UhrZeit - Isabelle Reiff - E-Book

UhrZeit E-Book

Isabelle Reiff

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Beschreibung

Dortmund im Jahr 2026: Der BVB ist pleite, die Stadt verschuldet, viele Menschen sind arbeitslos. Marlene Gelfert-Zackowski hat die rettende Idee: ein Smartwatch-Programm, das jeden Menschen auf ein gelingendes Leben hin optimiert. Doch die ehrgeizige Kämmerin hat die Rechnung ohne ihren Sohn gemacht. Zusammen mit seinem Freund Flynn entdeckt Jaden, wo man die Watch manipulieren kann: in Dortmunds gefluteter Unterwelt. Die alten Stollen bergen aber noch weitere Geheimnisse, doch die möchten andere lieber unentdeckt wissen ... (2. Auflage: um ein Bonuskapitel erweiterte Neuausgabe der 07/2017 bei KDP veröffentlichten Originalausgabe)

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»Computer waren von Anfang an Regierungsmaschinen.«

Jon Agar, Professor für Technologiegeschichte am University College London

WIDMUNG

Für Dortmund.

INHALT

Danksagung

Erster Teil

Zweiter Teil

Anhang

Die Autorin

DANKSAGUNG

Klaus Heß, Romana Heile, Dr. Joachim Kirchmann,

Werner Block, Roman Reiff, Christa Riedl,

Dagmar Tigges

MYJOB – 23.07.2026 – STELLENANGEBOT

»Besitzen Sie eine außerordentlich hohe Integrität und soziale Kompetenz, kennen sich in unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten aus und können sich im Notfall selbst verteidigen?

Die Stadt Dortmund sucht weitere Sozialarbeiter. Wir unterstützen Sie mit wirkungsvoller intelligenter Technik. Bewerben Sie sich mit Ihrer persönlichen Kennung unter dortmunds-helden.de. Mindestalter: 40 Jahre. Wir freuen uns auf Sie.«

*

Das Signal seiner Smartwatch weckte Jaden. Noch halb schlafend tastete er nach ihr. Doch er fand sie nicht, wo er sie suchte: an seinem Handgelenk. Das war einmal, dämmerte ihm, und er drückte blinzelnd das aufleuchtende Signal in der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger. Kaum berührte er die Stelle, versetzte es ihm einen leichten Schlag, der bis in seinen Kopf fuhr. Jaden zuckte zusammen. Dabei bekam er diesen Stromimpuls nun schon seit einem halben Jahr jeden Morgen ab – seit er in der Ausbildung war. Am Anfang hatte er mal ausprobiert, die linke Hand unter dem Kopfkissen abzuschirmen, doch das war zwecklos, weil der Signalton nicht in der Hand, sondern hinter seinem Ohr gebildet wurde. Der Chip in der Hautfalte löste den Ton bloß aus.

Mit 14 hatte man bei Jaden so starke Hörschäden diagnostiziert, dass der Einbau eines künstlichen Innenohres unvermeidlich war. Die Kosten für das Einpflanzen wurden sogar staatlich getragen, die Aufwendungen bei lebenslanger Schwerhörigkeit waren in Summa viel größer: Verkehrsunfälle, Berufsunfähigkeit, schwere soziale Integrierbarkeit ...

Zwar hatte man 2020 ein Bundesgesetz verabschiedet, das Implantate bei Minderjährigen, deren Körper noch im Wachstum war, untersagte. Nur wenn die Risiken der körperlichen Defizite die Risiken von Verwachsungen etc. überwogen, galten Ausnahmeregelungen. So wie bei Jaden. Als man ihm anbot, den Gehörchip auch noch upzugraden, sodass er kein Headset mehr benötigte, wenn er per Smartwatch Musik hörte, telefonierte, Filme guckte oder spielte, war er Feuer und Flamme. Klar, dass ihn seine Kumpels, die noch Headsets trugen, beneideten. Manche von ihnen legten es danach richtig auf Lärmschäden an und drehten die Lautstärke ihrer Smartys ständig voll auf.

In der Erwachsenenwelt gehörte technikgestützte Selbstoptimierung zur Luxusausstattung. Kein Gedanke mehr an die zerzausten Biohacker, die auf der ersten Cyborgmesse 2015 in Düsseldorf ihre Hände mit den eingebauten RFID-Chips zum Öffnen von Türen präsentierten. Damals galten solche Typen noch als Freaks. Zehn Jahre später war es schon sexy, ein Cyborg zu sein. Jeder, der es sich leisten konnte, trug entsprechende Implantate im Körper, und wenn es dabei nur um Pass- und Führerscheindaten oder die Überwindung von Rot-Grün-Blindheit ging. Der Markt war längst reif, die technologischen Erweiterungen hatte es lange vorher gegeben: entworfen und entwickelt für Menschen, die echte körperliche Defizite hatten.

So wie Jaden. Früher hatte er die Postings seiner Freunde manchmal überhört, hatte z. B. erst gar nicht mitbekommen, dass Lara sich von ihm getrennt hatte. Und vorher musste er noch sehr vieles tippen, was er jetzt sprechend eingeben konnte.

Doch dem jungen Dortmunder wurde allmählich klar, welche Nachteile es mit sich brachte, immer hören zu müssen. Das Cochlea-Implantat, das er nun beidseitig hinter dem Ohr unter der Kopfhaut trug, war ständig auf Empfang. Seine Energie bezog es aus der Körperwärme. Als er die Smartwatch noch als Wearable ums Handgelenk trug, konnte Jaden die Verbindung einfach unterbrechen, indem er das Gerät abschaltete. Er hatte es oft getan, allein weil ihn die plötzliche Prägnanz der Töne überforderte. »Boah, wie scheißenherb ist das denn?!«, schimpfte er zu Beginn und erntete dann gleich zwei fiese Warntöne als Strafe für die Verwendung gossensprachlicher Ausdrücke.

Als auffiel, dass er trotz Gehöroptimierung weiterhin zu spät, wenn überhaupt, zum Unterricht erschien, hatte seine Mutter durchgesetzt, dass man bei ihm auch in Sachen Smarty eine Ausnahme machte. So trug er die Bedieneinheit jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Die durchscheinende Anzeige war auf zwei leuchtende Farbfelder reduziert: Rot für Nein und Grün für Ja. Komplexere Informationen wurden auf seinen Kontaktlinsen eingeblendet – Smart Lenses.

Den Wecker zu überhören war dadurch unmöglich geworden. Um wenigstens dem Stromschlag zu entkommen, hatte Jaden versucht, den Alarm anstatt mit dem Finger mit einem Wiener Würstchen abzuschalten. Auf die Idee waren frierende Koreaner gekommen, die bei arktischer Kälte vermeiden wollten, ihre Handschuhe ausziehen. In Jadens Fall funktionierte das aber nicht: Zum einen waren nur noch vegane Würstchen im Handel, und die leiteten nicht genug. Umso schlimmer: Die Sensoren erkannten den unerlaubten Versuch und sendeten umgehend extra gemeine Töne in Jadens Innenohr.

Der neuerliche Schreck hatte Jaden in eine senkrechte Lage versetzt. Möglich, dass das wirklich Absicht war. Flynn, sein Freund, war davon überzeugt. Flynn glaubte zu wissen, dass das Signal so justiert war, dass es direkt in die Amygdala, das Panik-Zentrum im Gehirn, sendete. Deswegen, so der schlaue Freund, könnte man sich eigentlich nie daran gewöhnen.

Froh, dass der Signalton abebbte, stand Jaden auf. Er wusste, dass neue Töne kommen würden, wenn er sich jetzt nicht an den Zeitplan hielt: fünf Minuten Gymnastik, fünf Minuten duschen, fünf Minuten abtrocknen und anziehen, zehn Minuten Kaffee trinken und Cerealien essen, zehn Minuten Zähne putzen und stuhlen.

Er war schon perfekt abgestimmt auf die Intervalle, wobei das auch keine Kunst war: Die Trainingsanweisungen, die Smarty in seinem Kopf erschallen ließ, dauerten genau fünf Minuten (ein extra Sensor im Innenohr erkannte, wie sehr er sich anstrengte), der vaporisierte Wasserstrahl kam anschließend exakt fünf Minuten aus der Decke. Der Kaffee trötete auf die Sekunde fünf Minuten später. Jaden hatte das alles einmal gestoppt – überflüssigerweise.

Der Cerealienlöffel vibrierte, wenn er zu langsam aß und wurde heiß, wenn er schlang. Auch die Zahnbürste kontrollierte die Putzzeit, und das WC machte ihm einen Einlauf, wenn bis eine Minute vor Zeitablauf noch keine Stuhlentleerung erfolgt war.

Seitdem er und sein Smarty auf diese Weise verbunden waren, hatte sich äußerlich vieles in Jadens Leben verbessert: Er kam pünktlich in seine Ausbildungsstätte und vertrödelte die Zeit nicht mehr mit dem Checken und Senden von Postings. Er aß auch nur noch Lebensmittel, die ihm gut taten, denn über sein Smart-Besteck erfuhr der Mini-Computer, welche Vitamine, Spurenelemente und andere Inhalte noch fehlten, um auf einen ausgeglichenen Stoffwechsel zu kommen. Aß er mal was aus der Hand, erkannte der Chip in seinem Innenohr, dass Kaubewegungen im Gang waren und sendete so lange ein fieses Signal an seinen Hörnerv und ein Action Pic – die Abbildung einer Handlungsanweisung – auf die Kontaktlinsen, bis Jaden seine Smartfork in den Burger oder das Gebäck gespießt hatte. Die intelligente Gabel analysierte dann die nährstoffliche Zusammensetzung. Evtl. projizierte sie anschließend den Warnhinweis, dass zu viele Kalorien ohne Nährwert enthalten waren. Ignorierte er diese Warnung drei Mal in Folge, musste er damit rechnen, am nächsten Morgen vierzig Minuten früher geweckt zu werden, um ein schweißtreibendes Ausdauerprogramm zu absolvieren.

Heute war Jaden mit allen Tasks auf die Sekunde fertig geworden. Jetzt nur noch schnell die Kontaktlinsen rein. »Toll gemacht! Du hast das Training abgeschlossen und eine Medaille verdient!«, lobte Smarty mit der Stimme von Jadens Ex-Freundin und projizierte das Piktogramm eines Ordens.

»Strike!«, rief Jaden, und »Zeige Position!«, um zu sehen, welchen Platz er im Ranking mit den Kumpels eingenommen hatte: Immerhin stand er jetzt schon an elfter Stelle. Colin, das Aas, war auf Platz 7. Jaden nahm sich vor, am Abend noch joggen zu gehen. Freiwillig abgeleistete Trainingszeit wurde besonders hoch angerechnet. »Achtung«, meldete sich Smarty zu Wort, »achte darauf, genügend zu trinken, am besten Wasser, aber kein Leitungswasser.«

Doch jetzt öffnete sich die Tür zu seiner Einraumwohnung auffordernd: Er hatte zu gehen. Gleich gegenüber im Flur stand schon der Fahrstuhl bereit. Jaden zählte sich zu den Privilegierten, die in sogenannten Smart Houses direkt an das unterirdische Unterwasser-Bahn-Netz angeschlossen waren und nicht, wie die meisten anderen, in den überfüllten, ramponierten S- und U-Bahnen oder mit den wenigen Bussen fahren mussten.

Jaden hatte wohlhabende Eltern: Seine Mutter war promovierte Sozialarbeiterin. Früher war das noch kein so gut bezahlter Job. Seitdem es aber immer mehr Menschen gab, die aufgrund ungünstiger Ausgangsbedingungen, geringer Sprachkenntnisse und Bildung unter der Armutsgrenze lebten, waren professionelle Betreuer essenziell geworden. Erst recht mit der Flüchtlingswelle, dem Kollaps des Euro und dem Chaos, das in den Euroländern ausgebrochen war.

Unbestechliche Sozialarbeiter waren hoch angesehen. Sie galten als Garanten einer neuen Sicherheit in der Gesellschaft. Denn die hatte gelitten und musste erst wieder neu aufgebaut werden. Jadens Mutter leitete inzwischen das Jugendamt der Stadt Dortmund. Zusätzlich war sie vor einem Jahr zur Stadtkämmerin ernannt worden. In Dortmund war es Tradition, dass der Kämmerer noch eine zweite Aufgabe hatte. Jahre zuvor war es das Kulturdezernat gewesen.

Im Fahrstuhl hatte Jaden noch Zeit, sein Spiegelbild zu überprüfen. Von seinem Ersparten wollte er sich, sobald es reichte, die Augenbrauen mittels Haarimplantation verstärken lassen. Er hatte da nur wenige blonde Haare, die sein Gesicht kindlich, auch ausdruckslos erscheinen ließen. Jaden kam stark nach seiner Mutter, und das war ihm genau so unrecht. Viel lieber hätte er das dunkle volle Haar seines Vaters geerbt. Zu seinen türkisblauen Kontaktlinsen hätte das echt premium ausgesehen. Haarfärbemittel waren leider seit 2020 verboten, auch Henna-Importe. Aus Asien wurde gar nichts mehr importiert, seit sich die atomare Verstrahltheit dort nach einem weiteren Zwischenfall drastisch verschlimmert hatte. Das Gute daran war, dass man in Bochum wieder Handys produzierte. Nokia hatte seinen alten Standort reaktiviert und damit auch neue Arbeitsplätze geschaffen. Nach dem Scheitern von TTIP kam sogar AMD wieder zu Kräften. BMW war mit eingestiegen, sodass Deutschland im Jahr 2026 längst mehr Computer als Autos produzierte.

»Smarty Holo«, sagte Jaden, und Smarty aktivierte die Augmented-Reality-Funktion in den Kontaktlinsen. »UW-Bahn Richtung Dortmund Technologiepark in einer Minute«, sagte ihm Smarty mit Laras Stimme so nah, dass er eine Gänsehaut bekam. Im selben Moment ging die Fahrstuhltür auf, dabei war er erst im Erdgeschoss angekommen. Zu seiner Überraschung stand Flynn vor ihm.

»Na«, sagte Flynn lachend, als er Jaden erblickte. »Mit mir hast du nicht gerechnet, stimmt’s?«

»Isso«, bestätigte Jaden, »wie kommt’s, was hast du vor?«

»Ich wollte einfach mal in echt wissen, wie dein täglicher Weg so aussieht.« Der Freund betrat den Lift. Seine aufgestylten Haare standen in alle Richtungen. »Ohne dich käme ich hier doch nicht runter.«

Tatsächlich konnten nur Leute, die die Unterwasser-Bahn als Fahrzeug zu ihrer Arbeitsstelle benötigten, in die Untergrundstation gelangen.

Flynn sah gespannt auf die Anzeige, die blinkend illustrierte, dass es weiter abwärts ging: »High End würde ich sagen.«

Jaden korrigierte: »Von wegen ›high‹. Wir sind gleich hundert Meter weit unten.«

»Weiß ich doch Alter.« Flynn knuffte ihn.

Der Fahrstuhl kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf den beleuchteten Tunnel frei. Jaden trat auf die Bahnsteigfläche, die schon voller Menschen war. Flynn folgte ihm.

Fast am Ende des Bahnsteigs leuchtete für Jaden ein virtueller Pfeil auf: »Colin ist hier«, informierte Laras Stimme, »eigene Präsenz bekannt geben?« Jaden drückte den Daumen auf den rot durchscheinenden Punkt in seiner linken Hand. Er hätte auch »Nein« sagen können, aber so war es ihm lieber. Dabei hätte sicher niemand Notiz von dieser Art Selbstgespräch genommen, weil fast jeder vor sich hin murmelte.

Colin hatte er außerhalb ihrer Ausbildungsstelle geblockt. In seiner Freizeit wollte er, wenn es sich vermeiden ließ, nicht von ihm ausgespäht werden. Es reichte ihm, seinen Halbbruder beim Arbeiten um sich zu haben. Hoffentlich hatte ihn der Klugscheißer nicht mit bloßem Auge erspäht.

»Hast du denn heute frei oder was?«, wollte Jaden wissen und sah sich dabei nach Flynn um.

Die Antwort musste auf sich warten lassen, denn die mit schmutzigen Tropfen bedeckte Bahn fuhr jetzt ein, und Lara erinnerte: »UW-Bahn Richtung Dortmund Technologiepark ist jetzt zum Einsteigen bereit.«

Jaden und Flynn ließen sich vom Strom der anderen Fahrgäste zu den geöffneten Fahrzeugtüren schieben.

»Hier sind ja nur Kontaktlinsenträger!«, flüsterte Flynn, der selbst noch ein Auslaufmodell des Alpha Glass trug, eine Art Brille, die aber nur über Flynns linkes Auge ragte.

Jaden fiel es zum ersten Mal auf, dass sonst keiner ein externes Prisma hatte. Kein Wunder, schließlich fuhren nur die Bessergestellten mit der Unterwasser-Bahn: Leute, die in der Tech-Industrie arbeiteten, forschten oder geschult wurden, so wie er. Oder an der TU studierten. Er hatte nie einen Blick dafür gehabt. Mit Smart Lenses übersah man einfach alle, die weder Freunde noch Promis waren. Flynn hatte mal wieder Recht.

Sie betraten die UW-Bahn. Flynn ging hinter Jaden. Colin im Hinterkopf, wandte sich Jaden gleich nach rechts in den Gang und überprüfte, ob Flynn ihm folgte. Er wollte es nicht noch darauf anlegen, den ungeliebten Halbbruder zu treffen, den sein Vater mit einer bulgarischen Frau gezeugt hatte: ein Allergie-geplagter 15-Jähriger, der durch Geschlechtsverkehr entstanden war.

Seit 2021 kamen solche Menschen gar nicht mehr auf die Welt. Der Deutsche Ethikrat hatte sich seinerzeit einstimmig für die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen: Gentests an künstlich erzeugten Embryonen waren fortan erlaubt, Blastozysten mit Gendefekten durften aussortiert werden. Diese Entscheidung war anschließend sogar mehrheitlich geliked worden. Kein Designerbaby zu sein, war inzwischen genau so ein Ehrenmakel wie früher, unehelich geboren zu sein.

Colin war trotzdem der Traumsohn seines Vaters. Wobei dessen Argumentation genau andersherum ging: Colin sei der Sohn, den er autark gezeugt habe. Er selbst habe den Colin-Samen ganz weit nach vorne geschossen und so ins Ziel – Rudankas Eizelle – gebracht. Keine Pipette, keine Spritze hätten da mitgemischt. Und weil Rudanka das genauso gut fand, verliebte sich Sven Gelfert-Zackowski in eine Frau, die kaum seine Sprache sprach – und er ihre auch nicht. Später gab es dafür aber eine Simultanübersetzungs-App.

Sitzplätze waren keine mehr frei. Jaden und Flynn blieben am Ende des Waggons stehen und hielten sich an den mit Zero-Kronen-Bechern gebrandeten Halteschlaufen fest. Ein durchdringender Ton warnte, dass die Türen gleich geschlossen würden. Die Bahn tat einen Ruck und bewegte sich ins Dunkle hinein. Dann hielt sie an, und das schwere Rumsen des sich schließenden Schleusentores war zu hören. Für Jaden war es ein vertrautes Geräusch. Flynn dagegen spitzte die Ohren. Durch die Lüftungsschlitze der Klimaanlage zischte eine leicht nach Desinfektionsmittel riechende Brise ins Abteil. Dann kam das Wasser. In wenigen Sekunden hatte es den Waggon umgurgelt, stieg braun an den Bullaugenscheiben empor.

»Über!« Flynn war begeistert. Jaden erlebte es fast jeden Tag.

Die Bahn setzte sich nun wieder in Bewegung und surrte durch den überschwemmten Tunnel. Sie war ein Prototyp, Ergebnis eines studentischen Projekts an der TU, die Realisierung finanziert mit Drittmitteln der Airbus Defence Division. 2018, nach dem Auslaufen der Bergbausubventionen, hatte die ehemalige Ruhrkohle AG einen Großteil der Pumpen abgestellt, die bis dahin verhinderten, dass die stillgelegten Zechen vom Grundwasser geflutet wurden. Die massive Aushöhlung unter Tage bot – wo noch erhalten – eine phantastische Infrastruktur: ein zusammenhängendes Tunnelsystem, über das man jede Stadt im Ruhrgebiet unterirdisch erreichen konnte.

Ein junger arbeitsloser Bergmann hatte 1981 als Erster den Beweis angetreten, dass es wegen der Verbundenheit aller Zechen möglich war, unter Tage von Recklinghausen bis Dortmund zu gehen: Ulli Katlewski hatte damals eine Woche gebraucht. Die Unterwasser-Bahn brauchte mit ihrem Jetantrieb für dieselbe Strecke eine halbe Stunde. Von Dortmund-City zum Technologiepark dauerte die Fahrt nur zehn Minuten.

»Guck mal«, sagte Flynn leise, und deutete auf das Antennensymbol auf dem Display seiner Smartwatch, »kein Empfang«.

»Ist doch logisch«, trumpfte Jaden auf, »wir sind ja jetzt quasi unter Wasser«. Die leicht bräunliche Brühe rauschte an den Scheiben vorbei.

»Mobilfunk-Kurzwellen können sich im Wasser nicht ausbreiten.« Jaden war stolz, einmal mehr zu wissen als Flynn, denn normalerweise war er derjenige, der sich auf jedem Themengebiet auskannte.

»Schallwellen würden vielleicht weiterkommen, aber nicht, wenn wir so tief unter der Erde sind.«

»Und das ist die einzige Unterwasserstrecke?«, wollte Flynn wissen.

»Demnächst soll’s noch eine Verbindung nach Duisburg geben.«

Die beiden Freunde starrten jeder durch eines der kleinen Bullaugen und versuchten, etwas zu erkennen.

»Früher haben die Pferde hier die Kohlenloren entlang gezogen.« Um mehr zu sehen, drückte Flynn sein Gesicht nah an die Scheibe und schirmte mit den Händen neben seinen Augen die Kabinenbeleuchtung ab. Sein Alpha Glass hatte er über die Stirn geschoben. »Mein Großvater hat hier noch gearbeitet. Guck mal«, rief er plötzlich aufgeregt, »man sieht die Stützstempel!«

Jaden schaltete seine Linsen auf Nachtsichtmodus und spähte durch die runde Schreibe in das Wasser. Auch er erkannte die Stützpfeiler des mächtigen Stollens. Ihm fiel ein, dass er irgendwann mal ein Zusatzfeature erhalten hatte, das die Sicht verbesserte, wenn man bei Regen Auto fuhr. Vielleicht tat es auch hier seinen Dienst. Da es inzwischen so gut wie immer regnete, war das Feature im Grunde gut. Dabei besaß er gar kein Auto. Trotzdem wollte er die Erweiterung damals unbedingt haben und hatte dafür seiner Mutter den etwas teureren Regenschirm gekauft – einen Glockenschirm mit der Skyline von London drauf. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt benutzte.

Mehrmals musste er die Ansicht weiterblinzeln, bis er das Feature gefunden hatte. Nachdem er es aktiviert hatte, überraschte ihn der klärende Effekt. Jetzt konnte er die Stahlstützen und Tunnelbegrenzungen deutlich erkennen.

»Wenn du wüsstest, was ich alles sehe«, gab er an.

»Du kannst ja ein Foto machen«, schlug der Freund vor und schob sich das Alpha Glass wieder vors linke Auge. »Foto« hatte er etwas stärker betont, um den Auslöser zu starten.

»Ob daraus was wird?«, zweifelte Jaden. »Bei mir ist die Aufnahmefunktion hier unten deaktiviert.«

»Wart’s ab.« Kurz darauf hielt ihm Flynn seine Smartwatch hin. Er hatte noch ein älteres US-Modell mit hartem Gehäuse und Display.

Schemenhaft erkannte Jaden darauf hinter einem hellbraunen Schleier die Tunnelwand. »Meine Aussicht war aber besser.«, bemängelte er.

»Warte, bis ich es bearbeitet habe.« Flynn tippte auf das Bild. »Vielleicht braucht das System auch mal wieder ein Update ...« Jaden beobachtete, wie der Freund auf seiner smarten Uhr hantierte. »Bingo! Da war doch was, hatte ich glatt übersehen. Das haben wir gleich.« Unter seinen Berührungen leuchteten Symbole auf, dann ein Einbahnstraßenzeichen. »Ups?«, wunderte sich Flynn erst, bis er begriff: »Ach klar: kein Empfang hier unter Wasser.«

Jaden sah die dünnen Finger seines Freundes über das Display wischen und durch Listen blättern. Ausrufezeichen und ausgegraute technische Beschreibungen wechselten sich ab und verschwanden. Der wassergefüllte Tunnel schien ihn nicht mehr zu interessieren.

»Was machst du da?«

»Muss mal meine Einstellungen checken.«

Neugierig linste Jaden über Flynns Schulter.

»Das sind die administrativen Optionen vom Personal Manager. Willst du etwa Strafpunkte löschen?«

»Mal sehen ...«

»Hast du schon wieder so viele Bonuspunkte eingeheimst. Wie denn?!«

»Ich hab’ grad das Gefühl, dass ich einen vergessen habe einzulösen.«

»Pass bloß auf«, warnte Jaden, »wenn du da abgelaufene eingibst, meldet deine Uhr das ans Ordnungsamt, und du musst nachher noch wie ich Kronkorken im Westpark ausgraben.«

Flynn lachte und zeigte seine spitzen Eckzähne. Sein Blick blieb unverwandt auf das Handy gerichtet. »Musstest du ja gar nicht, weil deine Mutter dir deine Strafpunkte gekillt hat.«, berichtigte er hörbar amüsiert.

Jaden erschrak, denn Flynn hatte in aller Öffentlichkeit ein Geheimnis ausgeplaudert. Er kniff den Freund durch dessen Pulli in die Rippen und erntete ein lautes »Autsch!«

Zwei Fahrgäste, die ganz in der Nähe standen, wurden aufmerksam und blickten zu ihnen hinüber. Jaden grinste sie verlegen an. Der Eindruck zweier übermütiger pubertierender Jungs schien sie wieder zu beruhigen. Verstohlen sah sich Jaden die übrigen Mitfahrer an, versuchte zu erkennen, ob jemand hellhörig geworden sein könnte. Doch jeder in der Bahn schien mit seinen eigenen Dingen beschäftigt zu sein. Die meisten hatten diesen weggetretenen Blick drauf, woran man erkannte, dass sie Bilder oder Worte auf ihren Kontaktlinsen verfolgten.

Jaden nahm sich vor, Flynn bei der nächsten Gelegenheit eine zu geigen. Er hatte ihm unter dem Siegel größter Verschwiegenheit anvertraut, dass seine Mutter ihm kraft ihres Amtes echt aus der Patsche geholfen hatte.

Eigentlich hatte er ihr gegenüber damit schon ein Versprechen gebrochen, nämlich absolutes Stillschweigen zu bewahren. »Wenn das rauskommt, bin ich meinen Posten los. Ich muss verrückt sein, das für dich zu tun!« Und Jaden war nichts anderes eingefallen, als seinem Freund gegenüber damit zu protzen, dass seine Mutter alle seine Strafpunkte irgendwie hatte verschwinden lassen. Einmal und nie wieder. Da war sie konsequent.

Flynn wollte später ganz genau wissen, wie Jadens Mutter es angestellt hatte, aber dazu konnte Jaden ihm wenig sagen. Bloß, dass sie anscheinend das Meiste archiviert hatte, und das Gerät keinen Alarm sendete, weil sie es mit ihrem eigenen abschirmte. Jaden hatte damals vor Erleichterung geweint. Es waren seine ersten fünf Wochen mit der neuen Technik gewesen, und er hatte sich dabei Strafpunkte eingeholt, bis alles zu spät war. Nicht nur das. Er hatte seine erreichten Spielstände, Fähigkeiten, ja seinen wichtigsten Avatar verloren, und damit nicht nur den Anschluss an eine aufregende Hyperrealität, in der er ein muskelbepackter Held war, sondern einen Teil seiner Identität, ohne den er sich wie ein einsames Nichts fühlte. Flynn war der einzige Freund, mit dem er sich im realen Leben traf, umso mehr, seitdem Lara ihn verlassen hatte. Ihre Freundschaft war entstanden, als Flynn ihm einmal geholfen hatte, Zusatzspeicher in seine Holo Lenses einzubauen.

Während die Net Generation – jetzt Anfang 40 – gelernt hatte, ihr Smartphone mit Trackingtools zur Selbstoptimierung im realen Leben zu nutzen, gehörte Jaden zu den vielen Jugendlichen seines Alters, die auch ihre Freizeit am liebsten in der Parallelwelt verbrachten. Hier war es definitiv aufregender und schöner als draußen vor der Tür. Er kam nur schwer damit zurecht, die Watch oder später ihr Implantat als Messinstrument seiner echten Körperfunktionen zu nutzen. Lieber widmete er sich der Erweiterung seines Könnens im Cyberspace.

Obwohl er inzwischen kaum noch dazu kam, ängstigte ihn die Vorstellung, alles aufgeben zu müssen, was er an Fähigkeiten und Erfahrungen über die Jahre eingespielt hatte. Allein für seine Kontaktlinsen hatte ihm die Teilnahme an bestimmten Bonusprogrammen Zusatz-Features beschert, ohne die er nicht mehr leben konnte. Auf Weit- und Nachtsicht wieder zu verzichten, war ihm tausend Mal schlimmer erschienen als der höhere Krankenversicherungsbeitrag.

Als er seine Mutter damals zu Hilfe rief, konnte er kaum sprechen, so einen Weinkrampf hatte er. Zu allem Überfluss drohte noch, dass er wieder zu ihr, dem Halbbruder und seinem Vater ziehen musste, wenn seine Performance sich nicht besserte. Wahrscheinlich war es das, was seine Mutter am meisten motiviert hatte: Dass Zank und Streit vorherbestimmt waren, wenn sie sich ihren leiblichen Sohn wieder nach Hause holte.

Kurz darauf bekam Jaden dann das künstliche Innenohr. Seine Mutter organisierte den OP-Termin. Flynn war davon überzeugt, dass sie gewusst hatte, was das Implantat sonst noch alles konnte. Sicher habe sie es ihm aus Eigennutz verheimlicht. Jaden war trotzdem überzeugt, dass sie sein Bestes wollte. Sie hatte z. B. Recht behalten, dass er jetzt kein Ritalin mehr brauchte. Mit dem künstlichen Innenohr sorgten die von Smarty ausgelösten elektrischen Impulse für eine ausgeglichene Nervenaktivität und Durchblutung im Vorderhirn.

Inzwischen war es kein Geheimnis mehr, dass man mit eingebautem Lautsprecher und Chip in der Hand nie mehr außer Reichweite seines Smarty war. Gerade deswegen plädierten Viele dafür, den Chip-Einbau auch für gesunde Kinder zu erlauben. Es nicht zu tun, sei verantwortungslos gegenüber der Gesellschaft, genauso schlimm, wie sein Kind nicht einzuschulen. Heranwachsende offline gehen zu lassen, hielten diese Verfechter für fahrlässig, fast noch mehr als Sex ohne Kondom.

Die UW-Bahn befand sich jetzt in der Schleuse vor dem Zielbahnhof. Ein spürbares Beben rührte von der mächtigen Falltür, die nach unten stieß und die Bahn vom gefluteten Tunnel abtrennte. Gleichzeitig öffneten sich unter dem Zug Stahlklappen, sodass das verbleibende Wasser in die Tiefe stürzte, wo es in den Wasserkreislauf des Stollens zurückgepumpt wurde. Die Bahn verharrte auf einem Fahrgestell. Rasch sank hinter den Fenstern der Wasserspiegel. Wieder ließen die Klimaschlitze ein vernehmliches Zischen hören. Es klang, als würde die Bahn erleichtert aufseufzen. Als die vordere Falltür aufging, fuhr sie in den Bahnhof ein.

Flynn hatte von all dem nichts mitbekommen. Gebannt blickte er auf seine Smartwatch. Jaden merkte, wie angespannt der Freund war. Es übertrug sich auf ihn, ohne dass er eine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging. Einige Fahrgäste bewegten sich schon in Richtung Türen. Im nächsten Moment gingen sie auf. Jetzt drängten alle auf den Bahnsteig hinaus. »Dortmund Technologiepark«, erinnerte Laras Stimme, und Jaden und Flynn schlossen sich den übrigen Fahrgästen an. Sie bildeten das Schlusslicht der Menschentraube und passten nicht mehr in den Lift.

»Hochbahn fährt in einer Minute«, wusste Lara.

»Dumme Kuh, wie sollen wir die noch bekommen?«, regte sich Jaden auf. Ein Warnton, den nur er hörte, erinnerte ihn, dass er ein verbotenes Wort benutzt hatte. Dieses Zusatzfeature, wusste Jaden, hatte er definitiv seiner Mutter zu verdanken. »Du, die du so intelligent bist wie die Pelle einer abgelaufenen Sojawurst!«, erfand Jaden eine Beschimpfung, die die Uhr nicht als solche erkennen konnte. »Strike!«, triumphierte er anschließend und schickte eine angehobene Siegesfaust hinterher.

Flynns Blick blieb auf seine Uhr geheftet. Jaden äugte auf das Display am Arm des Freundes und sah, dass ein Update im Gange war.

»Und?«, wollte er wissen.

»Abwarten«, murmelte Flynn.

Der Fahrstuhl kehrte zurück und nahm sie mit auf.

»Wohin willst du jetzt eigentlich?«, fragte Jaden. »Ich muss jetzt zum Messen.« Seit einem halben Jahr absolvierte er im Technologiepark eine Ausbildung zum Mikrotechnologen. Derzeit musste er Leiterplatten kontrollieren.

»Ich mach da oben mal looki looki, dann hike ich zurück.«

»Hast du denn heute frei?«

»Ich soll eigentlich den Praktikumsbericht schreiben, muss ich nachher noch machen, brauche die Punkte ...« Während er sprach, behielt Flynn seine Smartwatch konzentriert im Blick.

Der Fahrstuhl hatte sie weit nach oben in die Haltestelle der H-Bahn geführt. Der gesamte Technologiepark ließ sich mit ihr wie fliegend überqueren. Es gab auch einen Anschluss an den Rhein-Ruhr-Express. Mit dem war man in einer halben Stunde am Kölner Dom oder dem, was davon übrig war. Der Tunnelbau für die Nord-Süd-Bahn hatte 2018 einen weiteren Tribut gefordert und den Nordturm zum Einstürzen gebracht. 2009 war den Bauarbeiten schon das Kölner Stadtarchiv zum Opfer gefallen. Die Warnungen ehemaliger Bergwerksleute aus dem Ruhrgebiet waren beim Kölschen Klüngel auf taube Ohren gestoßen.

Jaden musste mit der H-Bahn bis ans südliche Ende des Technologieparks fahren. Es grenzte mittlerweile ans ehemalige Autobahndreieck Dortmund-Witten. Auf einer Fahrspur waren heutzutage auch Elektrobikes zugelassen. Autos fuhren sowieso nur noch wenige, LKWs so gut wie gar keine mehr. Benzin war unbezahlbar geworden.

Die H-Bahn schwebte ein, und Flynn wich nicht von Jadens Seite, während er weiter die Vorgänge auf dem Display seiner Smartwatch im Auge behielt. Sie fanden am Ende der Hängekabine einen ungestörten Nischenplatz. »Ha!«, machte Flynn plötzlich, es klang triumphierend.

»Was gibt’s?«, wollte Jaden wissen.

Ein intensiver Blick war die Antwort. Flynn ließ den Arm sinken und kam dann ganz nah mit seinem Mund an Jadens rechtes Ohr.

»Check das!«, flüsterte er, »ich glaube, ich weiß jetzt, wie ich Bonus Codes mehrfach einlesen und damit auch Strafpunkte killen kann!«

»Was? Ernsthaft?!« Jaden war sofort aufgeregt. Schon die Aussicht auf eine Hintertür, durch die man den Repressalien des Personal Managers entgehen konnte, ließ Jauchzer in ihm aufsteigen. Er musste sich richtig zusammenreißen, rupfte aber ungeduldig an Flynns Bambusfaserpulli.

»Keine Ahnung, ob es Zufall war«, wisperte der Freund, »musst du selbst mal ausprobieren: Das nächste Mal, wenn du mit der UW-Bahn fährst, checkst du das Smarty-System auf Updates. Dann erhältst du natürlich eine Fehlermeldung, weil es keine Internet-Verbindung aufbauen kann. Nimm ein paar alte Bonuskarten mit. Du hast sie doch noch nicht alle entsorgt? Ich hatte zufällig diese aus einer Cerealien-Bestellung dabei.« Flynn zeigte Jaden die mit einem Chip versehene bunte Karte. »Hier sind Credit Points drauf, mit denen ich begangene Essfehler ausmerzen kann. Ich habe sie eben zum zweiten Mal eingelesen.«

Jaden war ungläubig: »Das System merkt doch, dass die schon veraltet sind. Bist du sicher, dass du sie noch nicht verwendet hast?«

»So gut wie«, bekräftigte Flynn. »Wenn ich zuhause bin, check ich es noch mal.«

»Wie kann das funktionieren?« Jaden war gierig, seine Strafpunkte auf diese einfache Weise loszuwerden.

»Ich habe keine Ahnung. Es muss ein Fehler in der Programmierung sein: Das System stellt nach unterbrochener Verbindung bloß den Update-Vorgang wieder her. Die Verifizierung, ob der Bonuscode noch gültig ist, wird anscheinend nicht mehr abgefragt.«

Jaden verschlug es die Sprache. Wieso war er da nicht drauf gekommen? So oft war er mit der Unterwasser-Bahn gefahren und hatte bemerkt, dass sein Smarty offline ging. Nie wäre ihm eingefallen, das auszunutzen.

Als hätte Flynn seine Gedanken erraten, tröstete er: »Purer Zufall, dass ich die abgelaufene Karte dabei hatte.«

Sie waren an der Endhaltestelle angekommen. »Arbeitsbeginn in zehn Minuten«, mahnte Lara. Jaden boxte den Freund leicht an den Oberarm. »Sag mir Bescheid«, bat er. »Ich muss jetzt los.« Er war gerade noch rechtzeitig aus der Kabine gesprungen, bevor die H-Bahn wieder in die entgegengesetzte Richtung davonfuhr. Flynn winkte. Jaden wartete noch, bis er den blauen Pulli seines Freundes nach einer Kurve aus den Augen verlor.

Eigentlich hatte er Flynn ja noch zurechtweisen wollen, weil er so laut das Geheimnis von seiner Mutter ausgeplaudert hatte. Jaden ärgerte sich jetzt, dass er es vergessen hatte. Er musste das bei einer anderen Gelegenheit nachholen.

Mit hochgestelltem Kragen und übergezogener Kapuze eilte er durch den Regen. Am Werkseingang wies sein Smarty ihn als zutrittsberechtigten Auszubildenden im ersten Lehrjahr aus. Jaden stolperte halb über die letzte Stufe zum Labor. Vor der Tür starrte er die Gesichtserkennung an – früher hätte man dem Pförtner zugenickt. Jaden wurde eingelassen und eilte den Gang hinunter. Im Umkleideraum angekommen, hatte er gerade erst seine Jacke aufgehängt, als Colin hinter ihm herein stürmte.

Jaden erschrak. Den ungeliebten Halbbruder hatte er ganz vergessen.

»Wo kommst du denn her?«, fragte er ihn forschend und hatte Angst, Colin könnte etwas von seinem Gespräch mit Flynn mitbekommen haben. Dass er sich hinter einer Sitzreihe versteckt und gelauscht haben könnte, war ihm zuzutrauen. Allerdings hätte Smarty ihn doch darauf hinweisen müssen ...

»Ich war hinter dir. Hast du mich denn nicht gesehen?« Die dunklen Augen des ein Jahr Jüngeren funkelten spöttisch. Er warf den Kopf zurück und beförderte damit ein paar Strähnen seines langen Ponys nach hinten.

Jaden hatte keine Lust, sich eine Blöße zu geben und fuhr fort, sich für den Reinraum anzukleiden. Er zog Jeans, Sweatshirt und Schuhe aus und stieg dann in den Schutzanzug. Währenddessen fragte er wie beiläufig: »Bist du mit derselben H-Bahn gekommen?«

»Scheint so. Gesehen habe ich dich nicht, wo hast du dich wieder versteckt?«

Jaden erwiderte nichts und band sich den Mundschutz um. Insgeheim war er erleichtert. Dann zog er die weiße Nylon-Kapuze über und die Schutzhandschuhe an. Jetzt nur noch die schmutzfreien Schuhe. Ohne dem Halbbruder noch Aufmerksamkeit zu schenken, wandte er sich um und trat in die Schleuse mit der Personenluftdusche. In der mannsgroßen Glaskabine zwischen Umkleide- und Reinraum wurde noch einmal abgesaugt, was sich an losem Staub und Flusen auf seiner Kleidung befand. Winzigste Partikel konnten zu Fehlern auf den Chips führen, die sein Ausbildungsbetrieb fertigte. Jaden sollte lernen, die Funktion von Filtern zu prüfen und Partikelmessungen durchzuführen.

Es gab verschiedene Methoden, die Anzahl der in der Luft verbliebenen Feinstkörper zu messen und darüber die Reinraumklasse zu bestimmen. Bei der optischen Methode diente das Streulicht der Partikel als Messgröße. Dabei wurde die Luft im Schein eines speziellen Strahlers analysiert. Jeder vorhandene Partikel warf einen winzigen Schatten auf die Projektionsfläche. Diese wurden gezählt. Pro Kubikmeter Luft durften höchstens 29 Partikel vorhanden sein. Diese optischen Partikelzähler waren nur ein Verfahren zur Feststellung der Luftqualität. In Kombination mit anderen Zählern konnten Partikel auch nach ihrer Größe klassifiziert werden.

Beim Ergattern des Ausbildungsplatzes hatte wieder seine Mutter die Finger im Spiel gehabt. Damals stand er auf einer langen Liste von Bewerbern, und sein Zeugnis zählte nicht zu den besten. Es war ihm schleierhaft, wen seine Mutter da mit welchen Argumenten überzeugen konnte, ihm den Vorzug zu geben. Jaden hatte bedauerlicherweise oft das Gefühl, dass das Arbeitsgebiet eines Mikroelektronikers nicht zu ihm passte. Unspannende Aufgaben waren noch nie seine Stärke gewesen. Manchmal hatte er direkt Lust mit Flynn zu tauschen. Dabei erzählte der schlimme Geschichten aus seiner Ausbildung im Chemiepark Marl.

Erst aus Kostengründen, dann, um nicht noch mehr Lehrstellen zu vernichten, hatte man dort in vielen Bereichen auf Automatisierung verzichtet und führte eine Reihe von Arbeiten, für die Schulbildung nicht wichtig war, von Hand durch.

Schon in den ersten Tagen hatte man Flynn in einen Vollanzug und dann in einen riesigen Tank gesteckt. In dem Tank wurde das Altöl erwärmt, das der Betrieb aufbereitete. Dadurch konnte man die in dem Öl enthaltenen Lösemittel zur Verdampfung bringen und das Öl wiederverwerten. In dem 15 mal 6 Meter großen Stahlbehälter befanden sich fest installierte sogenannte Heizschlangen. Sie nahmen ein Drittel des Innenraumes ein und mussten regelmäßig von Ablagerungen befreit werden.

Es war Flynns Aufgabe, in einer Montur, die an einen Taucheranzug aus dem 19. Jahrhundert erinnerte, in den Tank zu steigen und die Verkrustungen mit Hochdruckreiniger, Bürste und Spachtel von den Heizrohren abzuschaben. Die Verkrustungen bildeten sich um große Blasen, in denen hochtoxische Dämpfe eingeschlossen waren. Ohne Schutzanzug hätte Flynn schwerste Vergiftungen und Verätzungen davongetragen. Damit er Luft zum Atmen hatte, wurde er mit einem Atemschlauch nach außen versorgt. Den Zustrom sicherte ein Gebläse, das Frischluft ansaugte und in seine Maske pumpte.

Die Sicherheitsvorschriften schrieben vor, dass das Gebläse während der ganzen Zeit von einem Vorarbeiter zu beaufsichtigen war. Gerade darum hatte Flynn immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Von E-Zigaretten-Qualm bis hin zu Furzen hatte er schon alles einatmen müssen. Kein Wunder, dass jeder zweite Lehrling die Flinte ins Korn warf. Die Vorarbeiter nannten es »Nötige Abhärtungen für die Zeit danach«. Flynn lernte einfach, die Luft anzuhalten.

Jaden musste stattdessen immer Acht geben, nicht selbst für Verunreinigungen zu sorgen. Im Reinraum galten strenge Bedingungen: Baumwollkleidung war verboten, weil sie zu sehr fluste, die Haare mussten frisch gewaschen und komplett unter einer Haube verborgen sein. Bis auf die Gesichtsteile, die nicht von Haube und Mundschutz bedeckt waren, durfte kein bisschen Haut herausschauen. Außerdem war es Pflicht, sich nur langsam zu bewegen, denn je schneller man etwas machte, desto mehr Partikel lösten sich vom Körper – bis zu 30 Millionen pro Minute. Auch Sprechen war weitestgehend zu vermeiden, und berührt werden durfte nichts, das nicht infolge des Arbeitsprozesses angefasst werden musste. Handschuhe aus einem speziellen Synthesekautschuk verstanden sich von selbst.

Jadens Aufgabe bestand im ersten Lehrjahr hauptsächlich darin, die Lötstellen auf Leiterplatten zu überprüfen. Dazu stand ein Stereomikroskop zur Verfügung, das eine 100-fache Vergrößerung ermöglichte. Die Platinen sahen darunter wie Stadtlandschaften aus – ausgestorbene Großstädte mit grauen Hochhäusern und Straßenschluchten. Das erinnerte ihn immer an das Computerspiel Doom. Er war traurig, dass er es nicht mehr spielen durfte. Sehr häufig träumte er nachts von der kargen Szenerie seiner Lieblings-Mod, davon, dass er sich freischoss, alles, was ihn bedrohte, tötete. Am liebsten hatte er im Netz gegen seinen Halbbruder gespielt. Ihn zu beseitigen hatte ihm immer die größten Triumphgefühle bereitet.

Jetzt stand er genau hinter ihm. »Weißt du schon das Neueste?« Wenn der schon so anfing mit seinem wichtigtuerischen langweiligen Einleitungsblabla. Zum Glück war Smarty im Reinraum außer Gefecht. »Nein, weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht. Geh kacken du Betriebsunfall, sonst geb ich Thomas den Tipp, dich mal wieder auf Ausschläge zu checken.« Jaden wusste, dass Colin sich oft nicht an die Bedingungen hielt. Hauterkrankungen mussten gemeldet werden. Sie führten zur Einschränkung der Reinraumtauglichkeit. Colin, der Streber, wollte natürlich keinen unnötigen Tag fehlen. Jaden wäre froh gewesen. Aber solche ekligen roten Stellen an den Armen wollte er dafür auch nicht haben.

Colin ließ sich kein bisschen beeindrucken. Er warf den Kopf zurück, eine typische Mädchen-Bewegung, wie Jaden fand – mit Kapuze über den Haaren umso dämlicher.

»Ätsch, zur Zeit habe ich überhaupt keine Flechten.«, konterte Colin. »Dafür komm’ ich morgen ins Fotolabor und kriege gezeigt, wie man die Layoutdaten auf Leiterplatten plottet.«

Jaden machte auf seinem Drehstuhl eine schnelle Wendung, streckte dabei das linke Bein aus und gab Colin damit einen Hieb gegen dessen Knie. »Autsch!«, jaulte der vorwurfsvoll.

»Tschuldigung, was stehst du auch so dicht hinter mir.«, Jaden tat reumütig. War zu erwarten gewesen: Jetzt hatte er’s ihm doch aufgedrückt, konnte es einfach nicht sein lassen, musste immer und immer wieder versuchen, ihn neidisch zu machen. Dabei war Jaden schnurzpiepegal, wie es im Fotolabor aussah. Sollte Colin doch seinen Pimmel auf die Platinen drucken. Bei der Vorstellung musste er kichern.

»Was gibt’s da zu lachen!?«, wollte der Halbbruder verärgert wissen.

»Ach, nix, hab mir nur grad vorgestellt, wie ein Foto von deinem Penis auf ’ner Platine aussehen würde.« Jaden bekam einen Lachanfall, die Vorstellung war einfach zu bekloppt.

»Du hast ja gar keine Ahnung!«, entgegnete Colin von oben herab, »das sind doch keine Fotos, die da geplottet werden.«

Jaden lachte immer noch. Zu gerne würde er das Gesicht von Thomas, dem Laborleiter, sehen, wenn er in dem Platinenlayout einen Dödel erkannte. Vielleicht war das ja irgendwie hinzukriegen, musste natürlich so aussehen, als sei es Colins eigenes Werk.

Irgendwie sollte es doch auch mal wieder klappen können, dem Halbbruder in der Kantine Haselnüsse ins Essen zu mischen. Mit den Pickeln im Gesicht, die danach bei ihm ausbrechen würden, hätte er mindestens eine Woche Ruhe vor ihm. Ein einziges Mal war es Jaden gelungen, eine Prise gemahlener Haselnüsse in Colins Misosuppe zu schnippen. Der war während der Mittagspause auf die Toilette gegangen. Seit dem Tag ließ er sein Essen aber nicht mehr aus den Augen. Ganz so blöd war er anscheinend doch nicht. Bestimmt hatte er Jaden damals gleich im Verdacht. Gesagt hatte er aber nie was, und nachweisen konnte er ihm natürlich erst recht nichts.

Thomas, der Laborleiter, hatte sich damals nur bei dem Koch erkundigt. Der schwor hoch und heilig, dass das Essen keine Nüsse enthielt. Natürlich konnten sich beim Produktionsprozess Haselnussrückstände in die Sojapaste eingeschlichen haben. So etwas stand auch hier im Kleingedruckten auf der Verpackung. Nach dem Vorfall wurde die Marke gewechselt.

Doom hatte Jaden immer beim Abreagieren geholfen ... Colin war es gewesen, der gepetzt hatte, dass Jaden hin und wieder mit geborgten Accounts spielte. Es hatte sich ein Schwarzmarkt gebildet, bei dem Doom-Spieler, die es nicht übertrieben hatten, ihre Zugänge temporär vermieteten. Es gab auch ein Reservoir von Berechtigungen, das Angehörige solcher Spieler füllten, die verstorben waren. Bedingung war freilich, dass man auf Kraftausdrücke komplett verzichtete, um nicht Gefahr zu laufen, sanktioniert zu werden. Was das anging, war alles noch so wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Man war nicht nur visuell, sondern auch akustisch per Teamtalk im Spiel vereint. Nur dass das Visuelle inzwischen holografisch dreidimensional erschien – eine phantastische Spielerfahrung.

Um seine Wut beherrschen zu lernen, hatte Jaden im Auftrag seiner Mutter mehrere Psychoprogramme durchlaufen, sogenannte Serious Games. Heute waren diese Art Selbstoptimierungsspiele gleich per Smarty abrufbar. Mit dem Unterschied, dass das Spiel nicht mehr nur vom User gestartet wurde, sondern selbst in Betrieb ging, wenn der Puls auf eine bestimmte Weise schneller wurde. Jadens Mutter hatte ihrem Sohn die perfekte Konfiguration angedeihen lassen.

Genau jetzt war wieder so ein Moment, in dem Jaden damit zu rechnen hatte, dass es an seiner Hand zu vibrieren begann. Er war bereits so darauf konditioniert, dass er automatisch begann, auf seine Atmung zu achten, ruhig und tief ein- und auszuatmen, denn dazu würde ihn die App auffordern. Jaden bemerkte ansatzweise, dass Colin ihn beobachtete.

Doch im Reinraum waren sie abgeschirmt. Wer ein Wearable hatte, musste es draußen lassen, weil das immer aktive Mikrofon für die Firma ein Sicherheitsrisiko darstellte. Es hatte ein paar Vorfälle gegeben, die deutlich machten, dass ausgebuffte Hacker Wege fanden, sich in fremde Mobiles einzuklinken und hierüber alle möglichen Daten abzufangen. Jaden hatte ein zertifiziertes Zusatzfeature, dass sich anhand der GPS-Daten aktivierte und sämtliche Funktionen seines Implantats lahm legte. Leider ließ es sich nicht außerhalb der Firma starten.

Die anderen Lehrlinge hielten es kaum aus, keinen Zugriff auf die Statusmeldungen ihrer Freunde zu haben. Draußen lebten sie ständig mit einem Blick auf ihre Uhren. Jaden empfand es als Freiheit, außer Kontrolle des Smartys zu sein. Er hätte gerne mal im Reinraum Party gefeiert – am besten an einem Freitag, um anschließend bis zum Nachmittag zu pennen. Man könnte laut pöbeln, raufen, saufen, kotzen – all solche verbotenen Sachen, die sein Vater in seiner Jugend gemacht hatte. Ließ sich leider nicht umsetzen. Die Schleuse registrierte per Blockchain alle Personen, die raus- und reingingen, und nach 20 Uhr durfte sich niemand mehr im Reinraum aufhalten, da die Raumluft über Nacht nochmal extra gefiltert wurde.