Übrigens, das Leben ist schön - Lorenz Marti - E-Book

Übrigens, das Leben ist schön E-Book

Lorenz Marti

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Beschreibung

Wer bin ich eigentlich? Und was ist wirklich wichtig? Wer diese Fragen vor dem Kleiderschrank, in der Küche oder auf dem Weg zur Arbeit durchbuchstabiert, macht überraschende Entdeckungen. Der Berner Autor Lorenz Marti verdichtet alltägliche Beobachtungen zu Geschichten mit philosophisch-spirituellem Nachklang. Geschichten, wie sie sich mitten im Alltag entfalten. Eine ebenso erhellende wie erheiternde Lektüre, nah beim Leben und seinen Fragen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 164

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Lorenz Marti

Übrigens, das Leben ist schön

Entdeckungen auf der Rückseite des Selbstverständlichen

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagmotiv: © photocase

Illustrationen Innenteil: © shutterstock

ISBN (E-Book) 978-3-451-80048-1

ISBN (Buch) 978-3-451-61237-4

Life is what happens to you

while you’re busy

making other plans.

(Leben ist, was dir passiert, während du andere Pläne schmiedest.)

John Lennon

Inhalt

Zum Auftakt: Leben mit Geschichten

Frühling: Das Erwachen der Zeit

Das Lied der Amsel

Die Kunst des guten Lebens

Perlmans tröstliche Weisheit

Das ist das Paradies

Tante Berthis Relativitätstheorie

Schlaf für Erwachte

Es darf gelacht werden

Die Konferenz der Tiere

Endlich grünes Licht

Ein Loch im Socken

Mathematik und Mystik

Hilfe für Unentschlossene

Die Sache mit dem Gedächtnis

Kleiner Dieb, große Fragen

Glaube, Geld und Zweifel

Das philosophische Rasiermesser

Ein verstohlener Blick zur Seite

Nicht wahr? Nicht wahr!

Sommer: Der Ruf des Weges

Der dunkle Begleiter

Baumelnde Seelen

Wie ein Berg flach wird

Mystik für Nichtschwimmer

Meditationen eines Einzelgängers

Wasser, nichts als Wasser

Herzenswärme im Krisenland

Die Exotik der Nähe

Globalisierter Händedruck

Brüchiges Idyll im Müll

Die Welt korrigieren

Sich (k)ein Bild machen

Zwei Mönche im Pulverdampf

Die Stunde der schönsten Hose

Spiel mit der Selbstkontrolle

Das Leben ist eine Baustelle

Die neue Unverbindlichkeit

Vergessene Grüße

Tränen der Sterne

Herbst: Das Flüstern der Winde

Leise Töne für laute Zeiten

Das Recht auf Faulheit

Rotkäppchens Frage

Der Knopf im Taschentuch

Drei Minuten Ewigkeit

Die Welt ist unsere Erfindung

Klatsch und Tratsch

Der Traum vom großen Geld

Einsichten eines Lebens-Unternehmers

Der Film im Film

Darwins Schublade

Sei getrost eine Wurst

Meine ganz persönliche Reformation

Luther von hinten

Der Rechthaber in mir

Wieviel kostet ein Nichts?

Kleine Übung in Großzügigkeit

Ein heikles Wort

Leo’s Gruß

Winter: Die Stille des Lichts

Das Geheimnis der Schneeflocke

Verführung zur Verfrühung

Das letzte Abenteuer

Josef und die Kraft der Stillen

Glühbirnen-Theologie

Das süße Glück

Dieses Tier gibt es nicht

Die Entsorgung der Vergangenheit

Geschichten aus dem Adressbüchlein

Der schweigende Ruf des Gähnens

Wer soll das verstehen?

Schwätzer und Schweiger

Moses, der Stotterer

Die heimliche Kunst des Abschreibens

Vielleicht hilft Bläsi

Bitte Hände waschen

Allzu gesund ist ungesund

Narren sind wir alle

Zum Schluss: Leben ohne Warum

Zum Auftakt:Leben mit Geschichten

Das Leben erzählt immer noch die besten Geschichten. Im Verlaufe der Stunden, Tage und Jahre reiht sich eine Geschichte an die andere. Es lohnt sich, die eine oder andere etwas näher zu betrachten. Und zwar nicht nur die großen und auffälligen, sondern auch die kleinen und ganz gewöhnlichen. Sie machen schließlich einen wesentlichen Teil unserer Lebenszeit aus. In ihnen steckt oft mehr, als sie auf Anhieb preisgeben.

Ich mag Geschichten. Erfinden kann ich aber keine. Ich schreibe sie beim Leben ab. Da finde ich immer wieder neue Vorlagen für meine Texte und Bücher. Oft wird mir erst beim Ab- respektive Aufschreiben so richtig bewusst, was ich erlebt und entdeckt habe – und was es vielleicht bedeuten könnte.

Dass ich Geschichten mag, gerne Geschichten höre und erzähle, hat einen guten Grund: Sie sind lebendig, vielschichtig und manchmal auch etwas rätselhaft. Eine gute Geschichte geht nicht einfach auf. Sie regt vielmehr an zum Weiterdenken, Weitererzählen, Weitergehen.

Das haben Geschichten allen Theorien und Lehren voraus: Sie beengen und belehren uns nicht. Sie schicken uns auf einen Weg und lassen genügend Raum für persönliche Erfahrungen und Entdeckungen.

Dabei liegt der Reichtum einer Geschichte nie allein in dem, was sie erzählt, sondern auch in dem, was sie verschweigt. Und eine gute Geschichte verschweigt vieles. Damit ruft sie eigene Bilder wach, und wir können uns in einer fremden Geschichte wiedererkennen. Das Eigene verbindet sich mit dem Anderen und etwas Neues entsteht.

Dass wir uns in einer Geschichte wiederfinden, zeigt, wie nahe wir uns im Grunde sind – bei allen äußeren Verschiedenheiten. »Das Persönlichste ist das Allgemeinste«, sagt Carl Rogers, einer der Gründerväter der humanistischen Psychologie.1 Er hat beobachtet, dass gerade jene Erfahrungen, die wir als privat und sehr persönlich bezeichnen, bei anderen Menschen die stärkste Resonanz finden, wenn wir sie weitergeben. Das Eigenste und Einzigartige in uns ist das, was uns am tiefsten mit andern verbindet. Auf dieser Ebene sind wir uns nahe, erwachsen Begegnungen, Beziehungen, und, wenn man das große Wort gebrauchen will: Liebe.

Ich erzähle in diesem Buch persönliche Geschichten. Das »Ich«, das da spricht, ist meines. Es könnte aber sein, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich in der einen oder anderen Geschichte wiederentdecken. Ich gehe sogar davon aus, dass es oft so ist.

Diese Geschichten sind über einen Zeitraum von zwölf Jahren entstanden. Seit 2002 schreibe ich Monat für Monat eine Kolumne, die unter dem Titel »Spiritualität im Alltag« im größten Kirchenboten der Schweiz, »reformiert.« erscheint (bis 2008 im Vorgängerorgan »saemann«). Für dieses Buch habe ich eine Auswahl zusammengestellt, in teilweise leicht überarbeiteter Form. Etliche dieser Texte spiegeln auch die Stimmung einer Jahreszeit, so dass ein eigentliches Jahreslesebuch in vier Teilen – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – entstanden ist.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Kolleginnen und Kollegen vom »reformiert.« für ihre Unterstützung und Begleitung herzlich danken, insbesondere Samuel Geiser, Martin Lehmann, Rita Jost und Hans Herrmann.

Ist das Leben tatsächlich schön, wie der Titel suggeriert? Vielleicht antworten Sie spontan mit Ja, vielleicht mit Nein, wahrscheinlich werden Sie aber zögern, überlegen, abwägen. Ich nehme Ihnen die Antwort nicht ab. Lieber erzähle ich Ihnen einige Geschichten. Und greife die Frage ganz am Schluss noch einmal auf.

Lassen Sie sich überraschen!

Frühling:Das Erwachen der Zeit

Es ist schön zu leben,

weil leben anfangen heißt,

immer, in jedem Augenblick.

Cesare Pavese

Das Lied der Amsel

Den Anfang machen die Finken, Rotkehlchen und Meisen. Sie beginnen zu singen, wenn es noch stockfinster ist. Auch der Kuckuck gehört zu den Frühaufstehern. Und natürlich die Amsel mit ihrem unverwechselbaren Gesang. Da kann ich noch so müffelig durch die Dunkelheit eines frühen Morgens ziehen, wenn ich das Lied einer Amsel höre, ist der Tag gerettet. Sie vertreibt für einen Moment meine dummen Sorgen. Vielleicht macht sie sich auch etwas lustig über den frühen Spaziergänger, der sich sorgt, statt den Anbruch des neuen Tages zu genießen. Soll sie nur, sie hat ja recht.

Die Amsel singt so vielfältig, wie wir Menschen sprechen. Sie besitzt ein großes Repertoire an Lauten und demonstriert einen fast unerschöpflichen Reichtum an musikalischen Einfällen. Ihre Melodien dauern mit rund drei Sekunden ähnlich lang wie unsere Sätze. Aber sie tönen schöner. Wir sind punkto Melodie etwas näher beim monotonen Tschilpen der Spatzen, die übrigens zu den Spätaufstehern gehören. Singvögel dagegen verfügen über ein Ausdrucksvermögen, das selbst Sprach forscher erstaunt. Ihre Sprache ist Musik in unseren Ohren – und kaum zu übersetzen.

Natürlich, mit dem Gesang versucht das Vogelmännchen ein Weibchen anzulocken und sein Revier gegen männliche Rivalen zu verteidigen. So jedenfalls erklären es die Menschen. Doch die Vögel halten sich nicht immer daran. Manchmal singen sie weiter, auch wenn das Nest gebaut, das Weibchen gefunden und der Nachwuchs gesichert ist. Für die Menschen muss alles einen Zweck haben. Für die Vögel nicht. Sie singen, wie Biologen heute vermuten, auch aus purer Freude.

Doch sie müssen immer lauter singen. Die Menschen machen zuviel Lärm. Messungen zeigen, dass die Lautstärke des Vogelgesangs in der Nähe von stark befahrenen Straßen deutlich zunimmt. Vor allem Stadtvögel zwitschern intensiv gegen den Umweltlärm an und sind deshalb um einiges lauter als ihre Artgenossen auf dem Land. Auffällig ist, dass sie nur von Montag bis Freitag so aufdrehen. Am Wochenende, wenn der Lärmpegel sinkt, werden auch die Stadtvögel wieder leiser.

Nur zu, ihr Vögel, singt an gegen den Lärm dieser Welt! Bitte hört nicht auf, lasst euch nicht entmutigen, macht weiter! Trällert, zwitschert, jubiliert und pfeift, was ihr nur könnt! Eure fröhliche Demonstration mitten im Stadtverkehr gefällt mir. Sie vertreibt die Griesgram-Stimmung und weckt Hoffnung. Es gibt mehr als das öde Brummen der Motoren. Es gibt Farben und Freude, Lieder und Leidenschaften. Wenn das keine gute Nachricht ist!

Am liebsten würde ich mich euch gleich anschließen, nur kann ich leider nicht so schön singen – und schon gar nicht fliegen.

Aber vielleicht lerne ich das ja noch.

Die Kunst des guten Lebens

Jetzt weiß ich es. Die Antwort ist da. Es sieht gut aus. Sehr gut sogar: Ich habe noch fast 30 Jahre zu leben! Woher ich das weiß? Ein Test im Internet, ein paar Fragen, und schon erhalte ich Bescheid: Ich werde »mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit« 90 Jahre alt. Das ist doch eine ganz erfreuliche Perspektive!

Allerdings habe ich ein bisschen nachgeholfen. Beim ersten Versuch wäre ich nämlich nur 89 geworden, was ich schade fand. Wenn schon so alt, dann würde ich gerne auch noch den Neunzigsten feiern. So habe ich es noch einmal versucht. Es gab nämlich eine Testfrage, die ich auch anders hätte beantworten können. Ich wusste nicht, ob ich ankreuzen sollte, ich sei »öfter depressiv« oder »in glücklicher Grundstimmung«. Als vorsichtiger Mensch wählte ich zuerst die depressive Variante, was die erwähnten 89 Jahre ergab. Nun änderte ich das und erklärte mich zum glücklichen Menschen – und prompt erhielt ich das fehlende Jahr.

Doch die Sache schien mir etwas unsicher, weil ich ja nicht immer glücklich bin. Ich nahm einen dritten Anlauf und kreuzte diesmal beide Möglichkeiten an, was zwar widersprüchlich scheint, aber auf mich am besten zutrifft: öfter depressiv – und in glücklicher Grundstim mung. Und siehe da: Es klappte auch mit dieser etwas paradoxen Variante. Willkommen zu meinem neunzigs ten Geburtstag am 25. April 2042!

Während ich so rechne, schaut mir der alte Seneca über die Schulter und schüttelt den Kopf: »Worauf starrst du? Wonach reckst du dich? Alles, was kommen soll, liegt im Ungewissen. Los, lebe sogleich!«

Er hat mich erwischt, der Weise aus dem alten Rom. Meine Berechnungen sind Spiel und Spekulation, mehr nicht. Selbst die Tatsache, dass eine Schweizer Universität am Online-Test mitgearbeitet hat, garantiert mir noch kein langes Leben. Für Seneca kommt es ohnehin nicht auf die Anzahl Jahre an: Man kann auch alt werden, ohne je richtig gelebt zu haben, stellt er fest, so dass »inmitten der Vorbereitung auf das Leben das Leben endet.«. Seine Bilanz ist denn auch ziemlich ernüchternd: »Ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir auch wirklich leben.«

Das ist für den römischen Philosophen der entscheidende Punkt. Ein langes Leben ist ein erfülltes Leben, egal ob es nun 70 oder 90 Jahre dauert: »Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.« Wer alles auf die Zukunft verschiebt, be stiehlt nach Seneca die Gegenwart und verkürzt damit sein Leben.

Umgekehrt gilt: »Das Leben ist lang, wenn man es recht zu nutzen weiß.« Damit ist nicht Nützlichkeit und Effizienz gemeint, sondern die Wertschätzung jedes einzelnen Augenblicks, wie immer dieser auch aussehen mag: »Alle Stunden umfasse mit beiden Armen. So wirst du weniger vom Morgen abhängen, wenn auf das Heute du die Hand legst.«

Und was ist nun mit dem Jahr 2042?

Seneca: Vergiss es, lebe jetzt!

Perlmans tröstliche Weisheit

Ich habe mich einmal, lange ist’s her, mit einer Geige abgemüht. Ich war ein Kind und sollte ein Instrument spielen lernen. Die Geigenlehrerin hatte es schwer mit mir: Ich habe kaum geübt. Ich kam unvorbereitet in die Stunde und strich mit dem Bogen lustlos über die Saiten. Es klang falsch, manchmal blieb ich auch stecken. Du musst besser üben, ermahnte mich die Lehrerin, selber eine bekannte Geigerin. Ich übte nicht besser. Ich übte gar nicht. Es war ein Fiasko. Irgendwann haben wir uns dann getrennt, die Geigenlehrerin, die Geige und ich.

Und jetzt lese ich von einem der bekanntesten Geiger und staune: Itzhak Perlman hat unter schwierigsten Umständen zu wahrer Größe gefunden. Er wurde 1945 in der israelischen Hafenstadt Jaffa geboren. Als Vierjähriger erkrankte er an Polio, ist seither behindert, trägt Stützen an beiden Beinen und geht an Krücken, oft unter großen Schmerzen. Schon als Kind hatte er eine große Leidenschaft: die Geige. Ganz für sich alleine erprobte er die Möglichkeiten dieses Instruments. Er übte unermüdlich und brachte es so weit, dass er in die Musik akademie von Tel Aviv aufgenommen wurde. Damit begann ein kometenhafter Aufstieg.

Im Verlauf nur weniger Jahre wurde Perlman zum großen Star unter den Geigern. Er zog in die USA und füllt dort bis heute die Konzertsäle. Auf seinen Erfolg bildet er sich nichts ein. »Ich spiele einfach Geige«, erklärt er, »das ist alles, was ich kann. Ich kann sonst nichts und habe auch keine große Ausbildung vorzuweisen. Ich übe einfach jeden Tag.«

Bei einem Konzert in New York passierte ihm einmal ein Missgeschick. Er hatte eben die ersten Akkorde gespielt, als eine Saite riss. Es wurde ganz still im Saal. Perlman wartete, schloss für einen Moment die Augen und bat dann den Dirigenten, noch einmal zu beginnen. Das Orchester setzte ein, und der gebrechliche Geiger spielte mit so viel Leidenschaft und Hingabe, dass sich das Publikum am Schluss erhob und minutenlang applaudierte. Es soll eines seiner besten Konzerte gewesen sein.

Eigentlich ist es gar nicht möglich, ein Violinkonzert mit drei Saiten zu spielen. Itzhak Perlman wollte sich dieser Unmöglichkeit nicht beugen. Er erfand das ganze Stück neu, veränderte es und entlockte seinem Instrument Töne, wie er sie noch nie gespielt hatte. »Wissen Sie«, meinte er am Schluss, »manchmal ist es die Aufgabe eines Künstlers, herauszufinden, wie viel Musik man noch machen kann mit dem, was einem übrig geblieben ist.«

Auch wenn ich mit der Geige gescheitert bin, auch wenn ich sonst im Leben einiges nicht geschafft oder verloren habe – dieser eine Satz zeigt, dass das alles nicht so wichtig ist. Musik kann man immer machen. Sogar mit nur drei Saiten.

Das ist das Paradies

Was ist Glück? Philosophen, Theologen und andere Gelehrte haben sich darüber die Köpfe zerbrochen und keine Antwort gefunden. Auch die Psychologie vermag es nicht zu definieren. Eigentlich seltsam: Da suchen alle das Glück, doch niemand weiß, was es eigentlich ist. Aber, in aller Bescheidenheit, ich habe es herausgefunden: Glück ist, wenn man kein Zahnweh hat.

Ist es so einfach? Vielleicht schon. Wenn man einige Tage unter fürchterlichen Zahnschmerzen leidet und schließlich davon befreit wird, ist das wie der Übertritt von der Hölle ins Paradies. Der schwedische Autor Lars Gustafsson schreibt: »Das Paradies muss darin bestehen, dass ein Schmerz aufhört. Aber das bedeutet doch, dass wir im Paradies leben, so lange wir keine Schmerzen haben. Und wir merken es nicht.«

Da könnte ich also meinem seitlichen Backenzahn, dem Sechser unten links, beinahe dankbar sein, dass er mich mit seinem Störmanöver auf das Glück des Daseins aufmerksam gemacht hat. Er meldete sich eines Morgens mit einem dumpfen Schmerz. Wird nicht so schlimm sein, dachte ich. Und es wurde schlimmer. Die Schmerz attacken häuften sich und strahlten giftig über die ganze linke Gesichtshälfte. Schließlich blieb nur noch der Zahnarzt. Fünf Behandlungen, seither herrscht wieder Ruhe im Mund.

Nur mit dem Paradies ist es so eine Sache. Kaum war nämlich der Zahn kuriert, kehrten auch die alten Unzufriedenheiten zurück. Gründe zum Unglücklichsein finden sich ja immer, meist sind sie ziemlich banal: Das Wetter, der Blick in den Spiegel, ein verspäteter Bus. So hält sich das kleine tägliche Unglück. Es ist mir so vertraut, dass es mir wohl fehlen würde, wäre es eines Tages verschwunden. Ich bin wahrscheinlich nicht paradiestauglich.

Der Sechser unten links trägt den lateinischen Namen Molar, was auf Deutsch Mühlstein heißt. Seit über fünfzig Jahren zermalmt er alles, was ich mir so in den Mund schiebe. Zur Kenntnis genommen habe ich ihn nie. Und einen Dank hat der gute Molar natürlich auch nie erhalten. Unzufriedenheit, so meine Vermutung, hat etwas mit Undankbarkeit zu tun, und diese wiederum mit Unachtsamkeit. Vielleicht wollte Molar mir nur das mitteilen.

Fast alles im Leben funktioniert ganz selbstverständlich. Das ist schön, hat aber auch einen Nachteil: Es wird nicht beachtet. Ein Leben ohne Zahnweh weiß erst zu schätzen, wer einmal Zahnweh hatte. Und es braucht verdammt viel Aufmerksamkeit, um nach diesem Erlebnis nicht gleich wieder in die alte Grummelbrummel-Stimmung zurückzufallen.

Momentan gefährdet die Zahnarztrechnung mein eben entdecktes Glück. Soviel Geld für Molars Beschwerden!

Muss der Eintritt ins Paradies denn so teuer sein?

Tante Berthis Relativitätstheorie

Meine Armbanduhr zeigt wie alle Uhren die Zeit an. Aber nicht die gleiche Zeit wie die andern Uhren. Sie geht vor. Zwei bis drei Minuten, so genau weiß ich es nicht. Und das nicht wegen eines Defektes, sondern weil ich sie so einstelle. Auf die Idee gebracht hat mich als kleiner Knirps Tante Berthi (die in Wirklichkeit eine Großtante war). Sie hat mir einmal erzählt, dass sie immer einen kleinen Zeitvorrat besitze, weil sie ihre Uhr um einige Minuten vorstelle. Mir hat das damals eingeleuchtet, und so halte ich es bis heute.

Wer sagt denn, dass meine Zeit falsch sei? Zeit ist bekanntlich relativ. Das sagte nicht Tante Berthi, sondern Albert Einstein. Nach seiner berühmten Relativitätstheorie gibt es keine absolute Zeit, die immer und überall gilt. Die Uhren laufen im Universum verschieden schnell, je nachdem, wo sie sich befinden und wie schnell sie bewegt werden. Der Fluss der Zeit kann sich beschleunigen oder verlangsamen. Was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, lässt sich deshalb nicht ein deutig bestimmen. Das ist für uns Normalverbraucher schwer vorstellbar, für die Physik aber eine Tatsache.

Meine relative Zeit gilt für mich trotzdem absolut, weil sie mir den Schutzraum von ein paar Minuten garantiert. Ich verfüge über eine kostbare Zeitreserve. Sie lindert den Zeitdruck und reduziert den Stress. Genügend Zeit zu haben ist in einer Gesellschaft permanenter Zeitnot ein Luxus. Den leiste ich mir.

Natürlich habe auch ich ab und zu das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft. Aber wo läuft sie denn hin? Das hat bisher noch niemand herausgefunden. Deshalb können wir sie auch nicht zurückholen. Und anbinden lässt sie sich schon gar nicht. Sie entzieht sich dem menschlichen Zugriff. Es ist bis heute nicht ganz klar, was Zeit wirklich ist. Sie bleibt eines der großen Mysterien der Natur.

Und trotzdem schaue ich jetzt auf die Uhr und stelle fest, wie schnell die Zeit wieder vergangen ist. Eigentlich vergeht sie meistens zu schnell, außer in unangenehmen Momenten – dann kann sie sich ewig in die Länge ziehen.

Wie schnell vergeht sie nun wirklich? Die Frage ist einfach, die Antwort nicht. Die Zeit kann sich nicht selber messen. Die Feststellung, dass sie mit einer Sekunde pro Sekunde vergeht, sagt nichts aus. Vielleicht vergeht sie ja auch gar nicht, wie einige Physiker vermuten?

Meine treue Armbanduhr kümmert sich nicht um solch komplizierte Fragen. Sie tickt im Takt und lässt die Zeiger schön regelmäßig über das Zifferblatt wandern. Sie vermittelt mir den Eindruck, dass die Zeit etwas Solides und Absolutes ist. Was natürlich nicht stimmt. Albert Einstein hat’s nachgewiesen. Und ich habe mit dem Tante-Berthi-Trick noch etwas nachgeholfen.

Also, wie spät ist es jetzt?

Schlaf für Erwachte

Bald erwachen die Siebenschläfer. Die kleinen Nager mit ihren großen schwarzen Augen und dem buschigen Schwanz schlafen vom Oktober bis im Mai ganze sieben Monate lang. Das ist allerdings noch nichts im Vergleich zu den sieben jungen Männern, die zu Zeiten der Christenverfolgung in eine Höhle bei Ephesus geflüchtet sind, dort angeblich zweihundert Jahre geschlafen haben und in einer völlig veränderten Welt wieder erwacht sind. Diese heiligen Siebenschläfer werden auch im Koran erwähnt, der ihre Schlafdauer gar auf 309 Jahre erhöht.

Siebenschläfer sind auch wir, wenn auch in einem andern Sinn: Ein Erwachsener schläft heute im Schnitt sieben Stunden. Vor zwanzig Jahren waren wir noch Achtschläfer. Und bald sind wir vielleicht Sechsschläfer. Die Schlafdauer nimmt laufend ab. Früher bestimmte das Sonnenlicht den rhythmischen Wechsel zwischen Wach- und Ruhezeiten. Heute macht das Kunstlicht die Nacht zum Tag, die natürlichen Rhythmen geraten durcheinander und die Ruhezeiten werden immer kürzer.