Umdenken - Gerd Müller - E-Book

Umdenken E-Book

Gerd Müller

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Beschreibung

Wir wissen was zu tun ist, um dem Hunger, der mangelnden Gesundheitsversorgung und dem Klimawandel weltweit entgegenzutreten. Theoretisch. Aber Wissen allein genügt nicht, wir müssen die Augen öffnen und unsere Verantwortung erkennen. Denn brennende Müllhalden, aus denen junge Menschen wertvolle Metalle klauben, und Krankenhäuser, die den Eindruck einer Slumhütte vermitteln: Das ist eine Realität, die wir in unserem Alltag meist nicht sehen – anders als Entwicklungsminister Gerd Müller. Er kennt diese Orte, kennt deren Geschichte und unsere Verantwortung dafür. In "Umdenken. Überlebensfragen der Menschheit" nimmt uns Gerd Müller mit auf seine Reisen fernab des europäischen Wohlstands, erzählt von bewegenden Begegnungen und erklärt, warum sich unsere Handlungen in Europa auf den Rest der Welt auswirken – im Positiven wie im Negativen. Müller macht klar: Wir müssen Europas Handlungsfähigkeit stärken und konsequent Umdenken. Anstatt für billigen Kaffee die Kinderarbeit in Entwicklungsländern in Kauf zu nehmen und unseren Elektroschrott nach Afrika zu schiffen, müssen wir die Länder dieser Welt als Partner auf Augenhöhe sehen – in Klima, Handel und Wirtschaft. Gerd Müller ruft zum beherzten Umdenken in einer globalisierten Welt auf, in der ein neuer Europa-Afrika-Pakt und ein neues globales Verantwortungsgefühl die Welt ein Stück friedlicher, gerechter und zukunftsfähig für kommende Generationen gestalten könnte; mit einem Buch, das die Augen öffnet, ohne zu moralisieren, das aber an unsere Verantwortung in einer zusammengewachsenen Welt erinnert.

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Gerd Müller

UMDENKEN

Überlebensfragen der Menschheit

»Die Welt kann verbessert werden, die Lage ist nicht hoffnungslos, es lohnt sich, persönlich aktiv zu werden. Gerd Müller entwickelt in seinem Buch ein überzeugendes Programm, an das angeknüpft werden kann und hat entsprechende Schwerpunkte in der Arbeit des Entwicklungsministeriums gesetzt.«

»Eindrucksvoll stellt er gerade in den Bereichen Klimapolitik, Zusammenarbeit mit Afrika und der Welternährungsfrage dar, dass es neue Lösungskonzepte gibt.«

Franz Josef Radermacher

INHALT

Vorwort: Es ist fünf nach zwölf

Einleitung: Wissen allein genügt nicht – Leadership und Handeln sind gefragt

Die Welt im Umbruch

Wie viel Mensch erträgt die Erde?

Afrikas Bevölkerung verdoppelt sich

Die globale Verkehrswende – Megastädte – Megaslums

Die Welt erstickt im Müll

Afrika – Faszination und Herausforderung

Marshallplan mit Afrika

Eine Welt ohne Hunger ist möglich

Klimaschutz – Bedrohung und Chance

Klimaschutz – eine Überlebensfrage der Menschheit, besonders in Afrika

Allianz für Entwicklung und Klima – ein Lösungskonzept

Klimaschutz – Was kann ich tun?

Der Wald – die Lunge des Planeten

Natürliche Lebensgrundlagen schützen

Sterben verhindern – Hilfen verstärken

Das Flüchtlingsdrama beenden

Globale Lieferketten fair gestalten

Europa als internationale Gestaltungsmacht stärken

Die Welt ist handlungsfähig – die Agenda 2030

Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik

Epilog: Wissen ist nicht genug – wir müssen handeln. Jetzt!

Neue globale Herausforderungen erfordern einen Paradigmenwechsel unseres Tuns

Grundsätze für ein Leben in Verantwortung im 21. Jahrhundert

Acht Leitmotive für unser Tun

Ausgewählte Literatur

Danksagung

Über den Autor

Impressum

VorwortEs ist fünf nach zwölf

Australien, Kalifornien, Indonesien, Amazonasbecken – dramatische Bilder brennender Steppen und brennender Regenwälder rütteln uns auf: Dies ist ein Weckruf der Natur.

Der Klimawandel, die Bevölkerungsexplosion in Afrika, die Sicherung der Welternährung, Kampf um Wasser, Ebola, Flüchtlingsdramen, all das sind Überlebensfragen der Menschheit. Bei Abschluss der Arbeiten zu diesem Buch im Februar 2020 schritt der Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie voran. Die dramatischen Auswirkungen dieser neuen Herausforderung waren noch nicht absehbar, aber sie werden die Welt und unser Zusammenleben in Zukunft grundlegend verändern.

Wir können die Uhr nicht zurückdrehen, in vielen Bereichen zeigt sie schon fünf nach zwölf an. Dennoch ist es nicht zu spät. Was jetzt gefordert ist, ist entschlossenes Handeln, ein Paradigmenwechsel, ein Umdenken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, und dies in weltweiter Perspektive. Die Politik hat 2015 in New York einen Weltzukunftsvertrag mit 195 Staaten vereinbart und in Paris ein weltumspannendes Klimaabkommen beschlossen. Wir wissen, was notwendig ist, es fehlt aber an der konsequenten Umsetzung.

Nichts auf meinen Reisen hat mich mehr berührt als das Schicksal der Kinder in den Flüchtlingscamps und Hungerregionen der Welt. Ein Hilferuf der Vergessenen erreichte mich bei meinem Besuch in Kutupalong: 650 000 Rohingyas, mehr als die Hälfte davon Kinder, vertrieben und verlassen, dabei vergessen von der Weltgemeinschaft. Ein starker Überlebenswille und Nothilfe auch aus Deutschland sichern ihr Überleben. Allein im Nordirak sind es Hunderttausende Menschen, im Krisenbogen Syrien acht Millionen Flüchtlinge zusammengepfercht in Zeltstädten, auf Zeltplanen liegend, und das seit nunmehr acht Jahren. Die Dramatik steigert sich ständig.

Als Entwicklungsminister hatte ich die Möglichkeit, die Krisenregionen zu besuchen und mit den Menschen und Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen. Sie alle wissen, was getan werden muss. Aber dieses Wissen allein reicht nicht. Was wir dringend brauchen, sind Lösungswege, konkrete Aktivitäten, die auf Veränderung zielen, national und global. Wir müssen einen neuen Weg in die Zukunft finden und ihn miteinander gehen. In diesem Buch zeige ich die Herausforderungen auf, wohl wissend, dass es fünf nach zwölf ist, wir also in jedem Fall einen Preis zahlen werden. Aber weil das Leben weitergeht, ist es eben auch nicht zu spät, jetzt umzusteuern.

Ich lebe im Allgäu, in herrlicher Natur. Wohlstand, Zufriedenheit und Frieden zeichnen unser Land aus. Gerade weil die Corona-Pandemie vieles verändert, sind Solidarität und Mitmenschlichkeit mehr denn je gefordert.

Unsere Lebensumstände morgen und die Zukunft unserer Kinder entscheiden sich heute auch und gerade in fernen Kontinenten, in Afrika, Indien und Asien.

Wie viele Menschen erträgt die Welt bei heutiger Technik angesichts einer dramatisch wachsenden Bevölkerung in den Entwicklungsländern? Das müssen wir uns fragen. Lassen sich Klima, Regenwälder, Meere, Biodiversität noch stabilisieren und im heutigen Zustand erhalten? Meine Antwort lautet: Ja. Verhaltensänderung und eine neue Wachstumsphilosophie, der Einsatz nachhaltiger Technologien und mutige Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft machen eine gute Zukunft erreichbar. Eine Welt ohne Hunger ist ebenso möglich wie die Herstellung von Frieden und Sicherheit. Es ist genügend da für uns alle, um auf dem Planeten in Würde zu leben. Mut zu globaler Leadership und eine globale Verantwortungsethik sind erforderlich. Deutschland und Europa müssen sich aus der Erstarrung lösen – wir wissen, was wir erreichen wollen und dass dies möglich ist.

Dieses Buch gibt die Eindrücke und Erfahrungen aus meiner Arbeit als Entwicklungsminister wieder und ist für offene und engagierte Menschen geschrieben, die nicht nur Probleme analysieren und diskutieren, sondern konkret handeln wollen, um die Welt um uns herum ein Stück gerechter und menschlicher zu gestalten.

Papst Franziskus ruft uns in der Enzyklika Laudato si’ dazu auf: »Übernehmt Verantwortung für das eigene Leben, aber auch für die Zukunft der Schöpfung und für kommende Generationen.« Für die Christen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gilt als Leitmotiv: Der Starke hilft dem Schwachen, in der Familie wie in der Nachbarschaft, im Staat und in der Völkergemeinschaft.

Wir leben in Deutschland und Europa trotz aller Probleme auf der wohlhabenden Seite des Planeten, und das ist sicherlich auch der Erfolg harter Arbeit und unsere Leistung. In Teilen ist dieser Wohlstand aber auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in den Entwicklungsländern aufgebaut. Die Menschen in den Industriestaaten verfügen heute über 60 Prozent des Vermögens, obwohl sie nur 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wir verbrauchen in den Industrieländern 50 Prozent der Ressourcen und sind für etwa die Hälfte der Umweltbelastungen des Planeten verantwortlich. Ein »Weiter so« wie bisher ist angesichts der Wachstumsprozesse in den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht mehr möglich. Wir müssen uns anpassen und lernen zu verstehen, dass wir ein Teil eines großen Ganzen sind. Tragen wir nicht zur Problemlösung in anderen Regionen der Welt bei, werden die Probleme zu uns kommen.

Wollen wir, dass die Erde auch unseren Kindern und Enkelkindern und kommenden Generationen eine gute Lebensgrundlage bietet, so, wie wir sie heute haben, dann müssen wir unser Tun und Sein in eine Balance bringen mit den begrenzten Ressourcen der Erde und den Anforderungen des Klimasystems. Das würde voraussetzen, den Sinn des Lebens und das, was Erfolg ausmacht, weniger materiell zu begreifen und anders zu begründen als bisher. Fundamentale Werte wie Zufriedenheit, Dankbarkeit und Gemeinschaftssinn gilt es in neuer Weise zu leben.

Ich möchte Sie mit diesem Buch inspirieren und teilhaben lassen an vielfältigen Erfahrungen, an schockierenden und beeindruckenden Erlebnissen und an ermutigenden Begegnungen mit Menschen in der ganzen Welt, auch und gerade auf dem afrikanischen Kontinent. Dies ist ein Kontinent, der vielen von uns weit entfernt scheint, der aber in den nächsten Jahrzehnten das Schicksal Europas entscheidend mitprägen wird.

Ich bin bei alldem Optimist geblieben, trotz häufiger Konfrontation mit Hunger, mit Elend und mit Not. Die Herausforderungen der Zukunft sind gewaltig, aber aus meiner Sicht noch lösbar. Ich möchte Sie für diese Themen interessieren und davon überzeugen, in unseren schwierigen Zeiten Teil des Weges in eine gerechtere und friedlichere Welt zu sein.

EinleitungWissen allein genügt nicht – Leadership und Handeln sind gefragt

Wir wissen vieles von dem, was zu tun wäre, um die Schöpfung zu erhalten, die Erde und das Klima zu schützen, und auch um die Flüchtlingsproblematik zu lösen und die Bevölkerungsexplosion in Afrika zu stoppen. Wir alle müssen vom Reden und Kritisieren zum konkreten Handeln kommen und dabei kann und sollte jeder seinen Beitrag leisten. Es ist möglich, eine Welt ohne Hunger, ein Leben und Wirtschaften in Frieden und im Einklang mit der Natur zu erreichen. Dies ist ein Aufruf, mitzumachen, die Welt gerechter, nachhaltiger und friedlicher zu gestalten.

Als Entwicklungsminister habe ich das Privileg, den Zustand der Welt aus nächster Nähe erleben zu können. Ich habe den Klimawandel mit eigenen Augen beobachten können, zum Beispiel in der Sahelregion in Afrika. In den fürchterlichsten Flüchtlingslagern dieser Welt habe ich viele Menschen sterben sehen und Hunger, Not und Elend erlebt. In diesen Flüchtlingslagern habe ich aber auch gelernt, dass man mit täglich 50 Cent ein Leben retten kann und dass diese Hilfe wirkt.

Ich kenne die Wirklichkeit. Wenn ich Kinderarbeit auf Kakaoplantagen thematisiere, dann habe ich mir selbst ein Bild von dieser Schufterei in Westafrika gemacht. Wenn ich den Einsturz der Textilfabrik 2013 in Rana Plaza (Bangladesch) kritisiere, dann habe ich mir die Missstände dort angeschaut. Das furchtbare Unglück mit mehr als 1100 Toten und die Gespräche mit Überlebenden waren für mich der Anlass, das Textilbündnis und schließlich auch den Grünen Knopf als Siegel für faire Kleidung ins Leben zu rufen.

Denn wir können und müssen die Zustände in den globalen Lieferketten ändern. Es geht nicht an, dass in den Textilfabriken, Kaffeeplantagen, Gold- und Coltanminen Kinder für unsere Produkte arbeiten und Menschenrechte für sie nicht gelten. Ich freue mich, dass ich jetzt auch in meinem Land Unterstützung bekomme, dies zu ändern, wenngleich die Widerstände nach wie vor gewaltig sind.

Ich stamme aus einer Bauernfamilie in Schwaben. Dort bin ich mit drei Geschwistern aufgewachsen. Im Sommer haben alle bei der Landarbeit mitgeholfen, auch bei den Nachbarn, wenn es notwendig war. Ich habe den größten Respekt vor dem Arbeitspensum, das meine Mutter und mein Vater auf dem Hof bewältigt haben. Deswegen vermeide ich heute das Wort Stress.

Wenn ich ein Vorbild habe, dann ist es mein Vater. Neben seiner Arbeit auf dem Feld und im Stall hat er sich sozial engagiert, als Kirchenpfleger und Kommunalpolitiker. Er hat für etwas gestanden, er hat dafür gekämpft und sich nicht verbiegen lassen. Das war auch mein Einstieg in die Politik, der mich bis heute prägt und mich mit den Menschen in meinem Dorf verbindet. Sie haben mich mit 21 Jahren in den Gemeinderat und zum zweiten Bürgermeister gewählt. Gemeinsam haben wir etwas bewegt und das Gefühl der Ohnmacht besiegt, nichts verändern zu können. Es reicht eben nicht aus, nur zu demonstrieren und zu kritisieren, man muss sich der Verantwortung stellen, handeln und gestalten, im Kleinen und im Großen. Fridays for Future zeigt, dass nicht nur unsere Kinder besorgt sind. Jetzt gilt es, Besorgnis und Protest in konkretes Handeln und zu politischen Ergebnissen zu führen. Es geht um nicht weniger als die Bewahrung und den Erhalt der Schöpfung für unsere Kinder und Enkel.

Wir leben heute in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Als ich geboren wurde, gab es gut 2,5 Milliarden Menschen auf dem Globus. Bald werden es acht Milliarden sein. Jeden Tag wächst die Weltbevölkerung um knapp 230 000 Menschen. Das sind 80 Millionen Menschen im Jahr, einmal Deutschland, davon zwei Drittel in Afrika. Wir leben heute in einem globalen Dorf. Niemand kann sich heute der Globalisierung entziehen. Wenn wir in der Früh die Haare waschen, benutzen wir ein Shampoo, das Palmöl aus Indonesien enthält. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass die Regenwälder dort auch für unser Haarwaschmittel brennen? Und das Hemd, die Jeans, das T-Shirt – egal welches Kleidungsstück wir nach dem Duschen anziehen, stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Bangladesch, Äthiopien oder Myanmar. Die Schuhe schließlich kommen aus Vietnam, aus China, aus der ganzen Welt. Nur nicht aus Deutschland, hier gibt es nämlich so gut wie keine Schuhproduktion mehr.

Zu den hässlichen Gesichtern, die die Globalisierung hat, gehört auch das des Krieges. Von uns aus gesehen sind der Irak, Iran oder Syrien sehr weit entfernt. Für Mittelstreckenraketen aber beträgt die Flugdauer von dort bis nach Berlin nur 20 Minuten. Wir dürfen Kriegen und dem Einsatz von schrecklichen Waffen nicht nur mit Presseerklärungen begegnen. Der Frieden in Deutschland, den wir seit 75 Jahren genießen, wurde und wird durch das NATO-Bündnis gewährleistet. Frieden sollte aber auch den Menschen in den anderen Teilen der Welt dauerhaft gewährt sein.

Es gibt neue Gefahren, die unsere Sicherheit im Land bedrohen. So werden Firmen und die öffentliche Infrastruktur im Internet von Kriminellen und Terroristen angegriffen, wie zum Beispiel ein Kreiskrankenhaus in Deutschland – den Ort darf ich hier nicht nennen – dessen Energieversorgung und IT-System komplett lahmgelegt wurden. Was das bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Energie- und Wasserversorgung, Entsorgungssysteme, Bahnhöfe und Flughäfen sind täglich Ziele von Cyberangriffen. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung. Deshalb brauchen wir ein europaweit koordiniertes Cyberabwehrsystem.

Eine andere Qualität von Bedrohung stellt der Klimawandel dar. Der Himmel gehört allen. Er kennt keine Grenzen: nicht zwischen Deutschland und Frankreich, auch nicht zwischen Europa und Afrika. Klimagase aus China belasten die Atmosphäre ebenso wie diejenigen aus Indien. Heißt, es kann nur eine internationale Antwort auf den Klimawandel geben – oder es wird keine ausreichende Antwort auf diese Schicksalsfrage der Menschheit geben.

Auch vor der gewaltigen Dimension dieser Aufgabe ist Verzagtheit falsch. Leadership und entschlossenes, mutiges Handeln in Europa sind notwendig.

Unsere nationalen Klimaziele sind selbstverständlich ein wichtiger Beitrag zum globalen Klimaschutz. Entscheidend jedoch für das Weltklima ist, was in den Schwellen- und Entwicklungsländern passieren wird, denn dort drohen in den nächsten Jahrzehnten massive Emissionssteigerungen. Genau dort brauchen wir deshalb gewaltige Technologiesprünge, die von einer Wirtschaftspartnerschaft und einer Investitionsoffensive begleitet werden müssen. Nur dann ist eine globale Energiewende möglich, die erst die unterschiedlichen Klimaschutzbemühungen erfolgreich werden lässt. Ein neuer Ansatz muss die Gewinnung von Solarenergie in der Sahara und die Produktion von grünem Wasserstoff, Methanol und klimaneutralen synthetischen Kraftstoffen sein. Auch hier gilt: Jeder kann und muss sich einbringen.

Seit dem 1. Januar 2020 ist das BMZ klimaneutral. Wir handeln entschlossen und zeigen, dass die Umstellung gelingen kann. Alle deutschen Ministerien, Behörden und Betriebe, alle Kommunen in Deutschland können und sollten diesen Weg gehen. Das Gleiche gilt für Kirchen und Verbände und für jeden Einzelnen. Das Thema Klimaschutz wird nicht in zwei oder drei Jahren erledigt sein – es wird uns noch über Jahrzehnte begleiten. Schließlich geht es um eine Schicksalsfrage der Menschheit. Ich habe den Klimaschutz in Afrika auch zum Schwerpunktthema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gemacht, denn dort bewirkt jeder zum Schutz des Klimas ausgegebene Euro ein Vielfaches von dem, was ein Euro für Maßnahmen in Deutschland oder Europa bewirken kann.

Ein Scheitern in der Klimafrage bedeutet zugleich, die Frage von Krieg und Frieden aufzuwerfen – das wird viel zu oft vergessen. Schon heute verlieren Millionen von Menschen in den Dürregebieten Afrikas ihre Lebensgrundlage und kämpfen ums Überleben.

Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir die ökologischen Systeme – das Klima, die Wälder, die Ozeane – als Grundlage unserer Zivilisation intakt halten. Für unsere Bananen, Mangos oder den Kaffee nutzen wir Landressourcen in Südamerika und unsere Wirtschaft braucht Basisrohstoffe wie Coltan oder Kobalt aus Afrika. Ohne sie funktioniert kein Smartphone, kein Computer. Und woher soll das Lithium für Millionen von Elektrofahrzeugen kommen? Stellen wir uns einen Augenblick vor, Afrika würde in einen Ressourcenstreik treten – die Bänder der Autoindustrie stünden still, bei VW in Wolfsburg ebenso wie bei BMW in München. Kein Auto, kein Computer kann ohne die Rohstoffe Afrikas produziert werden. Eine neue Partnerschaft mit Afrika ist für Europa also Chance und Herausforderung zugleich.

Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind enorm. Mit der Agenda 2030, den sogenannten Sustainable Development Goals (SDG), hat sich die Welt einen Weltzukunftsvertrag gegeben, den wir entschlossen umsetzen müssen. Der SDG-Katalog ist die Agenda der Weltgemeinschaft für den Weg in eine nachhaltige Zukunft. Aber einen Katalog aufzulisten, ist eine Sache, ihn erfolgreich umzusetzen eine ganz andere.

Wichtig ist in jedem Fall, dass man sich nicht resigniert ins Private zurückzieht, vielleicht sogar begleitet von dem Gedanken »Nach mir die Sintflut«. Es kommt vielmehr darauf an, dass so viele Menschen wie möglich erste Schritte in die richtige Richtung tun, denn wir sind auch die erste Generation, die mit ihrem Wissen und neuen, nachhaltigen Technologien, Antworten und Lösungen für die Herausforderungen besitzt, um die Vielfalt und den Reichtum der Natur auf der Erde für kommende Generationen zu erhalten.

Aus diesem Grund werde ich in den folgenden Kapiteln bewusst Lösungsansätze aufzeigen und mit konkreten, praktischen Beispielen unterlegen und nicht nur Probleme und Herausforderungen beschreiben. Wir müssen weg von der Negativität und hin zu neuem Mut, mit viel Tatkraft und Optimismus uns den Herausforderungen stellen und Veränderung im Denken und Handeln bewirken.

DIE WELT IM UMBRUCH

Wie viel Mensch erträgt die Erde?

■Die Besiedlung Europas begann erst vor 40 000 Jahren.

■In der Zeit von Christi Geburt bevölkerten circa 200 Millionen Menschen die Erde, zur Zeit von Goethe stieg die Zahl auf eine Milliarde, heute liegt sie bei 7,7 Milliarden und 2050 bei voraussichtlich knapp zehn Milliarden.

■Die Bevölkerung Afrikas wird sich bis 2050 auf 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln.

■Heute leben 80 Prozent der Weltbevölkerung in Schwellen- und Entwicklungsländern.

■Täglich wächst die Weltbevölkerung um knapp 230 000 Menschen, im Jahr 2019 lag die Zahl bei 82 Millionen.

Als ich geboren wurde, lebten gut 2,5 Milliarden Menschen auf der Erde, am 1. Januar 2020 lag die Zahl der Weltbevölkerung bei 7 754 847 000. Täglich wächst die Weltbevölkerung um knapp 230 000 Menschen, das bedeutet: Jede Woche vergrößert sie sich um die Einwohnerzahl Münchens, einmal im Monat um die New Yorks oder Österreichs und einmal im Jahr um die Bevölkerungszahl eines Landes wie Deutschland.

Blicken wir zurück auf die Geschichte und Entwicklung der Menschheit: Als die Erde vor über vier Milliarden Jahren als Teil des Sonnensystems entstand, kam es in der Folge zur Bildung von Gewässern, Ozeanen, Bergen, vielfältigen Pflanzen- und Tierarten. Lange bevor der Mensch auf den Planeten trat. Im Naturkundemuseum in Berlin ist das Skelett des Brachiosaurus brancai mit 14 Meter Höhe und 25 Meter Länge zu bewundern. Es ist das größte Landlebewesen der Erde und lebte vor 150 Millionen Jahren. Menschliche Spuren dagegen sind erst seit sieben Millionen Jahren nachweisbar. Überträgt man die Erdgeschichte in ein 24-Stunden-Modell, taucht menschliches Leben erst in den letzten fünf Minuten auf.

Ich bin schon mehrfach im Nationalmuseum von Äthiopien gewesen. Dort, in der Hauptstadt Addis Abeba, befindet sich das Skelett von Lucy, eine Vorläuferin des modernen Menschen. Die wissenschaftliche Bezeichnung für diese Spezies lautet Australopithecus afarensis. Das zwar nicht vollständig, in seinen Teilen aber gut erhaltene Skelett ist ausgestellt in einem beleuchteten Schaukasten und wirkt überwältigend. Unvorstellbare drei Millionen Jahre alt ist dieses Fossil namens Lucy, das für mich gleichbedeutend ist mit der Wiege der Menschheit. In diesem Sinne sind wir alle ein Stück Afrika.

Zu Lucys Zeiten zogen die Homini in überschaubaren Horden durch Afrika. Die Entwicklung vollzog sich in dieser Anfangsphase unglaublich langsam. Vor 1,6 Millionen Jahren trat Homo habilis auf den Plan – ein entscheidender Schritt in der Entwicklung hin zum modernen Menschen. Denn unsere Urahnen nutzten erstmals in größerem Umfang Werkzeug. Das war die Geburtsstunde der Technologie, wie sie die Geschichte der Menschen bis heute prägt: vom Faustkeil über Pfeil und Bogen, die Nutzung der Wasserkraft, die Dampfmaschine, das Passagierflugzeug bis hin zu den Handys und Computern in der heutigen Zeit. Als großer Durchbruch erwies sich die Fähigkeit, Feuer zu machen, weil sich unseren Vorfahren dadurch ein vielfach größerer Umweltraum und damit neue und ertragreiche Nahrungsmittel erschlossen haben. Außerdem bot das Feuer Schutz gegen Kälte und wilde Tiere. Auch wenn Homo habilis noch nicht über eine entwickelte Sprache verfügte, blitzte nun zum ersten Mal so etwas wie eine echte menschliche Intelligenz auf.

Die wohl größte Erfindung in der Entwicklung des Menschen ist das Aufkommen der Sprache in der Altsteinzeit. Wie viel leichter war es nun, Ideen auszutauschen! Statt Gesten und Lauten, bildlichen Darstellungen oder auch handgreiflichen Auseinandersetzungen und gemeinsamem Tun gab es nun Worte und Sätze. Die ausdifferenzierte Sprache, der aufrechte Gang und die freie Handlungswahl kennzeichnen den Menschen. Mit der Sprache potenzierten sich Kommunikation, Interaktion und Denken, und unsere Vorfahren haben sich nach und nach aus der natürlichen Evolution verabschiedet und eine eigene menschliche Evolution und Geschichte entwickelt, basierend auf Ideen, Innovationen und Wissen. Bis aus einem anfangs immer wieder vom Aussterben bedrohten Affen die beherrschende Spezies dieses Planeten wurde, vergingen allerdings Millionen Jahre.

Ein vertiefender Blick auf die Entwicklung der Menschen zeigt, wie unendlich mühsam es war, bis wir an dem Punkt angekommen sind, an dem wir heute stehen. Das Abenteuer der Menschwerdung begann in Afrika, und erst vor etwa 40 000 Jahren erfolgte die Besiedlung Europas durch den modernen Menschen. Die Frühmenschen lebten von Wasser, Früchten und Tieren. Sie bejagten die Tiere und rotteten viele Tierarten aus.

Erst vor circa 10 000 Jahren endete an vielen Orten die Wanderung. Tiere wurden domestiziert, Pflanzen ausgesät und die Landwirtschaft erfunden. Der Mensch begann sesshaft zu werden, Erfindungen, Fortschritt und Entwicklung setzten ein, es entstanden Märkte, Besitztümer und Wettbewerb, Konflikte und Kriege. Während sich über Millionen von Jahren die Anzahl der Menschen kaum vermehrte und in der Zeit von Christi Geburt 200 Millionen Menschen lebten, stieg die Bevölkerungszahl bis etwa 1800 auf eine Milliarde. Als ich geboren wurde, waren es gut 2,5 Milliarden, heute leben 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde.

Mit neuen Technologien konnten die Menschen die Lagerstätten fossiler Energieträger, erst war es Kohle, später Öl, dann Gas, für sich nutzen. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es Energie im Überfluss. Das war der Startschuss für die moderne Welt mit allen positiven und negativen Konsequenzen. Mit dieser Entwicklung ging eine gewaltige Bevölkerungsexplosion einher, ebenso eine massive Erhöhung des Wohlstands – zumindest in Teilen der Welt. Zugleich entstand ein enormer Belastungsdruck auf Naturressourcen, Umwelt und Klima. Mit der Verdopplung der Bevölkerung seit meiner Geburt stieg auch der CO2-Ausstoß um das Vierfache, der Wasserverbrauch um das Dreifache und der Umfang der Weltwirtschaft nahezu um das Zehnfache.

Wie viel Mensch erträgt die Erde bei einer gegebenen Technologie und Kooperationsstruktur? Die Erde bietet uns nur in begrenztem Umfang Wasser, Boden und Fläche. Würde jeder Mensch auf dem Planeten so leben, konsumieren und wirtschaften wie wir in Deutschland, bräuchten wir heute schon drei Erden. Bei dem Lebens- und Wirtschaftsmodell der Amerikaner wären fünf Erden notwendig. Es ist deshalb klar, dass wir große Veränderungen brauchen: bei der Art der weltweiten Zusammenarbeit, der eingesetzten Technologie und den Lebensstilen. Die Vorgabe für morgen kann kein naives Diktum von »immer mehr Wachstum, immer mehr Produktion, immer mehr Konsum – und das für alle« sein. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts findet das Bevölkerungswachstum fast ausschließlich in den Entwicklungsländern statt. Im Jahr 1970 stellten die Entwicklungsländer 65 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind es schon 80 Prozent. Es sind viele Menschen, und viele davon sind sehr arm. Allerdings ist wichtig zu erkennen, dass es zum heutigen Zeitpunkt nicht primär die vielen Armen sind, die unser Klima und die Umwelt gefährden. Hauptverantwortlich dafür ist vielmehr der Reichtum, also das Wirtschafts- und Konsummodell der obersten Wohlstandsmilliarde, zu der allerdings mittlerweile auch Menschen aus ärmeren Ländern gehören.

Der mittlere CO2-Ausstoß pro Kopf in Deutschland liegt bei zehn Tonnen, in Nigeria bei 0,5 Tonnen, in China nun auch schon bei über sieben Tonnen, und das bei 1,4 Milliarden Menschen. Industrieländer stehen in der Verantwortung, aber die aufholenden Schwellenländer mit ihren großen Bevölkerungen spielen zunehmend eine entscheidende Rolle bei der Belastung der Atmosphäre mit Klimagasen.

Die Bevölkerung der OECD-Staaten, der reichen Staaten der Welt, beträgt etwa 17 Prozent der Weltbevölkerung. Sie verbraucht rund 35 Prozent der Ressourcen und verfügt über etwa 70 Prozent des weltweiten Vermögens. Die »Oxfam-Studie 2020« stellt fest, dass einem Prozent der Menschheit 45 Prozent des globalen Vermögens gehören. Dies wirft die Frage von Gerechtigkeit auf. Wem gehören die Reichtümer des Planeten? Bei wachsender Weltbevölkerung werden die Ressourcen immer knapper und teurer werden, wenn uns technisch nichts Neues einfällt. Nur die Reichen können sich unter Umständen zukünftig Öl, Wasser, Boden, seltene Erden noch leisten – die Reichen in unseren Ländern wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Es droht zu immer mehr Spaltung wegen der Ressourcenengpässe und der Klimapolitik zu kommen – kein Szenario für eine friedliche Zukunft. Wer auf eine weitere Spaltung in einer globalisierten Weltwirtschaft zwischen Arm und Reich setzt, nimmt Krieg, Terror und Vertreibung in Kauf. Die Zeit wird knapp, um dies durch eine neue Verantwortungsethik, entsprechende Formen der Zusammenarbeit und eine neue Technologie zu vermeiden. Uns allen muss klar sein, dass wir heute in einem globalen Dorf in einer einzigen Welt leben. Wir sitzen alle in einem Boot, wenn auch in verschiedenen Klassen, und unser aller Lebensqualität ist für die Zukunft bedroht.