Über Geister - Syba Sukkub - E-Book

Über Geister E-Book

Syba Sukkub

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Beschreibung

Sollte man sich denn mit Geistern befassen, in diesem Jahrhundert, im christlich geprägten und ach-so-aufgeklärten Abendland? Man sollte. Tatsächlich geht es in diesem Buch nur um Geister, die uns geradezu umzingeln, mit denen auch so ziemlich jeder in Kontakt kommt. Jeder, auch ahnungslose Uneingeweihte, die das "Numinose" für eine Hautkrankheit halten mögen. Die meisten Geister sind tatsächlich äußerst präsent, sie sind uns aber einfach viel zu selbstverständlich, um wahrgenommen zu werden. Syba Sukkub, bekennende Animistin und Stadthexe, schreibt über Veränderungen in der metaphysischen Ökologie. Die Heinzelmännchen scheinen ausgestorben, dagegen besiedeln Fetische jeden Haushalt. Die Grimoires sind eindeutig nicht auf dem neusten Stand. Dabei ist Magie inzwischen Mainstream. Der Neopaganismus boomt, die Generation Witchcraft ist da, die Hogwarts-Absolventen sind in der Wirtschaft angekommen. An jeder Ecke wird Ayahuasca verkauft und inzwischen gibt es vermutlich mehr Schamanen als Steuerberater. Und wo findet man Geister? Im Wald, klar, aber auch auf der Straße, in der Stadt, in der eigenen Wohnung, versteckt im Schrank, vielleicht sogar in der eigenen Brieftasche. Manche der Geister sind unsichtbar vor aller Augen, sind Meister der Täuschung, andere sind jederzeit zu einer Kontaktaufnahme bereit. Einige haben sogar ein extra Schild, auf dem "Geist" draufsteht. Tiergeister sind immer noch um uns, sie sind sogar viel näher als gedacht. Ortsgeister und Egregores wirken auf uns. Es gibt hier, um uns herum, phänomenale Phantome, Götzen, Götter und vielleicht auch – Dämonen. Dieses Buch enthält Informatives über eine Auswahl an Geistern, die sich geradezu aufgedrängen: Krähe, Schmetterling, Einhorn, Berlin, Motorrad, Alkohol, Geld, Zeitgeist und Wolf. Wie kann man ihnen begegnen? Man kann sie suchen, sie rufen, ihnen huldigen Auf professioneller Ebene tauscht man mit ihnen Geschenke aus, auch Informationen und Dienstleistungen. Man macht den einen oder anderen Deal. Schließlich haben die Geister viel zu bieten. Natürlich gibt es noch so viel mehr zu erforschen. Syba Sukkub beansprucht weder Vollständigkeit noch Deutungshoheit, sondern nutzt ihre übersinnlosen Fähigkeiten, um mittels einer magisch-holistischen Methode eine Materialsammlung anzubieten, die Lust auf diese Themen und Perspektiven macht. Und natürlich auf die magische Praxis, tatsächlich Kontakt aufzunehmen zu Geistern, die Evokation. Vielleicht mal eine Tierverwandlung wagen und gelegentlich Besessenheit riskieren? Nur zu!

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Sammlungen



Inhaltsverzeichnis
Rein in die schwarze Kammer
Krähe
Schmetterling
Einhorn
B**lin
Exkurs: Bärenstädte
Motorrad
Al-Kohol
Exkurs: Fetisch
Mammon
Zeitgeist
Wolf
Raus aus der schwarzen Kammer
Über die Autorin
Hat dir das Buch gefallen?
Quellen und weiterführende Literatur
Zum Exkurs Fetisch
Zu Raus aus der Schwarzen Kammer
Impressum
Anmerkungen

Ich bedanke mich herzlich bei

Meinem Lektor Marek Firley. Das hat Spaß gemacht! Großartige Arbeit!

Jetzt hoffe ich, ich kann dich demnächst mit Gold aufwiegen.

Meinem Mann für technischen Beistand und rückhaltlose emotionale Unterstützung.

Bei all denen, die meine Geisterforschung von Anfang an unterstützt haben,

James Vermont, Sinmara Mayfair und all den wunderbaren Leuten auf Facebook.

Den Göttern und Geistern, die mir soweit gewogen waren und sind.

Rein in die schwarze Kammer

Ein Buch über Geister. Aber Geister gibt es gar nicht. Oder?

Heute denken die meisten bei »Geist« vor allem an Spuk. Unheimliche Erscheinungen. Seltsame, unerklärliche Geräusche, Gefühle von Angst und Erschaudern ohne erkennbare Ursache. Spuk kennt man rund um die Welt in den verschiedensten Kulturen.

Aber wir leben schließlich in einem aufgeklärten, wissenschaftlich orientierten Zeitalter. Die Experten für Parapsychologie meinen, dass sich etwa 90 Prozent der Fälle von Spuk durch technische Störungen oder Fehlinterpretationen erklären lassen. Die restlichen zehn Prozent, so heißt es, seien auf schwerwiegende psychische Probleme oder starken Stress zurückzuführen. Unter Stress würden Menschen eine »rege Phantasie« entwickeln. Falls also irgendwo ein »Geist« sein sollte, dann als Symptom einer Geisteskrankheit.

Das ist schon ein bisschen widersprüchlich, oder? Für eine Geisteskrankheit muss man doch zumindest erstmal einen Geist haben. Die Existenz des menschlichen Geistes wird interessanterweise eher in individuellen Fällen in Zweifel gezogen.

Was ist denn überhaupt ein Geist? – Schon rutscht uns dieses ätherische Objekt unserer Betrachtung durch die geistigen Finger. Fragen wir dazu die Stimme des Konsensus, indem wir Synonyme aus dem Netz fischen:

Verstand, Bewusstsein, Vernunft, Intellekt, Denkfähigkeit, Denkvermögen, Geisteskraft, Geistesstärke, Begriffsvermögen, Auffassungsgabe, Klugheit, Esprit, Witz, Scharfsinn, Verstandeskraft; Hirn, Köpfchen, Grütze, Grips, Begabung, Genie, Genius, Genialität, Ideenreichtum, Talent, Auserwähltheit, Begnadung, Einfallsreichtum, Geistesgröße, Kreativität, Produktivität, Schöpfergeist, Schöpfertum, Fähigkeit, Koryphäe, Kapazität, Persönlichkeit, Bewusstsein, inneres Gefühl, Ich, Empfindung, Seele, Sinn, Gesinnung, geistige Haltung, Einstellung, Grundhaltung, Denkweise, Denkart, Wahn, Vision, Einbildung, Idee, Lebensgeist, Lebenskraft, Atem, göttlicher Odem, Heiliger Geist, Totengeist, Verstorbener, Gespenst, Spuk, Spukgestalt, Phänomen, Phantom, Erscheinung, körperloses Wesen, Poltergeist.

»Geist«, sagt mir die kollektive Intelligenz des Internets, »ist ein aus historischen Gründen uneinheitlich verwendeter Begriff der Philosophie, Theologie, Psychologie und Alltagssprache.«Der Begriff »Geist« ist also ein Kessel Buntes. Irgendwo zwischen dem Spuk und dem Heiligen Geist steht der Verstand, mal inklusive der Seele, mal ihr entgegengesetzt. Irgendwas im Spektrum von Genie bis Wahnsinn, irgendwo jenseits von Leben und Tod. Während schon Geist ein Konstrukt ist, das wir selber nicht verstehen, sieht es mit Seele oder Leben auch nicht besser aus. Wir benutzen das Wort »beseelt« im Sinne von »lebendig«. Was aber nach der herrschenden Vorstellung lebendig ist, hat deshalb noch lange nicht Seele oder Geist. Oder doch?

Was bedeutet schon Leben? Wir wissen es nicht so genau. Die Wissenschaft sagt: Wenn es einen Stoffwechsel hat, dann lebt es. Demnach wäre auch eine Kerzenflamme lebendig. Aber da ist noch eine zweite Bedingung: die Weitergabe genetischer Information. Demnach bin ich nach strenger Auslegung dieser Definition nicht lebendig. Und habe dementsprechend auch keine Seele – oder was?

Das Verhältnis von Körper und Geist oder Leib und Seele oder was auch immer ist ebenfalls nicht klar. Das scheinen zwei sehr verschiedene Sachen zu sein, jedenfalls wollen die beiden meistens nichts miteinander zu tun haben. Außer vielleicht beim Essen. Descartes hatte noch die Vorstellung von einem Fluidum, das in Kanälen durch den Körper fließt, und von Lebensgeistern (im Plural!), die als Boten der Seele Kontakt zur Materie des Körpers herstellen.

Was, wenn die Seele auch kein homogenes Dings ist, sondern aus Schichten, verschiedenen Organen oder Instanzen besteht? Haben wir vielleicht nicht eine, sondern mehrere Seelen?

Dazu der Schamane Richard Chao Eagan:

»In spirituellen Konzepten gibt es auch mehr oder weniger große Unterschiede, beispielsweise was die Frage angeht, ob die Seele ein kompaktes Element, sozusagen ein Einzelstück, darstellt oder ob sie aus verschiedenen Fragmenten besteht oder gar ob ein Mensch mehrere Seelen hat. Überhaupt ist beispielsweise die Auffassung einer unitären Einzelseele außerhalb Europas eher selten, ein Gedanke, der wiederum den meisten Europäern fremd ist.«

Wir kennen das dreiteilige Modell der Seele von Freud mit dem »Ich«, dem »Es« und dem »Über-Ich«. In der griechischen Antike wurde differenziert nach »nous« (νοῦς – Intellekt), »psyche« (ψυχή – Seele), »thymos« (θυμός – Gemüt), »logos« (λόγος – Vernunft) oder »pneuma« (πνεῦμα – Atem).

Im Alten Ägypten hatten die Menschen noch mehr Aspekte der Persönlichkeit zu versorgen: den »Ka« als soziales Ich, die Würde; den »Ba«, ein inneres Ich, das auf Reisen gehen kann; die Herzseele »Ib«, die nach dem Tod gewogen wird; die Leibseele »Chet«; den lebendigen Schatten »Schut«; »Sia«, den göttlichen Funken, und »Ren«, die Seele des Namens.

Für viele Christen sind Geister reiner Aberglaube. Außer dem Heiligen Geist natürlich. Sind Engel eigentlich Geister? Sind Teufel Geister? Dämonen sind auf jeden Fall Geister.

Als Mensch bin ich nach christlicher Ansicht beseelt. Außer ich bin Heide. Dann wieder nicht. Und bei Frauen war Mann sich anscheinend lange überhaupt nicht sicher, weder was die Seele noch was den Geist angeht. Demnach sind Menschen (im Zweifelsfall nur die Männer) also beseelt; Tiere, Pflanzen, der ganze Rest eben nicht.

Gelegentlich werden Kunstwerke als »beseelt« bezeichnet. Überhaupt werden Gegenstände recht häufig gezielt beseelt oder mit einem Geist versehen, z. B. wenn einer Buddha-Statue die Augen aufgemalt werden. Zur Beseelung von Gegenständen gibt es die unterschiedlichsten Praktiken, aus dem Voodoo, der Chaosmagie oder dem modernen Marketing.

Einfacher ist das alles wohl für die sogenannten Animisten. Für sie ist das Universum und alles darin beseelt. Aber diese Sichtweise gilt immer noch als primitiv, kindlich, egozentrisch. Ihre Anhänger sind angeblich nicht fähig, ihre psychische Identität von der Außenwelt zu trennen; sie seien kognitiv nicht in der Lage, kausal-physikalische Zusammenhänge zu akzeptieren.

Bei den Mystikern dagegen ist es volle Absicht, die psychische Identität nicht von der Außenwelt zu trennen. Das Ziel all ihrer Bestrebungen ist genau dieses: die Einheit mit dem Ganzen wiederzufinden, die Harmonie zwischen Psyche und Kosmos, die es ermöglicht, die Grenze zwischen den Welten zu überwinden.

Mystiker, auch Träumer und Magier, überwinden diese Grenze zwischen den Welten. Magier tun das zu Zwecken der Divination oder der Zauberei. Was brauchen sie dazu? Den Willen und die Vorstellungskraft, Kräfte des Geistes. Oder Teile der Seele?

Mir persönlich erscheint übrigens alles Mögliche beseelt: Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Wolken, überhaupt alles. Auch »gemachte« Dinge: Häuser, Autos, Staubsauger … Das ist natürlich ziemlich kindisch. Nach dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget ist Animismus ein Stadium der geistigen Entwicklung von Kleinkindern, so zwischen dem zweiten und siebten Lebensjahr. Wer es also nicht schafft, seine Welt zu entseelen und sich an das herrschende Paradigma anzupassen, hat gute Chancen, sein Leben als Mystiker, Magier, Künstler, Schamane oder Spinner zuzubringen.

Es heißt, die Beseeltheit um mich herum wäre nur eine Projektion. Das hieße aber wiederum, dass zumindest ich, bzw. wir Spinner, wir Animisten, eine Seele haben. Immerhin. Auch wenn ich nicht wirklich weiß, was Seele (oder von mir aus auch Geist) eigentlich ist, ist es das, was ich verehre. Es ist in allem und jedem, jeder Teil dieses Kosmos ist davon durchströmt. Vielleicht ist es besser bezeichnet worden als Tao, das große Mysterium, das Unnennbare.

Also, gibt es Geister? Hier und heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends? Weiterhin ist ständig die Rede von Geistern: der vielbeschworene »Geist der Einheit«, der »Geist des Weines«, der »Zeitgeist«1. Alles nur Metaphern? Von wegen! Von der Metapher ist es zu einer magischen Perspektive nicht weit. Beim Thema Geister kann man recht leicht über die Hecke hopsen, die die Grenze zwischen sogenannter Realität, d. h. dem hier geltenden Konsens darüber, was real ist, und der Wirklichen Wirklichkeit markiert. Letztendlich leben wir alle in zwei Welten, der Realität einerseits und dem, was wir tatsächlich wahrnehmen und empfinden, andererseits. Die meisten Menschen aber haben große Schwierigkeiten damit, Dinge, die nicht dem Konsens entsprechen, überhaupt wahrzunehmen, sich an sie zu erinnern oder sie auszudrücken.

Die Frage ist demnach nicht, ob es Geister gibt, sondern in welchem Paradigma man sie am besten zu fassen kriegt. Das animistische und magische Weltbild kennt viele Arten von Geistern, z. B. Naturgeister, Ahnen- und Totengeister, Ortsgeister, Tiergeister, Schutz- und Folgegeister, Hausgeister, Fetische (inzwischen ein wichtiges Thema, dem ich in diesem Buch einen Exkurs widme), Krankheitsgeister, Egregores, Dämonen und Götter. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind fließend, manche Geister vereinen Merkmale unterschiedlicher Arten in sich.

Sollte man sich denn mit Geistern befassen, in diesem Jahrhundert, im christlich geprägten und ach-so-aufgeklärten Abendland?

Man sollte.

Es gibt Veränderungen in der metaphysischen Ökologie. Die Heinzelmännchen scheinen ausgestorben, dagegen besiedeln Fetische jeden Haushalt. Die Grimoires sind eindeutig nicht auf dem neusten Stand. Dabei ist Magie inzwischen Mainstream. Der Neopaganismus boomt, die Generation Witchcraft ist da, die Hogwarts-Absolventen sind in der Wirtschaft angekommen. An jeder Ecke wird Ayahuasca verkauft und inzwischen gibt es vermutlich mehr Schamanen als Steuerberater.

Ich habe nur kurz weggeschaut, nur ein Jahrzehnt oder zwei, plötzlich reden alle über Geister. Was ist nur passiert? Da war die Jahrtausendwende, der ein oder andere Weltuntergang … und auf einmal hat das Wort »Glaubensfreiheit« eine ganz neue Bedeutung. Heute erkennen sich Menschen nicht mehr als Schafe kirchlicher Hirten, auch nicht als Ameisen des Arbeiterstaates, sondern als wiedergeborene Einhörner. Manche »reisen« zu den Pflanzengeistern – nein, nicht ausschließlich zum Cannabis, es kann beispielsweise auch Beifuß sein. Man kontaktiert seinen Verbündeten statt seines Rechtsanwalts, man füttert sein Krafttier und bekennt sich zu einem Totem.

Eigentlich hätte das Buch »Geisterjagd« heißen sollen, das klingt doch gleich viel spannender. Nur hat das Ganze leider so gar nichts von einer Jagd. Keine Action, kein Geballer, weder »Ghostbusters« noch »Supernatural«. Bestenfalls ist es ein Auflauern. Tatsächlich geht es in diesem Buch um Geister, die uns geradezu umzingeln, mit denen auch so ziemlich jeder in Kontakt kommt. Jeder, auch der ahnungslose Uneingeweihte, die das »Numinose« für eine Hautkrankheit halten mögen. Die meisten Geister sind tatsächlich äußerst präsent, sie sind aber einfach viel zu selbstverständlich, um wahrgenommen zu werden.

Wo findet man Geister? Im Wald, klar, aber auch auf der Straße, in der Stadt, in der eigenen Wohnung, versteckt im Schrank, vielleicht sogar in der eigenen Brieftasche. Manche der Geister sind unsichtbar vor aller Augen, sind Meister der Täuschung. Andere sind jederzeit zu einer Kontaktaufnahme bereit. Einige haben sogar ein extra Schild, auf dem »Geist« draufsteht. Tiergeister sind immer noch um uns, sie sind sogar viel näher als gedacht. Ortsgeister und Egregores2 wirken auf uns. Es gibt hier, um uns herum, phänomenale Phantome, Götzen, Götter und vielleicht auch – Dämonen.

Wie kann man ihnen begegnen? Man kann sie suchen, sie rufen, ihnen huldigen3. Manche drängen sich auch von selbst auf. Über diese hier bin ich direkt gestolpert: Krähe, Schmetterling, Einhorn, Berlin, Motorrad, Alkohol, Geld, Zeitgeist und Wolf.

Natürlich gibt es noch so viel mehr zu erforschen. Meine Sicht ist dabei leider sehr beschränkt, nicht nur eurozentrisch, sondern auch fürchterlich egozentrisch. Denn abgesehen von ein bisschen Stöbern und Materialsammeln ist das meine innere Schau, meine UPG – »unverified personal gnosis« –, mein Blick in die »nicht-alltägliche Wirklichkeit« (NAW), die Anderswelt.

Daher beanspruche ich weder Vollständigkeit noch Deutungshoheit, sondern möchte eine Materialsammlung anbieten, die Lust auf diese Themen und Perspektiven macht. Und natürlich auf die magische Praxis, tatsächlich Kontakt aufzunehmen zu Geistern, Evokation. Vielleicht mal eine Tierverwandlung und gelegentlich Besessenheit? Nur zu!

Denn woran merke ich überhaupt, dass da ein Geist ist, dass ich mit einem Geist zu tun habe? Da ist etwas, das mich berührt und ergreift. Manchmal wie ein viel zu großer Schatten, eine Aura, ein Nachhall. Etwas, das mich erschüttert oder eben begeistert. Da ist mehr, als man sehen kann, »’ne Energie irgendwie«. Es ist etwas spürbar, eine Wichtigkeit, eine Bedeutung, eine Wirkung. Manchmal ist es etwas Mächtiges, Angsteinflößendes, manchmal ist es auch bezaubernd. Eine lebendige Essenz, ein atmendes Grundmuster, eine überpersönliche Idee, eine Art immaterieller, vitaler Kern – ein Wesen eben.

Die protoindoeuropäische Wurzel des Wortes »Geist«, »*g̑heis-« steht für erschaudern, ergriffen und aufgeregt sein. Das westgermanische Wort »*gaista-« bedeutete vermutlich so viel wie »übernatürliches Wesen«.

Das lateinische »spiritus« für Geist kommt aber von »spirare« – atmen. Es vermittelt die Vorstellung von einem Lebenshauch, der Belebung der Materie durch den Geist, die durch den Atem geschieht. Es ist schließlich das Element der Luft, der magische Atem, der symbolisch für den Geist steht, im Sinne von Verstand, also für Gedanken, Konzepte, Visionen, damit auch für die Sprache und die Schrift.

Daher werde ich nun für meine »Jagd« den Geist des Luftelementes beschwören. Der geneigte Leser möge mir in die schwarze Kammer folgen, dort liegen auf dem Altar das Schwert und die Feder. Darüber hängt in komfortabler Größe das Luft-Tattwa, ein Kreis in luftig-hellem Blau auf schwarzem Grund. Leiten wir nun unsere Trance ein, indem wir ein paar Minuten diese einfache Figur betrachten. Wenn wir dann die Augen schließen, erscheint ein Nachbild des Kreises, das wir als Tor zum Reich des Luftelements benutzen …

Krähe

Was ist das für ein Geschrei? So wird das nichts mit der magischen Trance, die ich brauche, um das Reich des Luftelements zu bereisen. Was zum Geier ist denn nur wieder los? Ich gehe nach draußen, um nachzusehen, und stolpere über die langen Ärmel meiner magischen Robe.

Im Garten liegt Müll herum. Angebrochene Lebensmittel, teils auch leere Verpackungen, eine Plastiktüte … Na ja, es gibt schlimmere Nachbarn. Die hier sind vollkommen okay.

Als mein Kühlschrank gestern den Geist aufgab, habe ich die Lebensmittel in eine Tüte gepackt und sie im Baum aufgehängt. Was zum Schutz vor Mäusen, Ameisen und Bären gut funktioniert, ist gegen Krähen keine geeignete Maßnahme. Sie haben die Tüte gezielt aufgeschlitzt, und das, was dann auf den Boden fiel, untersuchten sie eingehend. Die besten Sachen verzehren sie sofort. Eine Packung Käse, die noch originalverschweißt war, wurde zum Zweck der Qualitätsprüfung geöffnet – an der richtigen Lasche. Nur war es offensichtlich nicht die richtige Sorte.

Wir wohnen hier Nest an Nest sozusagen, man kennt sich. Vor meiner Gartenhü– meinem Sommerpalast steht eine große Fichte, ganz oben hat sich ein Krähenpaar eingerichtet. Der Brutbaum ist sehr wichtig und Brutpaar zu sein, ist eine ernste Sache. Als mein Mann eine zerzauste, konfuse Jungkrähe im Nachbargarten umherstaksen sah, ließ er sich zu einer flapsigen Bemerkung hinreißen: »Na, was bist du denn für ein hässlicher Vogel?« Das ist die ganz normale Berliner Herzlichkeit, aber beide Rabeneltern flogen sofort massive Angriffe. Mit blutigem Erfolg.

Trotzdem, coole Leute, die Krähen, sehr sympathisch. Die soziale Umgebung meines Gartens ist sonst noch viel feindseliger. Vielleicht sind die seltsamen Sitten hier aber auf eine Art Zeitanomalie zurückzuführen. Das Wort »Hexe« wird hier mit vollem Ernst und aller Inbrunst als Schimpfwort gebraucht und auch zu anderen Gelegenheiten frage ich mich, in welchem Jahrhundert ich mich eigentlich befinde. Wenn ich andere magisch aktive Menschen zu mir in den Garten einlade, kann ich ihnen deshalb auch einen eigenen Scheiterhaufen anbieten, gleich neben meinem.

Die Krähen wissen jedenfalls Bescheid. Sie wissen, wo die Käsepackung aufgeht, wissen, dass »Vogel« hier ein Schimpfwort ist und überhaupt, wo der Frosch die Locken hat. Doch was haben die Krähen mit Geistern zu tun? Anscheinend eine ganze Menge. Kontakt zu Tiergeistern haben Menschen schon in der Steinzeit aufgenommen, zumindest lassen Höhlenzeichnungen von Menschen mit Tierköpfen das vermuten. Der Kontakt von Geist zu Geist in der Trance ging wohl schon damals über reines Beuteprofiling hinaus.

In der Höhle von Lascaux, am Abstieg zu einem Brunnen, findet sich die Zeichnung eines Menschenkörpers, der einen Vogelkopf trägt. Der Vogelmann scheint nach hinten umzufallen, sein Penis ist erigiert. Wie alt diese Zeichnung ist, ist umstritten. Sie könnte 15.000 oder auch 36.000 v. Chr. entstanden sein. Jedenfalls hat sich seitdem nichts geändert. Wenn im Kreis der Eingeweihten jemand erzählt, die Trance sei so gewesen, als ob man rückwärts in einen Brunnen kippt, versteht jeder, was gemeint ist.

Bei den Hexenprozessen, die nicht ganz so lange her sind, wurde routinemäßig nach dem »Hexenflug« gefragt. Wir nennen das heute magische Trance. Der Flug des Geistes auf Rabenflügeln ist geradezu Standard, wenn man Märchen, Volksglauben und den Prozess-Protokollen Glauben schenkt. Wenn eine Krähe auch nur in der Nähe ist, ist die Frau eine Hexe. Elster? Auch ’ne Hexe.

Die Rabenvögel sind tatsächlich sehr verbreitet. Die Familie der Corvidae umfasst gut 40 verschiedene Arten und ist so ziemlich überall auf der Welt zu Hause, außer in Südamerika und der Antarktis. Die großen, prächtigen, schwarzen Vögel sind Kolkraben, die kleineren schwarzen sind Rabenkrähen und die mit grauer Weste heißen Nebelkrähen. Sie alle gehören zu den Singvögeln wie auch die Elstern. Was ich kaum glauben kann, wenn ich mir den abendlichen Streit zwischen Krähen und Elstern anhöre. Scheint, als ginge es wieder nur darum, wer das letzte Wort hat. Bis in den Winter schreien sie sich Herausforderungen zu. Im Frühling haben sie dazu kaum Kraft. Wenn der Nachwuchs da ist, muss er beschützt und gefüttert werden, und sei es mit den Jungen des konkurrierenden Clans. Im Kreise ihrer Lieben höre ich die Krähen gurren und glucksen, klappern und murmeln. Sie klingen dann ähnlich wie Großeltern an einem Kinderwagen.

Rabenvögel sind überzeugte Kulturfolger, aber nur in Ausnahmefällen domestiziert oder dressiert. Obwohl sie dann gute Jobs machen, Müll sammeln, Briefe überbringen, den Menschen zeigen, wie man ein Stück Fleisch aus einer Flasche holt und wie man das Werkzeug dazu herstellt. Auch für die magische Praxis haben die Rabenvögel einiges zu bieten. Als Orakel zum Beispiel. Der strahlende und schöne Apollon war Gott des Orakels von Delphi und die Raben waren seine Begleiter. Athene sah man mit Raben, bevor sie Eulen den Vorzug gab. Später nutzten römische Auguren den Rabenflug zur Weissagung. Flog der Vogel von links durch einen rituell abgegrenzten Bereich, war es ein schlechtes Zeichen, von rechts dagegen ein gutes. Ein Rabenpaar war ein besonders günstiges Omen.

Soweit das Rabenorakel old style.Auch wenn die Rekonstruktivisten meinen, dass es auf Kosten der Tiefe und Ersthaftigkeit geht, gefällt mir doch die Möglichkeit eines modernen, kulturübergreifenden Orakels sehr. Wir leben in einer Zeit, in der wir aus mehr magischen Quellen schöpfen können, als es jemals möglich war. Ich kann mich einfach nicht dazu entschließen, mich endgültig einem einzelnen Glaubenssystem hinzugeben. Und wenn ich nach meinen spirituellen Wurzeln suche, wird mir erst recht klar: die liegen im Chaos. Also warum sich nicht zur »Fischotter-Natur«4 bekennen und ein kulturübergreifendes, chaosmagisches Rabenvogel-Orakel verwenden?

Das Rabenvogelorakel zu befragen, ist natürlich eine Kunst für sich, wie bei jedem Orakel, das etwas taugt. Kann sein, dass es noch ausbaufähig ist hier und da. Wie immer sollte man eine klare und gut formulierte Frage stellen. Für einen definierten magischen Raum gibt es viele Möglichkeiten5, es könnte z. B. auch ein Spaziergang oder eine Zugfahrt sein. Sinnvoll ist auf jeden Fall ein unbekannter Ort, denn die Vögel aus der Nachbarschaft kennt man ja meistens schon, da wäre das Ergebnis des Orakels weniger spannend. Und wenn der Rahmen der Vogelbeobachtung zur Stimmung und zur Frage passt, umso besser.

Das Rabenvogel-Orakel funktioniert nur bei Tageslicht und gelegentlich sollte man ein kleines Honorar dalassen. Natürlich spricht nichts dagegen, nach einem günstigen Bescheid die Beziehung zu vertiefen.

Erscheint eine Krähe im für das Orakel definierten Raum, repräsentiert sie Morrigan, die keltische Geisterkönigin. Sie ist als Gestaltwandlerin bekannt, als raffinierte Zauberin und Herrin der Schlachtfelder. Mit einem Lied kann sie den Kriegern Mut und Kraft einsingen, mit einem einzigen Kampfschrei einhundert Feinde töten. (Eine angenehme Vorstellung!) Entsprechend ist sie eine wertvolle Unterstützerin bei fast allen Projekten – manchmal aber auch nicht. Sie ist unglaublich listig, aber bei der Jobsuche zum Beispiel könnte es sein, dass sie lieber die Personalabteilung niedermetzelt, als jemanden durch langwierige Bewerbungsgespräche zu begleiten.

Wenn ein Rabe erscheint, kündigt er den keltischen Sonnen- und Lichtgott Lugh (den keltischen Apollon?) an, Schöpfer der Künste, Schutzgott der Magier, Krieger und Dichter. Er selbst bezeichnete sich als guten Arbeiter. Außerdem sei er Schmied und ein guter Kämpfer. Als Schwertkämpfer sogar unvergleichlich, darüber hinaus auch Harfner, Held, Poet, Historiker, Zauberer und Handwerker. Im Fall eines Anliegens oder einer Aufgabe empfiehlt sich deshalb Multitasking. Auch sollte man vor handwerklichen Arbeiten nicht zurückzuschrecken und notfalls auf einem Bein und mit zugekniffenem Auge herumhüpfen, genau wie Lugh es gemacht hat.

Eine Elster deutet auf die Anwesenheit der nordischen Göttin Hel hin. Vielleicht ist sie die riesenhafte Herrin des Totenreichs oder auch eine uralte universale Göttin, die die Toten aufnimmt und neues Leben schenkt. Das Orakel empfiehlt in diesem Fall, einen realen oder imaginären Zufluchtsort aufzusuchen, nur für einen Moment oder auch für länger; sich zu verbergen, um sich zu erholen und die Dinge mit Abstand zu betrachten. Daraus mögen sich dann Entscheidungen und Handlungen ergeben, die der Frage oder Aufgabe angemessen sind.

Der Eichelhäher ist der bunte Hund unter den Rabenvögeln. Ein Herumtreiber und Räuber, treu nur für eine Saison. Er gilt als Herold, weil seine Warnrufe Ankömmlinge schon von weitem ankündigen. Er selbst verbirgt sich im Blätterdach. Dem Wald tut er gut, weil er reichlich Früchte und Nüsse sammelt. So sorgt er für Nachzucht und Ausbreitung der Bäume. Im Orakel bedeutet sein Erscheinen, dass es nicht immer sinnvoll ist, sich den Erwartungen und Anforderungen von außen zu fügen. Unsere jeweilige Eigenart hat ihren eigenen Sinn und will gelebt werden.

Wenn zwei Raben erscheinen, dann offenbart sich Odin, der Rabengott, durch seine Kundschafter Hugin (»Gedanke«) und Munin (»Erinnerung«). Odin ist gnadenlos wissbegierig, neugierig ohne Rücksicht auf Verluste, trickreich, magisch. Er ist der uralte Allvater, unterwegs als unerkannter Wanderer. Daran sollte man denken, wenn unbekannte Reisende anklopfen. Gastfreundschaft ist heilig. Die Kolkraben waren in Mitteleuropa weitgehend ausgerottet, inzwischen sollen sich die Bestände wieder erholt haben. Das ist gut für Odin und gut für das Orakel. Die Orakeldeutung: Die Aufgabe ist schwierig, aber lösbar. Es ist also angeraten, den vergöttlichten Schamanen zu invozieren, der neun Tage am Baum hing und ein Auge gab für den Blick in die andere Welt. Die persönliche Weiterentwicklung kostet ihren Preis.

Ein Krähen- oder Rabenpaar zu sehen, ist immer ein gutes Zeichen, was Beziehung, Liebe oder Bündnisse angeht. Wenn ich mein Krähenpaar hier beobachte, fällt mir auf, wie synchron sie sind, wie sehr aufeinander eingestimmt. Sie sparen sich die aufreibende Balzerei und bleiben ihr Leben lang zusammen. Dafür investieren sie in ihre Beziehung; ich sehe sie miteinander spielen und quatschen und heimlich zusammen in meinem Gartenteich baden. Das Nest bauen sie gemeinsam, Eierlegen und Wärmen ist nach wie vor der Job der Krähe, der Kräher ist der Versorger. Das sieht nach einem traditionellen Beziehungsmodell aus, aber ansonsten ist es nicht so einfach, zwischen Krähe und Kräher zu unterscheiden, es gibt nämlich keine sichtbaren Geschlechtsunterschiede. Krähen leben die Gleichberechtigung.

Drei Nebelkrähen bedeuten: Die griechische6 Göttin Hekate ist nah. Nebelkrähen leben als Paar und haben oft eines ihrer Jungen bei sich als Helfer und Nesterben. Hekate, die Göttin der Hexen, ist den Tieren ohnehin sehr verbunden und wird von einem magischen Zoo begleitet. Sie ist Erretterin, Allmutter, Weltseele und begegnet uns als Beschützerin, Wegführerin, Torhüterin. Für die Fragende oder den Fragenden bedeutet das: Es wird so gut werden wie nur möglich.

Vier Rabenvögel – hier liegt die Betonung auf der heiligen Zahl Vier, und Raben und Krähen gelten gleichermaßen – offenbaren die Weisheit der vier Winde. Dem Verständnis der ersten Völker des nordamerikanischen Kontinents nach verdanken wir den Raben und Krähen überhaupt die Schöpfung und Ordnung unseres Lebensraumes. Es war ein Rabe, der die Sonne, das Mysterium der Lebenskraft, im Schnabel trug; er hängte die Sterne an den Himmel und holte das Land aus den Fluten hervor.7 Im Orakel bedeuten die vier Rabenvögel deshalb Neuschöpfung und Neubeginn, Erneuerung und Erfolg durch Kreativität.

Krähen zählen bis vier – und schätzen den Rest.

Wenn eine Schar Krähen erscheint – dann hat jemand hat sein Essen fallengelassen. Oder es sind die Begleiter der hinduistischen Göttin Kali, der Schwarzen; tobende Energie, leidenschaftliche Geliebte, Tänzerin im Blutrausch, die alle ihre Kinder frisst8. Alles Lebendige ist einer ständigen Transformation unterworfen, auch die oder der Fragende stellt keine Ausnahme dar. Die Orakelbedeutung: Ent-Täuschung steht an und man sollte nicht versuchen, gegen die Zeit zu arbeiten. Besser ist es, klüger zu werden und sich selbst von Lasten zu erlösen.

Wenn große Schwärme an Krähen erscheinen – dann ist es Winter. Rabenkrähen, Saatkrähen und Dohlen versammeln sich dann abends zum gemeinsamen Übernachten. An die 100.000 Tiere können an einem angestammten Schlafplatz zusammenkommen. Oder es steht ein Casting für ein Hitchcock-Remake an. Jedenfalls ist es eine gute Gelegenheit, die Möglichkeiten zu überdenken, die ein größerer Zusammenschluss bezüglich des Anliegens bieten kann.

Wenn kein einziger Rabenvogel zu sehen ist, kündigt das den Untergang an. Zumindest für England. Vielleicht auch für uns alle. Den Raben im Tower hat man sicherheitshalber die Flügel gestutzt, um den Bestand der Monarchie zu gewährleisten.9 Wenn aber um den Kyffhäuser keine Raben mehr fliegen, dann muss Kaiser Barbarossa auferstehen, um nach dem Rechten zu sehen. Er wird vielleicht spät dran sein, weil er nur alle 100 Jahre nachschauen kann. Wobei mir auch nicht klar ist, was er angesichts einer ökologischen Katastrophe tun würde. Die Raben und Krähen stehen hierzulande inzwischen unter Naturschutz. Die Aussage des Orakels wäre demnach, dass man sich um dringendere Dinge kümmern sollte als um das, wonach man gefragt hat.

Direkt mit den Krähen in Kontakt zu treten, ist nicht schwierig, denn sie haben eine wesentlich aufgeschlossenere Einstellung zur interspeziellen Kommunikation als Menschen. Natürlich begegnen ihnen Andersartige nicht auf Augenhöhe, aber sie schreien geduldig solange weiter, bis die weniger intelligenten Viecher endlich verstehen, worum es geht. Mit den Wölfen z. B. funktioniert die Kooperation seit Ewigkeiten. Krähen folgen Raubtieren, um sich an deren Beute zu beteiligen. Umgekehrt rufen sie auch Fleischfresser mit geeignetem Gebiss herbei, damit diese größere Tiere reißen oder frische Kadaver aufbrechen.

Krähen interessieren sich für alles Fressbare. Und für alles andere auch, denn man könnte es vielleicht doch fressen. Außer Fleisch kommen Früchte, Samen, Insekten und Nüsse in Frage. Wenn sie bei mir anklopfen, findet sich immer etwas, was sie mögen: Pommes, Katzenfutter, Kekse … Sie wissen, wo und wann sie was finden und kennen einige raffinierte Wege, auch widerspenstige Leckerbissen in den Schnabel zu bekommen. Das betrifft Maden wie auch Lämmer. Das größte von Raben getötete Tier wog um die 25 Kilogramm. Die Vögel sind für die Schafe eine größere Bedrohung als Wölfe.

Wir wissen alles, denn wir essen alles, würden die Krähen sagen. Vermutlich.

Und wir kennen alle, könnten sie hinzufügen.

Im Verstecken von Futter sind sie Großmeister, allerdings teilen sie ihr Wissen. Die Jüngeren lassen den Älteren den Vortritt, vor allem bei unbekannten Fundstücken. Die Älteren zeigen dann souverän, wie damit zu verfahren ist. Soziales Lernen ist angesagt.

Da, wo Krähen ihr Futter direkt bei uns oder zwischen uns finden, ist es besonders leicht, Freundschaften zu schließen. Neulich auf dem Hannoveraner Hauptbahnhof sah ich eine Krähe zwei Gleise weiter. Sie registrierte meinen Blick sofort. Ich nahm eine Nuss aus meiner Tüte und zeigte sie ihr. Die Krähe, also, ich spekuliere, es war ein Er, kam auf meinen Bahnsteig geflogen. Ich nannte ihn Kevin, weil er so ein lässiger, junger Typ war. Auf drei Meter Distanz spielte ich ihm die Nuss zu. Kevin kostete kritisch und war begeistert.

Wir aßen ein paar Nüsse und eine zweite Krähe (Jochen?) kam dazu. Dann eine dritte (Sabine). Tauben drängelten sich dazwischen, vor den Krähen hatten sie keine Angst, aber sie waren nicht eingeladen. Als sie das merkten, zogen sie beleidigt wieder ab. Die Krähen kamen jetzt näher heran, sie fraßen mir nicht aus der Hand, aber das mussten sie ja nicht. Wir aßen einfach nur entspannt zusammen ein paar Nüsse. Inzwischen hatten sich vier Krähen versammelt (Kerstin hatte sich dazugesellt) und dann erschien die o-beinigste Krähe, die ich je gesehen habe, ein kugelrundes, zerzaust-geplustertes Krähentier, das ich Tante Babett – oder kurz Betty – nannte.

Betty war der Star der Runde, sie stand besonders auf die getrockneten Cranberrys aus meiner Nussmischung und inszenierte eine kleine Vorstellung, um mir zu zeigen, wie sehr sie meine Geschenke schätzte: Sie versteckte eine Beere vor meinen Augen und trippelte dann immer wieder zu dem Versteck, um noch ein bisschen zu naschen. Als die Nusstüte leer war, schien die Krähenrunde sehr zufrieden, die Stimmung war fröhlich. Eine magische halbe Stunde und eine Handvoll Nüsse haben ausgereicht, um ein paar Freundschaften zu schließen.