Der innere Kompass - Lorenz Marti - E-Book

Der innere Kompass E-Book

Lorenz Marti

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Beschreibung

Unglaublich: Da verbindet sich ein ungeordneter Haufen Atome ganz exakt so, dass ein Mensch entsteht, der auf zwei Beinen geht, die Welt betrachtet und Fragen stellt. Ein Mensch wie Sie! Wie ist das möglich - und warum gerade Sie? In seinem neuen Buch verfolgt Lorenz Marti die Spuren des Menschen, wie sie Evolutionswissenschaften, Kulturgeschichte und Hirnforschung aufzeigen. Es geht um die Frage, wie wir wurden, was wir sind. Was uns ausmacht. Und was aus uns werden könnte. Denn die Menschwerdung ist nicht abgeschlossen. Sie geht weiter. In der Evolution mag der Mensch eine kurze Episode sein, im Universum bloss eine Fussnote. Aber so klein er auch ist, etwas macht ihn gross: Die Fähigkeit, über sich und die Welt nachzudenken. Bis an die Grenzen des Wissbaren - und sogar darüber hinaus. Immer deutlicher zeigt sich dabei: Materie ist der eine Baustein der Wirklichkeit - der andere heisst Geist. Am Ende aller Erklärungen bleibt ein geheimnisvolles Mehr, das sich jedem Zugriff entzieht: Das Mehr des Lebens. Wir begegnen ihm in diesem Buch auch in der Gestalt eines Philosophen, der am Meer über dieses Mehr nachdenkt. Offen, unbefangen, jenseits von Konfession und Dogma. Von ihm stammt der Satz: Ein Mensch ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann. "Was ist der Mensch? Ewige Frage, die für sich schon den Menschen charakterisiert. Lorenz Marti gibt leicht lesbare Antworten auf der Basis heutigen Wissens. Mit Liebe zum Menschen und aller nötigen Vorsicht und Umsicht." (Wilhelm Schmid, Philosoph und Bestsellerautor) "Dieses Buch verbindet moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit alten spirituellen Einsichten. Ohne das eine mit dem andern zu vermengen, zieht Lorenz Marti den Schluss, dass die Basis der Welt und des Lebens immateriell ist. Dabei schwingt eine Ehrfurcht vor letzten Geheimnissen mit, die im ganzen Buch spürbar ist." (Dr. med. Daniel Hell, Professor em. für Psychiatrie) "Wir leben in einer Zeit, die das Leben auf Materie und Algorithmen reduzieren will. Da ist ein Buch, welches das Wunder des Lebens vom Urknall bis heute mit Charme und Wissen, mit Humor und Wertschätzung erzählt, ein großer Schatz. Sehr zu empfehlen." (Sylvia Wetzel, Publizistin und Meditationslehrerin)

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Lorenz Marti
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Inhaltsverzeichnis
Einstimmung: Das Mehr des Lebens
1   Der aufrechte Mensch: Wie wir wurden, was wir sind
Eine Maus gibt zu denken
Vom Korn zur Kultur
Der erste Freigelassene
Der Blick zum Horizont
Sprache als Schlüssel
Rituale und Mythen
Die Wende der Achsenzeit
Über sich hinauswachsen
Intermezzo: Der Philosoph und das Meer 1
2   Altes Erbe und neue Freiheiten: Das evolutionäre Erfolgsrezept
Unsere versteckten Vorfahren
Emotion und Reflexion
Der relativ freie Wille
Im Schatten der Angst
Gehirn und Glück
Die Farbe der Gedanken
Der siebte Sinn
Die Stärke der Stillen
Intermezzo: Der Philosoph und das Meer 2
3   Kreativität begegnet Realität: Wie die Welt im Kopf entsteht
Der beste Lotse
Wahrnehmung und Wahrheit
Eine unsichtbare Dunkelheit
Orientierung im Buchstabenwald
Verkehrte Welt
Intermezzo: Der Philosoph und das Meer 3
4   Gehirn, Geist und Seele: Warum das Rätsel bleibt
Etwas Geistesakrobatik
Jenseits des Gehirns
Graue Zellen und rote Rose
Intelligenz in der Natur
Evolution und Transzendenz
Fünf große Fragezeichen
Signaturen der Seele
Intermezzo: Der Philosoph und das Meer 4
5   Leben im Resonanzfeld: Das Ich ist mehr als ich
Grammatik des Lebens
Projekt Menschwerdung
Das fließende Ich
Erfahrungen und Erinnerungen
Im Spiegel der anderen
Empathie und Mitgefühl
Die letzte Einsamkeit
Vor einem großen Himmel
Intermezzo: Der Philosoph und das Meer 5
6   Die Ordnung der Dinge: Was trägt und verbindet
Fließende Grenzen
Ein weites Feld
Karten, Sterne und Neuronen
Die Mathematik der Natur
Poesie der Wissenschaft
Der Klang des Lebens
Das große Spiel
Ausklang: Mich wundert
Ein zweifaches Dankeschön
Quellenhinweise
Über den Autor
Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur
Vielen Dank für die Wolken. Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel. Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn und für allerhand andre verborgne Organe, für die Luft, und natürlich für den Bordeaux. Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht, und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern. Vielen Dank für die vier Jahreszeiten, für die Zahlen und für das Koffein, und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller, gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
Einstimmung: Das Mehr des Lebens
Wenn ich schreibe, dann zuerst einmal für mich. Schreiben ist meine Art, Erfahrungen zu verarbeiten und Erkenntnisse zu vertiefen. Ich lerne, indem ich schreibe. Schreiben erweitert den Horizont, dient der Orientierung und hilft, im Wellengang des Lebens einigermaßen auf Kurs zu bleiben. Wenn am Ende eines langen Prozesses schließlich ein Buch vorliegt, stelle ich fest: Es ist etwas passiert mit mir. Ich bin nicht mehr ganz derselbe wie vorher.
Doch ich schreibe nicht nur für mich. Ich schreibe vor allem auch für andere. Für Sie zum Beispiel: Schön, dass Sie dieses Buch zur Hand nehmen! Meine Texte sind Angebote zum Gespräch. Ob ich Sie persönlich kenne oder nicht, spielt keine Rolle. Wir sind über das Buch miteinander in Kontakt und gehen zusammen einen Weg. In meine Texte fließen immer auch Erfahrungen ein, die ich mit meinen Leserinnen und Lesern mache. Ich lerne viel von ihren Reaktionen, ihren Fragen und Anregungen.
Es kommt vor, dass Menschen mir berichten, wie eines meiner Bücher ihnen neue Perspektiven eröffnet hat. In solchen Momenten denke ich: Genau für diesen Menschen habe ich das Buch geschrieben! Exakt für ihn oder siemusste ich es schreiben.
Zum Beispiel für meinen Schwiegervater, der gegen Ende seines Lebens mein BuchEine Handvoll Sternenstaubgleich viermal gelesen hat. Das Buch lag auf seinem Nachttisch, als er den letzten Atemzug tat. Er war ein Freigeist, wollte von Religion nie etwas wissen und lebte ganz gut damit. Am Schluss hat ihn der Sternenstaub getröstet: der Ausblick auf das Geheimnis dieser Welt, wie ihn die Kosmologie und die Quantenphysik eröffnen. Da musste er nichts glauben. Da konnte er einfach nur staunen über die unendlich weiten und tiefen Dimensionen unserer Existenz – und sich vertrauensvoll dem ewigen Prozess von Werden und Vergehen überlassen.
Ein einziger solcher Leser rechtfertigt den Aufwand für ein ganzes Buch. Wenn dann noch weitere hinzukommen, was erfreulicherweise immer der Fall ist – umso besser. Das zeigt mir, dass meine Gedanken Resonanz finden und ein Dialog entsteht. Mehr kann ein Autor sich gar nicht wünschen!
In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit den Naturwissenschaften auseinandergesetzt. Wer etwas über das Mysterium von Welt und Leben erfahren will, kommt nicht um sie herum. Sie erzählen eine Schöpfungsgeschichte, die nicht weniger rätselhaft ist als jene, welche die religiösen Traditionen überliefern. Aber ihre Sprache ist eine andere. Auf den ersten Blick wirkt sie vielleicht nüchtern. Doch das ist nur die Außenseite. Denn auch Wissenschaft wird vorangetrieben von einer leisen Ahnung, dass sich in der beobachtbaren, messbaren Welt etwas Unergründliches, zutiefst Geheimnisvolles verbirgt.
Die Naturwissenschaften nehmen der Welt ihr Geheimnis nicht, im Gegenteil: Sie vertiefen es. Schon deshalb lohnt es sich auch für Laien, da genauer hinzuschauen.
In diesem Buch verfolge ich die Spur des Menschen, wie sie Evolutionswissenschaften, Kulturgeschichte und Hirnforschung aufzeigen. Eine äußerst vielschichtige Thematik. Ich versuche zu übersetzen und – mit der nötigen Vorsicht – zu vereinfachen. Mir geht es um die Frage, was uns eigentlich ausmacht, wie wir wurden, was wir sind – und was aus uns werden könnte.
In der Evolution mag der Mensch eine kurze Episode sein, im Universum bloß eine Fußnote. Und doch, ganz unbedeutend ist er nicht: Menschen können nachdenken über sich und die Welt. Und sie tun das in einem Ausmaß wie kein anderes Lebewesen sonst. Durch uns Menschen erkennt das Universum sich selber.
1 Der aufrechte Mensch: Wie wir wurden, was wir sind
Der Mensch ist nichts Festes und Fertiges,
Eine Maus gibt zu denken
Eine Maus huscht durch den Keller. Das Licht, das ich im dunklen Raum eben angezündet habe, hat sie erschreckt. Sie flüchtet unter ein Gestell. Eine kleine, scheue Feldmaus. Was machst du da?, frage ich sie. Sie zeigt sich nicht mehr. Es ist mucksmäuschenstill.
Ich nehme eine leere Kartonschachtel und warte. Nach ein paar Minuten erscheint die Maus wieder. Sie eilt im Zickzack über den kalten Steinboden, wo ich leichtes Spiel habe. Ich packe zu und trage sie in der Schachtel zum benachbarten Wald. Unter einer schönen Eiche, in sicherem Abstand zu Katzen und Raubvögeln, lasse ich sie frei. Mach’s gut, kleine Maus, flüstere ich ihr zu und gehe.
Was hat das Nagetier wohl erlebt? Ich weiß es nicht. Ich bin ein Mensch und keine Maus. Ohne überheblich zu sein: Die Feldmaus hat sich wohl nicht so viele Gedanken gemacht wie ich. Ihr Verhalten wird im Wesentlichen von zwei Impulsen gesteuert: der Flucht vor Gefahren (in diesem Falle also vor mir) und der Suche nach Nahrung (die sie wohl in den Keller gelockt hat). Das sind die beiden Themen, welche eine Maus beschäftigen. Sagen zumindest die Menschen. Ob die Maus das anders sieht, weiß niemand.
Sicher ist nur, dass der Mensch ein sehr viel größeres Hirn hat und sich deshalb auch mehr Gedanken machen kann. Schutz und Nahrung kommen zuerst, gewiss, aber dann fragt er weiter, nach der Welt und dem Leben, nach sich selber und dem Sinn des Ganzen. Er verfügt über Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Sprache. Er kann über sich und die Welt nachdenken. Er muss es geradezu, weil er auch weiß, dass er sterben wird. Ohne Sinn kann ein Mensch nicht leben.
Erich Fromm meint, der Mensch sei das einzige Tier, welches das Problem der eigenen Existenz lösen müsse. Ist das gut? Ist das schlecht? Esist einfach so. Und niemand wird im Ernst das eigene Denkvermögen gegen dasjenige einer Maus eintauschen wollen.
Die Feldmaus wird nach ihrer unfreiwilligen Reise vom Keller in den Wald zuerst ihre neue Umgebung erkunden, um sich orientieren zu können. Sie entwirft dafür eine innere Landkarte. Sobald sie das geschafft hat, stellt sie ihre Erkundungen ein. Für einen Menschen aber beginnen hier erst die eigentlichen Fragen: Was ist passiert? Warum bin ich hier? Und was soll ich jetzt?
Das menschliche Gehirn ist das am weitesten ausdifferenzierte Organ, welches die Evolution bisher hervorgebracht hat. Rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) sind über Billionen von Schaltstellen (Synapsen) miteinander verknüpft. Sie tauschen untereinander laufend elektrische Signale aus, die in chemische Botenstoffe umgewandelt werden – mit dem Ergebnis, dass wir denken und fühlen, wahrnehmen und handeln können.
Wir können über Mäuse und Menschen philosophieren, über große und kleine Fragen, über die Erde, den Himmel und all die vielen Dinge dazwischen. Die Fähigkeit, nicht nur das Lebensnotwendige zu tun, sondern darüber hinaus nach Sinn und Bedeutung zu fragen, zeichnet den Menschen aus. Im Vergleich zu den Mäusen und all den anderen Tieren verfügen wir über das größte Gehirn (relativ zum Körpergewicht). Offensichtlich ist es unsere Aufgabe, Bewusstsein zu entwickeln und nachzudenken.
Und was ist mit der Feldmaus passiert?
Vom Korn zur Kultur
In jedem Menschen steckt etwas Maus. Und umgekehrt gilt: In jeder Maus steckt etwas Mensch. Über eine Zeitstrecke von fast drei Milliarden Jahren haben wir gemeinsame Vorfahren. Und obwohl wir unterdessen ganz anders aussehen als eine Maus, stimmt ein Großteil der Gene überein, auch Organe, Gewebe und Zellen sind sehr ähnlich. (Für die Maus sind diese Gemeinsamkeiten allerdings kein Vorteil, sie wird in den Labors als Versuchstier eingesetzt.)
Die Verwandtschaft ist geblieben, auch wenn sich die Entwicklungswege vor 75 Millionen Jahren getrennt haben. Die inneren Baupläne des Menschen sind komplizierter und vielfältiger geworden. Aus dem einfachen Nervensystem, über das der kleine Nager heute noch verfügt, ist im Schädel des großen Zweibeiners ein riesiges Netzwerk mit Milliarden von Neuronenverbindungen entstanden. Es eröffnet ihm unzählige Möglichkeiten: Er kann denken, Sprache entwickeln, Werkzeuge gebrauchen, Feuer entfachen, Land bebauen. So hat er sich allmählich von der Natur emanzipiert und eine Kultur aufgebaut.
Ein Tier kann nur jene Lebensräume bewohnen, die seiner Art entsprechen. Es ist perfekt auf seine Umwelt abgestimmt. Der Mensch dagegen ist in der Lage, sich unter verschiedenen Bedingungen zu entwickeln, weil er es versteht, aus Beobachtungen Schlussfolgerungen zu ziehen und entsprechend zu handeln. Er ist fähig, sich der jeweiligen Umgebung anzupassen, und kann sowohl am Nordpol wie auch in der Wüste leben. Er kann planen, Gemeinschaften aufbauen und sich Dinge vorstellen, die nicht sichtbar vorhanden sind. Der Mensch, das Kulturwesen.
Kultur, das ist zunächst einmal alles, was Menschen gestalten und erschaffen. Das lateinische Wortcultura bedeutet Ackerbau. Unsere Urahnen waren lange als nomadisierende Jäger und Sammler unterwegs, bevor sie sich vor etwa 10.000 Jahren niedergelassen haben. Als sesshafte Bauern begannen sie nun Feldfrüchte anzubauen, Brunnen zu graben, Vieh zu züchten und Vorräte anzulegen. Die Ähren des Getreides wurden nicht nur gesammelt, um sie zu verzehren, sondern auch, um sie auszusäen und den Ertrag zu vermehren. Die Ackerbauern entdeckten, wie sie die Natur gestalten konnten. Diesejungsteinzeitliche Revolution gilt als einer der größten Umbrüche in der Geschichte der Menschheit.
Mit der Arbeit auf dem Feld und in der Werkstatt, mit dem Bau von Wegen und Siedlungen veränderte sich die Wahrnehmung: Leben und Welt waren nicht mehr einfach gegeben. Die Menschen konnten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Sie konnten nachdenken und schöpferisch tätig werden. Sie konnten die Welt erkunden und Fragen stellen. Und sie konnten sich auch mit Themen befassen, die weder für das Überleben noch für die Fortpflanzung von Bedeutung sind. Kein anderes Lebewesen sonst widmet sich Angelegenheiten, die scheinbar so unnütz sind wie Kunst, Philosophie oder Religion.
Nur Menschen fragen sich: Warum ist etwas so, wie es ist? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Was hält die Welt im Innersten zusammen?
Der Homo sapiens will Wissen und Erkenntnis gewinnen. Er will verstehen. Selbst an den scheinbaren oder tatsächlichen Grenzen des Wissbaren gibt er nicht auf. Er fragt weiter. Er will mehr wissen. Er will alles wissen.
Der erste Freigelassene
Vor ungefähr fünf Millionen Jahren haben die affenähnlichen Vorfahren des Menschen begonnen, sich aufzurichten. Warum sie das getan haben, ist nicht ganz klar. Dieser Wechsel muss relativ schnell passiert sein, weil es zwischen dem vierbeinigen und dem zweibeinigen Gang kaum Zwischenstufen gibt.
Der Übergang zum aufrechten Gang hat zu einem anatomischen Umbau des Skeletts geführt: Die Beine wurden länger, die Arme kürzer. Der Schädel, der nun auf der Wirbelsäule ruhte, veränderte seine Form und nahm an Volumen zu. Mit diesem Umbau konnte sich ein großes, leistungsfähiges Gehirn entwickeln.
Anatomisch war der Mensch nun auch fähig, zu atmen und gleichzeitig zu sprechen. So konnte er von animalischen Grunzlauten zu den vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten einer Sprache übergehen. Dieser Übergang spiegelt sich heute in der Entwicklung eines Kindes: Im Krabbelalter kann es zwar allerlei Laute von sich geben, aber richtig sprechen lernt es erst, wenn es stehen und gehen kann.
Der aufrechte Körperbau vergrößerte die Handlungsfreiheit. Die Vorderbeine mutierten zu zwei freien Händen. Der Mensch erhielt damit sein wichtigstes Werkzeug und wurde wortwörtlich handlungsfähig. Er konnte greifen und begreifen, Dinge herstellen und weitergeben, Kunstwerke erschaffen. Diese Fähigkeiten förderten wiederum die Entwicklung des Gehirns und der Sprache. Damit gewann der Homo sapiens einen entscheidenden Vorsprung gegenüber allen anderen Lebewesen.
Diese Entwicklung hat allerdings ihren Preis: die Unsicherheit. Der menschliche Gang gilt als eine der unsichersten Fortbewegungsarten, die ein Lebewesen kennt. Während Vierbeiner sicher auf dem Boden stehen, müssen Zweibeiner ständig ihr Gleichgewicht ausbalancieren. Unser Gehen, stellt der Philosoph und Spaziergänger Schopenhauer fest, ist ein stets gehemmtes Fallen. Gehen ist anatomisch ein heikler Balanceakt von sieben eng koordinierten Bewegungen. Nach dem Anthropologen John Napier torkeln Zweibeiner sogar »Schritt für Schritt an einer Katastrophe entlang«.
Das mag übertrieben sein. Aber wer etwa einer Schafherde zusieht, wie sie sich leichtfüßig über die steilsten Hänge wagt, ahnt, was wir mit dem aufrechten Gang an Standfestigkeit verloren haben. Allein von der Sicherheit her wäre eine vierbeinige Fortbewegung bestimmt besser, zudem würde so die Wirbelsäule entlastet, und wir hätten weniger Rückenschmerzen. Aber niemand wird deswegen auf allen Vieren durch die Gegend laufen. Das überlassen wir doch lieber den Schafen.
Die Aufrichtung des gekrümmten Körpers ist eine eigentliche Befreiungsgeschichte. »Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht«, schreibt der Aufklärer Johann Gottfried Herder.* Wer aufrecht geht, muss nicht kriechen und gebeugt zu Boden blicken. Die aufrechte Körperhaltung signalisiert Kraft und Würde, Mündigkeit und Freiheit. Mit ihr verbindet sich die Fähigkeit zur Unterscheidung: Was will ich und was nicht? Was ist richtig und was ist falsch? Was ist gut und was schlecht?
Der aufrechte Mensch muss sich für sein Tun und Lassen entscheiden und dafür auch geradestehen. Darin liegt seine Größe – und das Risiko seines Scheiterns.
Ein Kleinkind, das seine ersten Schritte wagt, lernt buchstäblich von Fall zu Fall. Aber mit der Zeit vermag es auf eigenen Beinen zu stehen, gewinnt Vertrauen in sich und seine Möglichkeiten – und den Mut, nach jedem Fall wieder aufzustehen und weiterzugehen, trotz der unsicheren Statik.
Der Blick zum Horizont
Der Werde-Gang des Menschen ist außergewöhnlich. Mit jedem Schritt die Balance zu finden scheint so selbstverständlich und ist es in Wirklichkeit überhaupt nicht. Hirntechnisch ist dieses permanente Ausloten des Gleichgewichts äußerst anspruchsvoll und kompliziert. Kein Roboter schafft so etwas. Selbst die raffinierteste Maschine kann höchstens ein paar vorprogrammierte, plumpe Schritte tun. Dass Menschen überhaupt stehen und gehen können, ist erstaunlich – ein eigentliches Meisterwerk der Natur.
Als Aufgerichteter gewinnt der Homo sapiens Umsicht und Weitsicht, Vorsicht und Nachsicht, Aussicht und Einsicht. Addiert man diese Sichtweisen zusammen, erhält eine Person ihr einzigartiges, unverwechselbaresGesicht: Dieses Wort bedeutet im Mittelhochdeutschen ursprünglich »Erscheinung«, »Anblick«. Das Gesicht ist ein Lesebuch des Lebens.
Mit dem aufrechten Gang verändert sich die Wahrnehmung. Das Auge wird zum dominanten Sinnesorgan. Ein Ereignis ist einEräugnis, sagt die Sprachforschung. Der Blick bleibt nicht mehr auf den Boden fixiert, er erfasst nun auch die nähere und weitere Umgebung. Und manchmal schweift er in die Ferne.