Über uns die Nacht - Anat Talshir - E-Book

Über uns die Nacht E-Book

Anat Talshir

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Beschreibung

Ihre Hoffnung überwindet alle Grenzen

Die Jüdin Lila begegnet dem arabischen Teehändler Elias zum ersten Mal am Vorabend der israelischen Staatsgründung in Jerusalem. Es ist der Beginn einer tiefen Liebe, die geheim bleiben muss. Als Krieg ausbricht, wird die Stadt durch eine Mauer geteilt, die die beiden fortan unüberwindbar voneinander trennt. Neunzehn Jahre wird es dauern, bis es wieder Hoffnung für Lila und Elias gibt. Doch kann ihre Liebe den Hass der beiden verfeindeten Kulturen, die Jahre der Trennung und der Sehnsucht überstehen?

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Seitenzahl: 592

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ANAT TALSHIR

Über uns die Nacht

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Fahrner

Die hebräische Originalausgabe Im Eshkahekh erschien 2010

bei Kinneret Zmora-Bitan Dvir, Jerusalem.

Der Titel der englischen Übersetzung von Evan Fallenberg

lautetIf I Forget Thee.

Deutsche Erstausgabe 01/2015

Copyright ©2010 der Originalausgabe by Anat Talshir

Copyright ©2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die deutschsprachige Ausgabe dieses Werkes wurde aus Mitteln

der Botschaft des Staates Israel, Berlin gefördert.

Redaktion und Anhang  |  Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv|© Mark Owen/ Trevillion Images und shutterstock

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN 978-3-641-12597-4

www.diana-verlag.de

Für meine geliebte Familie

ERSTER TEIL

2006

Keiner von beiden sagte etwas. Was gab es seinen Worten noch hinzuzufügen?

Sogar der Apparat, der seinen Herzschlag überwachte, hörte auf zu piepsen. Sämtliche Hintergrundgeräusche – der Lärm auf dem Flur, die schweren Schritte der Patienten, die quietschenden Räder der Krankenhausbetten, die Stimmen der Schwestern – schienen mit einem Mal ausgeblendet. Mit verschränkten Armen saß sie ihm gegenüber und grub die Finger fest in ihre Oberarme. Als sie ein bisschen zu schnell von ihrem Stuhl aufstand, um das Fenster zu öffnen, wurde ihr schwindlig, aber die kühle Luft tat ihr gut. Sie blieb am Fenster stehen, ließ sich die frische Luft um die Nase wehen und wünschte sich, sie könnte vergessen, was sie gerade gehört hatte. Auch er atmete tief durch. Er hielt die Augen geschlossen wie jemand, dem nur eine kurze Ruhepause vergönnt war.

Einige Minuten zuvor hatte sie an seinem Bett gesessen, erstaunt darüber, dass er sie hatte rufen lassen, nachdem sie einander so viele Jahre nicht gesehen hatten. Sie wusste, dass er noch immer im selben Haus in Jerusalem wohnte, dass seine Kinder jetzt erwachsen waren und über die ganze Welt verstreut lebten, und dass von seinem einst so enormen Vermögen fast nichts übrig geblieben war. Er passte überhaupt nicht in die triste Umgebung des Hadassah-Krankenhauses, denn er wirkte so vornehm und würdevoll wie eh und je, und seine ausgeprägten Gesichtszüge erinnerten sie an den charismatischen Mann, den sie in ihrer Kindheit gekannt hatte. Sie brauchte bloß seinen Namen zu hören – Elias Riani –, und schon passierte etwas in ihrem Inneren. Seine braunen Augen, sein nach hinten gekämmtes graues Haar, sein edler Hals, das alles gab es noch, nur war es inzwischen älter geworden. Sie hätte gern gewusst, ob die Lachfältchen um seine Augen, die sein Gesicht aufleuchten ließen wie die Sonne und allen um ihn herum Wärme schenkten, noch genauso aussahen wie damals.

Er bat sie, ihnen Tee einzuschenken aus der Thermosflasche, die auf dem Schränkchen stand. »In die Gläser«, sagte er. »Munir kommt jeden Morgen. Er bringt mir heißen Tee, spült die Gläser, zieht mir einen frischen Schlafanzug an und rasiert mich. Ich sage ihm immer, dass er nicht mehr kommen soll, aber er kommt trotzdem. Du erinnerst dich doch an Munir, oder? Er hat viele Jahre lang für uns gearbeitet.«

Ja, sie erinnerte sich an ihn, an den Mann, der Elias’ Familie treu ergeben war, genau wie sie sich an die Nervosität erinnerte, die sie jedes Mal verspürt hatte, wenn Elias’ Auto vorfuhr und er ihr einen Umschlag übergab, den sie weiterreichen sollte. Immer, wenn er sie darum bat, wurde sie ganz aufgeregt, und wenn sie ihm jetzt ins Gesicht sah, musste sie an diesen eisernen Pakt zwischen ihnen beiden denken. Er galt noch immer, und er war auch der Grund, warum Elias sie heute hatte rufen lassen.

Nomi nahm ihm das leere Glas aus der Hand; es war immer noch heiß. Heiß und schwarz, so trank er seinen Tee am liebsten. Aber das Tee-Ritual, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, hatte sehr wenig zu tun mit seiner jetzigen Situation, auch wenn der schwache Duft nach Bergamotte, der aus der Thermosflasche strömte, ihm wenigstens ein bisschen Trost spendete. Elias trug einen dunkelblauen Pyjama und darüber einen blaugrün karierten Morgenrock. Von einem Mann wie ihm konnte man kaum erwarten, das zerknitterte Nachthemd anzuziehen, das vom Krankenhaus gestellt wurde.

»Ich habe dich gebeten herzukommen«, hatte er vorhin gesagt.

Anstatt zu erwidern, dass sie selbstverständlich sofort aufgebrochen sei, nickte Nomi bloß.

»Du fragst dich sicher, wieso.«

Noch immer sagte sie nichts.

»Ich möchte, dass du etwas für mich tust«, sagte er.

»Was immer du willst.«

»Gibst du mir dein Wort darauf?«

Nomi sah ihn gespannt an.

Er sprach leise. Seine braunen Augen betrachteten sie forschend, doch seine Gedanken schienen ganz woanders zu sein.

»Ich wollte dich bitten …«, begann er und suchte dann kurz nach den richtigen Worten, »ich wollte dich bitten, mir etwas zu bringen.«

»Was denn?«

»Etwas aus meinem Haus.«

»Kein Problem«, sagte Nomi.

»Es ist in einem Schrank versteckt.«

»Dann erklär mir, wo, damit ich es finde.«

»Ich glaube, ich muss dir etwas mehr erklären als nur die Stelle, wo du es findest.« Er rieb sich das Kinn. »Ein Apotheker aus Jaffa, den ich seit Jahren kenne, war bereit, mir etwas zuzubereiten.« Elias schwieg einen Moment, wie um ihr die Gelegenheit zu geben, seine Worte zu begreifen.

Nomi, die wie angewurzelt dasaß, verstand noch immer nichts.

»Ich möchte dorthin, wo sie jetzt ist«, sagte er.

Während beide schwiegen, konzentrierte sie sich auf das, was sie glaubte, gehört zu haben. Er hatte es nicht wie einen Wunsch formuliert, sondern wie etwas Konkretes, fest Beabsichtigtes. Da war ja nicht einmal ein Zittern in seiner Stimme.

Sie atmete tief ein und stieß die Luft, die sich in ihrer Lunge angesammelt hatte, langsam und hörbar wieder aus. Der Vorrat an Luft tief in ihrem Inneren schien unerschöpflich zu sein.

Schweigend saßen sie sich gegenüber, er auf seinem einfachen Bett, sie im Stuhl davor, während das ganze Stockwerk um sie herum erstarrte, der Morgentrubel verstummte und die frische Luft ins Zimmer wehte, an diesem Tag, an dem die Sonne nicht so recht herauskommen wollte. Er schloss die Augen und schlief ein paar Minuten, dann schlug er sie wieder auf und sah Nomi an, überrascht, dass sie immer noch da war.

»Ich habe dir die Chance gegeben, dich davonzustehlen«, sagte er, und sie musste lächeln. »Aber ich bin froh, dass du geblieben bist.«

Eine dunkelhäutige Krankenschwester, auf deren Namensschild DASSY stand, betrat das Zimmer. Ihre Locken hüpften im Takt ihrer Schritte. »Sind Sie seine Tochter?«, fragte sie.

Sie antworteten gleichzeitig. Er sagte: »Sie ist so gut wie meine Tochter«, und sie sagte: »Nein, eigentlich nicht.« Belustigt steckte Dassy ihm ein Thermometer in den Mund und schaute abwechselnd von einem zum anderen.

»Ist ja egal, wichtig ist, dass Sie da sind und er sich darüber freut. Ich habe ihn schon lange nicht mehr lächeln sehen.« Sie legte ihm eine Blutdruckmanschette um den Arm und blies sie auf. Die Werte schrieb sie auf ein Klemmbrett, das am Fußende des Bettes hing. »Die Ärzte machen bald Visite«, sagte sie. Mit einem Blick auf Nomi fügte sie hinzu: »Sie dürfen aber bleiben, wenn er zustimmt.«

Nomi wollte aufstehen, aber seine Augen baten sie, sitzen zu bleiben. Diese Augen sind so mächtig, dachte sie, sogar dann noch, wenn er krank im Bett liegt. Plötzlich zuckte er. Er versuchte, den Schmerz zu unterdrücken, aber sein Gesicht wurde aschfahl, und auf seiner Nase bildeten sich Schweißperlen.

»Was ist denn los?«, fragte Nomi.

»Es fühlt sich an, als würde ein Gift durch meine Knochen wandern und meinen Körper zersetzen.«

»Ist dir kalt?«

»Kalt? Ja«, erwiderte er und zog sich das Laken bis unters Kinn. »Im Schrank ist eine Wärmflasche. Würdest du sie mir bitte füllen?«

Ohne anzuklopfen, betrat Nomi das Arztzimmer und füllte die Gummiwärmflasche mit heißem Wasser aus der Kaffeemaschine. Als sie zurück ins Krankenzimmer kam, hatte er sich unter dem Laken zusammengerollt und fror erbärmlich. Sie legte ihm die heiße Wärmflasche an die Füße, von wo aus sich die angenehme Wärme bald in seinen ganzen Körper ausbreiten würde. Wenigstens eine Stunde würde er sie genießen können, bevor das Wasser wieder abkühlte.

»Es tut mir leid, dass du mich in einem schwierigen Moment erlebt hast«, sagte er. »So was mache ich jeden Tag durch.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf, und er griff nach der Wärmflasche und hielt sie sich an die Brust. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich das alles beenden möchte.« Durchs Fenster beobachtete er die riesigen Baukräne bei der Arbeit.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Was kam jetzt?

Elias erklärte: »Die Schmerzen fingen erst an, als sie starb.«

»Du hast noch genügend Zeit«, sagte sie. »Bald wird esdir besser gehen, bald wirst du wieder bei Kräften sein. An diesem Ort wirkt alles hoffnungslos. Aber du wirst wieder gesund werden. Und dann wirst du froh sein, dass du es geschafft hast und dass du die Geduld hattest, darauf zu warten.« Sie sprach so schnell, dass er sie nicht unterbrechen konnte. Er wartete ab.

»Hör mal«, sagte er ohne jede Verbitterung, »ich hatte ein schönes Leben. Aber jetzt bin ich halb tot, und die lebendige Hälfte kann ich nicht mehr finden. So ein Dasein will ich nicht führen.«

Elias verstummte, als ein Schwarm von Ärzten mit Gefolge in das kleine Zimmer einfiel. Eilig umstellten sie sein Bett, in ihrer Mitte ein grauhaariger Arzt. Sie wirkten gehetzt und entschlossen.

»Wie fühlen Sie sich, Herr Riani?«, fragte der Chefarzt.

»Unverändert, danke«, sagte Elias und setzte sich im Bett auf.

»Unverändert schlecht oder unverändert gut?«, fragte einer der Assistenzärzte.

»Ich fühle unverändert nichts.«

»Sechsundachtzig Jahre alt, schon drei Wochen hier«, verkündete einer der Assistenzärzte. »CT und MRT normal, Schmerzen in Brust und Bauch, Schwierigkeiten beim Atmen, EKG normal, Gewichtsverlust, hoher Blutdruck.«

Der Chefarzt betrachtete den Patienten. Sein Tonfall war autoritär, aber nicht unfreundlich. »Wir sind auf Ihre Mitarbeit angewiesen, Herr Riani, wenn wir Ihnen helfen sollen. Morgen wiederholen wir die Magen- und Darmuntersuchungen, damit wir eine Ursache von dieser Seite her ausschließen können.«

Sein Gefolge war schon zum Bett von Elias’ Zimmernachbarn weitergezogen. Elias sagte nichts. Nomi fand, dass er es ihnen schwer machte, sie ihn andererseits aber auch in die Enge trieben. Ärzte mögen keine Patienten, die sich weigern, gesund zu werden; sie wollen den schnellen Erfolg, damit das Bett wieder neu vergeben werden kann.

»Sie wissen nicht, was mir fehlt«, sagte Elias.

Nomi stand auf, um sein Kissen aufzuschütteln, und fragte, ob er noch etwas benötige. Er reichte ihr die Hand. Seine perfekten Hände waren jetzt schwach und bleich und fühlten sich kalt an. Ein bisschen Sonne würde ihm guttun, dachte sie, als sie sich zu ihm hinunterbeugte, um sich mit einer Umarmung zu verabschieden. In ihrer Erinnerung war er sonnengebräunt, die Haut gesund, genährt von der wohltuenden Sonne, die den Menschen im Nahen Osten diesen ganz besonderen Hautton schenkte.

Mit schnellen Schritten verließ sie das Krankenhaus, vorbei an voll belegten Zimmern, in denen blasse alte Männer und Frauen vor sich hin stöhnten. Süßliche Gerüche stiegen ihr in die Nase: wässrige Mahlzeiten auf dem Essenswagen, Reinigungsmittel, Blumen, die man in Plastikvasen gezwängt hatte – und der Geruch von Krankheit und Verzweiflung.

Erst draußen vor dem Gebäude atmete sie tief durch. Ich habe ihm versprochen, dass ich wiederkomme, dachte sie, aber einen weiteren Besuch ertrage ich nicht. Ich kann sein Leiden nicht mit ansehen.

Aber sie konnte ihn auch nicht dieser Horde ahnungsloser Assistenzärzte überlassen, die neue Behandlungsmethoden an ihm ausprobierten. Diesem Elend, das er nicht verdient hatte. Es war seine Entscheidung, auf welche Weise er gehen wollte; es war sein gutes Recht. Aber was wollte er von ihr? Und warum ausgerechnet sie? Wo waren seine Kinder? Wohin waren all die Menschen verschwunden, die ein Teil seines Lebens gewesen waren, Menschen, über die sie fast nichts wusste?

Am nächsten Tag machte sie sich auf die Suche nach einem Buchweizenkissen, das Elias wohltemperierte Wärme und einen angenehmen Duft schenken würde. Im Bioladen kaufte sie Leckereien mit Johannisbrot und Sesam und freute sich darüber, dass schon ein einfacher Einkauf ihre Laune hob.

Sie fand ein rundes Nackenkissen, ein rotes herzförmiges Kissen und ein drittes aus Samt mit Tigerstreifen. Schließlich entschied sie sich für ein kariertes Kissen. Es würde gut zu dem Morgenrock passen, den er im Krankenhaus angehabt hatte, auf dieser Station voller Patienten, deren Krankheiten noch nicht vollständig verstanden waren. Das Buchweizenkissen raschelte in der Tüte. Sie fragte sich, wer es ihm in die Mikrowelle stecken würde – er war doch viel zu höflich und reserviert, um sich helfen zu lassen. Sie würde es für ihn tun, wenn sie dort war, aber wer machte es in der übrigen Zeit? Als Mitbringsel kaufte sie noch ein Buch von Jhumpha Lahiri in Großdruck.

Als sie an diesem Abend ins Krankenhaus kam, war er schon gebadet worden und trug einen gebügelten Pyjama. Es war still, und der Flur lag im Dunkeln. Die Schwestern waren in ihrem Zimmer, schälten Pampelmusen und redeten über eine Feier, die am Abend zuvor stattgefunden hatte. Nomi entdeckte eine Mikrowelle, wischte das Innere mit einem Papiertuch aus und erhitzte das Kissen vorsichtig, bis ihr der Duft von Buchweizen in die Nase stieg. Sie legte ihm das Kissen an die Füße.

»Wie schön, dass du jetzt am Abend kommst, da ist es ruhig«, sagte er lächelnd. Sie sah die Dankbarkeit in seinen Augen.

Als er das Buch erblickte, wirkte er erfreut und setzte sich zum Zuhören bequem zurecht. Nomi begann, eine Geschichte vorzulesen. Sie handelte von einem Paar, dessen Kind bei der Geburt starb. »Du bist erschöpft«, sagte er. »Ich lese allein weiter, wenn du gegangen bist. Ich muss so viele Stunden herumbringen.«

Sie drehte die Leselampe über seinem Kopf gegen die Wand, damit sie ihn nicht blendete. »Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann«, sagte Elias. »Dieses Gefühl hatte ich schon, als du klein warst und wir dich in etwas so Großes einbezogen haben. Ich vertraue dir blind. Ich weiß, dass niemand je erfahren wird, worum ich dich gebeten habe. Nur Gott. Und jetzt musst du mir vertrauen.«

Elias fuhr fort: »Weißt du, warum? Es ist das Einzige, was ich mir wünsche. Ich habe nur noch ein Privileg im Leben, und das besteht darin, das Wie und das Wann bestimmen zu können. Ich habe kein Problem, darüber zu reden, und ich hoffe, es macht dir nichts aus. Wieso sollte man sich dem entgegenstellen, was sowieso kommt? – Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich solche Schmerzen habe, woher diese Schmerzen kommen und warum niemand sie vertreiben kann. Ich glaube – und das hat vielleicht damit zu tun, was meine Mutter mir vor Jahren eingeredet hat – dass die Ursache körperlicher Schmerzen in der Seele zu suchen ist. Dass jeder Schmerz Ausdruck von Kummer ist. Zusammen mit mir«, – zur Betonung legte er eine Hand auf seine Brust – »möchte noch etwas anderes meinen Körper verlassen. Meine Seele will zu ihr und sich mit ihr vereinen, will aus meinem Körper heraus, der aus irgendeinem Grund so unverwüstlich ist. Kein Spezialist auf der ganzen Welt kann diesen Schmerz erklären, der doch nur deshalb existiert, weil mein Körper noch hier und meine Seele schon dort ist.«

Das Buchweizenkissen raschelte unter seinen Füßen, als führten die Spelzen darin ein Eigenleben. »Du wirst mir helfen«, sagte er, ermutigt von ihrem Schweigen. »Ich weiß, dass du mir helfen wirst. Ich bitte dich doch nur darum, mir das Warten zu verkürzen.«

Während er sprach, wuchs die Angst in Nomi. Sie fragte sich, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie seinem Wunsch nicht nachkommen würde. Sie konnte ihm nicht helfen, auf keinen Fall.

Aus ihrer Kindheit hatte sie viele Bilder von Elias im Kopf. Seine Hände, die sie oft verstohlen betrachtet hatte – sie waren männlich, aber feingliedrig. Der Duft von Talkum und Lavendel, den er verströmte. Das volle, nach hinten gekämmte Haar, das seine Stirn freiließ. Den leichten Schritt eines Mannes, der genau wusste, wohin er ging. Das königliche Gebaren. Sein Lächeln, das den Tag erhellte, und dazu die rührenden Lachfältchen. Seine Ruhe, in der große Kraft lag, und die Augen, in denen Wärme und Ernsthaftigkeit zu lesen waren. Er war ein Mann der leisen Töne, ein Mann, der wenig Worte machte und doch enorme Autorität besaß. Er brauchte keine großen Gesten, um Präsenz zu zeigen. Er bewegte sich bedacht und geschmeidig, und so ging er auch durchs Leben.

Seine Anzüge waren aus grauer Wolle oder aus Tweed und seine Schuhe aus erstklassigem Leder. Er trug runde silberne Manschettenknöpfe und Hemden mit Monogrammstickerei. Damals war er ihr wie ein groß gewachsener Mann mit hervorstechender Nase erschienen, aber mit den Jahren begriff sie, dass er von durchschnittlicher Körpergröße war und seine Nase lediglich markant war. Kleine Stupsnasen ließen ihren Träger kindlich wirken; nie hatte sie einen Partner mit einer solchen Nase gehabt. Wenn Nomi sich ihren Traummann vorstellte, gab sie ihm dieselben Gesichtszüge wie Elias.

»Morgen wird es nicht regnen«, sagte sie nach langem Schweigen.

»Bis morgen ist es noch lange hin. Eine Ewigkeit«, erwiderte er, ohne die aufziehende Dämmerung zur Kenntnis zu nehmen.

»Ah, Sie planen also für die Ewigkeit«, bemerkte eine Krankenschwester, die das Zimmer mit einem Plastikbecher in der Hand betrat.

Er knipste sein Lächeln an und nickte. »Ich gebe mir Mühe.« Als die Schwester gegangen war, reichte er Nomi den Becher und bat sie, die Pillen in die Toilette zu werfen. »Die rühre ich nicht an. Das ist Gift.«

Nomi lachte und steckte ihn damit an. Sein Gelächter, das tief aus dem Bauch zu kommen schien, löste allerdings einen Hustenanfall aus. Er hob die Hand, um ihr zu signalisieren, dass es schnell vorbeigehen würde.

»Du willst keine ›giftige‹ Medizin nehmen, hast aber kein Problem damit, mich um dieses Gebräu zu bitten, das irgendein Apotheker in Jaffa angerührt hat?«, bemerkte sie mit einer Spur von Sarkasmus.

»Ich will nicht an ihrer Medizin sterben. Ich möchte nicht die Zeit entscheiden lassen, sondern selbst bestimmen. Wenn ich finde, dass es so weit ist, wenn ich dazu bereit bin. Wenn man den Tod ruft, so wie man im Restaurant nach dem Kellner verlangt,« – er bat einen unsichtbaren Kellner mit einem Handzeichen um die Rechnung –, »dann entscheidet man selbst, wann das Essen vorbei ist. Und wann ist es so weit? Wenn man nach der Tür sucht, die einen hinausführt. Wenn man lieber drüben wäre als hier.«

Er ballte eine Hand zur Faust und legte die andere Hand darüber. »Es gibt da etwas, was ich weiß«, sagte Elias leise, als hätte er ein heikles Thema angeschnitten. »Ich spüre, dass danach etwas anderes kommt. Es ist doch vollkommen unvorstellbar, dass dies das Ende sein soll. Diese enorme Liebe soll an einem Ort angekommen sein, von dem aus es nicht weitergeht? Undenkbar. Eine Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass noch etwas geschieht. Eine kleine Brücke, die über einen Fluss führt, wird mich hinüberbringen, und dort werde ich jemandem begegnen.«

Er fuhr fort: »Warum bloß sollte ein Mann meines Alters, der schon so viel erlebt hat, nicht selbst bestimmen dürfen, wann es genug ist? Dass alles vorbei ist? Du wirst sehen: Eines Tages werden die Menschen selbst entscheiden dürfen, wann ihre Zeit gekommen ist. Es wird ganz einfach sein, so leicht wie ein Fax zu senden, Flugtickets zu bestellen, in einem Raumschiff zu heiraten. Ich könnte dann einfach einen Flug zu ihr buchen. Es wird Firmen geben, die solche Dienstleistungen anbieten. ›Hallo, Firma Selbstbestimmter Tod, Natalie am Apparat. Was kann ich für Sie tun?‹«

Er war der Einzige, der das lustig fand.

»Ich kann das nicht«, sagte sie und starrte auf ihre Hände.

»Warte ab. Denk darüber nach. Es eilt nicht.«

»Aber du weißt doch gar nicht sicher, was danach kommt«, gab sie zu bedenken.

»Das brauche ich auch nicht zu wissen.«

»Dieser Ort ist weit entfernt, und niemand ist je von dort zurückgekommen.«

»Die meisten Leute glauben nicht daran, dass sie je sterben werden«, sagte Elias. »Sie denken, dass wir ewig leben.«

»Niemand weiß, was passiert, wenn wir die Augen für immer geschlossen haben.«

»Es ist schon spät. Geh nach Hause und komm morgen wieder«, sagte Elias.

Am nächsten Tag ging Nomi wieder ins Krankenhaus, ohne lang darüber nachzudenken.

»Hast du dir einen Tag freigenommen? Oder feierst du krank?«, fragte Elias.

Nomi lächelte. »In meinem Beruf kann ich mir den Tag frei einteilen.«

»Was für ein Luxus«, erwiderte Elias. »Und ich bin der Nutznießer, weil du jetzt bei mir sein kannst.«

Nomi erzählte ihm alles über die Adoptionsbehörde, die ihr Leben seit fast dreißig Jahren mit Trubel erfüllte. Er hatte zwar gewusst, dass ihr Beruf mit Waisenkindern zu tun hatte, fand es aber überraschend, wie gut sie sich darin eingerichtet hatte. Dank ihrer Entschlossenheit und ihres Fleißes hatte sie vielen bedürftigen Kindern ein neues, liebevolles Zuhause schenken können.

Sie goss ihnen beiden ein Glas Tee ein und bot Elias ein paar Nusskekse an.

Sie erwog, auch dem alten Mann, der im Bett neben Elias schlummerte, ein Glas Tee anzubieten. Er war schon am Tag zuvor da gewesen, aber erst jetzt betrachtete sie ihn bewusst. Der Anblick seines ausgemergelten, bleichen Körpers unter dem Laken tat ihr weh. Der alte Mann öffnete die Augen. »Möchten Sie einen Schluck Tee?«, fragte sie laut.

»Ich höre ausgezeichnet«, gab er zurück. »Und sehen kann ich auch noch gut. Tee? Nein, danke.«

»Er ist ganz verrückt nach Espresso«, erklärte Elias kichernd. »Wenn du ihn umbringen willst, musst du ihm bloß ein Glas Tee reichen.«

»Was denn, bin ich vielleicht ein junger Kerl wie du?«, fragte der alte Mann. Er klang verbittert, aber seine Augen leuchteten. »Wenn ich noch zehn Jahre hätte, würde ich auch Tee trinken, aber meine Zeit ist begrenzt. Ich will nur guten, starken Espresso.«

Nomi bemerkte, dass er graue Augen hatte. Seine kantigen Gesichtszüge wurden von einem weißen Haarschopf umrahmt.

Eine arabische Krankenschwester erschien, um den altenMann samt Bett in den Innenhof zu rollen. Elias und Nomi hörten sie noch lange singen, als sie mit ihm den Flur hinunter verschwand, und auch das Quietschen des Bettes und das »Pling« des Aufzugs. Elias nannte die Krankenschwester die »Sängerin von Abu Dis«, weil sie so gern Melodien trällerte.

»Niemand kommt ihn besuchen«, erklärte Elias. »Nur einmal war eine geschäftige Frau im grauen Kostüm bei ihm. Sie sah, dass er schlief, gab einen besorgten Laut von sich und ging wieder. Wahrscheinlich eine entfernte Verwandte. Seitdem versucht er, nicht mehr zu schlafen, falls wieder jemand zu Besuch kommt.«

Nomi stand auf und ging hinüber zum Namensschild des Mannes. »Hier steht, er heißt Yehoyachin.«

»Sag bloß!«, erwiderte Elias. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Die Ärzte nennen ihn Herrn Herschlag. Er ist schon neunzig. Zuerst war es uns unangenehm, ein Zimmer teilen zu müssen, aber seit wir einander in unserer Nacktheit und Schwäche erlebt haben, haben wir nichts mehr zu verbergen.«

Eine Sache wollte Nomi mit Elias klären, solange Herschlag nicht im Zimmer war. »Warum ausgerechnet ich?«, fragte sie. »Warum nicht deine Kinder? Oder deine Nichten und Neffen, deine Cousins?«

»Willst du das wirklich wissen?« Er sah ihr direkt in die Augen. »Weil du ein verschwiegener Mensch bist. Du hast auch unser Geheimnis bewahrt. Ein neunjähriges Mädchen, das nichts ausplaudert, das die Bedeutung der Sache und das Risiko begreift, das der Versuchung widersteht, sein Wissen für sich selbst auszunutzen. Meine eigenen Kinder hätten das nicht geschafft. Wenn ich könnte, würde ich es selbst tun. Aber ich kann nicht einfach aus dem Fenster springen, das würde meine Familie zu sehr mitnehmen, und ich kann mich auch nicht vor einen Zug werfen. Aber hier, im Krankenhaus … Ich bräuchte nur ein paar Schlaftabletten, dann würde es aussehen wie ein natürlicher Tod. Die Leute werden sagen: ›Er hat sich abends schlafen gelegt und ist am Morgen nicht mehr aufgewacht. Wenigstens musste er nicht leiden.‹«

»Es wird dir bald besser gehen«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund werden. Du wirst noch viele Tage voller Sonnenschein erleben, und dann wird es dir leidtun, dass du je solche Gedanken gehegt hast.«

»Nein, meine Liebe, gesund werden nur Menschen, die das auch wollen. Aber ich wünsche mir, bei ihr zu sein. Das ist vielleicht das Einzige, was ich im Leben selbst bestimmen kann. Auf so viele andere Entscheidungen hatte ich keinen Einfluss.«

»Diese ist aber auch besonders drastisch«, sagte sie. »Endgültig und absolut und unumkehrbar.«

»Ich habe meinen Frieden damit gemacht. Und du? Du warst immer der Talisman unserer Liebe. Vielleicht wirst du es eines Tages genauso sehen.«

»Hast du denn gar keine Angst?«, wollte sie wissen.

»Ich habe schon lange keine Angst mehr«, entgegnete er. »Ich betrachte den Tod als etwas Natürliches. Wir werden geboren und wir sterben, wir wissen bloß nicht genau, wann. Die Menschen drehen fast durch vor Angst, weil sie nicht wissen, wann es passieren wird. Es ist die bekannteste Unbekannte der Welt. Aber für mich ist sie nicht unbekannt. Ich weiß, wann und warum es geschehen wird, und darum bin ich ganz ruhig.«

»Es muss doch etwas geben, was dir das Leben leichter macht«, sagte Nomi.

»Ich werde sie nie vergessen. Auch nach meinem Tod nicht.«

1947

Die Straße unter ihr war zu Ehren des Feiertags geschmückt. Die Machthaber– die britischen Mandatsherren über Palästina– bestimmten, wann ihre Untertanen feiern sollten. Lila beugte sich über das Geländer der Tribüne, die nur für diese Feierlichkeiten errichtet worden war. Ihre Finger hinterließen Abdrücke in der frischen Farbschicht, und im Gegenzug nahm sie einen dünnen weißen Film auf der Hand und den Geruch nach Terpentin mit. Sie ließ etwas von sich selbst dort zurück, und gleichzeitig blieb etwas von diesem Ort an ihr haften. Eines Tages, dachte sie amüsiert, würde man anhand ihrer Fingerabdrücke feststellen, dass sie hier gewesen war.

Die Sonne schien warm, aber noch nicht unangenehm heiß, und die meisten der Diplomatenfrauen hatten Sommerhüte auf. Nicht aber Lila. Sie trug ein helles Kleid mit kaffeefarbenen Punkten und einen breiten Gürtel, der ihre schmale Taille gut zur Geltung brachte. Ihr kastanienfarbenes Haar war zu einer kecken Frisur geschnitten und fiel ihr fast bis auf die Schultern. Sie hatte sich im Gegensatz zu vielen anderen Frauen auf der Tribüne nicht übermäßig herausgeputzt und hatte etwas Reserviertes und Kultiviertes an sich, das man nicht auf den ersten Blick entdeckte.

Sie war von der Frau des britischen Attachés eingeladen worden. »Warum denn nicht?«, hatte die Frau gesagt. »Es wird bestimmt schön. Nehmen Sie sich den Tag frei und mischen sich ein bisschen unter die feinen Leute von Jerusalem. Wir treffen uns dann dort.«

Die Ehefrauen der Diplomaten mochten sie. Sie schätzten sie wegen ihrer professionellen Haltung und ihrer Schweigsamkeit, während sie selbst munter plauderten. Wenn sie Lila zu einem Hausbesuch bestellten, brachte sie ihr eigenes Werkzeug mit und verhalf trockenen, vernachlässigten Händen zu Eleganz und Vornehmheit. Dann erklärte sie den Frauen auch immer, dass Handschuhe dazu dienten, schöne Hände bis zum richtigen Moment zu verbergen, und nicht etwa, um die Hände von Waschweibern zu verstecken.

In der ganzen Stadt prangten Aufrufe zum Boykott der Parade der »britischen Besatzer«, aber Lila gehörte keiner Organisation oder Protestgruppe an. In ihr loderte keine Flamme, keine Begeisterung für subversive Aktionen. Sie war eine unabhängige Frau, kümmerte sich um sich selbst und um das bisschen, was sie besaß. Den Unterschied zwischen ihrem bescheidenen Dasein und dem Leben der privilegierten Menschen, mit denen sie zusammen auf der Tribüne stand, kannte sie genau. Solange sie keine Anstalten machte, die Klassenschranke zu überwinden oder sich einen reichen Ehemann zu angeln, war alles in Ordnung. Ihre Gleichgültigkeit Pracht und Luxus gegenüber schützte sie.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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