet jetzt ihr Vater in die Erinnerung, der einst selbst zur See fuhr und seit einer Überfahrt kein Wort mehr sprach?

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MARIETTE NAVARRO

ÜBER DIE SEE

Roman

Aus dem Französischenvon Sophie Beese

Verlag Antje Kunstmann

Es gibt drei Arten von Menschen:die Lebenden, die Toten und die Seefahrer.

Tief in ihrem Inneren wissen sie bereits, zu welcher Kategorie sie gehören, das ist keine wirkliche Überraschung, keine wirkliche Erkenntnis. Egal, wo sie sich befinden, wissen sie, ob sie dorthin gehören oder nicht.

Es gibt die Lebenden, die emsig Dinge erschaffen,und die Toten, die in den Gräbern ruhen.

Und es gibt die Seefahrer.

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

I

IN DIE VERTRAUTE GESTE, die Geste der Arbeit, die Tag für Tag wiederholte Geste hat sich eine Verzögerung eingeschlichen. Eine winzige Verzögerung, die es vorher nicht gab, eine Sekunde in der Schwebe. Und in dieser schwebenden, dieser verschwommenen Sekunde hat sich sofort das restliche Leben ausgebreitet, hat es sich bequem gemacht und seine Folgen nach sich gezogen.

Sie spürt es deutlich, denn die kleine Verzögerung hat sich auch in ihrem Körper einen Weg gebahnt, medizinisch kann sie es nicht belegen, sie könnte nicht einmal behaupten, dass es schwerwiegend ist, bedauerlich oder gefährlich, wenn das eigene Ich von einem leichten Luftzug durchstreift wird. Ein Windhauch, gegen den man die Muskeln ein wenig stärker anspannen muss.

Sie weiß nicht, ob die Schwäche schon vor der Entscheidung da gewesen ist, oder ob sich alles auf einmal ereignet hat, als sie am Ende einer Mahlzeit »Einverstanden« verkündet hat. Sie kann nicht sagen, ob der Wunsch nachzugeben von ihr selbst kam, oder ob jemand von der Mannschaft durch ein Wort oder einen Blick ihre nötige Distanziertheit durchbrochen hat. Es scheint ihr, als sei ihr Körper jetzt durchlässiger für die Meeresbrise.

Sie hört sich »Einverstanden« sagen mit einer Stimme, die nicht ganz ihre eigene ist, es ist nicht ihre Arbeitsstimme, ihre Kommandantinnenstimme. Es ist ein höherer, zittriger Ton. Als sie, die sehr auf diese Dinge achtet, das Wort ausspricht, stellt sie fest, dass es gar keine Zeit hatte, um aus dem Bauch zu kommen. Es ist direkt in der Kehle entstanden, für alle hörbar: »Einverstanden«. Jetzt, wo ihre Stimme das Wort ausgesprochen hat, muss sie es nur noch befolgen, denn sie ist es nicht gewöhnt, mit sich selbst uneins zu sein. Zwischen ihren Gedanken und ihren Aussagen hatte es bisher noch nie eine Abweichung gegeben.

Da sie gelassen und souverän ist, lässt sie diese Kleinmädchenstimme gewähren, die mitten beim Essen rausplatzt, sie räuspert sich und wiederholt mit ihrer Kommandantinnenstimme, mit ihrer ganzen Autorität: »Einverstanden«.

Der Lufthauch weht nicht nur in ihr. Seit ein paar Tagen schon hört sie Geflüster und unterdrücktes Gelächter. Die überschwängliche gute Laune einer Mannschaft, die sie gut zu kennen geglaubt und aufgrund ihrer Verlässlichkeit und erforderlichen Gewissenhaftigkeit angeheuert hatte, überrascht sie.

Wie bei jeder Reise hat sie auch vor dieser Einschiffung versucht, ein Gleichgewicht zwischen den Charakteren der mitreisenden Seeleute herzustellen. Eine chemisch exakte Dosierung, obwohl sie eher fürs Mechanische gemacht ist.

Bei jeder Abreise weiß sie, dass sie gewisse Risiken eingeht: die Unausgewogenheiten, die Gemüter, die sich nach wochenlangem Zusammenleben erhitzen, die unbemerkten Abneigungen, die melancholischen Trinker, die Fantasien, Schluss mit allem zu machen, die nicht enden wollenden Nächte und die Körper, die unter dem Gewicht der Einsamkeit zusammenbrechen. Doch die plötzliche Freundschaft, die heitere Vertrautheit, damit hat sie nicht gerechnet. Sie ist derart durcheinander, dass sie sich fragt, ob sie mitmachen soll. Daher ihr merkwürdiges Lächeln und ihre Stimme, die plötzlich eine Oktave höher ist.

Sie hat sich schließlich damit abgefunden, dass lauter gesprochen und mehr gelacht wird, dass sich die Blicke kreuzen und dass jedes Wort von einem anderen bestätigt wird. Sie hat sich versichert, wie sie es immer tut, dass das Gelächter gleichmäßig verteilt ist, dass niemand inmitten dieser Leichtigkeit leer ausgeht, dass niemand den Scherzen der anderen aufsitzt. Sie hat sich sogar dazu hinreißen lassen, eine Schulter zu streifen. Nach einigen Tagen hätte sie um ein Haar den einen oder anderen im Mondschein in den Arm genommen.

Sie ist seit vielen Jahren Kapitänin, seit drei Jahren auf diesem Schiff, immer mit einer neuen Mannschaft, und zwischen zwei Fahrten ein paar Monate an Land, dieses andere Leben, das sie sofort vergisst, kaum dass sie das Schiff betreten, kaum dass sie ihre Tasche in der Kabine abgestellt hat. Auf dieser Strecke ist die Überfahrt unkompliziert, vor allem zu dieser Jahreszeit. Die Abenteuer gehören in die Bücher, die sie als Studentin gelesen hat, in die Geschichten, die sie an den Abenden an Land ersinnt, wenn jemand sie dazu bewegen kann, etwas von sich zu erzählen. Die meisten Offiziere kennt sie seit der Ausbildung, sie verstehen sich fast ohne Worte.

Sie ist die Tochter eines Kapitäns, und ein Leben an Land stand nie zur Debatte, von klein auf hat sie zu viel über Schiffe gelernt, als dass sie sich vom Meer hätte lossagen können. So wie andere stolz auf ihre ferne Herkunft verweisen, ist sie mit dem Wasser verbunden. Es ist nie zu einem Bruch, zu einer Ablehnung gekommen. Sie hat sich für die Schifffahrt entschieden, diesen menschlichen Wissensschatz, für antikes Handwerkszeug und moderne Maschinen, Zahlen und Empfindungen, für kosmische Abstraktionen und die Sonne im Gesicht. Diese Erfahrungen haben sie reifer und komplexer werden lassen.

Sie hat die anderen – Männer, vor ihr – bei der Arbeit beobachtet, unter fordernden, manchmal herablassenden und misstrauischen Blicken hat sie alles gelernt, was man wissen muss, hat sich bewährt. Sie hat keine Etappe übersprungen, denn Privilegien sind ihr ebenso fremd wie alles, was der Einhaltung des vorgegebenen Prozederes entgegensteht. Sie hat festgestellt, dass die Arbeit sie besänftigt, dass das Schuften sie beruhigt. Mit Gewissenhaftigkeit und vollem Einsatz hat sie sich Autorität verschafft.

Bei ihrer ersten Überfahrt schlief sie kaum, war überall zugleich, wollte alles wissen, hätte beinahe die Aufgaben aller anderen übernommen. Man lächelte hinter ihrem Rücken, ihre Karriere, ihre Gesundheit würden das nicht lange verkraften. Die Lust auf einen Männerberuf würde ihr schon noch vergehen, sie würde für jemanden an Land bleiben, in einem Haus, in dem sie über die Dinge bestimmen könnte, über die Frauen eben bestimmen, denn ihre Arme seien für die langen Überfahrten nicht muskulös genug und ihre Hormone die falschen. Ein einziges Mal ballte sie die Fäuste, um sich zu prügeln. Sie hätte gewonnen, wenn die Situation nicht sofort entschärft worden wäre, wenn sich nicht eine Hand auf ihre Schulter gelegt hätte. Seitdem sie diejenige ist, die die Anweisungen gibt und über die Karriere der anderen entscheidet, sagt niemand mehr etwas, das Weibliche hat sich seinen Weg in die Köpfe gebahnt und ist wie der Beiname anderer berühmter Seeleute in die Geschichten eingegangen.

Mit der Zeit hat sie ihren Sinn für das Wetter ebenso geschärft wie für die Präzisionskartografie mit den kleinen Kreuzen, die alle zwanzig Minuten auf der großen Karte des Büros eingezeichnet werden, um die Position des Schiffes zu markieren. Bei jeder Überfahrt kann sie so ganz selbstverständlich ihr Vorankommen Richtung Süden, Richtung Schönwetter beobachten, vorbei an den Tiefdruckgebieten, die sie nach Möglichkeit umschifft. Sie kennt das spiegelglatte Meer und die sanfte Umarmung der grün schäumenden Wellen.

Sie schaut sich gern die Karten an, prägt sie sich ein, beschriftet und sortiert sie. Sie kannte sie alle, bevor sie in See stach. Die Schönheit ihrer Farben. Manchmal wird sie der gewählten Route überdrüssig – zu rational zwischen zwei Punkten –, und es ergreift sie die Sehnsucht nach Langsamkeit. Dann erteilt sie der Maschine einen Befehl, verliert absichtlich eine Stunde oder zwei bis zum nächsten Landgang.

Seit einigen Jahren ist sie als Kapitänin gefragt. Man weiß, dass alles klar geregelt ist, dass die zwischenmenschliche Mechanik genauso reibungslos funktioniert wie der dröhnende Motor, dass man sich auf eine Überfahrt ohne Stürme einstellen kann. Man schätzt die Ruhe, die sie verbreitet, und ohne es sich einzugestehen ist man froh, unter ihrem Schutz zu stehen. Sie weiß kompakte Mannschaften zu schätzen, einen oder zwei treue Offiziere, nicht zu gesprächig. Wenn man sie fragt, mit wem sie reisen will, wählt sie die Bärbeißigen, die Schüchternen.

Sie ist seit einem Monat wieder auf See, vertritt einen Kollegen, der bald in Rente geht und froh ist, ihr die längsten Perioden überlassen zu können, Weihnachten und die Sommermonate, die Schulferien. Sie nimmt alle Aufträge an, holt den Frachter ab, egal wo er ist, übernimmt die Bestandsaufnahme, macht Verspätungen wett. Seit einiger Zeit hat sie das Gefühl, über Samt zu gleiten, in ihrem Beruf die Geschmeidigkeit einer perfekten Tanzchoreografie erreicht zu haben. Wenn sie die Augen schließt, wird der Frachter ihr eigener Körper, in sich ruhend und aufrecht. Darüber vergisst sie ganz die Wellen.

Ihre Kabine ist die geräumigste, mit einem großen Büro. Es ist auch die ruhigste, obwohl regelmäßig jemand vorbeischaut, um sie über eine Verspätung, eine neue Wetterwarnung oder einen Vorfall in der Mannschaft zu informieren.

Sie ist es gewohnt, auf alles eine Antwort zu haben. Eine passende Stimme für jede Sachlage. Eine Maske für jedes Ärgernis. Bei jeder neuen Überfahrt findet sie sich schnell wieder zurecht, stellt sich der Mannschaft vor und den Passagieren, wenn welche an Bord sind, erahnt Ängste und Erstüberquerungen, spürt, welche Verbündeten sie haben wird und welche Eifersüchteleien sie entschärfen muss.

Sie schüttelt niemandem die Hand. Sie berührt nur das Metall und den Stoff ihrer eigenen Kleidung, wenn sie die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Haare bindet sie kurz über dem Nacken zusammen, sie fallen lang und gerade bis zur Mitte des Rückens. Wenn sie sich bewegt, schwingen sie nicht hin und her, sind, von ihr gebändigt, eine weitere Linie unter den Linien ihres Körpers.

Sie schließt ihre Kabine nie ab, um bei der kleinsten Erschütterung, der kleinsten Warnung einsatzbereit zu sein. Sie schläft vollständig angezogen. Sie weiß um die schweren Atemzüge der Männer auf der anderen Seite der Wand. Sie schläft ohnehin nicht viel. Wenn sie sich ausruht, dann vor allem, weil es so vorgeschrieben ist. Oft erlaubt sie sich, auf ihrem Stuhl die Augen zu schließen und sich vom Stampfgeräusch einlullen zu lassen.

Den Großteil ihrer Zeit verbringt sie oben. Auf der Brücke. In dem für sie reservierten Sessel. Sie will mit eigenen Augen sehen, noch vor der beruhigenden Bestätigung der Anzeigen. Sie mag die intime Atmosphäre dieses Ortes, die Ruhe und Konzentration. Seit einigen Überfahrten steht ihr ein rumänischer Steuermann zur Seite. Er spricht nur Französisch, wenn er ihr die Messwerte durchgibt und für technische Begriffe, bei deren Aussprache er sich große Mühe gibt. Sie stellt ihm keine Fragen, beobachtet ihn lediglich, wenn sie nicht gerade den Horizont im Blick behalten muss. Er ist sehr jung. Wie die meisten Matrosen, die auf diesem Containerschiff angeheuert haben. Sie weiß nicht, was ihn aufs Meer getrieben hat, ihn und alle anderen, was ihn bewogen hat, einen so merkwürdigen Beruf zu ergreifen, der ihm derart fremd ist, dass er sich trotz all der Jahre immer noch übergeben muss, wenn das Meer in Rage gerät; dass sein Blick, wenn er den Ozean betrachtet, manchmal plötzlich leer wird und Panik darin aufflackert. Vielleicht die Heuer, oder der Durst. Dabei ist sie es, die abends ein Glas Wein trinkt, immer zur gleichen Zeit. Am liebsten mag sie es, wenn genau in diesem Moment der Regen in Böen an die Scheibe klatscht. Dann löst sie ihre Haare, lässt ihre Kopfhaut atmen. Die Offiziere sind auch da, aber für einen kurzen Moment entspannt sie Schultern und Gesicht.

Als sich der erste Offizier nach vier Tagen auf offener See beim Abendessen zu ihr beugt und mit einem Freimut, der ihm sonst fremd ist, fragt, ob man nicht einfach mal die Motoren abschalten, die Rettungsboote zu Wasser lassen und eine Runde schwimmen gehen könne, sagt eine Stimme aus ihrem Mund ohne nachzudenken: »Einverstanden«. Und noch einmal: »Einverstanden«. Eine kurze Stille, natürlich, und dann ein lautes, ungläubiges Lachen.

II

ALS ERSTES zeichnen sie einen Kreis um sich herum. Einen großen Kreis, der alles umfasst, das Blau, seine schwarzen Tiefen und weißen Wellenkämme. Eingefasst nur vom Horizont, der nun rund ist.

Vom Schiff aus lassen sie ihren Blick im Kreis schweifen.

Sie hoffen auf Stille.

Ihre Blicke ruhen auf der Krümmung, die sie umfasst.

Sie hoffen auf Abstraktion. Sie verwandeln diesen blauen Kreis in einen festen Stoff, einen Untergrund für ihre ersten Schritte. Sie kneifen die Augen zusammen, halten die Illusion aufrecht, bis eine Welle anrollt, zusammenschlägt und alles wieder flüssig und tief werden lässt.

Sie zeichnen einen Kreis auf die Wasseroberfläche, als ob sie das Meer für Papier hielten und ihre Arme für den Zirkel aus Kindertagen. Sie denken nicht an das, was sich unter der Oberfläche verbirgt, sie streben nach der Perfektion des Kreises und ihres Eintauchens in seine Mitte. Sie stellen sich die konzentrischen Wellen vor, die ihre winzigen Menschenkörper auslösen werden. Sie glauben, dass man in einen Spiegel eintauchen kann, ohne von der Welle mitgerissen und auf die Seite der Welt gezogen zu werden, auf die kein Licht mehr vordringt.

Sie hoffen auf Stille und schalten die Motoren ab. Dabei haben sie nicht an das Spiel der Wellen, ihr Schlagen gegen den Bug und die Wucht des tosenden Windes gedacht, die ihr Recht einfordern, sobald die Maschinen schweigen. Alles Knarzen und Rauschen entstammt nunmehr mechanischen Kräften, Windböen, Wassermassen, dem vom Wellengang hin- und hergeworfenen Stahlkoloss und den Atemzügen der Männer als Antwort auf dieses mächtige Fauchen.

Als die Motoren zum Stillstand kommen, verlieren sie das mühsam gefundene Gleichgewicht, werden in ihrem Lernprozess zurückgeworfen, sind wieder blutige Anfänger, stoßen sich überall, kotzen sich die Seele aus dem Leib und sind dabei doch fast euphorisch.

Alle kommen zur verabredeten Zeit aus ihren Kabinen, halten sich an die Absprache, kein Einziger hat einen Rückzieher erwogen. Natürlich sind sie nicht völlig frei, schon gar nicht von Sorge. Angespannt halten sie nach der kleinsten Unregelmäßigkeit Ausschau, danach, ob sich das Schiff zur Seite neigt oder knirscht, vielleicht ein Leck hat. Unsicher, ob sie eine mögliche Gefahr überhaupt als solche erkennen würden. Ihrer Reflexe beraubt. Um sich zu beruhigen, erklären sie diesen ganz und gar ungewohnten Lärm zu Musik.

Sie haben keinen Beruf mehr, wenn das Schiff stillsteht, keinen abgesteckten Kurs. Sie sind ziemlich ahnungslos, wenn sie die Steuerinstrumente hinter sich lassen.

Ohne Schuhe verlieren sie auf dem Außengang ihre Trittsicherheit, aber genießen es, wie die Sonne auf sie niederbrennt.

So beginnen sie, ihre Empfindungen zu erkunden.

Sie fangen sich beim Ausrutschen und lachen über sich selbst, machen aus ihrem abhandengekommenen Gleichgewicht ein neues Spiel.

Auf dem schlingernden Schiff folgen sie einander wortlos, halten sich an der kühlen Reling fest, um sich zu beruhigen: ein bekanntes Gefühl. Sie lachen ein wenig über das Zittern, das sie alle gleichermaßen überkommt.

Über die Decks stolpern sie bis zu einem der Rettungsboote, ermessen ihre Unbedarftheit, streifen die Frage der Notwendigkeit und führen doch die vorgeschriebenen Handgriffe aus: die Leitern auseinanderrollen, sich an den Tauen festklammern, neue Muskeln in den angespannten Armen entdecken. Sich auf die Begegnung mit dem Meer vorbereiten.

Spähend beugen sie sich über den Rand, schätzen die paar Dutzend Meter ab, die sie vom Wasser trennen. Noch ist das Metall des Außengangs ein Stück Land, auf dem man trockenen Fußes laufen kann. Aus den Augenwinkeln vergewissern sie sich des ungetrübten Himmels, der türkisen Reflexe, atmen allmählich wieder ruhiger.

Das Passieren der Azoren war das Signal, der letzte Kontakt mit dem Festland. Sie warteten, bis sie von keiner Küste, von keinem vorbeifahrenden Handelsschiff aus mehr zu sehen waren. Dann stellten sie das Radar ab. Von hier würde nicht einmal ein Vogel die Kunde ihrer Anwesenheit überbringen können.