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Ein Hamburger Arzt macht sich auf die Suche nach türkischen Kampfdrogen; drei Ostindienfahrer mixen in einer Apotheke auf Java ein »unerhörtes« Elixier; der Philosoph Leibniz sucht nach frühesten chinesischen Schriftzeichen; Spanier im peruanischen Potosí müssen sehen, wie in den Minen der Teufel angebetet wird; ein jesuitischer Missionar stößt in Isfahan auf einen östlichen Hermetismus; ein heterodoxer Abenteurer übergibt dem marokkanischen Botschafter ein geheimes Manuskript und ein Vaterunser-Sammler verzweifelt an den Vokabeln der afrikanischen Khoikhoi.
Was zeichnet diese vormodernen Pioniere der Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts aus? Wie gelingt oder misslingt ihnen die Bezugnahme auf die fremden und fernen Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen? Wie sind die Ideen, die bei ihnen anlanden, durch Raum und Zeit gereist? In seinem neuen Buch deutet Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als eine Zeit der Überreichweiten, als eine Epoche, in der Quellen und Nachrichten aus nah und fern sich überlagerten, ohne dass man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war ein Zeitalter der riskanten Referenz, das Mulsow mitreißend und gelehrt vor unseren Augen entstehen lässt.
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Seitenzahl: 972
3Martin Mulsow
Überreichweiten
Perspektiven einer globalen Ideengeschichte
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2022
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Brian Barth
Umschlagabbildung: Carstian Luyckx, Stillleben mit Globus, 17. Jahrhundert, Foto: mauritius images/The Picture Art Collection/Alamy Stock Foto
eISBN 978-3-518-77422-9
www.suhrkamp.de
7In Erinnerung an
Patricia Crone
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11Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde;
die Nation kann es nicht mehr sein.
Erich Auerbach
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Praktiken der Bezugnahme im Prozeß der Globalisierung
Überreichweiten
Globalisierung als Herausforderung der Kulturgeschichte
Globale Kulturgeschichte der Ideen
Referenzverhalten in der europäischen Expansion
Referentielle Lieferketten
Bezugnahme auf Konfuzius
Transmissions- und Gedächtnisgeschichte
Rahmen, implizite Referenzen und kulturelle Übersetzung
Die Globalisierung philosophischer Sprachen
Triangulation der Referenz und referentielle Fehlreichweiten
Eine eigene Narratologie
Perspektivumkehr und Ideenverflechtung
Formen der Transversalität
Die Anlage dieses Buches
Erster Teil Zeitrahmen, transkulturell
Kapitel
I
. Mumien auf dem Boot nach Europa
Eine Doppelhelix
Wer war Hermes Trismegistos?
Eine Apotheke in Breslau
Kircher und der Nahe Osten
Der Transport von Mumien
Jean Bodin und der Hermetismus
Antiquarianismus, Medizin und Chronologie
Hermes in Persien
Drei Hermesse, fünf Hermesse?
Zu einer transkulturellen Hermetismusgeschichte
Ein Moses-Autograph
Chézauds Dechiffrierung
Chézaud und die Buchstaben
Lettrismus und Hermetismus
Chézauds Schema
Gelehrtenrepublik, weiter östlich
Bis nach China
Vorläufiges Fazit einer Mumien-Odyssee
Kapitel
II
. Menschen vor Adam
Galaxien
Präadamiten
Juristische Fiktion und doppelte Wahrheit
Der globalgeschichtliche Kontext
Allergische Reaktionen
Der türkische Spion
Indische Zeiten
Geschichtsastrologie
Jüdischer und (Pseudo-)Babylonischer Präadamitismus
Die Ismailiten und Adam
Persische Zeiten
Clash innerhalb von Indien
Große Konjunktionen und ihre Genies
Cecco von Ascoli und die Zoroastrier
Zanino der Häretiker
Einsickern in die Kunst
La Peyrère und die Orientalistik des 17. Jahrhunderts
Energetische Aktualisierung
Zweiter Teil Fremde Natur und Sprache
Kapitel
III
. Ein Zettelkasten voller Drogen
Opium in Hamburg
Kontakt zu den Orientalisten
Fogels Traktat
Die Ungarn-Hypothese
Etymoskopie
Kulturwanderungen
Übersetzungen
Drogen-Urgeschichte
Der Zettelkasten
Stechäpfel
Mischungen
Welschs Würmer
Fabers Tollkirschen
Lektürespuren
Die osmanische Seite
Derwische
Ein Fazit
Kapitel
IV
. Alchemie zwischen Ost und West
Wissensverlust und Globalisierung
Exklusivität
Schiffbrüche
Batavia
Die Apotheke
Ein alchemisches Labor
Unerhörte Physik
Welt-Schleim
König Salpeter
Chinesische und indische Alchemie
Der asiatische Moor
Der hermetische Bund
Tessa
Warum so kompliziert?
Am Fürstenhof
Das Nachleben
Kapitel
V
. Leibniz' chinesische Bücher
Eine Konstellation
Eine Felszeichnung
Die China-Hypothese
Die Reaktionen
Leibniz' Bücher
Der Antiquarianismus der Nördlichen Song
Wo sind Leibniz' Bücher?
La Crozes Arbeitspraxis und seine Spekulation
Globale Ideengeschichte
Dritter Teil Häresie, global
Kapitel
VI
. Häresietransfer
Vergleich und Verflechtung
Drei Kulturen, drei Häresien
Triangulation
Freidenker im Islam
Schreckgespenst Sozinianismus
Die frühen Antitrinitarier
Der »türkische Christus« und die frühe Islamwissenschaft
Antitrinitarismus als Einstiegsdroge
Eine antitrinitarische Spur durch die Geschichte
Korruptionsgeschichten
Ein geheimer Brief
Emendation des Koran
Die Naturgeschichte des Diskurses
Paulus der Schurke
John Toland und das Barnabas-Evangelium
Fazit
Kapitel
VII
. Ein Vaterunser für die »Hottentotten«
Die Vaterunser-Sammler
Sprache und Religion
Die »Kaffer«
Consensus gentium
Apologetische Kasuistik
Schatten und Licht
Rituale
Urmonotheismus und Kulturkreise
Ideengeographie
Ideengeologie
Ideenchemie
Kapitel
VIII
. Der Teufel und der Jaguar
Teufelsoperator
Oben und Unten
Untergrundwissen
Der Teufel in den Minen
In der Moxos-Ebene
In der Glaskugel
Vom Apostel zum Teufel
Radikale Anthropologie
Die Hügel der Moxos
Noch einmal: Oben und Unten
Epilog Mikrohistorie, Globalgeschichte und die Rekonstruktion intellektueller Praktiken
Anmerkungen
Vorwort
Einleitung: Praktiken der Bezugnahme im Prozeß der Globalisierung
Erster Teil Zeitrahmen, transkulturell
Kapitel
I
Mumien auf dem Boot nach Europa
Kapitel
II
Menschen vor Adam
Zweiter Teil Fremde Natur und Sprache
Kapitel
III
Ein Zettelkasten voller Drogen
Kapitel
IV
Alchemie zwischen Ost und West
Kapitel
V
Leibniz' chinesische Bücher
Dritter Teil Häresie, global
Kapitel
VI
Häresietransfer
Kapitel
VII
Ein Vaterunser für die »Hottentotten«
Kapitel
VIII
Der Teufel und der Jaguar
Epilog Mikrohistorie, Globalgeschichte und die Rekonstruktion intellektueller Praktiken
Abbildungsverzeichnis
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Daß im 21. Jahrhundert Ideengeschichte nicht mehr weiter selbstverständlich aus der Perspektive Europas geschrieben werden kann, ist mir in meinen Jahren als Professor an der Rutgers University in den USA klargeworden. Dort waren Studierende aus allen Kontinenten die Hörer meiner Vorlesungen, und die bisherige deutsche Erfahrung erschien auf einmal provinziell. Prägend war dann die enge Zusammenarbeit mit der Islamwissenschaftlerin Patricia Crone und dem Historiker Jonathan I. Israel am Institute for Advanced Study in Princeton, als wir 2008/2009 zusammen eine Reihe von Tagungen organisiert haben, in denen es um intellektuelle Fernwirkungen radikalen Denkens vom Islam des 9./10. Jahrhunderts bis zum Westeuropa der Aufklärung ging.1 Dabei wurde mir deutlich, daß in der Zusammenarbeit von Arabisten, Judaisten, Byzantinisten, Renaissance-Experten und Aufklärungsforschern völlig neue Fragen gestellt werden konnten und weitmaschige Verbindungen sichtbar wurden, die sonst gar nicht in den Blick kamen. Seit spätestens 2011 beschäftigte mich auch die konkrete Frage, wie eine Adaption der Globalgeschichte für die Ideengeschichte oder »Intellectual History« auszusehen hat und welches die methodischen – aber auch die wissenschaftspraktischen – Änderungen sein werden, die die Ideengeschichte dabei vornehmen muß. Einfach globalgeschichtliche Termini wie »Verflechtung« auf intellektuelle Prozesse zu übertragen, ist ja nicht möglich, ohne daß sehr genau reflektiert wird, ob und wie Aussagen oder Rahmungen von Aussagen sich »verflechten« können.
Aber was ist überhaupt globale Ideengeschichte? Angezielt 14bei diesem Unternehmen sind transnationale und vor allem transkulturelle Verbindungen von Wissensbeständen. Da sich der Begriff »Global Intellectual History« etabliert hat, übernehme ich mit ihm auch das »Globale«; das soll aber weder heißen, daß immer die ganze Welt betroffen ist, noch daß ich überall Verbindungen vermute, auch dort, wo es keine gibt. Unverbundenheit ist genauso ein wichtiger Umstand wie Verbundenheit.2
Jede transkulturelle Forschung ist notwendigerweise standpunktgebunden. Das hängt mit der jeweils eigenen intellektuellen Sozialisierung zusammen. Mein eigener Standpunkt ist Europa, denn bisher habe ich vor allem europäische Ideengeschichte betrieben; das wird im vorliegenden Buch auch deutlich werden. Es sollte aber nicht daran hindern, von diesem Standpunkt aus Fragen nach globalen Verflechtungen zu stellen und ihnen dann auch bis in entlegene Regionen zu folgen. Ich hoffe zu zeigen, daß dies in vielerlei Hinsicht möglich ist, ohne Rücksicht auf engere disziplinäre Grenzen, und daß man sogar eine eigene Narratologie entwickeln könnte, die reflektiert, wie der Sprung ins Außereuropäische gelingen kann.
Nun mögen schnell zwei Einwände erhoben werden. Der erste: Es ist doch vermessen, den Fokus der Untersuchung auf die ganze Welt auszuweiten, zumal wenn auch noch große Zeiträume einbezogen werden. Da verflüchtigt sich jede historische Präzision, von so etwas wie Kontextualisierung ganz zu schweigen. Und der zweite: Es ist vermessen, jenseits der eigenen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen zu forschen, wo man das Quellenmaterial nicht mehr aus erster Hand erheben und kontrollieren kann. In allem, was über die eigenen Kompetenzen hinausgeht, wird man nur Sekundärliteratur wiedergeben und womöglich noch nicht einmal auf dem aktuellen Forschungsstand sein. Beide Einwände sind sehr ernst zu nehmen. Meine Konsequenz, die ich aus dem ersten Einwand ziehe, lautet: Globale Ideengeschichte ist nicht anders als in Fallstudien 15zu betreiben. Für eine umfassende Überblicksdarstellung – falls so etwas überhaupt möglich ist – ist es noch viel zu früh. Doch in Fallstudien kann sehr wohl präzise kontextualisiert werden, auch wenn die Kontexte sich in ferne Regionen hinein erstrecken. Solche Studien können einen Eindruck von der Vielfalt der Wege geben, die in Zukunft zu beschreiten sind. Es ist dabei mein Anspruch in diesem Buch, jedes Kapitel auf neue und oftmals unbekannte Quellen zu gründen – zumindest was die europäischen Quellen angeht – und dabei methodisch flexibel sowie auf dem Stand der neueren kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen zu sein. Zugleich gibt die ausführliche Einleitung den methodischen Rahmen für das Ensemble der Studien.
Der zweite Einwand ist schwerer zu entkräften und zieht, wenn er ernst genommen wird, praktische und sogar wissenschaftspolitische Konsequenzen nach sich. Längerfristig werden, so meine ich, Monographien über globale Ideengeschichte nur von Teams von zwei oder drei Autoren zu schreiben sein, die ihre Kompetenzen zusammenfügen. Erst dann vermeidet man die Falle, im Hinblick auf die Disziplinen, die man nicht aus erster Hand kennt, lediglich Stereotypen und ältere Forschung zu reproduzieren. Bei künftigen Büchern hoffe ich, es so handhaben zu können. Für dieses Buch mußte ich mich noch damit begnügen, eine Vielzahl von Freunden, Kollegen und Kolleginnen mit meinen Fragen zu bestürmen. Für deren Hinweise bedanke ich mich in den Fußnoten – es sind zu viele, um sie hier alle zu nennen.
Immerhin gibt es mehr und mehr Versuche in der Richtung, die mir vorschwebt. Forscher wie Sanjay Subrahmanyam, Giuseppe Marcocci, Jorge Cañizares-Esguerra, Sabine MacCormack, Serge Gruzinski, Antonella Romano, Urs App oder John-Paul Ghobrial, um nur einige zu nennen, haben in den letzten Jahren begonnen, das verwirrende Zusammenspiel von zugleich räumlich und zeitlich weitreichenden Bezugnahmen 16zu erforschen. Mit dem vorliegenden Buch hoffe ich, einen Rahmen für diese Art von Untersuchungen zu geben und dadurch weitere anzuregen.
Noch ein Wort des Dankes: Der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich zu Dank verpflichtet, daß ich im Rahmen der Kollegforschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive«, die ich zusammen mit Jörg Rüpke geleitet habe, mehrere Jahre zu Themen der Verflechtungsgeschichte forschen konnte. Der Volkswagenstiftung danke ich für die Gelegenheit, durch ihr großzügiges Opus-Magnum-Stipendium das Buch abschließen zu können.
Erfurt, im Frühjahr 2022
Wir verfallen immer auf das Fernliegende.
Günter Eich
Überreichweiten kommen zustande, wenn durch eine bestimmte Wetterlage ein fern gelegener Sender sehr viel weiter reicht als gewöhnlich und einen näher gelegenen Sender derselben Frequenz überlagert: Dann bilden sich auf dem Fernsehbildschirm verschobene Bilder mit gleichem Inhalt. Die Konturen verdoppeln und überlagern sich, bei Radiosendern verschieben sich die Töne. Ein Bild aus Zeiten vor dem Kabelfernsehen.1
In diesem Buch wird die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Überreichweiten interpretiert. Als eine Zeit, in der Quellen aus nah und fern sozusagen dasselbe funkten, ohne daß man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war eine Epoche, in der sowohl zeitlich als auch räumlich die Weite des Ausgriffs nicht mit dem, was wir heute als die reale Reichweite erkennen, übereinstimmte. Diese Einsicht möchte ich dazu nutzen, die frühneuzeitliche Ideengeschichte in die Form von »Globalisierung« zu überführen, die ihr angemessen ist. Eine globalisierte Ideengeschichte, eine Intellektualgeschichte in Form einer weitgespannten Verflechtungsgeschichte, wird von vielen heute als dringend nötige Ergänzung der herkömmlichen, meist europazentrierten Sicht18weise auf die Dynamik von Geist und Wissen angesehen. Es scheint ein Punkt erreicht, an dem unterschiedlichste wissensgeschichtliche Disziplinen auf diesen Punkt zulaufen. Man redet von einer »Global History of Science«, von »World Antiquarianism«, »World Philology«, »Global Art History« und auch von einer »Global Intellectual History«.2 Zunächst sind das nur Titel, die den Anspruch markieren, den Fokus über Europa hinaus zu erweitern. Über eine Methode ist damit noch nichts gesagt. Das Spektrum reicht von einer vergleichenden Perspektive3 über punktuelle Konnektivitäten bis zu »entanglements«, dichten Formen von wechselseitigen Transfers.
Die meisten dieser »Globalifizierungen« – um mit Jürgen Osterhammel zu reden4 –, also dieser Ausweitungen von Disziplinen unter dem Eindruck der gegenwärtigen Globalisierung, beziehen sich auf das 19. und 20. Jahrhundert (allenfalls noch das späte 18. Jahrhundert mitgerechnet), denn seit dieser Zeit setzt mit aufkommender Weltpolitik, mit Imperialismus, Kolonialismus, Industrialisierung und Fernhandel, zudem mit immer besserer Kommunikation und funktionierendem Verkehrswesen die akute Phase des Lebens im »Weltinnenraum« des Kapitals – und auch der Ideen – ein.5 Im vorliegenden Buch aber wird der Blick weiter zurück gelenkt. Es geht mir hier um die Vormoderne und spezifisch um die Frühe Neuzeit zwischen (europäisch gesprochen) Renaissance und Aufklärung.
Was ist spezifisch für die globalen Ausgriffe der Vormoderne? Und was ist spezifisch für die globalen, transkulturellen Verflechtungen, wenn nicht ökonomische, soziale oder militärische Beziehungen, sondern Theorietransfers und die Adaption von Ideen im Fokus des Interesses stehen? Diese beiden Fragen müssen beantwortet werden, bevor man sinnvoll von einer globalen Ideengeschichte sprechen kann. Meine Antwort: Die globalen Ausgriffe sind noch risikobehaftet, unsicher, gehen in ihrer Reichweite und in ihrer Erfassung oft fehl. Und: Diese Ausgriffe sind als mentale, intentionale Ausgriffe zu verstehen, 19als referentielle Bezugnahmen auf zeitlich, räumlich und/oder kulturell fernstehende Autoren, Aussagen, Semantiken und Theoriekomplexe.
Daher der Begriff der »Überreichweiten«. Er steht für ein ganzes Bündel von Fehlausgriffen, die zu weit, zu nah, zu unpräzise oder völlig verfehlt sind. Kolumbus glaubte, (Hinter-)Indien erreicht zu haben, als er auf Honduras anlandete. Die Renaissance glaubte, daß sie in Hermes Trismegistos die älteste philosophische Autorität vor sich habe, einen Denker aus der Zeit Abrahams, obwohl es sich in Wirklichkeit bei seinen Schriften um Pseudepigraphen aus dem 2./3. nachchristlichen Jahrhundert handelt. Als die Jesuiten 1549 in Japan anlangten, hatten sie sich von einem aus Japan nach Indien geflohenen Mörder namens Anjirō den (Zen-)Buddhismus erklären lassen, und aufgrund dieser Erklärungen schien es ihnen so, als seien die Japaner Christen, denn sie hätten in wesentlichen Punkten die gleiche Lehre. Umgekehrt hielten die Japaner die Jesuiten für Tenjikujin, Männer aus dem Mutterland des Buddhismus, also Indien. So entstand für kurze Zeit eine völlig unerwartete Nähe zwischen Japanern und Europäern, die einander mit größtem Interesse zuhörten, weil beide Seiten einer Fehlwahrnehmung aufsaßen.6
Oft wird unterschätzt, wie sehr solche Fehlwahrnehmungen die Vormoderne geprägt haben. In mühevollen Lernprozessen, in der Entwicklung kritischer Philologie, Historiographie und Empirie mußten viele von ihnen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts beiseite geräumt werden.7 Nimmt man den Begriff der »Überreichweiten« in diesem umfassenden Sinne als Leitkonzept einer globalisierten Ideengeschichte, wird schnell deutlich, daß – methodologisch gesehen – eine Theorie der Referenz nötig ist, um die spezifische Art transkultureller Ausgriffe, longue-durée-Bezugnahmen und Fehlbewertungen adäquat beschreiben zu können. Erst dann können oft unscharf gebrauchte Begriffe wie Transfer, Transmission oder Adaption präzisiert 20werden. Denn es ist die ständige Einbeziehung einer Differenz nötig, bei der zwischen der intentionalen Bezugnahme auf ein Objekt (z. B. Hermes als Weiser zur Zeit Abrahams) und der realen Beziehung (ausgehend vom Autor aus dem 2./3. Jh.) zu unterscheiden ist. Ich werde das eine »Doppelhelix« nennen, einen Doppelstrang aus gedächtnisgeschichtlichem Bezug und realem Transmissionsgeschehen, und in dieser konzeptionell orientierten Einleitung genauer entwickeln.
Diese methodische Besinnung sollte freilich nicht zu einer philosophischen Sterilität führen. Daher werde ich den Akzent auf das Referenzverhalten setzen, um die verschiedenartigen Bezugnahmen auf transkulturelle Objekte in ihrer Einbettung in Praktiken zu verstehen. Denn intellektuelle Verflechtungen sind ja eingebettet in Reisen und Eroberungen, Handel und Migration – selbst wenn es nur deren schriftliche Niederschläge sind, die einen Lehnstuhl-Wissenschaftler erreichen. Indem die vormodernen Überreichweiten praxeologisch rückgebunden werden, eröffnet sich ein ganzes Feld von neuen Möglichkeiten für die historische Forschung.
Die amerikanische Historikerin Lynn Hunt hat kürzlich in ihrem Buch Writing History in the Global Era eine bestimmte Sorge formuliert, was die Globalgeschichtsschreibung angeht.8 Ursprünglich war das Buch in einer italienischen Version erschienen, als La storia culturale nell'età globale,9 und dieser Titel weist etwas genauer auf die Kernaussage des Werkes hin: Globalgeschichte laufe Gefahr, die kulturgeschichtlichen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zu verspielen. Kulturtheoretisch geprägte Geschichtsschreibung war in den 1970er Jahren aus den Krisen von Modernisierungstheorie, marxisti21scher Sozialgeschichte, serieller Geschichte im Sinne der Annales-Schule und identitätspolitischer Geschichte hervorgegangen – so zumindest das Szenario in den USA, das Hunt beschreibt. Die neuen Kulturtheorien unterminierten hingegen die Grundannahme, die diesen vier Richtungen zugrunde lag, nämlich daß die ökonomischen und sozialen Verhältnisse die darüberliegenden kulturellen und politischen Ausdrucksweisen bestimmten.10 In ihren verschiedenen Ausprägungen als Poststrukturalismus, Postkolonialismus, Postmodernismus, Linguistic Turn und Cultural Studies stellten die Kulturtheorien, vereinfacht gesagt, die alte Hierarchie auf den Kopf: Der kulturelle Code sei entscheidend und durchdringe sogar die »harten« Bereiche des Sozialen und Ökonomischen. Allerdings brachten die Kulturtheorien auch die Abkehr vom Eurozentrismus hervor und entwickelten seit den 1990er Jahren, auf der Höhe des Erfolges, in der ihnen eigenen destruktiven Art eine Reihe von selbstkritischen Einwänden. War nicht die explanatorische Kraft des Kulturellen überreizt worden? Hatte man sich nicht zu sehr auf das Exotische, Lokale, Abgelegene, Unbedeutende, Marginale kapriziert und dabei die großen Faktoren der Weltgeschichte aus den Augen verloren?
In dieses Vakuum ist, so Hunts These, die Globalgeschichte gestoßen. Ihr beträchtlicher Erfolg sei auch als revanchistisches Programm zu sehen: Endlich wieder, nach Jahrzehnten der Vernachlässigung, war es möglich, große Fragen zu stellen, langfristige Fragen, und Fragen nach kausalen Verknüpfungen, nicht nur nach Interpretationen und symbolischen Verhältnissen.11 Es ist das Programm, das in einer fast zeitgleich zu Hunts Buch erschienenen Kampfschrift noch einmal offensiv formuliert worden ist: in Jo Guldis und David Armitages History Manifesto. Dort wird der »Kurzfristigkeit« der Mode des Mikrohistorischen der Prozeß gemacht und das Plädoyer für eine longue-durée-Betrachtung großer Themen zum einen an die Notwendigkeiten heutiger Politikberatung und zum anderen an die 22Möglichkeiten von Big-Data-Computeranalysen angebunden.12 So problematisch das sein mag,13 so ist doch deutlich, daß der Trend der Historiker tatsächlich in diese Richtung geht: Globalgeschichte ist vornehmlich »harte« Geschichte: Wirtschaftsgeschichte, Umweltgeschichte, Sozialgeschichte.
Und genau an diesem Punkt setzt Lynn Hunt mit ihrer Frage an: Welche Konsequenzen zeitigt die Herausforderung der Globalisierung für die Kulturgeschichte? Gehen in ihr Einsichten verloren, die die postmodernen, postkolonialen, kulturalistischen Geschichtsschreibungen schon erreicht hatten? Es gibt ja, so Hunt, noch kein einheitliches, kohärentes Paradigma der Globalisierung.14 Meist wird Globalisierung »von oben« gedacht, von den makroökonomischen Prozessen her, und zumeist auch von den gegenwärtigen Dynamiken, die dann allenfalls auf ihre Vorläufer hin in die Vormoderne zurückverfolgt werden. Dagegen haben sich eine Reihe von Ansätzen »von unten« in Stellung gebracht, bei denen Historiker aus den Quellen heraus die komplizierten und unvorhersehbaren Wege beschreiben, die Globalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit faktisch eingeschlagen haben.15 Sie gehen von der Handlungsperspektive einzelner Akteure oder Akteursgruppen aus und zeigen, daß »ökonomische Motivation nicht länger als automatisch primär angesehen werden muß, und daß selbst in den vielen Fällen, bei denen es um Handel geht, klar wird, daß andere Faktoren wie Geschmackswandel, persönliche Interaktionen, Familienbande, Schreibfähigkeit oder religiöse Empfindungen globale ökonomische Transaktionen erst möglich machen«.16 Damit deutet sich schon an, in welche Richtung eine Globalgeschichte weitergeführt werden kann, die sich nicht völlig abkoppelt von den kulturalistischen Strömungen und Untersuchungen der 1970er bis 1990er Jahre, sondern sie fortsetzt und verbreitert.
Hier will ich den Faden aufnehmen und Hunts Deutung der historiographischen Situation auf ein Feld tragen, das sie nicht vornehmlich im Auge hat: auf das der Ideengeschichte – inter23national gesprochen der »Intellectual History«.17 Auch die Ideengeschichte hat ihren »cultural turn« gehabt, wenn auch erst in den späten 1980er Jahren. Wie Peter Burke sagt, ist Intellectual History heute meist eine Art Kulturgeschichte intellektueller Praktiken.18 Sie ist, von einer Elitegeschichte philosophischer Ideen her kommend, durchlässig geworden zu einer allgemeinen Geschichte des Wissens und der Information, indem sie Aspekte der Räumlichkeit, der Materialität oder der Medialität in sich aufgenommen hat. Um nur einige meiner eigenen Projekte zu nennen: Räumlich kann man fragen nach der Topographie der République des Lettres, ihren Netzwerken und Kommunikationswegen, aber auch nach den Räumen des Untergrundes bei verbotenen Wissensformen.19Materiell gesehen wandelt sich die Frage nach der radikalen Aufklärung in eine nach der Prekarität des Wissens, das nur mündlich oder in Handschriften zirkulieren und dabei verlorengehen kann.20Medial kann philosophische Emanzipation an die parasitäre Benutzung von Literatur oder gar von pornographischen Schriften gebunden sein, um eine größere Verbreitung zu finden.21 Intellectual History hatte also teil an der Konjunktur der Kulturgeschichte und teilte mit ihr die Vorlieben des Kleinen, Lokalen und Marginalen. Es sind ebendie Vorlieben, die nun durch den Trend zur Globalgeschichte in Zweifel gezogen werden.
Mit Hunt im Hintergrund läßt sich daher folgende Frage stellen: Bedeutet Globalisierung auch im Bereich der Ideengeschichte eine mögliche Reversion der »cultural turns«? Gibt es auch in der Ideengeschichte eine Abkehr vom Kleinen und Kurzfristigen? Gibt es auch hier Renegaten des Kulturalismus?
Ja, es gibt sie. Es gibt zum einen einen neuen Trend zu einer Globalifizierung auch der Ideengeschichte, und es gibt zum an24deren einen Trend zur Rückkehr von »big ideas« und Untersuchungszeiträumen der longue durée.22 Die großen Themen sollen wieder beherzt über die Jahrtausende und nun auch über die Kontinente verfolgt werden. Darüber hinaus zeigt der Erfolg der Tetralogie Jonathan Israels zum Radical Enlightenment, die sich aggressiv von den kulturalistischen Erzählungen Robert Darntons oder Roger Chartiers distanziert, daß es auch hier eine revanchistische Agenda gibt, die in das Vakuum vorstößt, das die kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätze hinterlassen hatten: Es soll wieder um das Denken selbst und seine Wirkmächtigkeit gehen.23 In einem anderen Bereich ist im Zeichen des spatial turn die Annäherung von Politischer Ideengeschichte und der Theorie internationaler Beziehungen zu beobachten.24 All das läßt es nicht völlig abwegig erscheinen, auch für die Ideengeschichte die Diagnose von Lynn Hunt zu formulieren: Die Globalisierung der Ideengeschichte geht einher mit einer Abwendung von kulturgeschichtlichen Ansätzen. Fast scheint es, als ob die ungeheure Dehnung, die ein Blick auf globale Zusammenhänge bedeutet, eo ipso dazu drängt, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren.25 Wenn das für die Realgeschichte bedeutet: aufs Ökonomische, dann für die Ideengeschichte: auf die großen Ideen selbst. Steht uns also eine – modifizierte – Rückkehr von Arthur Lovejoys »unit-ideas« bevor? Eine Rückkehr zu den basalen Ideen, die sich über Hunderte oder Tausende von Jahren durchhalten, auch wenn sie immer wieder neue Ausdrucksformen annehmen und andere Verbindungen eingehen?26
Man kann aber auch andersherum fragen, ganz im Sinne von Hunt: Wie ließe sich das Arsenal kulturgeschichtlicher Methoden und Einsichten auch für eine globale Intellectual History bewahren, wie ließe sich bei einer globalen Ausdehnung die kulturgeschichtliche Dimension zurückgewinnen? Zwar ist Jürgen Osterhammel der Meinung, die Ideengeschichte sei von den Problemen, die die Globalifizierung der Disziplinen mit 25sich brächten, nicht so sehr betroffen, denn sie habe nie Makrokonstrukte wie die »Weltwirtschaft« im Bereich des Ökonomischen gekannt und sei von jeher an lokale Spezifiken von Texten gebunden.27 Ich bin mir da nicht so sicher. Ideengeschichte beerbt die immer noch stark an Großtheoretiker wie Hegel gebundene Geistesgeschichte und kennt insofern seit ihrer Geburt geschichtsphilosophische Makrokonstrukte, die schon damals kulturgeschichtliche Kleinarbeit unmöglich gemacht haben.
Es gibt erste Vorschläge, wie das Problem angegangen werden kann. So wird es wichtig sein, die jeweiligen historischen Kontexte, in denen Ideen zirkulieren, auch bei einer globalen Ausweitung und in einer longue-durée-Betrachtung nicht außer Acht zu lassen. Erst Kontexte bieten das Fleisch, an dem die Analyse kultureller Praktiken und Symbole ansetzen kann. Die pragmatischen Kontexte von Ideen innherhalb publizistischer »Sprechakte« oder innerhalb »politischer Sprachen« zu untersuchen, war ja das Markenzeichen der »Cambridge School« gewesen.28 Doch tendieren Kontextualisierungen notwendigerweise zum Mikrohistorischen und lassen sich nicht beliebig räumlich und zeitlich ausweiten. Um diese Schwierigkeit zu beheben, kann man lediglich auf dem beharren, was David Armitage einen »serial contextualism« nennt: man kontextualisiert immerhin die Knotenpunkte der Transmissionsgeschichte von Ideen.29 Wenn eine Idee im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, dann im Bagdad des 9. Jahrhunderts und im Neapel des 15. Jahrhunderts auftaucht, dann ließe sich zumindest an diesen Orten und Zeiten genauer feststellen, in welchen Äußerungskontexten sie verwendet wurde – auch wenn nicht die ganze Überlieferungskette mit allen ihren Zwischengliedern auf diese Weise behandelt werden kann. Immerhin: Der serielle Kontextualismus würde der Forderung der Globalgeschichte »von unten« nachkommen, die Handlungsperspektive der Einzelnen, die »agency«, zu respektieren.
26Doch man kann einwenden, daß damit nur ein bloßer Kompromiß erreicht ist. Die Kontextualisierung bleibt sozusagen okkasionell, sie reicht nicht hin, um die Kontexte wirksam aufeinander zu beziehen. Denn sie leidet am Manko jedes Okkasionalismus: nicht für Kontinuitäten aufkommen zu können. Die aber sind gerade erklärungsbedürftig: Wie kann es überhaupt zu Transmissionen in transkulturellen Kontexten kommen? Welches sind die Rahmen, welches die Stabilitätsbedingungen, damit ein Gedanke aus China über die Seidenstraße ans Mittelmeer gelangen kann und dort immer noch als solcher erkennbar ist? Haben solche Bedingungen zum Teil auch mit Praktiken oder materiellen Trägern zu tun, und kann über diese die Kulturgeschichte zurück ins Bild finden? Oder reichen Praktiken und Materielles nicht hin, um die Identität einer Idee zu gewährleisten? Man denke an die Schwierigkeiten bei der Übernahme von Praktiken chinesischer Medizin in den Westen der Frühen Neuzeit, die Harold Cook untersucht hat.30 Wenn Ideen gern »in Gesellschaft reisen«, huckepack als Mitfahrer von Handel, Religion und Militär,31 dann ist zu fragen, ob in den Praktiken und im impliziten Wissen der Reise-»Wirte« genügend Kontext mitgegeben ist, um die Idee an ihrem Ankunftsort noch immer verstehbar zu machen.32 Auf der anderen Seite müssen in der Rezeptionskultur geistige Paßräume, »slots«,33 vorhanden sein, um die transferierte Idee überhaupt aufnehmen und einpassen zu können. Wenn der Paßraum ein ganz anderer ist als der der Ausgangskultur, kann das zu dramatischen Bedeutungsverschiebungen führen.34
Lynn Hunt hat, um die Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung im Zeitalter der Globalisierung auszuloten, Themen, die um den Gesellschafts-Pol kreisen und gewissermaßen objektiv sind, von solchen, die um den Selbst-Pol kreisen und das Subjektive markieren, unterschieden.35 In dieser Einteilung wären die Rahmenbedingungen von Transmissionen der gesellschaftliche Pol. Am subjektiven Pol angesiedelt wären hinge27gen – cum grano salis – die spezifischen Ausdrucksformen von Ideen und ihre individuelle Aneignung. Es gibt eine große Ausdrucksvarianz von symbolischen Formen und epistemischen Genres,36 in denen Ideen zur Sprache kommen können: von Haikus und literarischen Dialogen bis zu »eigentlichen« epistemischen Gattungen wie scholastischen Traktaten, Observationen oder Meditationen. Auch solche Ausdrucksformen können natürlich selbst Gegenstand eines interkulturellen Transfers sein.
Themen wie diese möchte ich in dieser Einleitung angehen, die einen Rahmen für die Fallstudien des Bandes aufspannt. Es geht darum, das Problem der Rückgewinnung der kulturgeschichtlichen Dimension zu operationalisieren.
Will man die Ideenwelt der Akteure in der Frühen Neuzeit angehen, die mit zeitlich und räumlich fernen Kulturen zu tun hatten, dann bietet sich auf den ersten Blick an, ihre propositionalen Einstellungen, vor allem ihre Überzeugungen, zu analysieren. Diese lassen sich in Sätzen ausdrücken wie:
(1) Jean de Léry glaubt, daß die Tupinambá Kannibalen sind.
(2) Ficino ist davon überzeugt, daß Zoroaster eine Art Trinität gelehrt habe.
(3) Die Jesuiten meinen, der Teufel habe den Inkas die Orakelsprüche eingegeben.
Sicherlich, Überzeugungen über andere Kulturen und die Zuschreibung ganzer Theoriekomplexe an sie sind wichtig für die Analyse, vor allem auch um Fehldeutungen und Mißverständnisse aufzudecken. Doch möchte ich hier noch etwas fundamentaler ansetzen. Denn alle Überzeugungen und Propositionen basieren auf einer Bezugnahme. Wovon ist überhaupt die Rede? Der Ausgangspunkt dieses Buches ist ja, daß bereits 28die Bezugnahme in Prozessen der Globalisierung problematisch und unsicher ist. Wie läßt sich das in eine präzise Sprache fassen?
Die philosophische Debatte über Referenz ist seit John Stuart Mill und Gottlob Frege, seit weit über hundert Jahren also, verwickelt und manchmal auch verworren.37 Ich kann hier nur einige Punkte streifen und dann zügig versuchen, die Referenzfrage zum einen auf die frühneuzeitlichen Akteure zu beziehen und zum anderen für die Pragmatik historischer Kontexte zu öffnen. Seit Frege unterscheiden viele Theoretiker Sinn und Bedeutung (englisch oft meaning und reference), sogar im Fall von Eigennamen. Freges Beispiel sind die Audrücke »Morgenstern« und »Abendstern«, die sich beide auf den Planeten Venus beziehen (Bedeutung), aber unterschiedliche Gegebenheitsweisen repräsentieren (Sinn).38 Die Identitätsaussage »Der Morgenstern ist derselbe wie der Abendstern« ist nicht trivial, sondern setzt bereits eine Entdeckung oder Einsicht voraus. Viele kontroverse Diskussionen befassen sich mit der Frage, ob Aussagen letztlich nur von existierenden Gegenständen gemacht werden können, oder mit der weiteren, ob Eigennamen und natürliche Arten wirklich einen Sinn (im Sinne Freges) besitzen oder nicht nur eine starre Denotation in allen möglichen Welten.
Für unsere Zwecke ist eine Unterscheidung, die Saul Kripke im Anschluß an Keith Donellan getroffen hat, von zentraler Wichtigkeit, nämlich die Unterscheidung zwischen Sprecher-Referenz und semantischer Referenz.39 Die semantische Referenz geht auf das Objekt, auf die das Wort oder die Beschreibung tatsächlich zutrifft, die Sprecher-Referenz hingegen ist die Bezugnahme, welche derjenige meint, der das Wort verwendet (auch wenn in seiner Verwendung Irrtümer enthalten sind). So etwa im Fall von Kolumbus, als er am 12. Oktober 1492 – die »Santa Maria« ist soeben in der Neuen Welt angekommen – zu seinen Seeleuten sagt: »Dieses Land ist unser Triumph! Jetzt ist 29der Weg zu den Gewürzinseln frei!« Kolumbus' Sprecher-Referenz, also die Objekte, auf die er sich zu beziehen glaubt, sind Inseln, die südlich von Japan der chinesischen Küste vorgelagert sind, auf der Höhe von Hangzhou. Er meinte, den westlichen Weg nach Asien gefunden zu haben und kurz vor China zu sein. In sein Logbuch schrieb er: »Dort werde ich dem großen Khan die Briefe Eurer Majestät überreichen, um eine Antwort ersuchen und damit zurückkehren.«40 Kolumbus' semantische Referenz von »dieses Land« zielt aber mit seinem indexikalischen Ausdruck auf die Bahamas, vor denen er den Satz ausgesprochen hat. Von den wirklichen Inseln vor der chinesischen Küste war er Tausende Kilometer entfernt.
Man könnte die Sprecher-Referenz auch als intentionale Referenz bezeichnen, um den Aspekt des Glaubens und Meinens stärker herauszuheben.41 Sie ist für den Historiker und die Historikerin besonders interessant, da es ihnen darum geht, das eingeschränkte und zeitbedingte Wissen früherer Akteure und damit ihre Bezugnahmen zu rekonstruieren. Die Bestimmung der semantischen Referenz hingegen setzt in gewisser Weise einen allwissenden Beobachter voraus. Sie zeigt auf, wie sich die Sache »eigentlich« (oder für den Historiker: von heute aus gesehen, nach dem heutigen Stand der Wissenschaft) verhält.
Wir sehen schon: Bezugnahme ist in komplizierter Weise mit Wissen verbunden. Das wird auch in der umfassenden Theorie der Bezugnahme deutlich, die von Gareth Evans entwickelt worden ist. In ihr spielt der informationelle Zustand oder Informationshintergrund eine große Rolle, den ein Bezugnehmender hat.42 Dieser Hintergrund darf selbst natürlich nicht referentiell gedacht werden. Kolumbus hatte einen ganz anderen Informationshintergrund als jeder Kapitän, der auch nur zehn Jahre später an der gleichen Stelle aufkreuzte und Bezug auf die Küste nahm. Andere Theoretiker wie Hilary Putnam, der ähnlich wie Kripke von einer starren Referenzbeziehung bei se30mantischer Referenz ausgeht, haben die Arbeitsteilung im Hintergrundwissen betont. In vielen Fällen verläßt sich der Sprecher oder die Sprecherin auf Expertenwissen, so daß eine Entlastung im Wissensanspruch besteht.43
Das Thema der Reichweite von Intentionen ist bei alledem kein grundsätzliches Thema der Sprachphilosophie. Ich kann mich ohne weiteres auf beliebig Entferntes beziehen, wie den Mond oder eine fremde Galaxie. Das Thema tritt aber in den Vordergrund, sobald die Bezugnahme konkret in ihren Kontexten und Praktiken betrachtet wird. Dann kommt man schnell zu Überlegungen wie denen des 18. Jahrhunderts, ob etwa Mitleid nur für Unglück in der Nähe empfunden werden sollte, oder ob man auch für weit entferntes Leid Verantwortung tragen kann.44 Diese Frage gerät erst in den Fokus, wenn es stabile interkontinentale Kommunikation und Verkehrsverbindungen gibt.
Als Historiker ist mir daran gelegen, den Referenzbegriff pragmatistisch zu begreifen, als Ergebnis von Handlungspraktiken und Interpretationsschemata. Das ist nicht nur im Lichte neuerer philosophischer Debatten möglich,45 es besteht auch die Chance, hier historisch anzuknüpfen und Referenzverhalten vergangener Zeiten und Personen praxeologisch zu rekonstruieren. Verbindet man nämlich die Referenztheorie etwa mit der Informationsgeschichte globalisierter Verwaltungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert,46 dann läßt sich rekonstruieren, vor welchem konkreten kommunikativen Hintergrund von Missionarsberichten, Schiffsfahrten und Archivierungen beispielsweise ein Jesuit in Rom sich auf ein konfuzianisches Lehrstück beziehen konnte. Insofern geht Referenztheorie bei Bedarf unmittelbar in Kulturgeschichte über. Nur innerhalb kommunika31tiver Netzwerke läßt sich überhaupt erst auf eine präzise Weise von Bezugnahme sprechen.47
Wie aber, wenn die Referenz – wie im Falle von Kolumbus – unklar oder höchst spekulativ war? Dann war es angebracht, das Hintergrundwissen an die Oberfläche zu holen und zu problematisieren. Mußte in ihm etwas modifiziert werden? Und konnte man es so erweitern, daß der Bezug auch präzisiert und richtiggestellt werden konnte? In der sozialen Epistemologie hat man treffend von Referenzjagd gesprochen, wenn es etwa um die Identifizierung von Quarks geht, die theoretisch postuliert, aber zunächst noch nicht experimentell verifiziert worden waren.48 Solche Referenzjagden finden, so meine ich, keineswegs nur in der modernen Wissenschaft statt. Mehrere Kapitel dieses Buches werden zeigen, wie sich Gelehrte der Frühen Neuzeit bemüht haben, die Bedeutung, aber auch die Referenz von Substanzen herauszufinden, von denen man nichts als den Namen und einige wenige Indizien besaß. Identifizierungswissen ist ein zentrales Element jeder Referenztheorie.49 Sprecher, aber auch Hörer müssen in der Lage sein, den Gegenstand, von dem die Rede ist, von vielen anderen zu unterscheiden, wenn Verständigung möglich sein soll. Dabei wird der informationelle Hintergrund aktiviert.
Wie ist das praxeologisch zu denken? Der Historiker hat zu rekonstruieren, vor welchem Hintergrund seine Akteure ihre Bezugnahmen vorgenommen haben. Woher hatten sie ihre Informationen, und wie haben sie sie in ein kohärentes System gebracht? Das kann sehr viel mit Globalisierung zu tun haben, denn es ist hier ähnlich wie bei der »commodity chain«-Analyse in der Ökonomie: Erst die genaue Kenntnis der Lieferketten für ein bestimmtes Produkt offenbart die globalen Verflechtungen, die Machtstrukturen und die problematischen Taktiken im Hintergrund einer Ware.50 Erst dann ergibt sich ein volles Bild, etwa der ökologische Fußabdruck eines Stückes Fleisch oder eines Automobils. So auch in der Ideengeschichte: Die Analyse 32des Informationshintergrundes enthüllt die konkreten Wege, die Informationen von räumlich und zeitlich weit entfernten Umständen genommen haben, bis sie den Akteur erreicht haben und ihm ermöglichten, eine bestimmte Bezugnahme vorzunehmen. Ich spreche daher von referentiellen Lieferketten.
Die Vormoderne hatte nicht immer Glück. Die Informationslieferketten konnten löchrig oder fehlerhaft sein, wie im schon genannten Fall von Hermes Trismegistos, oder aber kompliziert durch vielerlei Umstände der Überlieferung und der kulturellen Übersetzung. Um das besser zu verstehen, wollen wir einen kurzen Blick auf den Konfuzianismus werfen.51 Auf wen referierte ein Gelehrter, wenn er im Europa des frühen 18. Jahrhunderts von Konfuzius sprach?
Es ergibt sich eine lange Lieferkette, die bei Konfuzius selbst – der im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus lebte – im weit entfernten chinesischen Staat Lu (in der heutigen Provinz Shandong) beginnt. Ein erstes Problem ergibt sich schon daraus, daß dieser Meister Kong sich selbst nur als Traditionsübermittler und -bewahrer und keineswegs als origineller Autor verstand. Außerdem sind seine Lehren erst später von seinen Schülern niedergeschrieben worden, und schon in der Schülergeneration, etwa zwischen Menzius und Xunzi, gab es große Differenzen in der Auslegung. Unter dem Qin-Kaiser Shihuangdi und seinem Ersten Minister Li Si kam es nach 213 v. Chr. zu Beschlagnahmungen und Bücherverbrennungen von traditionellen Werken chinesischer Denker – das war ein Nadelöhr, durch das die konfuzianischen Bücher hindurchgehen mußten, bevor sie in der Han-Zeit erstmals größeren Einfluß auf die Staatsführung bekamen, durch Gelehrte wie Dong Zhongshu.52 Dong hob Konfuzius erstmals als ersten und einzigen Phi33losophen heraus, ja er legte den Grundstein dafür, daß Meister Kong nicht mehr nur als gewöhnlicher Sterblicher angesehen wurde. In der späteren Han-Zeit hat sich das verstärkt, und konfuzianische Pseudepigraphen wie die Apokryphen aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. reicherten das Corpus an. Man ließ jetzt auch die Fünf Klassiker der konfuzianischen Schriften für die zentralen – noch rudimentären – Beamtenprüfungen lesen, die nun eingeführt wurden, zudem wurde die Lehre kosmologisch abgerundet. Philosophisch war es dann ein genialer Ausleger wie Wang Bi im dritten nachchristlichen Jahrhundert, der in seinen Kommentaren zu den Annalekten des Konfuzius, zu Laozi und zum Yijing dem Denken eine ganz neue spekulative Tiefe gab.53 Kanonisierung, Institutionalisierung, Synkretisierung, Idolisierung und denkerische Vertiefung gingen Hand in Hand und machten Konfuzius nach und nach zu der übergroßen Gestalt, die anschließend – nach einigen Rückschlägen54 – die folgenden Jahrhunderte und Jahrtausende dominierte. In der Sui- und der Tang-Dynastie wurde die Einrichtung der Beamtenprüfungen wieder aufgenommen und ausgebaut, aber erst in der Song-Dynastie (960-1279) führte man sie zur Perfektion. In dieser Blütezeit der chinesischen Kultur entstand der sogenannte Neo-Konfuzianismus und wurde zur alles bestimmenden Ideologie des Staates.55 Philosophen wie Cheng Yi, Shao Yang und vor allem Zhu Xi gestalteten den Konfuzianismus spiritueller, kohärenter und universeller, als er je gewesen war. Er war jetzt auf klare naturphilosophisch-metaphysische Prinzipien gegründet.56 Diese Form der Lehre blieb nicht nur die kommenden Jahrhunderte erhalten, sie verbreitete sich auch nach Japan und Korea.
In Japan bezog man sich im 17. Jahrhundert – in der Tokugawa-Zeit – auf Konfuzius ganz und gar im Lichte dieses Neo-konfuzianismus.57 Das Land war in starker Weise abgeschlossen gegenüber allen ausländischen Kontakten; um so intensiver nahm man Impulse von außen wahr, auch die aus China. Es 34paßte gut zum feudalen, kontrollierenden System des Regimes, auf Song-Denker wie Zhu Xi zu setzen; orchestriert war der Einfluß durch Überreichweiten und Legenden wie die von Xu Fu, der als ursprünglicher Überbringer chinesischer Kultur nach Japan imaginiert wurde. Auf der anderen Seite gab es allerdings auch die Kogaku-Schule, die den frühen und »echten« Konfuzius bevorzugte.58
Als die Jesuiten im 17. Jahrhundert die Lehren des Konfuzius kennenlernten, legten sie sich ihr ganz eigenes Konfuzius-Bild zurecht. Es war streng antibuddhistisch, da man sich entschlossen hatte, auf die konfuzianische, nicht auf die buddhistische Karte zu setzen. Außerdem lehnte man den Neokonfuzianismus der Song-Gelehrten ab und akzeptierte nur die ganz frühen konfuzianischen Schriften, die man auch noch christianisierte.59 Durch diese Vereinseitigung der Sicht auf Konfuzius, die letztlich die tausendjährige Entwicklung der ganzen chinesischen Philosophie rückgängig machte, wurde das europäische Bild von Konfuzius geprägt. Wenn also ein Europäer, der nur die Jesuitenversion des Meisters Kong kannte, sich auf »Konfuzius« bezog, war das ein ganz anderer Konfuzius als der, den die Mehrheit der gebildeten Chinesen des 17. Jahrhunderts im Blick hatte.
Die konkreten Lieferketten der Jesuitenberichte nach Europa verlangen dann nochmals ein eigenes Kapitel für sich. Es wäre von Couplets lateinischer Konfuzius-Ausgabe von 1687 und ihren Umständen zu berichten – in Kapitel IV werden wir kurz darauf zu sprechen kommen –, von Noëls Ausgabe der »sechs Klassiker«, die dann Christian Wolff zu seiner Rede über die praktische Philosophie der Chinesen inspiriert hat, und von anderen Werken, die meist handschriftlich nach langen Ozeanfahrten in Paris ankamen und dort gedruckt wurden.60
Der Gelehrte im frühen 18. Jahrhundert, den wir uns vorstellen, mag sich über diese Lieferketten nur sehr bruchstückhaft im klaren sein. Er vertraut – ganz nach Putnam – auf Experten35wissen und weiß von Konfuzius vielleicht nur aus ein oder zwei oberflächlichen Abhandlungen und Philosophiegeschichten.61 Das wird ihn aber nicht daran hindern, selbst den Namen »Konfuzius« zu gebrauchen und sich höchst beredt über ihn zu Wort zu melden.
Versuchen wir nach all diesen Überlegungen zur Referenz die Beantwortung einer allgemeinen Frage: Was sind intellektuelle Akte der Globalisierung? Es sind Bezugnahmen auf räumlich Entferntes (und, wie wir sehen werden, auch zeitlich Entferntes) im Kontext von geistiger Aneignung fremder Ideen, zumeist im Zuge realer europäischer oder nichteuropäischer Expansion, ob es sich nun um Eroberung oder nur um Entdeckung auf den Wegen von Händlern und Missionaren handelt.62 Ein Orientalist in Oxford um 1700 beugt sich über eine chinesische Karte und kritzelt vermutete Identifizierungen der Ortsbezeichnungen,63 ein deutscher Hofgelehrter fragt sich um 1650, ob der legendäre Priesterkönig Johannes in Indien oder Äthiopien zu vermuten sei,64 ein italienischer Antiquar versucht um 1600, mit aztekischen Zeichnungen zurechtzukommen.65 Sie alle referieren auf weit entlegene und von ihnen nicht leicht bestimmbare Phänomene.66 Das heißt auch, daß ihre Referenz vage sein oder gar fehlgehen kann, daß sie zu kurz oder zu weit greift. Was intensional – von der Bedeutung her – ein Mißverstehen ist, das ist extensional – von der Referenz her – ein Fehlgriff. Nun läßt sich natürlich mit Namen, indexikalischen Ausdrücken und Kennzeichnungen ganz unterschiedlich auf Gegenstände referieren. Doch alle diese Referenzweisen haben einen historischen Index, sind auf spezifische Weise entstanden und überliefert.
Bezugnahme ist dabei komplementär zu Transmission zu se36hen. Wer innerhalb bestimmter Interpretationskonstrukte auf Konfuzius und seine Lehrstücke Bezug nimmt, so haben wir gesehen, den hat umgekehrt eine Transmissionskette erreicht, die von Konfuzius ausgeht und über viele Generationen in China verläuft, dann über Jesuitenberichte Europa erreicht. Die Stationen dieser Kette sind vielfältig, und auf jeder Station kann es Transformationen und Veränderungen gegeben haben.67 Das Verhältnis ist im einzelnen jeweils zu bestimmen. Man kann, denke ich, auf produktive Weise die reale Transmission der Ideen von der »gedächtnisgeschichtlichen« Transmission,68 die den Interpretationsrahmen für die Referenz zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort bestimmt, unterscheiden und beide Stränge in der Art einer »Doppelhelix« rekonstruieren, bei der immer wieder Abweichungen der Stränge vorkommen. In der philosophischen Referenztheorie hat vor Jahrzehnten Saul Kripke dafür argumentiert, daß insbesondere Namen »starre Designatoren« sind, die sich kausal direkt auf das von ihnen Bezeichnete beziehen müssen und nicht durch eine Umschreibung ersetzbar sind.69 Er postuliert eine Kette vom unmittelbaren »Taufakt« der Benennung bis zum jeweiligen heutigen Sprachgebrauch. Diese Vorstellung einer realen Transmissionskette sollten wir, denke ich, auch in einer Referenztheorie der Globalisierung als regulative Idee behalten, um die Differenz zur Gedächtnisgeschichte an jedem Punkt des »serial contextualism« bestimmen zu können.
Unter den Philosophen sind die »verzerrten und verhunzten Informationen« (Evans) auf dem Weg vom Gegenstand zum Sprecher nur als Probleme und Schwächen von Kripkes Theorie diskutiert worden: daß die Kausalketten seit der Taufe mehrere sein können, daß zu bestimmen sei, welches davon die relevante ist, daß Ketten »defekt« sein können, also Lücken haben oder Veränderungen in der Bezeichnung aufweisen.70 All diese Fälle spiegeln aber aus Sicht des Historikers gerade die komplexe historische Realität und weisen auf den Reichtum an Varia37tionen hin, die es zu untersuchen gilt. Da gibt es etwa den Fall von Madagaskar, auf den sich Gareth Evans bezieht. Die Insel Madagaskar hat ihren Namen von Marco Polo, der im 13. Jahrhundert eine afrikanische Insel mit unbeschreiblichem Reichtum mit diesem Namen beschrieb. Er hatte nur indirekt und mit Mißverständnissen von der Insel erfahren, als er durch Asien reiste. In Wirklichkeit hatten sich die Seefahrererzählungen, die er hörte, auf die afrikanische Küste bezogen, eventuell auf Mogadischu. Dennoch hatte das Mißverständnis den Effekt, daß italienische Kartographen der Renaissance die inzwischen von Portugiesen entdeckte Insel mit diesem Namen belegten. Auch Marco Polo nahm also mit einer Fehlreichweite Bezug, wenn er Madagaskar als Insel meinte, aber den entstellten Namen von Mogadischu benutzte. Diese Fehlreichweite hat »reale« Konsequenzen gehabt.
Die Veränderungen, die im Verlauf der vielfältigen Transmissionen auftreten, geschehen entweder innerhalb größerer begrifflicher Rahmen, oder sie geschehen durch den Wechsel in andere Rahmen. Die Analyse der Transformation ist dann jeweils eine ganz andere.71 Aber was sind Rahmen? Lassen sich begriffliche Rahmen von kulturellen Rahmen unterscheiden, wenn man unter letzteren Kulturkomplexe versteht, also Gebiete von miteinander verwandten kulturellen Codes?72 Soll man etwa für das vormoderne Eurasien von einer »indoeuropäischen Globalisierung« sprechen?73 Oder von einer »Seidenstraßen-Globalisierung«?74 Oder spezifischer von einer »mongolischen Globalisierung« für jene Zeit, in der – im 13. Jahrhundert – die Fernhandelswege besonders offen waren, weil die Mongolen große Teile von Ost- bis Westasien erobert hatten?75 Die Schlüsselworte der Histori38ker lauten hier »Interaktion« und »Integration«.76 Enge Interaktionen etwa in Handels- und Migrationsräumen wie dem Mittelmeer oder dem »Black Atlantic« setzten Integrationsprozesse in Gang, einen Austausch, der in Richtung auf Angleichung führt. Aber was besagt das für intellektuelle Prozesse?
Man muß hier wohl zwischen impliziten und expliziten oder auch unartikulierten und artikulierten intellektuellen Elementen unterscheiden. Schaut man etwa auf die indoeuropäische Sprachenverwandschaft seit den ersten vorchristlichen Jahrtausenden, so ist zu sehen, daß in ihr sich auch Sprachformeln und basale Mythologeme ausgebreitet haben, wie sie Calvert Watkins beispielsweise für die »poetische« Grundform der Drachentötung durch den Helden aufgewiesen hat.77 Auch rudimentäre Institutionen und Werte wie die von der Treuegemeinschaft einer Elite von Blutsbrüdern gehören zu diesem indoeuropäischen Erbe.78 Das ist noch weit entfernt von einer explizierten und artikulierten intellektuellen Errungenschaft, also einem Epos, einer Theorie, einem Staatsverständnis. Ich will hier auch keinen Kulturdeterminismus im Gefolge von Vico und Herder suggerieren. Dennoch kann eine globale Ideengeschichte nicht darum herumkommen, im Zweifelsfall auszuloten, wie tief kulturell imprägniert eine bestimmte explizite Idee oder Wissensform am Ort und zum Zeitpunkt ihres Auftretens ist. Daran bemißt sich dann, wie der Rahmen bestimmt werden kann: über die »deep history« von Kulturkomplexen, die mittlere Ebene von Interaktionsräumen oder nur die obere Ebene von gemeinsamer religiöser und philosophischer Theoriesprache.79
Auch für die Referenz hat das seine Konsequenzen. Was in Transmissionen weitergereicht wird, kann man mit einem Paket vergleichen, das einen Absender und einen Inhalt hat (dazu möglicherweise noch Paratexte); ein Empfängername fehlt meist, denn Ideen sind nicht dazu entworfen, eine andere Kultur zu erreichen, wenn sie in der eigenen Kultur entwickelt wurden.80 Umgekehrt hingegen gilt schon: Wenn ein Lehrstück von 39Konfuzius kommt, dann führt es meist seinen Namen (und seine Autorität) im Absender, selbst wenn es Europa oder Japan erreicht. Es gibt darüber hinaus aber auch etwas, das ich implizite Referenz nennen möchte. Referenz ist in diesem Falle nicht gemeint im Sinne aktiver Bezugnahme oder Intentionalität, sondern im Sinne eines Herkunftsmerkmals, also einer Eigenschaft, die etwas über den Ursprung der Idee oder Wissensform verrät. Das tut sie aber nur für denjenigen, der mit einem Hintergrundwissen vertraut ist. Die Person kann der direkte oder ein früher Empfänger der Botschaft sein, etwa wenn ein Kirchenvater platonische Elemente in der Trinitätslehre entdeckt und diese als heidnisch ablehnt.81 Die impliziten Referenzen können aber auch so schwer zu erkennen sein, daß erst ein Beobachter mit extrem viel Hintergrundwissen, etwa ein moderner Wissenschaftler, in ihnen die wahre Herkunft entdeckt. Da tut sich wieder die von mir schon genannte Differenz zwischen Gedächtnisgeschichte und realer Transmissionskette auf, zwischen Akteurs- und Beobachterperspektive. Erst die Wissenschaft seit dem späten 19. und 20. Jahrhundert kann luwische und hethitische oder gar akkadische Herkünfte in dem »Paket« erkennen, das die homerische Ilias darstellt oder Hesiods Werke und Tage.82 Während Homer gedächtnisgeschichtlich als griechischer Kulturheros und auf Chios verortet wird, ist manches, was er sagt, wahrscheinlich von älterer und nichtgriechischer Herkunft.
Dabei ist es wichtig zu sehen, daß implizite Referenzen nicht nur durch semantische, sondern auch durch morphologische Eigenschaften gegeben werden können, daß also auch Strukturmerkmale Hinweise auf die Herkunft geben können. Ideentransmission für sehr frühe Zeiten kann fast nur so vorgehen, besonders dort, wo es sich – wie im indoeuropäischen Raum – zunächst um orale Literatur handelt, die eng verwoben mit formelhaften Ausdrücken und mit ritueller Kohärenz ist. So folgert etwa Joshua Katz mit linguistischen Mitteln die Wanderung des 40Namens »Sphinx« aus dem vedischen Indien nach Griechenland, wo er auf ein äyptisches Phänomen angewendet wird, und mit dem Namen auch die Praxis des vertrackten Rätselfragens.83 Auch die Frühgeschichte der Idee einer Seele, die nach dem Tode weiterlebt, hat solche Dimensionen einer »deep intellectual history«. Gelegentlich ist von einer »indoeuropäischen Eschatologie« die Rede,84 von der »Erfindung« des Lebens nach dem Tode mit dem Bild einer Überfahrt ins Jenseits. Wie wichtig diese Tiefendimension für das spätere Verständnis des Menschen von sich selbst – oder von seinem Selbst85 – ist, spätestens nach den expliziten Theorien eines Pythagoras und Platon und im Zuge des Christentums, sollte evident sein.86
Eine globale Ideengeschichte, die mit longue-durée-Zeiträumen operiert, tut deshalb gut daran, verschiedene Stufen der Explizitheit zu definieren, um zu sehen, was jeweils als Rahmen angenommen werden sollte, innerhalb dessen die Vorstellung »integriert« worden ist. Erst dann läßt sich weiterfragen, wie Transmissionen in andere Rahmungen mit ihren sowohl sprachlichen als auch kulturellen Übersetzungen vor sich gegangen sind.87
Aber sind nicht gerade Ideen etwas, das auch unerwartete Wege einschlagen kann, jenseits der großen Migrations- und Transmissionsströme? In Einzelfällen sicherlich. Eine Globalgeschichte »von unten« wird deshalb – insbesondere je näher sie der Moderne kommt – immer auch »wilde« Zirkulationen feststellen, anormale Wege und Verbreitungen ohne geographischen Zusammenhang. Der Anthropologe George Marcus hat in den 1990er Jahren eine multidimensionale Ethnographie vorgeschlagen, die allein den Netzwerken der Akteure folgt, wohin auch immer sie führen, und auch Historiker sind diesem Beispiel gefolgt.88 Man sollte also umgekehrt von einer Unvorhersehbarkeit der Referenz ausgehen, um offen genug für neue Entdeckungen zu bleiben.89
Rahmen, die für explizite Ideen maßgeblich sind, sind oftmals philosophische und philosophisch-theologische Sprachen. Sie bestimmen und beeinflussen die Sprechakte, die in ihnen getätigt werden. Insbesondere John Pocock hat Ideengeschichte als Geschichte von »Sprachen« propagiert.90 Ist hier ein Ansatzpunkt, bei dem auch sprachtheoretisch der Globalisierung die kulturgeschichtliche Dimension zurückgegeben werden kann? Das wäre der Fall, wenn erstens geklärt ist, ob sich philosophisch-theologische Sprachen globalisieren können, und zweitens, ab wann sinnvoll von solchen Globalisierungen gesprochen werden kann. Die Ausbreitung philosophischer Sprachen und Systeme erfolgt in frühen Zeiten fast immer durch religiöse Expansionen.91 Mit ihnen werden Denkmöglichkeiten, Begrifflichkeiten, Fragestellungen und Exempel transportiert, mitunter über weite Entfernungen, wenn man die Ausbreitung des Manichäismus über die Seidenstraßen oder die Expansion des Buddhismus in Südostasien bedenkt.92 Ab wann möchte man hier von Globalisierungsphänomenen sprechen? In einer longue-durée-Sicht kommt die ganze Entwicklung der Menschheit seit den frühen Zivilisationen in Frage, sei es im Sinne sprunghaft ansteigender Konnektivität93 oder im Sinne größerer transkultureller Verbindungen vom Mittelmeer bis nach Indien.94 Christopher Bayly hat mit einem sehr holzschnittartigen Schema versucht, eine »archaische Globalisierung« bis etwa 1750 zu beschreiben, die noch vor der Zeit der stabilen transkontinentalen Vernetzungen erfolgt ist.95 Er benennt drei Faktoren, die mit ihrer Expansionskraft die Ausbreitung über weite Räume zur Folge gehabt hätten: eine Ideologie des universalen Königtums, das Menschen in entlegensten Gebieten als seine potentiellen Untertanen ansieht; große Religionen (»kosmische Religionen«) mit ihrer Missionstätigkeit; schließlich basale Vor42stellungen über Körpersäfte und Sternkonstellationen. Stehen diese Faktoren auch für Denkrahmen? In gewisser Weise ja, doch immer nur indirekt, indem Wissen und Ideen in den Prozessen als »Fellow Traveller« anwesend sind. Das kann auch die Zirkulation von Stoffen und Objekten betreffen, wie Pamela Smith ausgeführt hat.96 Sie bindet Ideentransmission an frühe eurasische Handelsverbindungen, in denen Stoffe wie Zinnober ausgetauscht worden sind. Seine rote Farbe war in ihren kulturellen Bedeutungen in Kontexte von Blut und Körperempfindung, sakralen Heilriten und alchemischen Quecksilber-Techniken eingebettet. Daran wiederum schlossen sich Wissensformen und die Produktion von Texten an.
Ganze philosophische Sprachen sind die komplexesten Wissensformen, die über solche Migrationsprozesse ausgetauscht wurden. Manchmal waren es nur Teile von ihnen, etwa spezielle Institutionen und Argumente. So hat Christopher Beckwith die Methode des rekursiven Arguments (die spätere »scholastische« Methode von quaestiones, die einzelne Behauptungen und Unterbehauptungen auf ihr Pro und Contra prüfen) von Zentralasien über die islamische Welt bis nach Europa verfolgt.97 Und er sieht die Ursprünge von Pyrrhos skeptischen Isosthenie-Techniken im frühen Buddhismus in Gandhara, den Pyrrho als Begleiter des Heerzuges von Alexander dem Großen kennengelernt habe.98
Vor allem der Aristotelismus hat eine komplexe Ausbreitung erlebt, die durch die islamische Adaption von Timbuktu bis Indien reichte, in der Frühen Neuzeit aber in christlicher Adaption durch die Mission der Orden, vor allem der Jesuiten überlagert wurde; so gelangte der Aristotelismus bis nach China und Lateinamerika.99