Überraschenderweise Heilerin in Lappland - Petra Mattus - E-Book

Überraschenderweise Heilerin in Lappland E-Book

Petra Mattus

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Beschreibung

Tiefe, unbenennbare Sehnsucht, die Petra schon als Kind in ihrem Inneren trug, führt sie auf die weite Reise in den Norden, in die Wildnis Lapplands, und schliesslich in die Welt heilender Energie. Sie erzählt Dir von den wundersamen Zufällen ihres Lebens, die sie Etappe für Etappe zu ihrer Berufung führen, vom Schamanenleben zur Quantenenergie. Auf diesem Weg erfährt sie tiefe Verbundenheit mit der Schönheit der Natur, aber auch Situationen mit Todesangst. Sie erlebt grosse Liebe, bittere Enttäuschungen und Unsicherheit sowie tiefgehende Erfüllung auf überraschende Weise. Dies alles bildet eine berührende Gesamtheit, in der ihr Leben in Lappland und ihre seelisch-geistige Entwicklung miteinander verschmelzen. Zugleich inspiriert sie Dich, Dein eigenes Leben aus höherer Perspektive zu betrachten, um die Botschaften Deines Lebens zu erkennen. Sie ermutigt Dich, in die Richtung Deiner Sehnsucht zu gehen. Im Kapitel "Seiten für Dich" findest Du zusätzlich weiterführende und bestärkende Ratgebung, die Dir auf Deinem persönlichen Weg weiterhilft. Das Buch vermittelt Licht und Kraft - direkt an Dich! Zufall gibt es nicht.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Hinweis

Die Arbeit eines Heilers /einer Heilerin ist selbständig und von anderen Behandlungsarten unabhängig. Sie ersetzt nicht die offizielle Medizin sowie die damit verbundenen Untersuchungen, medikamentösen Behandlungen oder andere Behandlungen, Maβnahmen und Anweisungen. Der Leser trägt selbst die Verantwortung für seine Entscheidungen bezüglich seiner Gesundheit.

Inhalt

Vorwort

Bilder der Kindheit

Das eigene Leben beginnt

Berührung des Nordens

Die Führung der Zufälle

Die Weihe

Weiβe Weite

Rosen der Moltebeere

Feuer der Liebe

Steinherz

Adler und Dreieck

Das fehlende Teilchen

Licht der Verwandlung

Ein bisschen über meine mediale Arbeit

Seiten für Dich

Anmerkung:

Die im Text mit *Sternchen markierten Namen sind geändert /fiktiv.

Erklärungen für die mit zwei **Sternchen markierten Namen:

(Die) Samen: Naturvolk in Lappland (auch Lappen genannt)

Ukonkivi: Heilige Insel im Inarisee

Kaamos: Polarnacht

Herzlichen DANK an alle,

die bei der Verwirklichung dieses Buches mitgeholfen haben,

insbesondere an Sari Seesteilä und Tante Lille

sowie Iisakki, meinem lieben Mann,

für seine Unterstützung und seinen Mut.

Zufall

– so wie ihn die meisten Menschen begreifen –

gibt es nicht.

Er enthält immer Information

in Form einer Nachricht oder einer Möglichkeit,

und wir selbst entscheiden, wie wir damit umgehen.

Vorwort

Mein Leben hat mich in vieler Hinsicht bereichert und Möglichkeiten geboten, die ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Der Gedanke, ein Buch darüber zu schreiben hat sich in den letzten zwanzig Jahren ab und zu vage gemeldet. Dazu meinte ich jedesmal: »Vielleicht dann wenn ich alt bin.« Letzten Sommer kam der Gedanke wieder, ganz überraschend und stark. Ich sagte ihm: »Erst mal warten, ich kann mich auf keinen Fall jetzt mit solchen Sachen beschäftigen, die Moltebeeren sind fast reif – und dazu noch alles andere.« Aber es kamen ganz von selbst Textzeilen, Überschriften und Themen in meinen Sinn sowie Anweisungen wie ich vorgehen soll. Ich schrieb sie auf und sammelte die Zettel in einer kleinen Schachtel. Plötzlich hatte ich mit dem Schreiben begonnen, inmitten aller Eile.

Als Quelle dieser Führung nahm ich eine wunderbare, lichtvolle Energie wahr, die dem Buch einen klaren Rahmen gab:

»Autobiografie vom Schamanenleben zur Quantenenergie«.

Im Buch wird meine persönliche Reise zwischen beiden Energien geschildert. Schon als Kind spürte ich in meinem Innersten tiefe Sehnsucht nach irgendwohin – ohne zu wissen was ich suchte. Dennoch lenkten mich die Geschehnisse und Erfahrungen in meinem Leben die ganze Zeit über in die Richtung meiner Sehnsucht, auch wenn ich das nicht sehen konnte.

Gerne nehme ich Dich mit auf die Reise in die Wirklichkeit meines Lebens, in der ich wundersamen Zufällen begegnet bin. Unsicherheit, gefährliche und lustige Situationen, groβe Liebe, bittere Enttäuschungen, sowie Erfüllung in unvorhersehbarer Weise bilden eine berührende Gesamtheit, in der Alltagsleben und seelisch-geistige Entwicklung miteinander verschmelzen. Zugleich möchte ich Dich dazu inspirieren, Dein eigenes Leben von einem höheren Blickpunkt aus zu betrachten, um die Botschaften Deines Lebens zu erkennen. Ich möchte Dich dazu ermutigen in die Richtung Deiner Sehnsucht zu gehen – mit offener Einstellung, denn das bringt Dich weiter auf dem Weg zum Ziel, auch wenn Du Dir nicht bewusst bist, was Dein Ziel ist.

Den Originaltext dieses Buches habe ich in finnischer Sprache geschrieben. Es trägt den Titel »Sattuman lahja« - das heiβt »Geschenk des Zufalls« - und wurde 2016 veröffentlicht. Die Übersetzung ins Deutsche trägt winzige Elemente der finnischen Sprachmelodie.

Bist Du bereit auf eine Lebensreise zu gehen?

1 Bilder der Kindheit

Ein junges Paar war beim Abendspaziergang. Es war Februar, kalt und dunkel. Der junge Mann versuchte, seine Verlobte auf die Schutzmauer zu locken. Hinter der Mauer floss die *Prenzig.

Die junge Frau wagte sich nicht auf die Schutzmauer zu steigen, sie fürchtete sich vor dem Gedanken, ihr Verlobter könnte sie hinunter in den Hochwasser-Fluss stoβen, damit alle Probleme im Strom verschwänden.

Der junge Mann war mein Vater, die junge Frau meine Mutter, ich im Mutterleib.

Ihre Liebe litt unter dem Druck vieler Probleme, und die Eltern beider waren gegen ihre Heirat. Aus zwingenden Gründen, angesichts der Schwangerschaft, heirateten sie im März 1958. Zwei Monate später kam ich auf die Welt.

Vater machte sein Lehrerstudium, Mutter arbeitete im Büro. Wir wohnten in *Burgfeld, in der Nähe von Vaters Familie.

Als ich gut ein Jahr alt war, brachte mich Vater zu Mutters Familie in den Odenwald mit der Absicht, mich vorläufig dort zu lassen. Meiner Mutter gegenüber hatte er kein Wort von seinem Plan erwähnt. Als sie vom Büro nach Hause kam, erschrak sie sehr, denn ich und auch meine Sachen waren weg und niemand wusste etwas davon.

Auf diese Weise kam ich in ein neues Zuhause. Die Familie meiner Mutter wohnte in einem Dorf im Odenwald. Sie hatte einen kleinen Bauernhof mit Getreidefeldern, Kartoffelacker, Apfelbäumen, ein paar Kühen, Schweinen und Hühnern, hauptsächlich für den eigenen Bedarf. Im Haus wohnten damals auβer Oma und Opa noch Opas Mutter und Omas Vater sowie *Lille, die jüngere Schwester meiner Mutter. Eine Katze gab es auch.

Meine Eltern kamen an den Wochenenden um nach mir zu schauen. Die Reise war mühsam und nahm viel Zeit in Anspruch.

Nach eineinhalb Jahren, vor der Geburt meiner Schwester, holten mich meine Eltern zurück nach Burgfeld. Zu dieser Zeit wohnten wir im Haus von Vaters Familie. Das war eine schwierige Zeit. Für mich fühlte sich alles so fremd an. Ich weinte viel und wies meine Mutter ab. Ich wollte zurück zu Oma und Opa, denn das war mein Zuhause gewesen.

Als mein Bruder zwei Jahre später geboren wurde, beschloss Mama, sich dieses Kind von niemandem wegnehmen zu lassen. So war es ihr in bestimmter Weise mit mir und meiner Schwester gegangen, denn Vaters Verwandtschaft mischte sich dauernd in unsere eigenen Familienangelegenheiten ein. So widmete sich Mama nun besonders ihrem kleinsten Kind, doch alle liebten den Jungen.

Ich wurde in den Kindergarten gebracht wie es Sitte in vielen Familien war. Das kam mir von Anfang an wie ein Alptraum vor, denn die gröβeren Buben aus der Nachbarschaft hänselten und schlugen mich. Nach dem dritten Tag lieβ ich mich nicht mehr dorthin bringen, zum Glück durfte ich dann zu Hause bleiben.

So langsam fühlte sich das Leben besser an, normaler, und neben unbehaglichen Dingen geschah auch viel Gutes. Dennoch hat sich vom gleichen Zeitabschnitt, im Alter von fünf Jahren, eine Wahrnehmung auf anderer Ebene in meinem Sinn eingeprägt. Es war ein Moment, den ich tiefgehend erlebt habe:

Mama hatte uns vom Spielen ins Haus gerufen zum Abendbrot. Meine Schwester ging rein, ich blieb auf dem Grasboden sitzen. Ich fühlte mich sehr einsam als der rot leuchtende Sonnenball hinterm Horizont unterging, und mich überkam eine starke Sehnsucht, nach irgendwohin, jenseits der Sonne.

Im Herbst zogen wir um in unser eigenes Haus auf der anderen Seite der Stadt. Das Haus war groβ. Der Umzug brachte viel Neues mit sich, doch ich wartete wie immer mit Begeisterung auf die Wochenenden, an denen wir in den Odenwald fuhren. Ab und zu durfte ich ein paar Wochen lang dort bleiben, mit Oma die Haustiere füttern und mit auf die Felder gehen. Opa wurde morgens zur Arbeit abgeholt, er war Diamantenschleifer in der nächsten Stadt. Das Leben hier empfand ich als ganz anders, viel interessanter und freier. Ich hatte mich schon damals damit verbunden gefühlt, als ich im Kleinkindalter die eineinhalb Jahre hier verbrachte.

In Burgfeld dagegen war es zwischendurch recht langweilig, besonders sonntags. Mit besseren Kleidern musste man aufpassen, dass man sie nicht schmutzig machte, sodass bestimmte Spiele und Zeitvertreib begrenzt waren. Das bedeutete manchmal, nur den Puppenwagen im Hof hin und her zu schieben sowie morgens in die Kirche zum Gottesdienst zu gehen.

Eines Tages fand eine groβe, etwa einen Meter hohe Kerze meine Beachtung, links neben der Kanzel. Ich fragte Tante *Regina: »Warum ist die Kerze da?« Sie sagte es sei das »ewige Licht«. Ich bemerkte dass die Kerze jeden Sonntag etwas kürzer war, sodass ich dann fragte: »Was geschieht wenn das ewige Licht ausgeht?« und Tante antwortete: »Dann kommt das Ende der Welt.«

Innerhalb einiger Wochen war die Kerze langsam niedriger gebrannt und ich begann mir Sorgen zu machen wegen dem kommenden Weltende. Eines Sonntags war die Kerze schlieβlich so klein, dass ich sicher war, es würde sehr bald passieren. Der Gedanke bedrängte mich. Voller Angst ging ich am nächsten Sonntag in die Kirche und schaute gleich, ob die Kerze noch brannte? Meine Verwunderung war unbeschreiblich, als ich an ihrem Platz eine mit groβer Flamme brennende Kerze sah, ganz neu und einen Meter hoch.

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags fuhren wir zu Oma und Opa in den Odenwald. Unser zweijähriger Bruder war ernst und müde. Dann bekam er starke Bauchschmerzen. Wir vermuteten, er hätte zu viele Süβigkeiten gegessen, aber die Schmerzen lieβen gar nicht nach, sodass wir abends wieder heimfahren mussten.

Am nächsten Morgen, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, wurde er mit Blaulicht in die Kinderklinik gebracht. Trotz Wiederbelebungsversuche starb er. Mama konnte es nicht fassen, sie war vollkommen unter Schock.

Als Todesursache wurden Würmer im Darmbereich festgestellt. Der Vater unseres Vaters hatte die Angewohnheit, die Gemüsebeete mit den Toilettenabwässern zu düngen. Deswegen mussten wir jedes Jahr eine Wurmkur machen. Weil mein Bruder unter Ohrenentzündungen litt, riet der Hausarzt dazu, ihm das betreffende Medikament erst später zu geben, nachdem er sich erholt hätte. Das wurde dann vergessen.

Damals war ich sechs Jahre alt. Das Leben um mich herum war plötzlich still geworden. Die Erwachsenen trugen tiefe Trauer, lange Zeit.

Meine Schwester war gerne in Gesellschaft von Jungs. Sie begann eine jungenhafte Rolle anzunehmen, und irgendwie als Zeichen dessen band sie sich oft ein längliches Holzstück mit einer Schnur um den Bauch. Die Erwachsenen amüsierte das. Meine Schwester hatte bemerkt, dass die Stellung eines Jungen in unserer Familie wertgeschätzter war und versuchte nach dem Tod unseres Bruders diesen Platz auf ihre eigene Weise einzunehmen.

Wir freuten uns immer wenn Tante Regina vorbeikam, denn das erleichterte die Atmosphäre bei uns zu Hause. Um zu erreichen dass sie länger bliebe, versteckte ich eines Tages ihren Autoschlüssel. Ich erfand ein sicheres Versteck, indem ich den Schlüssel in ein zerknülltes Papierstück einwickelte und in den Papierkorb warf. Als sie weggehen wollte, aber ihren Autoschlüssel nicht finden konnte, wurden natürlich alle möglichen Plätze vielmals durchsucht. Die Stimmung war gar nicht mehr gut, sodass ich schlieβlich das Versteck offenbarte.

Ich hatte langes Haar. Das gefiel mir, doch Vater konnte es nicht ertragen im Waschbecken oder anderswo einzelne Haare oder irgendwelche Krümel zu sehen. Deswegen beschloss er eines Tages, mein Haar sehr kurz zu schneiden und befahl mir, mich hinzusetzen. Damit war ich natürlich nicht einverstanden, aber Widerstand nutzte nichts. Mit seinen starken Armen zwang er mich auf den Stuhl und zum Nachgeben. Das Endergebnis war für mich schrecklich anzusehen: Ich sah nicht mehr nach mir selbst aus. Ich schämte mich vor anderen Menschen und fremde Leute fragten »wie heiβt denn der Junge?«. Es dauerte lange bis ich die Erlaubnis bekam, mein Haar so weit wachsen zu lassen, dass man es zum Pferdeschwanz binden konnte. Dabei entstand für mich der Stress, ständig nachzuschauen, ob vielleicht ein langes Haar irgendwo zu sehen war und Vater sich darüber aufregen könnte.

Im Frühjahr begann ich in die Schule zu gehen, das brachte Abwechslung. Zu Hause normalisierte sich das Leben so langsam, jedenfalls oberflächlich.

Etwa zwei oder drei Jahre nach dem Tod meines Bruders nahmen Vater und Mama an Tanzkursen teil. Meine Schwester und ich blieben dann alleine in dem groβen Haus. Sie gingen einmal in der Woche abends weg, wenn wir zu Bett gegangen waren, und kamen nachts zurück. Ich hatte furchtbare Angst. Ich wachte im Horror, getraute mich kaum zu atmen. Ich hörte alle möglichen Knackse, die bestimmt nur die Geräusche des Hauses waren. Dennoch haben mir keinerlei Erklärungen geholfen, ich hatte schreckliche Angst, dass jemand einbrechen und mich umbringen würde. Mehrmals bat ich meine Eltern, nicht wegzugehen, aber vergebens. Zum Glück fand ich eine Notlösung, die mir half diese Situationen durchzustehen: In dem Moment, in dem sie das Haus verlieβen, rannte ich zur Toilette. Das war ein äuβerst kleiner Raum, nur für Toilettenschüssel und winziges Waschbecken. Dort fühlte ich mich wesentlich sicherer als in meinem Zimmer, wo plötzlich jemand unterm Bett sein könnte, oder unterm Tisch, oder hinterm Schrank. Dort wartete ich

dann immer etwa fünf Stunden lang. Erst wenn ich sie die Tür aufmachen hörte, getraute ich mich in mein Zimmer zu schleichen.

Meine Schwester hatte keine Angst und schlief in ihrem eigenen Zimmer, bis sie ein paar Wochen später auch Angst bekam. Da bat sie mich zur Toilette mitkommen zu dürfen. Das war ziemlich eng für uns beide, aber wir fühlten uns sicher. Sie ging noch nicht zur Schule, sodass ich ihr zum Zeitvertreib das Alphabet und die Zahlen beibrachte.

Hinter unserem Haus lag ein groβer Garten mit einer relativ langen Rasenfläche. Dort konnte man Federball spielen, um die Wette laufen oder Hoch- und Weitsprünge machen. Manchmal spielte sogar Vater mit.

Einmal erlebte ich in einem traumähnlichen Zustand, dass ich allein auf dem Rasen war, rannte und immer höher sprang. Je höher ich kam, um so leichter fühlte sich mein Körper an. Welch ein wunderbares Erlebnis! Dann schwebte ich in meinem Energiekörper viele Meter hoch über dem Rasen und verspürte dabei eine Kraft, die mich ständig höher zog. Ich war schon sehr weit, zwischen Erde und Sonne, als mich ein erschreckendes inneres Wissen traf: Ich konnte nicht mehr zurück wenn ich jetzt noch weiterging. Angst und die Hoffnung zurückzukommen, bildeten die Kraft, die mich wieder nach unten zog.

In der Schule waren meine Lieblingsfächer Sport und Handarbeit. Mathematik fiel mir schwer. Vater versuchte mir einiges beizubringen, meistens am Abend vor einer Klassenarbeit, was oft mein Versagen noch verstärkte. Wenn er seine Geduld verlor schlug er mich und dabei verschloss ich mich noch mehr. Zusätzlich war die Situation davon belastet, dass mein Lehrer schon Vaters Lehrer gewesen war und er meinen Vater nicht leiden konnte. Deswegen mochte er auch mich nicht.

Obwohl ich Angst vor meinem Vater hatte, liebte ich ihn dennoch und versuchte, ihm gefällig zu sein. Meine Mutter empfand ich irgendwie als »farblos«. Sie kümmerte sich gut um uns und den Haushalt, machte uns schöne kleine Überraschungen und solche Dinge, aber gleichzeitig empfand ich sie als weit weg. Zwischen mir und meiner Mutter hatte sich keine solche Gefühlsverbundenheit entwickelt wie ich sie mit Oma und Vater hatte. Ich wusste damals nicht, dass Mama noch in tiefer Trauer um den Verlust ihres kleinen Jungen war. Auch immer wieder neue Familienstreitereien, vor allem innerhalb Vaters Familie, bedrückten sie – und Schuldgefühle wegen des Schmerzes, den sie ihrer eigenen Familie zugefügt hatte durch die Heirat mit meinem Vater.

Sonntags mussten wir gewöhnlich in die Kirche zum Gottesdienst gehen. Obwohl ich an Gott glaubte, habe ich seine Anwesenheit nicht in Kirchen wahrgenommen. Ich saβ auf der Bank wie die anderen auch, hörte die Lieder die gesungen wurden. Die Zeremonien waren mir bekannt, aber ich fühlte mich als »nicht dazugehörig«. Erst jetzt finde ich Worte für diese Empfindung: Ich war wie in einer dicken grauen Wolke, die aus Sorgen, Trauer und Leiden der Menschen bestand, sowie der Macht der Kircheninstanz. Je gröβer und mächtiger die Kirche gebaut war, mit all ihren Kunstwerken, um so stärker fühlte ich die Anwesenheit der kirchlichen Herrschaft. Ihr Gott war begrenzt in dieser Wolke, die gleichzeitig das helle Licht des wirklichen Gottes bedeckte – wie eine Regenwolke die Sonne bedeckt.

Ich genoss es sehr, alles mögliche zu basteln, hatte auch eigene Ideen und versuchte sie zu verwirklichen. Dadurch gelangte ich in eine innere Welt, in der es wunderbar war und ein paar Stunden fühlten sich oft wie ein Moment an.

Im Laufe der Zeit war in unserem Haus, wie auch im Hof und Garten, alles fertig geworden samt den kleinen Einzelheiten, sogar einen hübschen Springbrunnen hatte Vater auf die Terasse gebaut. Im Kellergeschoss war ein kleiner Tanzraum mit Bartheke eingerichtet worden, wo unsere Eltern ab und zu Partyabende veranstalteten. Erstaunt bewunderte ich die riesigen vielarmigen Tintenfische, die Vater auf Fuβbodenpapier gezeichnet, ausgeschnitten und bemalt hatte.

Die waren eine tolle Dekoration an den Wänden des Partykellers, wo auch noch Netze und echte Muscheln befestigt waren, ganz nach italienischem Stil.

An einem Sonntag berichteten Vater und Mama, dass wir bald wegziehen würden nach Nord-Deutschland. »Wieso denn?! Jetzt, wo endlich alles so schön hier ist!«, sagte ich mit groβer Verwunderung. Ich empfand die Nachricht als schlimm und unbegreiflich, so eine Möglichkeit war mir nie in den Sinn gekommen. Dabei würde ich auch meine liebste Freundin verlieren. Wir gingen in dieselbe Klasse und ich durfte oft zu ihr nach Hause. Dort war die Atmosphäre viel leichter und heller als bei uns daheim.

Wir zogen also weit weg nach *Ruhrstadt. Hier waren Redensart und Menschen anders als in meiner Heimat. In der Schule wurde ich ausgelacht wenn mir zwischendurch ein Wort in eigener Mundart entfallen war. Ich schämte mich, aber ich kam darüber hinweg.

Zu Oma und Opa kam ich nur noch selten, nur in den Schulferien. Zum Glück fand ich zwei gute Freundinnen. Ich war 11 Jahre alt, ging ins Gymnasium, und nach der Schule gab es eine Menge Hausaufgaben zu erledigen. In meiner Freizeit malte ich gerne mit Wasserfarben bunte Bilder, in denen viele kleine Einzelheiten zu sehen waren. In dieser schöpferischen Welt war ich vollkommen anwesend.

Die Atmosphäre zu Hause war fast die ganze Zeit über angespannt. Wir atmeten jedesmal auf vor Erleichterung wenn Vater eine Konferenz hatte, denn dann kam er erst abends heim. Er war Rektor einer Berufsschule.

In meiner Familie fühlte ich mich als auβenstehend und hatte das Bedürfnis, mich zu schützen. Abends, bevor ich einschlief, suchte ich in meinem Inneren nach etwas, das ich nicht mit Worten ausdrücken konnte. Es hatte mit meiner inneren Sehnsucht zu tun. Es war etwas unbegreiflich Schönes, Helles und Mächtiges. Jeden Abend, wenn ich mich darauf konzentrierte was ich suchte, nahm es eine königinnenhafte Gestalt an. Ihre Kleidung war aus weiβem Licht, das so stark blendete, dass ich sie niemals richtig sehen konnte, aber an der »Krone« waren »funkelnde Edelsteine« durch das strahlende Licht zu sehen. In meinen Gedanken kniete ich mich immer vor sie hin, senkte meinen Kopf, denn sie war von sehr hoher Ebene. Ich erzählte ihr von meinem Kummer und fragte um Rat. Ich bekam Trost und Frieden und schlief in diesem Zustand ein. Manchmal betete ich auch, aber dabei habe ich nie solch eine Berührung und Verbindung gespürt, obwohl ich mit meinen eigenen Worten betete.

Das Leben ging weiter. In die Reihe von schwierigen Tagen mischten sich dennoch immer wieder gute Ereignisse. Mit Klassenkameraden konnte ich Probleme teilen und dabei bemerken, dass auch andere ihre Schwierigkeiten zu Hause hatten.

Fast alles was ich tat war inVaters Augen falsch. Er pflegte zu sagen: »Du hast zwei linke Hände«, womit er meinte, dass ich die Sachen irgendwie falsch mache. Ich war von Natur aus linkshändig. Wie es damals üblich war, wurde auch ich als Kind zu rechtshändig erzogen. Ich lernte mit rechts zu schreiben, aber reagierte meistens mit dem linkshändigen »Programm«. Zum Beispiel das Kehren der Küche mit dem Besen war immer wie ein Alptraum. Ich würde, wie er sagte, in die falsche Richtung kehren, und ich begriff einfach nicht wie ich es machen sollte, damit es ihm recht war. Wenn er zu schreien und zu schlagen anfing, verschloss ich mich total – oft schon im Voraus.

Beim Hausaufgabenmachen musste ich jede Stunde runter in den Hof gehen und ein paar Minuten rennen, damit ich Sauerstoff bekam um besser denken zu können. Er meinte es bestimmt gut, aber auf diese zwingende Art und Weise hat es wenig Gutes gebracht. Ich schämte mich bei dem Gedanken, was denn die anderen Bewohner des Hauses von mir hielten wenn sie mich jede Stunde ums Haus rennen sahen.

Manchmal saβ ich einfach da, dachte an Schulsachen, Malen, alles mögliche. Manchmal waren meine Gedanken irgendwo weit weg ohne dass ich mir über Konkretes bewusst war, eigentlich habe ich dabei garnichts gedacht. Wenn Vater dazu kam, fragte er üblicherweise: »Was denkst du?«. Ehrlich sagte ich: »Nichts«. »Du lügst«, behauptete er, »ich habe Psychologie studiert, ich weiβ dass deine Antwort eine typische Trotzreaktion ist. Erzähl mir jetzt was du denkst.« Anfangs widersprach ich ihm, aber das half nichts, so musste ich jedesmal was erfinden, damit ich meine Ruhe bekam.

Es war Nacht. Ich war aufgewacht und lag eine Zeitlang auf dem Rücken. Dann fühlte ich wie mein Körper sehr schwer wurde. Beine, Rücken, Arme und Kopf waren so schwer, dass ich sie nicht mehr bewegen konnte, dabei nahm das Gefühl der Schwere ständig zu. Ich war so schwer, dass sich mein Körper durch die Matratze drückte, durchs Bett, den Fuβboden und das Kellergeschoss. Ich hatte mich von meinem physischen Körper gelöst – der da im Bett lag – und war in den Energiekörper geglitten. Damals wusste ich überhaupt nichts von solchen Sachen oder Begriffen. Das »Ich«, das durch alle Schichten ging, fühlte sich genauso an wie das »Ich«, das zur Schule ging oder Schokolade aβ.

Die Schwerkraft in mir nahm ständig zu, genauso die Geschwindigkeit mit der ich nach unten fiel. Mit Raketengeschwindigkeit kam ich durch einen schwarzen Schacht. Ich hatte keine Angst, war vollkommen gegenwärtig. Ich wusste durch den Erdball zu fallen. Gleichzeitig war in meinem Kopf und in meinen Gedanken ein sehr weites, klares, leichtes, allwissendes Wohlbefinden. Alles bezüglich universaler Existenz und Leben war gleichzeitig in meinem Bewusstsein. Noch nie hatte ich etwas dieser Art erfahren.

Dann bemerkte ich auf einer grünen Wiese zu sitzen, ich schaute mich ruhig um. Morgentau war im Gras, die Sonne stieg von unten hoch, ich war auf einem sehr kleinen Planeten. Obwohl ich nach vorne schaute, bemerkte ich dennoch eine Gestalt, die sich mir von hinten näherte. Mein Sehfeld ging in jede Richtung. Die Gestalt war menschenähnlich und sprach zu mir. Ich hörte kein Wort, sondern die Worte kamen direkt in mein Bewusstsein. Sie waren hohe Weisheiten, Lösungen – Schlüssel meines Lebens. Schlieβlich wurde gesagt: »Du musst zurückgehen, deine Zeit ist noch nicht gekommen.« Im selben Moment spürte ich wieder durch den schwarzen Schacht zu rasen, mit der Geschwindigkeit einer Rakete.

Plötzlich bemerkte ich im Bett zu sitzen, mein Herz schlug so stark, dass es schwer war zu atmen. Zuerst wusste ich nicht wo ich war, wer ich bin. Langsam normalisierte sich meine Atmung und ich begann mich zu erinnern was geschehen war. Ich war vollkommen glücklich und vollkommen verwundert. Ich erinnerte mich im einzelnen daran was die Gestalt vermittelt hatte. Das waren unermesslich wichtige Sachen für mich! Ich staunte sehr – und zugleich belustigte es mich kolossal – wie einfach doch diese Weisheiten waren! In diesem Bewusstseinszustand hatte ich erkannt, dass die Menschen alles viel zu kompliziert sehen. Die Lösung der Probleme ist so unglaublich einfach, so einfach dass sie kaum jemand findet! Es ist wie Witz und Wunder im selben Augenblick! Ich wusste welch wertvolles Wissen ich bekommen hatte und war dabei aufzustehen um es aufzuschreiben, damit ich es nicht vergessen würde. Der Schreibtisch war in der Nähe, darauf Schulhefte und Stifte. Ich saβ schon am Bettrand, doch da überkam mich lähmende Müdigkeit und ich dachte, »das sind so klare Sachen, die kann ich nie vergessen«, und schlief sofort ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte ich mich ganz glücklich daran, was in der Nacht geschehen war. Ich konnte niemandem davon erzählen, denn von den Menschen die ich kannte, hätte es keiner verstanden. So behielt ich diesen Schatz für mich selbst und in meinem Inneren schwang noch viele Tage lang wunderbare Glückseligkeit.

Mama ging nun halbtags arbeiten als Sprechstundenhilfe bei unserem Hausarzt, das tat ihr gut. Vater war für uns alle eine groβe Belastung. Immer mehr wagte ich, mich ihm zu widersetzen, obwohl ich wusste, dass das Schläge mit sich brachte. Dennoch empfand ich es als leichter, körperlichen Schmerz zu ertragen als seelisch zu leiden. Einmal plante ich, ihm geradeheraus meine Meinung zu sagen. Natürlich rechnete ich damit, dass er sich sehr darüber ärgern würde und polsterte meine Hose mit Zeitung aus, um die Schläge zu dämpfen. Der beste Moment kam als ich zum Schluss fragte »reicht es nun?«, meine Hose herunterzog und die Zeitung wegnahm, um meine innere Stärke zu zeigen. Das war das letzte Mal, dass Vater mich körperlich schlug.

Die Ehescheidung meiner Eltern kam für meine Schwester und mich überraschend. Meine Schwester litt sehr darunter und hielt noch viele Jahre danach an der Hoffnung fest, dass Vater und Mutter eines Tages wieder zusammensein würden. Mir brachte die Scheidung groβe Erleichterung. Es tat gut, meine Ruhe zu haben, denn Vater griff am meisten mich an, selten meine Schwester.

Nach gewisser Zeit fand Vater eine eigene Wohnung in der Nähe. Es spannte mich an, wenn ich mit meiner Schwester zu ihm ging und ich mochte nicht, dass wir dort putzen mussten.

Einige Wochen nach der Ehescheidung fand Mama Sparbücher, die Vater im Bücherregal versteckt und beim Umzug vergessen hatte. Es stellte sich heraus, dass Vater längere Zeit lang heimlich Geld überwiesen hatte, auf Sparbücher zwei verschiedener Banken in anderen Städten. Gleichzeitig hatte er ihr versichert, dass ihre Ehe besser werden würde. Von den Geldern hätte bei der Besitzteilung die Hälfte Mama gehört.

Im Dezember zogen wir mit Mama um nach *Auerstein. Die Gegend war uns fremd, aber sie lag nicht so weit vom Odenwald und von Burgfeld. Ich war 14 Jahre alt. Vater rief oft meine Schwester an um sie gegen Mama zu programmieren. Mamas Kräfte und Gesundheit waren schon zu dieser Zeit recht schwach, dennoch ging sie arbeiten.

Natürlich mussten wir Hausarbeiten machen wie Geschirrspülen, Wäscheaufhängen, Staubsaugen und solche Sachen. Meine Schwester war oft nicht dazu bereit gewesen überhaupt etwas zu tun, obwohl ich sie die Aufgaben wählen lieβ. Sie hatte Judo gelernt – und mit solchen Griffen zwang sie mich, meine Forderungen aufzugeben. Wenn die Hausarbeit meiner Schwester unerledigt geblieben war bis Mama erschöpft nach Hause kam, war der Rest des Tages verdorben. Um Frieden zu haben, übernahm ich dann zusätzlich ihren Anteil. Ich hatte Angst vor meiner 12-jährigen Schwester, sie beherrschte mich mit Judogriffen und oft flüchtete ich vor ihr zur Toilette.

Als sie eines Tages Mama mit einem Küchenmesser bedrohte, beschloss ich meiner Schwester die Grenze zu zeigen. Ich schlug sie ins Gesicht. Weil ich Angst hatte, dass meine Angst vor ihr beim Zuschlagen meine Hand bremsen würde, konzentrierte ich meinen Willen vollkommen auf die Schlagkraft. Der Aufprall war so hart, dass meine Hand schmerzte. Die Wange meiner Schwester war feuerrot. Niemand von uns hatte eine solche Situation erwartet. Meine Schwester war absolut zu weit gegangen, sie war für uns zur Bedrohung geworden und das begriff sie nun selbst. Wir weinten alle drei und sprachen darüber was passiert war.

Die Schwierigkeiten mit meiner Schwester gingen dennoch weiter. Schlieβlich bat Mama das Jugendamt um Hilfe. Es wurde ausgemacht, dass sie zu Tante Regina nach Burgfeld zieht, denn Vater wollte sie nicht zu sich nehmen.

Anfangs sah ich Mama teilweise mit Vaters Augen, ich hatte bestimmte Einstellungen ihr gegenüber von ihm übernommen. Auch Mama hatte Vorurteile in Bezug auf mich, denn ich war meinem Vater im Aussehen und Charakter ein Stück weit ähnlich. Trotzdem konnten wir offen miteinander sprechen, auch über schwierige Themen und zwischen uns wuchs immer mehr Vertrauen. So gelang es uns, eine nähere Beziehung aufzubauen.

Bei Mama waren im Laufe der Zeit verschiedene Allergien zum Vorschein gekommen, die sich nun verstärkten und auch vermehrten. Am schlimmsten waren Nahrungsmittel-Allergien, denn sie konnte nichts mehr ohne Beschwerden essen. Manchmal waren sie so heftig, dass es auch innerlich Anschwellungen gab. Dabei konnte sie nicht mehr richtig atmen und es bestand Erstickungsgefahr. Sie war bei vielen Ärzten und Therapeuten in Behandlung gewesen, fand aber nur wenig Hilfe. Das war eine schwierige Zeit. Mama hatte furchtbare Todesangst, auch ich konnte ihr nicht helfen, konnte nur öfters zwischendurch nach ihr schauen, wie es ihr geht und ob ich den Notarzt rufen soll.

Obwohl mich die Situation bedrückte, versuchte ich mich auch auf eigene Sachen zu konzentrieren.

Ich ging ins Gymnasium. Nach unserem Umzug hatte ich wieder neue Kameraden gefunden. Trotzdem fühlte ich mich oft leer, sehnte mich nach etwas, das sich gut anfühlte. In Ruhrstadt hatte ich schon damit begonnen vom Taschengeld zusätzliche Leckerbissen zu kaufen, das nahm nun öfters extreme Formen an. Darauf folgten dann wieder Fastentage und ein Zeitraum, wo ich das Essen von Süβigkeiten im Griff hatte. Die schlimmsten Perioden waren wie bei einem Alkoholiker. Ich aβ so viel Kuchen und Süβigkeiten bis ich in den »Zucker-Rausch« verfiel. Das machte mich innerlich ruhig und müde und ich versank in Schlaf. Wenn ich aufwachte, aβ ich weiter, neben dem Bett waren oft noch Überreste. Wenn nicht, holte ich etwas. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren, ich musste was Süβes haben.

Es gelang mir, die Sache zu verdecken. Seelisch ging es mir schlecht und ich hoffte, es käme jemand um mich festzubinden, damit ich dem Verlangen nicht nachgeben könnte. Ich würde lieber die Entzugserscheinungen aushalten um von dieser Abhängigkeit loszukommen. Dann ging es wieder relativ gut, den Heiβhunger auf Süβigkeiten in Grenzen zu halten.

In Ferien und an langen Wochenenden war ich oft bei Oma und Opa im Odenwald. Dort fühlte ich mich immer wohl.

Manchmal besuchte ich auch die Eltern meines Vaters, wenn ich mich mit ihm in Burgfeld traf. Das war meistens belastend, denn sie sprachen negativ über meine Mutter.

Im Nachbardorf wohnte damals Vaters älteste Schwester, Tante Regina, die ich schon als Kind mochte. Sie war in jungen Jahren in einem Nonnenkloster gewesen, danach Rektorin einer Sonderschule sowie zusätzlich Hilfskraft eines katholischen Theologieprofessors. Sie hatten in verschiedenen Städten gewohnt und meine Schwester und ich durften sie ab und zu besuchen. Wir konnten mit ihnen nach Österreich und in die Schweiz fahren wenn der Professor dort Vorlesungen hielt. Er war auch Pfarrer, und jetzt wohnten sie in einem Pfarrhaus in der Nähe von Burgfeld. Beide hatten ihre eigenen Zimmer, nur Küche und Wohnzimmer waren in gemeinsamer Benutzung.

Als ich sie dort besuchte, konnte ich im Gästezimmer übernachten. Ich war noch nicht müde und ging ans Bücherregal um etwas zum Lesen zu suchen. Dabei fiel meine Aufmerksamkeit auf ein Buch von Elisabeth Kübler-Ross, in dem sie über Untersuchungen von Nahtod-Erlebnissen berichtet. Nachdem ich darin ein paar Seiten gelesen hatte, wurde mein besonderes Erlebnis aus der Zeit in Ruhrstadt sehr lebendig in mir. Obwohl ich damals nicht an der Todesgrenze gewesen war, begriff ich jetzt, dass es sich dabei um eine ähnliche Dimension gehandelt hatte. Mein ganzer Körper fing an zu zittern und ich weinte vor Rührung, als mir mein damaliges Erlebnis erneut ins Bewusstsein drang. Es war als hätte ich es erst gestern erlebt. Auch empfand ich sehr stark das Gefühl der Glückseligkeit.

Ethik und Kunst waren meine Lieblingsfächer im Gymnasium. Irgendwo hatte ich von »zwei verschiedenen Arten zu leben« gelesen: Die eine Art war, in die Tiefe zu gehen, von einer Sache oder einem Thema alle Einzelheiten zu betrachten um sie eingehend zu

untersuchen. Dann weiβ man von einer Sache alles, aber von anderen Sachen nur wenig. Die andere Art war, sich nur an der Oberfläche zu bewegen, um alles kennenzulernen was es gibt, aber so weiβ man von nichts die Einzelheiten. Ich überlegte viele Tage lang, welche von den beiden Möglichkeiten ich für mein Leben wählen sollte. Das war ein Problem für das ich keine Lösung fand. In meiner Lebensumgebung war die Denkweise »entweder – oder« allgemein vertreten. Erst viel später erfaβte ich die Antwort: »sowohl – als auch«!

Einmal, als ich allein zu Hause war, beschloss ich einen Tag lang auszuprobieren, wie es sich wohl anfühlte, blind zu sein. Ich band ein dunkles Tuch über meine Augen, versuchte von einem Platz zum anderen zu kommen, Sachen zu finden und zu machen, ohne etwas zu sehen. Die Erfahrung war interessant, aber seelisch anstrengend. Ich hatte das Gefühl dabei, dass sich mein Blick vollkommen nach innen gerichtet hatte, auf mein eigenes Selbst.

2 Das eigene Leben beginnt

In den Schulferien nahm ich an einer Reise in die Berge teil, die unsere Kirchengemeinde organisiert hatte. Ich war gerade 18 geworden, hatte bald das letzte Jahr im Gymnasium vor mir. Auf dieser Reise lernte ich einen türkischen Mann kennen, der in Deutschland geboren war. Wir interessierten uns füreinander und verliebten uns. Er wohnte weiter weg von Auerstein, drei Stunden mit dem Zug, und so konnten wir uns nur etwa alle drei Wochen sehen. Meistens fuhr ich zu ihm. Er studierte in der Uni Sozialarbeit, in dieser Richtung wollte auch ich nach dem Schulabschluss einen Studienplatz suchen. Er war neun Jahre älter als ich, lebte allein ein einfaches Leben.

Die gemeinsamen Wochenenden vergingen für uns viel zu schnell, sodass ich dann öfters einen Tag von der Schule wegblieb. Wir waren schon ein paar Monate zusammen als er mich fragte, ob ich ihn heiraten würde. Auf diese Frage war ich ganz und gar nicht vorbereitet. Wir gingen im blühenden Stadtpark spazieren, die Sonne schien, es war ein warmer, wunderschöner Tag. Es fühlte sich gut an, dass er mich so sehr liebte und mich heiraten wollte. Mit leiser Stimme sagte ich »ja«.