Über die Textgeschichte des Römerbriefs - Alexander Goldmann - E-Book

Über die Textgeschichte des Römerbriefs E-Book

Alexander Goldmann

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Beschreibung

Der neutestamentliche Römerbrief ist die redaktionelle Überarbeitung einer älteren Fassung, die für die marcionitische 10-Briefe-Sammlung bezeugt ist. Bei dieser Überarbeitung im 2. Jahrhundert wurde die ältere Fassung in großem Umfang ergänzt: Das "Abrahamkapitel" (Rm 4) sowie die beiden letzten Kapitel (Rm 15f) finden sich nur in dieser jüngeren, kanonisch gewordenen Fassung. Diese grundstürzende These wird vor allem textgeschichtlich begründet: Die Studie stützt sich auf paratextuelle Zeugnisse, die von der Textkritik bislang weitgehend vernachlässigt wurden, und verbindet sie mit neueren Untersuchungen zur marcionitischen Schriftensammlung und zur Kanonischen Ausgabe des NT. Die Ergebnisse haben weitreichende Auswirkungen auf die Paulusexegese sowie auf die Textkritik und ihre Methodik. Sie erschließen die früheste Theologiegeschichte und etablieren das NT als Buch des 2. Jahrhunderts.

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Alexander Goldmann

Über die Textgeschichte des Römerbriefs

Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie die Sächsische AufbauBank (SAB).

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

Print-ISBN 978-3-7720-8709-7

ePub-ISBN 978-3-7720-0106-2

Inhalt

meinen ElternVorwortI. Hinführung und MotivationII. Methodologische Reflexion2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh.2.1.1. Die 10-Briefe-Sammlung – der Marcionitische Apostolos2.1.2. Die 14-Briefe-Sammlung2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung2.3. Methodisches VorgehenIII. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse3.1. Begriffsklärung – was sind Paratexte?3.2. Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse3.2.1. Die Capitula Amiatina3.2.2. Die Capitula Regalia3.2.3. Das Abhängigkeitsverhältnis der KA Rm A und der KA Rm Reg3.3. Die altlateinischen Prologe der Paulusbriefe3.3.1. Reihenfolge3.3.2. Umfang3.3.3. Verfasserschaft3.3.4. Die altlateinischen Prologe und die Überlieferungsgeschichte des Corpus Paulinum3.4. Fazit und ZwischenbilanzIV. Rm 4 – Das fehlende Abrahamkapitel4.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 44.2. Der paratextuelle Befund für Rm 44.2.1. Die Capitula Amiatina und Rm 44.2.2. Die Capitula Regalia und Rm 44.3. Die redaktionelle Einbindung des Abrahamkapitels in 10Rm4.4. Das theologische Konzept der redaktionellen EinfügungenDie Bedeutung der Schrift und der jüdischen Wurzeln des ChristentumsV. Rm 9–11 – ein „Trümmerfeld zerstückelter Schrift“5.1. Die häresiologische Bezeugung von Rm 9–11a) Rm 10,1–4b) Rm 11,33–365.2. Der paratextuelle Befund für Rm 9–115.2.1. Die Capitula Amiatina und Rm 9–115.2.2. Die Capitula Regalia und Rm 9–115.2.3. Deutung des paratextuellen Befundes5.3. Ergebnis und SchlussfolgerungenVI. Der Schluss des Römerbriefes6.1. Die häresiologische Bezeugung für den Schluss von 10Rm6.2. Der paratextuelle Befund für Rm 15f6.2.1. Die Capitula Amiatina und der Schluss des Römerbriefes6.2.2. Die Capitula Regalia und der Schluss des Römerbriefes6.2.3. Der altlateinische Prolog zum Römerbrief6.3. Der kurze Römerbrief6.3.1. Der kurze Römerbrief als Resultat der Redaktionstätigkeit Marcions6.3.2. Der kurze Römerbrief als Resultat einer katholisierenden Bearbeitung6.3.3. Der kurze Römerbrief als Resultat eines mechanischen Ausfalls6.3.4. Der kurze Römerbrief als älteste erreichbare Textform6.4. Der Schluss des Römerbriefes als unlösbares textkritisches Problem?6.4.1. Der handschriftliche Befund6.4.2 Bisherige Lösungsmodelle und ihre Insuffizienz6.5. Der Römerbriefschluss – ein neues Lösungsmodell6.5.1. Das Problem der Benedictio6.5.2. Die redaktionelle Ergänzung der Kapitel 15 und 16VII. Ergebnis und AusblickAbbildungsverzeichnisLiteraturverzeichnis1. Editionen2. Hilfsmittel3. Verzeichnis der zitierten ForschungsliteraturAnhang

meinen Eltern

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet.

Herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Klinghardt, der mich bereits während des Studiums förderte und mir nach dem Examen die Möglichkeit eröffnete, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie zu forschen. Während einer mehrjährigen Unterbrechung meiner Studien aufgrund des Referendariats sowie der anschließend beginnenden Tätigkeit im Schuldienst, hielt er an mir fest und gab mir die Möglichkeit, meine Untersuchungen zu späterer Zeit im Rahmen des Forschungsprojekts TENT („Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“) fortzusetzen. Seine Ideen brachten den Stein ins Rollen, seine Denkanstöße hielten ihn am Laufen, sein Vertrauen motivierte mich, das Projekt zu Ende zu bringen.

Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang auch der Sächsischen Bildungsagentur sowie der Schulleitung des Romain-Rolland-Gymnasium Dresden, die dies durch eine Reduzierung meines Deputats möglich machten. Ebenso sei dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie der Sächsischen AufbauBank (SAB) für die Finanzierung des Projekts TENT gedankt.

Herrn Professor Dr. Günter Röhser (Bonn) danke ich vielmals für die Übernahme des Zweitgutachtens, v. a. aber für die gewissenhaften und stets wohlwollenden Korrekturhinweise.

Den Herausgebern der „Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter“ sei für die Aufnahme in die Reihe gedankt.

Als Projektleiter TENT bin ich Dr. Jan Heilmann in besonderem Maße verbunden. Seine geduldigen Hinweise und seine sehr produktorientierte Betreuung war für die Fertigstellung der Arbeit von unschätzbarem Wert. Ebenso danke ich den TENT-Kollegen Tobias Flemming, Daniel Pauling, Kevin Künzl und Frido Wegscheider sowie Nathanael Lüke, Katharina Degen, Juan Garcés und Jens Schuster. Sie lieferten zahlreiche fachliche Hinweise und Anregungen, die für das Gesamtwerk von kaum zu überschätzender Bedeutung waren.

Für das Korrekturlesen bin ich Adriana Zimmermann und Andreas Glaubitz zu großem Dank verpflichtet. Jedwede Fehler und Unzulänglichkeiten sind nach ihrer Lektüre in das Manuskript gerutscht und ausschließlich mir zuzuschreiben.

Den bedeutendsten Beitrag an diesem Forschungsprojekt leistete meine Familie, v. a. meine Partnerin Romy Schneider, die mir während des langwierigen Arbeits- und Schreibprozesses unter nicht immer einfachen Rahmenbedingungen stets den Rücken frei hielt. Ohne ihre uneigennützige Entlastung, Nachsicht und Geduld hätte diese Arbeit keinesfalls fertig gestellt werden können.

 

Dresden, im November 2020    Alexander Goldmann

I. Hinführung und Motivation

Der Schluss des Römerbriefs – ein unübersichtliches Problemfeld

„In den letzten 60 Jahren hat die Handschriftenkunde, Paläographie und Kunstgeschichte einen großen Aufschwung genommen; die textgeschichtliche Forschung ist demgegenüber etwas zurückgeblieben. Daher können hier weniger fertige Ergebnisse dargeboten werden, als vielmehr ungelöste Fragen und Probleme. Vielleicht locken sie neue Kräfte auf dieses Gebiet, das nur dem Unkundigen oder Anfänger als trockene Wüste erscheint.“1

Diese Einschätzung des ausgewiesenen Experten der Textgeschichte und -kritik des Neuen Testaments und langjährigen Leiters des Beuroner Vetus-Latina-Instituts Bonifatius FISCHER liegt nun schon mehr als drei Jahrzehnte zurück. Seitdem hat die Forschung durchaus wichtige Schritte unternommen und bemerkenswerte Weiterentwicklungen erfahren, doch zweifelsohne sind einige Fragen ungelöst und Probleme offen geblieben. Ein solches Problem birgt der neutestamentliche Römerbrief.

Folgt man dem Urteil der Herausgeber der gängigen kritischen Textausgaben, umfasst der Brief 16 Kapitel. Den Abschluss bildet dabei eine umfangreiche Doxologie. Doch schon ein kurzer Blick in die Apparate lässt erkennen, dass diese beiden Entscheidungen der Textkritiker (der Brief beinhaltet 16 Kapitel und endet mit einer Doxologie) keineswegs auf sicherem Fundament stehen.

Die handschriftliche Überlieferung des umfangreichsten der paulinischen Briefe weist an dessen Ende im Rahmen der Schriften des Neuen Testaments eine beispiellose Vielzahl an Varianten auf. Als unbestrittenes Schwer(st)gewicht der neutestamentlichen Textforschung identifizierte Kurt ALAND bzgl. des Briefschlusses insgesamt vierzehn (!) verschiedene Textformen und beschrieb das daraus resultierende Problem als das „schwierigste (…), welches der neutestamentlichen Textkritik überhaupt gestellt ist.“2 Zu klären ist in erster Linie, welche dieser Textformen den Ausgangspunkt der Überlieferung – den Archetyp – darstellt. Ferner muss danach gefragt werden, wie die verbleibenden bezeugten Textformen entstehen konnten, genauer: wie sie genealogisch miteinander zusammenhängen.

Die genannten Fragen fundieren das Problemfeld der Textgeschichte des Römerbriefschlusses, welches von Donatien de BRUYNE sogar als „das meistdiskutierte und dennoch das undurchsichtigste des gesamten Neuen Testaments“3 bezeichnet wurde. Solch kühne Einschätzungen (Aland, de Bruyne) hinterlassen Spuren und fordern heraus. Sie fordern heraus, das Problemfeld zu betreten. Sie fordern heraus, die herkömmlichen Lösungsmodelle zu durchdenken, dabei aber stets die Augen für neue Wege offenzuhalten.

 

Zunächst ist zu klären, was das besagte Problemfeld eigentlich bedeutsam macht: Ungeachtet der Notwendigkeit, die einzelnen handschriftlich bezeugten Textformen in einem umfassenden Entstehungsmodell zu integrieren, bleibt der übergeordnete, strittige Punkt, ob der Brief des Paulus an die Römer ursprünglich 16, 15 oder gar nur 14 Kapitel beinhaltete.4 Alle drei Optionen sind im Hinblick auf den handschriftlichen Befund denkbar.5 Würde man das 16. Briefkapitel als sekundäre Interpolation verstehen, hätte das einigermaßen weitreichende Konsequenzen – nicht nur für die historische Paulusforschung. Bedeutsame Informationen hinsichtlich des Abfassungsorts sowie des Briefschreibers würden in neuem Licht erscheinen, ebenso die sozialgeschichtlich wertvollen Details über Struktur und Zusammensetzung der frühen christlichen Gemeinde in Rom. Nicht minder schwer wiegen die Schlüsse, die eine Abtrennung des 15. Kapitels vom ursprünglichen Briefkorpus mit sich brächte; Aussagen über das missionarische Selbstverständnis des Paulus (15,14–21), seine Reisepläne nach Spanien (15,22ff), seine Unruhe vor dem Hintergrund der Kollektenübergabe in Jerusalem (15,25–28.31) sowie die daraus resultierende Motivation des gesamten Schreibens müssten neu bewertet werden. Zu beachten ist außerdem, dass sich in Rm 15 auch der einzige literarische Hinweis innerhalb des Corpus Paulinum befindet, dass die Geldsammlung erfolgreich (d.h. hinreichend ertragreich) war und Paulus sie folglich wirklich in Jerusalem abzuliefern gedachte, wie es der Darstellung der Passionsgeschichte des Paulus in der Apostelgeschichte entspricht. Denn ohne die Kenntnis von Rm 15 wären für den Leser all jene Passagen, in denen in der Apostelgeschichte die Kollekte angedeutet wird, nur schwer verständlich.

 

Der umfangreiche forschungsgeschichtliche Befund zu der Thematik weist methodisch zwei zu differenzierende Stoßrichtungen auf: Einerseits werden literarkritische, also interne Phänomene in den Blick genommen, andererseits spielt – wie bereits erwähnt – der textkritische Befund (also die externe Bezeugung des Briefes) eine entscheidende Rolle. Um zu einer plausiblen Lösung der genannten Fragen zu gelangen, ist es zweifelsohne geboten, beide Blickrichtungen in angemessener Weise zu berücksichtigen,6 wenngleich der Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen die handschriftliche Bezeugung bleibt.7

Der Blick in die Forschungsgeschichte zur Problematik des Römerbriefschlusses macht deutlich, dass es in jüngerer Zeit immer wieder Versuche gegeben hat, das Problemfeld auf die alleinige Frage nach dem ursprünglichen Briefumfang (14, 15 oder 16 Kapitel) zu reduzieren.8 In diesem Zuge muss DU TOITs Hinweis „to avoid getting bogged down by less important detail“9 deutlich widersprochen werden, denn eine solche Reduktion kann der Komplexität der Materie schlicht nicht ausreichend gerecht werden. Mitnichten handelt es sich bei Varianten innerhalb der handschriftlichen Überlieferung um ‚unbedeutende Details‘. Vielmehr geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Problem des ursprünglichen Briefumfangs gar nicht unabhängig von der Frage nach dem genealogischen Zusammenhang der einzelnen Textformen geklärt werden kann. Nur eine auf diesem Weg gewonnene Lösung würde auf einem hinreichend tragfähigen Fundament fußen.

Es ist daher unbedingt geboten, alle (!) handschriftlich bezeugten Variationen des Briefschlusses zu berücksichtigen und genealogisch miteinander in Beziehung zu setzen. Bezüglich des Römerbriefschlusses liegen die in diesem Zuge entstandenen Stemmata10 allerdings auch schon einige Jahrzehnte zurück und man muss feststellen, dass in jüngeren Studien in der Regel schlicht auf jene in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten „Stammbäume“ verwiesen wird11 bzw. diese geringfügig modifiziert übernommen werden.12 Die vorliegende Arbeit setzt sich also zum Ziel, hier eine Neubestimmung zu wagen.

 

Um den besagten Themenkomplex zu bearbeiten sind zunächst einige Vorüberlegungen notwendig:

Das Problem des Schlusses des Römerbriefs kann nicht losgelöst von den restlichen textkritischen Schwierigkeiten des Briefes bearbeitet werden.13 Insbesondere der Grundansatz des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster (INTF) ist noch immer stark von der von Kurt ALAND als lokal-genealogische Methode bezeichneten Vorgehensweise14 geprägt, jede Stelle, an der Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auftreten, einzeln auszuwerten und zu beurteilen.15 Diese Herangehensweise läuft Gefahr aus den Augen zu verlieren, dass die Phänomene zueinander in Verbindung stehen könnten.16 Darüber hinaus impliziert sie eine grundsätzliche Gleichartigkeit der einzelnen Varianten, d.h. es wird nicht unterschieden, um welche Arten von Textveränderungen es sich handelt.17 So rechnet die aktuelle Erweiterung der LGM, die sog. kohärenzbasierte genealogische Methode (CBGM)18, weiterhin v. a. mit zufälligen, nicht-intentionalen Veränderungen durch einzelne Schreiber, die völlig unabhängig voneinander geschehen. Dies mag für kleinere Varianten (mit denen es die Textkritik mehrheitlich ja auch zu tun hat) noch anwendbar erscheinen, aber bei solch umfangreichen Abschnitten, wie sie am Schluss des Römerbriefes fehlen (Kap 15f bzw. Kap 16) oder in ihrer Stellung variieren (Doxologie Rm 16,25–27), scheint eine solche Vorstellung und die daraus resultierende Methode nicht übertragbar. Hier ist es dagegen plausibel – pointiert könnte man vielleicht sogar sagen, dass es die textkritische Vernunft gebietet –,19 auch die Möglichkeit von redaktionellen Textveränderungen (also solchen Änderungen, die reflektiert und intentional geschehen)20 zuzulassen.21 Erst dann wird es möglich, bisher unabhängige Phänomene miteinander in Verbindung zu setzen und somit zu überzeugenderen Lösungen zu kommen. Die Arbeit wird deutlich machen, dass das Problem des Römerbriefschlusses nur zufriedenstellend zu lösen ist, wenn man die Textgeschichte des gesamten Briefes in den Blick nimmt, wenn man also die einzelnen Phänomene überlieferungsgeschichtlich miteinander in Beziehung setzt.

Die Textgeschichte des Römerbriefes wiederum ist nicht unabhängig von der Textgeschichte des Corpus Paulinum zu ergründen. Denn wie sämtliche paulinischen Briefe ist auch der Römerbrief in allen uns bekannten Zeugnissen und Manuskripten nie als einzelner Brief überliefert, sondern stets als Teil einer Sammlung von Paulusbriefen. Um das Rätsel des Römerbriefes zu entschlüsseln, muss man daher die Genese der Paulusbriefsammlung betrachten.22 Ausgangspunkt der neutestamentlichen Textüberlieferung der Paulusbriefe sind also stets Briefsammlungen23 und nicht die Fassungen der dokumentarischen Paulusbriefe, die möglicherweise im 1. Jh. geschrieben und an die Gemeinden verschickt wurden – Letztere sind schlichtweg unbekannt. Natürlich gehen Briefsammlungen in der Regel auf Autographa (also die ursprünglichen, dokumentarischen Texte) zurück, doch hat TROBISCH ausführlich herausgearbeitet, dass sie in solchen Fällen stets redaktionelle Bearbeitungen erfahren.24

Die Vorstellung, dass es möglich ist, den „ursprünglichen“ Römerbrief zu rekonstruieren, ist aufgrund unserer vorhandenen Zeugnisse sehr kritisch zu betrachten. Doch auch das vordergründige Ziel der CBGM, die Suche nach dem Ausgangstext (initial text), d.h. derjenigen Textform, die den Beginn der Textüberlieferung darstellt,25 ist wiederum insofern problematisch, als die Methode gewissermaßen einen eklektischen Text liefert, der in seiner Gesamtheit mit keinem bekannten Manuskript identisch ist.26 Die Frage, welches Manuskript bzw. welche tatsächlich bezeugte Textform (die wiederum Teil einer konkreten Briefsammlung sein müsste) den Ausgangspunkt (also den Archetyp) der Überlieferung darstellt, darf nicht ignoriert werden. Dazu bemerkt TROBISCH:

„Present editions of the New Testament are so focused on the text line, the initial text, that the larger picture is easily missed.“27

Es geht also um die Frage nach dem textkritischen Ansatz: die historische und textliche Rekonstruktion von Briefsammlungen muss vor der Rekonstruktion der konkreten textkritischen Archetypen der einzelnen Briefe stehen.28 So fordert SCHMID zu Recht:

„The unusual textual tradition of Paul’s letter to the Romans has to be interpreted within the history of the Corpus Paulinum as a collection.“29

In diesen einleitenden Überlegungen kamen drei Einsichten zur Sprache, die das Problemfeld der vorliegenden Studie fundieren:

Die bisherige methodische Herangehensweise und Zielstellung der textkritischen Arbeit greift zu kurz. Ein synthetisch hergestellter, eklektischer Ausgangstext, auf den alle anderen Textformen zurückgehen sollen, kann – losgelöst von jeglichen überlieferungsgeschichtlichen Aspekten – kaum historische Plausibilität beanspruchen.

Der methodische Ansatz der CBGM, in der Regel hauptsächlich von zufälligen und voneinander unabhängigen Eingriffen in die Texte auszugehen, um die Entstehung einer solchen Vielzahl an Textvarianten zu erklären, die das Neue Testament bietet, genügt nicht. Die Anbindung der Textgeschichte an ein historisch plausibles, überlieferungsgeschichtliches Modell bleibt unumgänglich und muss v. a. klar benannt werden. Tatsächlich wird auch die Methodik der CBGM von impliziten, überlieferungsgeschichtlichen Grundannahmen getragen.30 Da diese aber mit einiger Wahrscheinlichkeit z.B. für die Offenbarung31 wie auch für die Evangelien32 nicht zutreffen, kann dies zu falschen Entscheidungen führen33 und erfordert zumindest eine Modifikation des zugrunde liegenden Überlieferungsmodells.34

Weiterhin wurde deutlich, dass nicht der historische Römerbrief (also das Autographon) rekonstruiert werden kann, sondern der Römerbrief als Teil einer Schriftensammlung, nämlich des Corpus Paulinum, also einer Sammlung35 von Paulusbriefen. Die verfügbaren Handschriften bezeugen allesamt eine Sammlung von Texten (bzw. Teile davon), niemals aber nur einen einzelnen Brief. In seiner jüngsten Studie fordert FLEMMING daher zu Recht:

„Neutestamentliche Textkritik sollte demnach als Editionskritik stattfinden, d.h. stets die Existenz verschiedener Ausgaben der biblischen Texte mitdenken. Gerade für die Paulusbriefe ist ein solcher Fokus auf Ausgaben von Texten besonders naheliegend, weil uns diese ausschließlich in Form von Briefsammlungen überliefert sind.“36

Es ergibt sich also die Einsicht, dass die Frage der Textgeschichte des Römerbriefes nur editionsgeschichtlich gelöst werden kann.37 Daher ist zu fragen, ob der Römerbrief im Rahmen der Editionsgeschichte Veränderungen erfahren hat und redaktionell bearbeitet wurde.38 Die vorweggenommene Antwort der vorliegenden Studie lautet: der heute bekannte Römerbrief ist tatsächlich ein umfangreich interpolierter Text. Das methodische Vorgehen, das zu dieser Einsicht führt, wird im Folgenden dargestellt und erklärt.

II. Methodologische Reflexion

2.1.Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh.

Die Zugehörigkeit der Paulusbriefe zum Neuen Testament (respektive zum neutestamentlichen Kanon) war nie in irgendeiner Form umstritten. Es scheint klar, dass sie von Anfang an als verbindliche Schriften verstanden und verwendet wurden.1 Zu klären ist allerdings, welche verschiedenen Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jahrhundert existierten2 und wie diese ausgesehen haben, v. a. welchen Umfang sie hatten. Die Sammlungen sind nach ihrem jeweiligen terminus ad quem geordnet.

2.1.1.Die 10-Briefe-Sammlung – der Marcionitische Apostolos

Die früheste Sammlung von Paulusbriefen,1 über deren Existenz wir gesicherte Informationen besitzen, ist eng mit dem Namen Marcion von Sinope verbunden, einem Reeder aus Pontus an der südlichen Schwarzmeerküste.2 Belegt ist, dass dieser in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts eine Schriftsammlung benutzte, die ein namenloses Evangelium (welches bekanntermaßen eine Kurzversion des Lukasevangeliums war) sowie zehn Paulusbriefe umfasste. Diese 10-Briefe-Sammlung trug die Bezeichnung Apostolos und beinhaltete die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief nicht. Als terminus ad quem dieser Edition kann Marcions Ausschluss aus der römischen Gemeinde gelten, der ins Jahr 144 datiert wird.3

Spätestens seit Irenäus von Lyon galt Marcion als der „Erzketzer“ schlechthin, seine Schriften als Verfälschungen und Verstümmelungen der eigentlichen (katholischen) Texte.4 Es mag daher nicht überraschen, dass von der besagten marcionitischen Bibelausgabe keinerlei Exemplare die Zeiten überdauert haben. Wenngleich also keine direkten Zeugnisse des Textes mehr existieren, so liegt doch eine umfangreiche metatextuelle Beschreibung5 des Textes durch die altkirchlichen Häresiologen vor, so v. a. durch Tertullian,6 Epiphanius7 und Adamantius8. In ihren polemischen Schriften diskreditieren sie Marcions kurzen Bibeltext als perfide Fälschung. Die inhärente Strategie dieser Streitschriften war es, Marcion auf Grundlage seines eigenen Textes zu widerlegen.9 Dazu hatten die Häresiologen Marcions Bibeltext vor sich liegen, den sie der Reihe nach durchgingen und an ausgewählten Stellen in wünschenswerter Ausführlichkeit kommentierten. Damit prägten sie zwar einerseits nachhaltig das Verständnis Marcions als Schriftfälscher des frühen Christentums, andererseits erlaubt ihre Vorgehensweise (ungewollt), Marcions Bibeltext mit hinreichender Sicherheit wiederherzustellen. Durch diese metatextuelle Bezeugung haben wir also Zugriff auf die besagte 10-Briefe-Sammlung und sind in der Lage, die Reihenfolge, den Umfang und an vielen Stellen auch den genauen Wortlaut der einzelnen Texte zu rekonstruieren.10

Wie das Zeugnis der Häresiologen zeigt, besaß die 10-Briefe-Sammlung folgende Anordnung: Gal, 1/2 Kor, Rm, 1/2 Thess, Laod (= Eph), Kol, Phil, Phlm11 bzw. Phlm, Phil.12 Auffällig ist die Position des Galaterbriefes, der an erster Stelle der Sammlung steht, sowie die Tatsache, dass der heutige Epheserbrief als Brief an die Laodizener tituliert wird.13

 

Fazit: Die Existenz der 10-Briefe-Sammlung kann für das 2. Jahrhundert als gesichert angesehen werden. Ob sie tatsächlich auf Marcion zurückgeht, wurde in der jüngeren Forschung immer wieder in Frage gestellt. Stattdessen wird Marcion vermehrt als Tradent eines bereits bekannten denn als Urheber eines eigenen Textes verstanden.14 Dies sollte auch in der Beschreibungssprache deutlich werden. Hier erscheint es angemessen, die Bezeichnung marcionitisches Evangelium bzw. marcionitische Paulusbriefsammlung zu vermeiden, da diese Termini implizieren, Marcion tatsächlich als Schöpfer dieser Texte bzw. Textsammlungen zu verstehen.15 In der vorliegenden Arbeit wird daher vornehmlich die neutrale Bezeichnung 10-Briefe-Sammlung benutzt. Gleiches gilt für den Römerbrief innerhalb der Sammlung: Dieser wird hier zumeist als 10Rm oder aber durch Marcion bezeugter bzw. verwendeter Römerbrief bezeichnet.16 Werden zu Zwecken der Textrekonstruktion die häresiologischen Zeugnisse bemüht, so ist auch hier die Rede vom 10Rm, selbst wenn die Kirchenväter sich freilich mit einem Text auseinandersetzen, den sie selbst Marcion zuschreiben. Anders gesagt: In der vorliegenden Arbeit wird der Text, auf den sich die Häresiologen in ihren Schriften gegen Marcion beziehen – also der marcionitische Apostolos –, mit dem Text der 10-Briefe-Sammlung gleichgesetzt. Dass dieses Vorgehen methodisch legitim ist, wird in Kap. 4.2. belegt.

2.1.2.Die 14-Briefe-Sammlung

Der zweite ‚Fixpunkt‘ im Rahmen der Entstehungsgeschichte des Corpus Paulinum ist die 14-Briefe-Sammlung. Sie beinhaltet all jene 14 Texte, die auch in den heute gängigen Ausgaben des Neuen Testaments als Paulusbriefe erscheinen. Zusätzlich zu den aus der 10-Briefe-Sammlung bekannten Texten enthält sie also noch die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief.

Ihr terminus ad quem lässt sich schwerer bestimmen als der der 10-Briefe-Sammlung. Einzelne Bezugnahmen auf Paulusbriefe bzw. allgemein eine Sammlung von Paulusbriefen1 finden sich zwar bereits im zweiten Petrusbrief (2 Petr 3,15f)2, bei Polykarp von Smyrna (Polyk 3,2)3 und in den Ignatiusbriefen (IgnEph 12,2)4. Diese sind allerdings zu fragmentarisch, um daraus valide Rückschlüsse zu ziehen, dass hier bereits eine Briefsammlung im Hintergrund steht, bzw. welche konkrete Gestalt und welchen Umfang eine solche hatte.5

Tatsächlich kann das Vorhandensein der 14-Briefe-Sammlung erstmals für Irenäus wahrscheinlich gemacht werden. Dieser liefert zwar keine expliziten Hinweise über den Umfang der Sammlung (beispielsweise in Form einer konkreten Auflistung), allerdings zitiert er aus (fast) allen heute bekannten Paulusbriefen. Die meisten der Briefe bezeugt Irenäus sogar namentlich – ein deutliches Indiz dafür, dass er eine entsprechende Briefsammlung vorliegen hatte.6 Einzig der Philemonbrief findet in Irenäus’ Texten keine Erwähnung, was freilich aufgrund seines knappen Umfangs und seiner geringen theologischen Bedeutung nicht allzu überraschend anmutet. Darüber hinaus wird auch aus dem Hebräerbrief nicht explizit zitiert. Allerdings finden sich diverse Anspielungen auf dessen Inhalt, sodass in der Forschung davon ausgegangen wird, dass Irenäus davon Kenntnis besaß und er ihn als Teil des Corpus Paulinum verstand.7 Somit ist es folgerichtig, Irenäus als ersten Zeugen der 14-Briefe-Sammlung anzusehen. Der terminus ad quem kann also gegen Ende des 2. Jahrhunderts datiert werden.8

Den nächsten, klaren Beleg für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung liefert Origenes in seinen Predigten zum Buch Josua. Zwar ist der Text heute nur noch durch die lateinische Übersetzung des Rufin bezeugt, doch konnten etwaige Zweifel an der Zuverlässigkeit der Übersetzung9 zuletzt plausibel widerlegt werden.10 Das verlorene griechische Original, das der lateinischen Übersetzung zugrunde liegt, wird um 250 datiert.11 Der Text lautet wie folgt:12

Zuletzt folgt jener, der sagt: „Ich glaube aber, Gott hat uns Apostel als die letzten hingestellt“ [1 Kor 4,9] und mit dem Schall seiner vierzehn Trompeten in Gestalt seiner Briefe warf er die Mauern Jerichos bis in ihre Grundfesten nieder und alle Werke des Götzendienstes und alle Lehren der Philosophen.

 

Novissimus autem ille veniens, qui dixit: ‚Puto autem, nos Deus apostolos novissimos ostendit‘ et in quatuordecim epistolarum suarum fulminans tubis muros Hiericho et omnes idolatriae machinas et philosophorum dogmata usque ad fundamenta deiecit.

 

Orig. Hom. Jos. 7,1

Origenes predigt hier über den Fall Jerichos und vergleicht in diesem Zuge die Briefe des Paulus mit 14 Trompeten, welche die Mauern der Stadt zum Einsturz gebracht haben – ein deutlicher Rekurs auf die 14-Briefe-Sammlung. Darüber hinaus zitiert Origenes in seinen umfangreichen Werken häufig aus allen (14) Paulusbriefen. Sogar der Philemonbrief als auch der Hebräerbrief machen hier keine Ausnahme. Mit ziemlicher Sicherheit kann man also davon ausgehen, dass Origenes die 14-Briefe-Sammlung des Paulus nicht nur kannte, sondern er ihr auch eine überaus hohe Autorität zumaß.

Auch Eusebius’ Aussage in Hist. Eccl. 3,3,513 belegt in wünschenswerter Deutlichkeit die Kenntnis der 14-Briefe-Sammlung:

Die offenkundigen und eindeutigen [Briefe] des Paulus sind vierzehn.

 

τοῦ δὲ Παύλου πρόδηλοι καὶ σαφεῖς αἱ δεκατέσσαρες.

 

Euseb. Hist. Eccl. 3,3,5

Spätere Belege für die Konstanz der Sammlung liefern beispielsweise Kyrill von Jerusalem (um 350)14 und Athanasios von Alexandria (367)15. Letzterer bezeugt in seiner Kanonliste die gleiche Reihenfolge der 14 Briefe (Rm, 1/2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/2 Thess, Hebr, 1/2 Tim, Tit, Phlm), wie sie auch in den drei ältesten Vollbibeln des 4. Jahrhunderts – Codex Sinaiticus (ℵ), Codex Alexandrinus (A) und Codex Vaticanus (B) – auftaucht.16

Neben der oben angeführten Einmütigkeit der Kirchenväterzitate bzw. der Kanonlisten17 stellen letztlich die neutestamentlichen Handschriften selbst ein gewichtiges Argument für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung dar, da die übergroße Mehrheit der ältesten dieser Handschriften18 in Umfang und Reihenfolge der Paulusbriefe exakt übereinstimmen. Eine Ausnahmeerscheinung stellt in gewisser Weise P46 dar. Der Papyruskodex ist das älteste19 handschriftliche Zeugnis einer Sammlung von Paulusbriefen. Damit spielt er in jeder der unterschiedlichen Theorien zur Genese des Corpus Paulinum eine zentrale Rolle. Zwei Besonderheiten sind auffällig: das scheinbare Fehlen der Pastoralbriefe und die Stellung des Hebräerbriefes. Auf beide Phänomene soll hier kurz eingegangen werden.

Die Annahme, dass die Pastoralbriefe in P46 fehlten, gründet sich auf der Beobachtung, dass der Text des (einlagigen) Kodex bei 1 Thess 5,28 abbricht. Die letzten Seiten fehlen also. Ob diese fehlenden Seiten ausreichten, um neben 2 Thess und Phlm auch Platz für die drei Pastoralbriefe zu bieten, ist in der Forschung strittig bzw. wird letztlich offen gelassen.20 Allerdings konnte DUFF zuletzt aufzeigen, dass P46 mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich alle kanonischen Paulusbriefe beinhaltete (oder beinhalten sollte) – auch die Pastoralbriefe.21

Die zweite Besonderheit betrifft den Hebräerbrief. In den meisten bekannten Manuskripten findet er sich entweder zwischen den Gemeindebriefen und denen an Einzelpersonen (konkret dann also zwischen 2 Thess und 1 Tim)22 oder aber ganz am Ende der Sammlung (also nach Phlm).23 In P46 taucht er dagegen bereits an zweiter Position (also zwischen Rm und 1 Kor) auf – eine Stellung, die sich sonst nirgends wiederfinden lässt. Diese variierende Stellung des Hebräerbriefes24 deutet darauf hin, dass der Text gleichsam eine Sonderstellung innerhalb des Corpus Paulinum einnimmt. Denn für keinen der anderen 13 Briefe lässt sich ein ähnlicher Befund ausmachen. TROBISCH erklärt daher den Hebr als einen späteren (sekundären) Anhang.25 Unstrittig ist, dass die Authentizität des Hebräerbriefes bereits früh in Frage gestellt wurde. Dies belegen die zahlreichen patristischen Diskurse über den Hebräerbrief.26 Allerdings muss die Infragestellung der paulinischen Verfasserschaft nicht zwingend auf die Existenz einer Vorstufe der 14-Briefe-Sammlung hindeuten, die ohne den Hebr auskam.27

Fazit: Im 2. Jh. existieren also (mindestens) zwei Sammlungen von Paulusbriefen. Es sind die beiden frühesten Fixpunkte, auf die sich die Forschung mit hinreichender Sicherheit berufen kann: die 10-Briefe-Sammlung und die 14-Briefe-Sammlung.28 Einigkeit besteht darin, dass diese beiden Textsammlungen in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Unklar bleibt zunächst jedoch, wie dieses literarische Abhängigkeitsverhältnis tatsächlich aussieht. Diese Frage spielte in der bisherigen Forschungsgeschichte jedoch nur eine marginale Rolle. Denn im Kontext der Forschungen zu Marcion und seinen Texten wurde der Fokus vornehmlich auf das Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums gelegt.29 Die dabei entwickelten drei möglichen Optionen lassen sich allerdings unschwer auf die Frage nach dem literarischen Abhängigkeitsverhältnis der beiden Briefsammlungen zueinander übertragen (Übersicht 1):

A1

Die 10-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung dar.

In der Evangelienforschung ist diese Annahme als Patristic-Hypothesis bzw. (in Anlehnung an ihre wirkmächtigsten Verfechter) als Zahn/Harnack-Hypothese bekannt.30

A2

Die 14-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Erweiterung) der 10-Briefe-Sammlung dar.

Diese Option wird in der Frage nach dem redaktionellen Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums als Schwegler-Hypothese bezeichnet.31

A3

Beide Sammlungen gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, die unabhängig voneinander und in ganz unterschiedlicher Weise redaktionell bearbeitet wurde.

Die Evangelienforschung kennt diese Möglichkeit als Semler-Hypothese.32

Übersicht 1: Möglichkeiten des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen 10- und 14-Briefe-Sammlung

2.2.Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung

Die heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit liefert KLINGHARDTs ausführliche und umfangreiche Arbeit zum Evangelium innerhalb der durch Marcion bezeugten Bibelausgabe. Hinsichtlich des redaktionellen Verhältnisses zum kanonischen Lukasevangelium konnte er nachweisen, dass – entgegen der Lesart der Häresiologen – der durch Marcion bezeugte Evangelientext (Mcn) nicht als redaktionelle Verkürzung des Lukasevangeliums (Lk), sondern vielmehr Lk als eine redaktionelle Überarbeitung von Mcn zu verstehen ist. Dieses anonyme, durch Marcion bezeugte, proto-lukanische Evangelium (Mcn) stellt somit das älteste uns bekannte Evangelium dar.1HEILMANN bemerkt in diesem Zusammenhang treffend, dass diese Erkenntnis „auch die Koordinaten für die weitere Erforschung der Sammlung der paulinischen Briefe im 1. und 2. Jh.“2 verändert. Es ist nun also zu überprüfen, in welcher Weise das tatsächlich der Fall ist. Mit anderen Worten: Ist das, was für das durch Marcion bezeugte Evangelium nachgewiesen werden konnte, auch auf die Paulusbriefe übertragbar? Legen also die textlichen Differenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe nahe, dass Letztere als (vornehmlich) ergänzende Überarbeitung der Ersteren zu verstehen ist? Lässt sich möglicherweise ein übergreifendes, kohärentes redaktionelles Konzept dieser Überarbeitung plausibilisieren?

Aufgrund der Bedeutung für den Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit werden die von KLINGHARDT ausführlich dargelegten Argumente hier noch einmal kurz repetiert. Gegen die traditionelle Ansicht der Lk-Priorität gegenüber dem durch Marcion bezeugten Evangelientext sprechen demnach v. a. zwei Beobachtungen:

„die häufig beobachtete Inkohärenz der angeblichen Bearbeitung Marcions, die sich nicht zu einem erkennbaren redaktionellen Konzept fügt und […]

die zahlreichen Berührungen zwischen dem für Mcn durch die Häresiologen direkt bezeugten Text und den Varianten in den kanonischen Lk-Handschriften.“3

Nun stellt sich unweigerlich die Frage, ob die beiden Argumente KLINGHARDTs auch auf den Apostolos zutreffen.

 

Hinsichtlich der redaktionellen Inkonsistenz einer angenommenen marcionitischen Redaktionstätigkeit wurden schon vielfach Zweifel angemeldet. Bereits Tertullian räumte ein, dass sich in Marcions Text oftmals Passagen befinden, die dessen eigener Theologie eigentlich widersprechen. Die Beweisführung der Häresiologen ist ja genau darauf ausgelegt, solcherlei Inkonsistenzen zwischen Marcions Text und Marcions Theologie aufzuzeigen. Tertullian kann dafür letztlich zahlreiche Beispiele (Textstellen) anführen. Doch genau dies sollte eigentlich stutzig machen. Denn wenn man der Annahme Glauben schenkt, Marcion habe den ihm vorliegenden Text aus theologischen Gründen bearbeitet, so sollte diese Art der Beweisführung eigentlich scheitern. Falls nicht, müsste man Marcions Textrevision zumindest als sehr oberflächlich und mangelhaft ausgeführt verstehen.4 Auf diese Aporie weist Tertullian auch selbst hin, erklärt das Phänomen aber damit, dass Marcion absichtlich einige Textpassagen unberührt ließ, die eigentlich seinen theologischen Motiven entgegenstehen. Demnach wollte Marcion so gleichsam Spuren seiner eigenen Textrevision verwischen5 – zu Recht bezeichnet KLINGHARDT dies als „höchst gewundene Erklärung“, die wenig plausibel erscheint. Zuletzt konnte BEDUHN ausführlich darlegen, dass die Annahme einer aus theologischen Gründen motivierten Redaktionstätigkeit Marcions nicht aufrecht erhalten werden kann. Die inhaltlichen Motive der angeblich gestrichenen bzw. verbesserten Textpassagen lassen sich, wie oben angedeutet, an vielen Stellen des für Marcions Apostolos bezeugten Textes (also für den Text, den Marcion mutmaßlich nicht veränderte) trotzdem nachweisen.6 Beschuldigt man Marcion also der Streichung und Verbesserung der seiner Theologie zuwiderlaufenden Textstellen, so wäre er hierbei überaus inkonsequent vorgegangen, ja hätte die Texte teilweise sogar entgegen seinen eigentlichen inhaltlichen Interessen verändert.7 Daher ist es unplausibel, die 10-Briefe-Sammlung schlicht als eine aus theologischen Gründen motivierte Verkürzung der 14-Briefe-Sammlung anzusehen.

Das zweite Phänomen bestätigt dies nicht nur, sondern trägt lt. KLINGHARDT noch größeres argumentatives Gewicht.8 Daher wird das Argument hier besonders ausführlich dargelegt und erläutert. Die zentrale Beobachtung ist, dass zahlreiche,9 unter der Vorannahme einer marcionitischen Redaktion bisher als marcionitische Textänderungen identifizierte, genealogisch signifikante10 Lesarten auch in anderen Handschriften der neutestamentlichen Textüberlieferung auftauchen, insbesondere denen, die ehemals unter dem Kürzel „westlicher Text“ subsumiert wurden. Hierbei handelt es sich v. a. um die altlateinische und altsyrische Textüberlieferung, die hier einen reichen Fundus bietet.11 Allerdings lässt sich eine Vielzahl „marcionitischer“ Varianten erstaunlicherweise auch in zahlreichen griechischen Unzialhandschriften,12 aber auch diversen Minuskeln finden. Man muss also konstatieren: analog zum durch Marcion bezeugten Evangelientext hat auch der Text des marcionitischen Apostolos zahlreiche Spuren in allen Bereichen der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen. Dabei lässt sich keine regionale Zuordnung plausibilisieren.

Diese Beobachtung ist insofern verwunderlich, als zu fragen ist, wie ein von so vielen Kirchenvätern als „Ketzerwerk“ gebrandmarkter und „verstümmelter“ Text einen derart starken Einfluss auf die „reguläre“ handschriftliche Überlieferung haben konnte. HARNACKs Lösung für dieses Phänomen lautete, dass Marcion einen westlichen Text als Vorlage hatte (den er dann redaktionell bearbeitete) und die Lesarten, die durch seine Redaktionstätigkeit verändert wurden, wiederum in jene Handschriften Einzug gehalten haben. Er rechnet also mit einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen dem westlichen und dem marcionitischen Text.13 Schon ZAHN hatte diese Annahme als „undenkbar“14 eingeschätzt, KLINGHARDT bezeichnet sie sogar als „halsbrecherisch“15. Die meines Erachtens weitaus plausiblere Antwort muss lauten: Es handelt sich gar nicht um einen Ketzertext, der die neutestamentliche Überlieferung so stark beeinflusst hat. Die 10-Briefe-Sammlung ist also nicht das Werk eines Häretikers. Sie ist keine Verkürzung bzw. Verstümmelung der 14-Briefe-Sammlung, sondern eine ältere Textsammlung der Paulusbriefe, die spätestens ab der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Umlauf war und die handschriftliche Textüberlieferung der Paulusbriefe maßgeblich beeinflusste (A2).16

Diese Arbeitshypothese fungiert als heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit. In der Folge wird angestrebt, diese Hypothese zu erhärten. Das methodische Vorgehen verlangt einen Rekurs auf die forschungsgeschichtlich einflussreichste Arbeit zum marcionitischen Apostolos der jüngeren Zeit, die von Ulrich SCHMID aus dem Jahr 1995 stammt. Seine Textrekonstruktion hat sowohl methodisch als auch hinsichtlich des Ergebnisses neue Maßstäbe etabliert. SCHMIDs methodische Prämissen müssen hier kurz erläutert werden, da sie auch die vorliegende Studie stark beeinflusst haben.

So legt SCHMID in seiner Arbeit erstens besonderen Wert auf die Analyse der Zitiergewohnheiten der Kirchenväter, die als Quelle für die Rekonstruktion des Apostolos dienen (in erster Linie also Tertullian und Epiphanius).17 Zweitens rechnet er sehr viel stärker (als z.B. HARNACK und ZAHN) mit mechanischen Fehlern im Überlieferungsprozess. Zu Recht geht er also davon aus, dass für den Text des Apostolos die gleichen textkritischen Phänomene18 auftreten können, die auch im Rahmen der sonstigen neutestamentlichen Textüberlieferung belegt sind. Lassen sich Varianten anhand gängiger Abschreibephänomene erklären, braucht Marcion nicht mehr als Urheber der Lesart herhalten. Und drittens legt er besonderen Wert darauf, scheinbar spezifisch marcionitische Lesarten in den neutestamentlichen Handschriften bzw. der nicht-marcionitischen Textüberlieferung aufzuspüren. Finden sich nämlich solcherlei Belege bzw. Spuren davon, so muss, lt. SCHMID, die von den Häresiologen behauptete marcionitische Herkunft der Lesart konsequent hinterfragt bzw. ernsthaft angezweifelt werden, da Marcion sie schlicht aus seiner Vorlage übernommen haben könnte.19

In dieser methodischen Herangehensweise folgt SCHMID John CLABEAUX. Dieser beschäftigte sich bereits vor SCHMID mit dem Text des marcionitischen Apostolos und diente ihm, nicht nur hinsichtlich der Methodik, als wichtiger Wegbereiter. So betont CLABEAUX als erster die Wichtigkeit der Frage, inwieweit eine vormals unhinterfragt (allein aufgrund der häresiologischen Bezeugung) als marcionitisch identifizierte Lesart auch in anderen Bereichen der handschriftlichen Überlieferung nachweisbar ist.20 Er bezeichnet dies als criterion of attestation elsewhere und erklärt prägnant:

„The existence of the reading in other authors independent of the author in question increases the likelihood that the variant was a part of the text he cited and not his own creation.“21

Die untersuchte Variante wäre in einem solchen Fall also nicht durch Marcions Redaktionstätigkeit entstanden, sondern sie existierte schlichtweg schon, nämlich in der 10-Briefe-Sammlung. Die drei oben erläuterten Kriterien, die also maßgeblich sind für die Frage, ob eine Lesart tatsächlich von Marcion erzeugt oder doch nur durch ihn bezeugt ist, werden – in Anlehnung an CLABEAUX – im weiteren Verlauf wie folgt bezeichnet:

Kriterium 1:

citation habits

Kriterium 2:

failure in tradition

Kriterium 3:

attestation elsewhere

Wie bereits oben angedeutet, ist es demnach geboten, eine neutrale Bearbeitungssprache zu verwenden und terminologisch sauber zu differenzieren zwischen durch Marcion bezeugte und durch Marcion erzeugte Varianten. Für die letztere Kategorie kommen demnach grundsätzlich nur noch diejenigen Textvarianten in Frage, die durch alle drei Raster fallen. Ihr Zustandekommen darf sich also weder aufgrund der Zitiergewohnheit ihres Zeugen (also des bzw. der jeweiligen Häresiologen) noch aufgrund eines Abschreibefehlers im Überlieferungsprozess erklären lassen. Zusätzlich dürfen sie in keinem anderen neutestamentlichen Manuskript auftauchen bzw. Spuren hinterlassen haben. Demnach können durch Marcion erzeugte Varianten nur aus dem Pool der marcionitischen Singulärlesarten kommen, also all diejenigen, die sich nirgends innerhalb der sonstigen handschriftlichen Überlieferung nachweisen lassen.

Unter Anwendung der beschriebenen methodischen Herangehensweise kam SCHMID zu dem Ergebnis, „daß der Anteil Marcions am Zustandekommen seines Textes sehr viel geringer ist, als bislang angenommen wurde.“22 Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien bei der Überprüfung der ursprünglich als „marcionitisch“ angenommenen Varianten sind offensichtlich deutlich weniger Varianten übrig geblieben, als dies in allen bisherigen Rekonstruktionsversuchen des Apostolos der Fall war. Somit entlastete SCHMID Marcion an vielen Stellen zwar vom häresiologischen Textverstümmelungsvorwurf. Trotzdem hielt er an seiner Grundannahme fest, dass der marcionitische Paulustext eine redaktionelle Bearbeitung darstellt.23

Tatsächlich beschränkt sich Marcions redaktioneller Beitrag lt. SCHMID nur noch auf einige wenige, zwar relativ umfangreiche, aber präzise eingrenzbare Textabschnitte, die nach der Anwendung der drei oben genannten Kriterien übrig bleiben.24 Diese umfangreichen Textdifferenzen – hier ist es nicht mehr sinnvoll, von textkritischen Varianten zu sprechen – treten v. a. im Römerbrief auf. Nach SCHMIDs Rekonstruktion des Apostolos handelt es sich um Rm 2,3–11, Rm 4 und Rm 9–11, die in dem von Marcion bezeugten Text des Römerbriefes fehlen.25 Ein angenommener Wegfall dieser jeweils thematisch in sich zusammenhängenden Textabschnitte lässt sich weder mit Hilfe der Zitiergewohnheiten der Zeugen, noch anhand gängiger textkritischer Phänomene26 plausibilisieren. Da (außer bei Marcion) auch in der bisher untersuchten handschriftlichen Überlieferung des Römerbriefes nichts auf ein Fehlen der Abschnitte hinweist,27 führt auch Kriterium 3 (attestation elsewhere) hier nicht zum Ausschluss. Für SCHMID ergibt sich folgerichtig „kein Grund […] anzunehmen, Marcion sei nicht der Urheber dieser Textänderungen.“28 Somit fällt für ihn die der Schwegler-Hypothese entsprechende Option A2 weg, die von ihm gar nicht diskutiert wird. Da SCHMID aber gleichzeitig die Beobachtung des starken Einflusses des Textes des marcionitischen Apostolos auf die reguläre Überlieferung ernst nimmt, kommt für ihn auch Option A1 nicht in Frage. Folglich ist er gleichsam gezwungen, sich mit Option A3 zu behelfen und eine vormarcionitische Paulusbriefedition zu postulieren, die einerseits Einfluss auf die reguläre Überlieferung genommen hat, und die andererseits aber auch die Vorlage für Marcions Textrevision darstellt.29

Der gängige Argumentationsstrang, der davon ausgeht, Marcion als Textbearbeiter zu verstehen (dem also auch SCHMID teilweise folgt), stellt sich schematisch wie folgt dar:

Übersicht 2:

14Pls → 10Pls

Die vorliegende Arbeit wird einen methodischen Weg aufzeigen, der diese Grundannahme einer marcionitischen Redaktion des Römerbrieftextes (und damit auch der übrigen Paulusbriefe) in Frage stellt und stattdessen deutlich macht, dass die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung die plausiblere Option darstellt.30

2.3.Methodisches Vorgehen

Aus den beschriebenen Überlegungen ergibt sich folgende methodische Herangehensweise: Untersucht werden die drei umfangreichsten, zusammenhängenden Textdifferenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung (bezeugt durch Marcions Apostolos) und der 14-Briefe-Sammlung innerhalb des Römerbriefes.1 Dabei handelt es sich um Rm 4, Rm 9–11 und Rm 15–16. Letzterer Textabschnitt spielt hier deswegen eine Rolle, da das damit verbundene Problem des Römerbriefschlusses unter der heuristischen Grundannahme der vorliegenden Arbeit eine neue Lösung verspricht. Darüber hinaus ist es das zentrale textkritische Problem des Römerbriefes und darf daher an dieser Stelle nicht ignoriert werden. Dagegen wird auf die Untersuchung von Rm 2,3–11 verzichtet, da die Evidenz, auf der SCHMID sein Urteil gründet, dass die besagten Verse im von Marcion verwendeten Römerbrief fehlten, nach meinem Dafürhalten nicht plausibel genug sind.2

Im Detail gestaltet sich die Vorgehensweise wie folgt: Zunächst wird der Text der 10-Briefe-Sammung für den untersuchten Textabschnitt genau erfasst. Dazu ist es geboten, den Text des Römerbriefes in Marcions Apostolos (10Rm) anhand der häresiologischen Bezeugung zu rekonstruieren, genau genommen die Differenz zwischen der 10- und der 14-Briefe-Sammlung so genau wie möglich zu erfassen. Anschließend ist anhand der genannten Kriterien zu prüfen, ob es sich tatsächlich (wie immer behauptet) um marcionitische Sonderlesarten (also durch Marcion erzeugte Varianten) handelt oder ob sie doch nur als durch Marcion bezeugt gelten dürfen. In diesem Fall müsste man die Entstehung der jeweiligen Lesart also auf mindestens eines der bekannten Kriterien zurückführen können. Das Zustandekommen der Lesart wäre also (1) aufgrund des Zitierverhaltens des jeweiligen Häresiologen zu erklären, oder geht (2) auf einen üblichen Fehler im Überlieferungsprozess zurück oder ist (3) auch anderweitig bezeugt.

Da die Entstehung der besagten Textdifferenzen zwischen dem durch Marcion bezeugten Römerbrief und dem katholischen Text (also zwischen 10Rm und 14Rm) aufgrund ihres großen Umfangs kaum durch die Zitiergewohnheiten der Häresiologen (citation habits) zu erklären sind, bleibt das zweite (failures in tradition) und v. a. das dritte methodische Kriterium (attestation elsewhere) zu überprüfen. Dabei trägt Letzteres zweifelsohne das meiste argumentative Gewicht.3 Es wird also in erster Linie darum gehen, zu überprüfen, ob nicht auch andere Teile der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments das Fehlen von Rm 4 bzw. Rm 9–11 nahe legen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so würden auch die letzten Textabschnitte entfallen, die bisher als Beleg der Annahme einer theologisch motivierten marcionitischen Textrevision angeführt wurden.4 Folglich wäre es dann auch absolut legitim, ja sogar methodisch geboten, von der Annahme einer redaktionellen Bearbeitung Marcions und damit auch der Posteriorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung (A1) abzusehen.5 Stattdessen müsste man das redaktionelle Gefälle zwischen den beiden Briefsammlungen umkehren (A2) und prüfen, ob so die vielschichtigen textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Phänomene nicht besser erklärt werden können, als es die herkömmliche Hypothese zu tun im Stande ist.

SCHMIDs Annahme einer vormarcionitischen Paulusbriefedition, die sowohl von Marcion redaktionell bearbeitet wurde, die gleichzeitig aber auch die Überlieferung der 14-Briefe-Sammlung beeinflusst hat (A3), ist nur dann sinnvollerweise aufrecht zu erhalten, sollten Marcion tatsächlich redaktionelle Eingriffe nachgewiesen werden können. Konkret also nur dann, wenn es sich bei den „größeren Auslassungen“ tatsächlich um Streichungen handelt, für die Marcion verantwortlich zu machen ist, die also gleichsam durch alle drei beschriebenen methodischen Raster fallen.

Die vorliegende Studie liefert somit einen indirekten Beweis, d.h. einen Beweis durch Kontraposition der herkömmlichen Annahme, Marcion als Textfälscher zu verstehen. Im Schema stellt sich der Argumentationsgang wie folgt dar:

Übersicht 3:

10Pls → 14Pls

In diesem Fall handelt es sich bei den Textdifferenzen zwischen den beiden Editionen also nicht um Streichungen, sondern um Interpolationen. Den Ausgangspunkt der Überlieferung stellt demnach die 10-Briefe-Sammlung dar, wie sie durch Marcions Apostolos bezeugt ist. D.h. hier geschieht methodisch also eine Gleichsetzung: Die Hinweise, die die Häresiologen für die Textgestalt von Marcions Apostolos liefern, werden ebenso für die Texte der 10-Briefe-Sammlung geltend gemacht. Dies ist dann methodisch statthaft, insofern aus den Quellen nichts Gegenteiliges herauszulesen ist bzw. die Aussagen der Häresiologen mit Textbesonderheiten korrelieren, die sich wahrscheinlich als Überreste der 10-Briefe-Sammlung erklären lassen. Sollte dies für eine große Anzahl bisher als marcionitisch gelabelter Lesarten bzw. Textmerkmale der Fall sein, ist es für die vorliegende Studie legitim, ja sogar geboten, den marcionitischen Römerbrief (McnRm) mit dem Römerbrief der 10-Briefe-Sammlung (10Rm) gleichzusetzen.

Um bisher unentdeckte Spuren der marcionitischen Paulusbriefausgabe in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments zu finden, wird bewusst nicht in erster Linie nur auf die griechische Handschriftentradition zurückgegriffen. Stattdessen werden Bereiche der Textüberlieferung betrachtet, die bisher nahezu ignoriert wurden. So wird die altlateinische Überlieferung eine große Rolle spielen.6 Konkret sind es v. a. die Paratexte, die ein umfangreiches Reservoir darstellen, das bislang in dieser Hinsicht kaum bzw. gar nicht ausgewertet wurde, da sie in den Apparaten der kritischen Textausgaben aus Gründen der methodischen Beschränkung gar nicht auftauchen. Zunächst ist deshalb zu klären, was überhaupt Paratexte sind und welche konkreten Paratexte für die textgeschichtliche Erforschung des Römerbriefes in der vorliegenden Studie von Relevanz sind.

III. Paratextuelle Beigaben als textkritisch relevante Zeugnisse

Paratexte sind ein zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Dass sie für die Fragestellung so bedeutsam werden konnten, liegt grundsätzlich darin begründet, dass Paratexte Textzustände repräsentieren können, die sehr viel älter sind als die Handschriften, in denen sie heute zu finden sind. Weil sie so viel älter sind, erlauben sie einen Blick in die frühe HSS-Überlieferung, deren Analyse unverzichtbar ist, will man das Verhältnis der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung bestimmen. Zunächst allerdings ist zu klären, was überhaupt ein Paratext ist.

3.1.Begriffsklärung – was sind Paratexte?

Der Begriff Paratext geht auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard GENETTE zurück. GENETTE bezeichnet damit all „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“1 Konkret nennt und analysiert er unter diesem Oberbegriff „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen, usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti, Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher auto- oder allographer Signale.“2 Dabei beschäftigte sich GENETTE vornehmlich (allerdings nicht ausschließlich) mit der Literatur der Moderne. Für die antiken und mittelalterlichen Texte konstatiert er, dass diese „häufig beinahe im Rohzustand, in Form von Handschriften ohne jegliche Präsentationsformen, zirkulierten.“3

Doch hier irrt der moderne Literaturwissenschaftler. Denn sowohl die antike Literatur im Allgemeinen4 als auch die biblische Texttradition im Speziellen bieten überaus reichhaltiges paratextuelles Material. Das aktuelle Forschungsprojekt „Paratexts of the Bible“ (ParaTexBib) der Universität Basel hat sich die Erfassung und Untersuchung sämtlicher paratextueller Elemente der griechischen Bibelhandschriften zur Aufgabe gemacht und in diesem Zuge festgestellt, dass fast alle der zahlreichen Handschriften und Handschriftenfragmente der Bibel einiges mehr als nur den eigentlichen Text beinhalten. Entgegen der Einschätzung GENETTEs existiert darin eine Fülle von zusätzlichem Material wie Einleitungen, Vorworte, Gedichte, Gebete, Illustrationen, aber auch strukturelle Elemente wie z.B. Kapitelverzeichnisse.5

Die Ergebnisse des Projekts unter der Leitung von Martin WALLRAFF und Patrick ANDRIST versprechen wichtige Einsichten und schärfen den Blick auf das Überlieferungsgeschehen der biblischen Texte als einen komplexen, kulturellen Prozess.6 Zu Recht weisen die Projektleiter auf ein Forschungsdesiderat hin, denn eine systematische Erfassung und Aufarbeitung der zahlreichen und diversen paratextuellen Elemente seitens der Biblischen Theologie steht bisher noch immer aus. Insbesondere die vom INTF beeinflusste Textkritik hätte demnach alles außerhalb des (eigentlichen) biblischen Textes bisher größtenteils als irrelevant verstanden, da es nicht dazu beitrage, den entfernten Urtext zu rekonstruieren.7

Die vorliegende Arbeit versteht sich u. a. auch als Beitrag, diese Lücke zu füllen bzw. dieses Missverständnis zu entkräften. So soll deutlich gemacht werden, dass die in der Folge untersuchten Paratexte gleichsam als Beschreibungen von Handschriften verstanden werden müssen. Sie liefern wichtige Informationen, die auf den Umfang und den Inhalt der ihnen zugrunde liegenden HSS schließen lassen. Sie sind also textgeschichtlich alles andere als irrelevant. Dass diese Einsicht nicht gänzlich neu ist, zeigt ein Blick auf die neutestamentliche Forschung des 19. Jahrhunderts. So bewertet der französische Theologe Samuel BERGER die Bedeutung der paratextuellen Beigaben (genauer gesagt der Kapitellisten) hinsichtlich der Erforschung der Textgeschichte der biblischen Bücher überaus hoch, ja sogar als unerlässlich.8

Im vergangenen Jahrhundert allerdings scheint diese Einsicht in Vergessenheit geraten zu sein. Möglicherweise trug der immense Zuwachs an auswertbaren biblischen Handschriften dazu bei, dass sich das Forschungsinteresse mehrheitlich auf die Texte selbst konzentrierte. Zusätzliche Textelemente werden als bloßes Beiwerk verstanden.9 Erst in der jüngeren Zeit scheint hier wieder ein Paradigmenwechsel wahrnehmbar: Die Etablierung des o.g. Forschungsprojektes (ParaTexBib), die Neuauflage von Donatiende BRUYNEs wegweisender Ausgabe der lateinischen Kapitellisten,10 aber auch einzelne Studien zu den paratextuellen Beigaben der biblischen Handschriften (z.B. SCHERBENSKE) – diese Aufzählung will nur einige Beispiele nennen, die allerdings verdeutlichen, dass das Interesse an den Paratexten wieder deutlich ansteigt. Nun ist es an der Zeit, dass auch die gegenwärtige textkritische Forschung dies wahrnimmt. Aus diesem Grund sollen die Paratexte zum Römerbrief für die Lösung der schwerwiegenden textkritischen Probleme nutzbar gemacht werden.

Neben der griechischen Handschriftentradition (auf welcher der ausschließliche Fokus von ParaTexBib liegt) bietet die lateinische Überlieferung des Neuen Testaments sogar noch einen reichhaltigeren Fundus an paratextuellen Beigaben zu den tatsächlichen Texten.11 Für die aktuelle Studie sind v. a. Prolog- und Kapitelreihen in den Fokus der Untersuchung gerückt. Grundsätzlich sind die beiden Elemente deswegen interessant, weil sie wichtige Hinweise auf die Existenz sowie das Aussehen von Texten, Textformen bzw. Textcorpora liefern, für die sich – wie noch gezeigt wird – ein sehr früher Ursprung nahelegt. Man kann davon ausgehen, dass die Überlieferung der paratextuellen Beigaben in vielen Fällen gänzlich losgelöst von ihren eigentlichen Bezugstexten geschieht, d.h. die Paratexte sind oftmals zeitlich und geographisch „weit gewandert“12. So taucht eine Vielzahl von ihnen heute nur noch in Vulgatahandschriften auf, weist tatsächlich aber auf altlateinische Vorlagen, also prä-Vulgata-HSS zurück. Dies wird in den nachfolgenden Ausführungen eingehend dargelegt. Unter bestimmten Bedingungen können Paratexte also Textzustände überliefern, die um einiges älter sind als die Handschriften, in denen sie auftauchen. Moderne textkritische Studien sollten daher nicht darauf verzichten, die paratextuellen Beigaben in ihre Untersuchungen mit einzubeziehen.13Auch HOUGHTON weist ausdrücklich darauf hin, dass z.B. die Auswertung der Kapitelverzeichnisse unumgänglich für die Erforschung der Geschichte der biblischen Texte bzw. der Textcorpora ist.14

3.2.Die altlateinischen Kapitelverzeichnisse

Während die Prologe an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit noch ausführlicher thematisiert werden,1 sei hier zunächst der Fokus auf die Kapitelverzeichnisse gelegt. Diese treten in der griechischen Handschriftentradition als κεφάλαια bzw. τίτλοι auf.2 In den lateinischen Manuskripten werden sie zumeist als tituli, breves bzw. capitula bezeichnet.3 Die ältesten Kapitelverzeichnisse gehen auf das dritte Jahrhundert zurück.4 Tatsächlich wird die vorliegende Studie den Nachweis erbringen, dass einige dieser Kapitellisten sogar auf Texteditionen hinweisen, die noch um einiges älter sind.5

Die Entstehung eines solchen Kapitelverzeichnisses stellt sich wie folgt dar: Zunächst wird der Bezugstext in einzelne Sinnabschnitte (Sektionen) gegliedert, deren Inhalt knapp zusammengefasst wird.6 Diese Zusammenfassungen werden durchnummeriert und in einer Liste zusammengestellt. Die Nummern der Sektionen werden dann an den betreffenden Stellen in den Bezugstext – in der Regel marginal – eingefügt. Die kompletten Kapitelreihen tauchen in den lateinischen Kodizes des Corpus Paulinum meist zwischen den Prologen und dem tatsächlichen Brieftext auf.7 In einigen Fällen orientieren sich die altlateinischen breves stark an griechischen Bibelhandschriften, „deren τίτλοι manchmal nur übersetzt wurden.“8

Der übergeordnete Zweck dieser Kapitelverzeichnisse ist es, dem Leser eine schnelle Orientierung über den gesamten Text zu ermöglichen, gleichsam eine Gliederung bzw. eine Art Inhaltsverzeichnis zu liefern. Mit Hilfe einer dem Text vorangestellten Kapitelliste kann der Leser des Kodex deutlich schneller und gezielter auf den von ihm gesuchten Abschnitt bzw. die konkrete Textstelle zugreifen.9