Ums Überleben kämpfen - Zain-Alabidin Al-Khatir - E-Book

Ums Überleben kämpfen E-Book

Zain-Alabidin Al-Khatir

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Beschreibung

Erstmals berichtet ein Flüchtling ausführlich und beinahe dokumentarisch über seine Flucht aus dem Sudan über Libyen und das Mittelmeer bis nach Deutschland: Als Zain-Alabidin Al-Khatir im November 2013 den Sudan aus politischen Gründen verlässt, hat er weder den Plan, nach Europa zu fliehen, noch ahnt er, was ihn auf seiner Flucht erwarten wird. Über Ägypten gelangt er nach Libyen und erlebt dort für zwei Jahre ein Martyrium aus Ausbeutung, Erniedrigung, Willkür und Gewalt insbesondere gegen Frauen. Tagebuchartig berichtet er von den Brutalitäten der Schleuser, der ständigen Angst, den sexuellen Übergriffen an Frauen und den vielen Reisegefährten, die auf dem Weg in die Freiheit gestorben sind oder zurückbleiben mussten. Mit diesem Buch wird erstmals die Innensicht eines Flüchtlings mit seinem Wunsch zu überleben dokumentiert und berührend vermittelt. So erhalten wir einen Eindruck von der psychischen und physischen Gewalt, die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa erleiden müssen. Zugleich wird das menschenverachtende System der Schleuser offengelegt.

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Zain-Alabidin Al-Khatir

Ums Überlebenkämpfen

Meine Flucht aus dem Sudan undLibyen nach Deutschland

Übersetzt von Tom Heyne

Gefördert durch

Mit Unterstützung durch Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2019 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.

Übersetzung: Tom Heyne, Leipzig

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp,

Kempten

Druck und Verarbeitung: Medienhaus Plump, Rheinbreitbach

ISBN 978-3-96423-020-1

eISBN 978-3-96423-029-4

Danksagung

Ich widme dieses Buch meinen lieben Eltern, meinen Geschwistern, meinen Verwandten, Freunden und Freundinnen, Bekannten, allen meinen Lehrern und Lehrerinnen, meinem Trainer, meinem Chef und allen anderen, die mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt und mich dazu ermutigt haben, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich widme dieses Buch außerdem all jenen, die aus ihrer Heimat auswandern oder flüchten mussten und sich nach wie vor in der Hand von Schleusern befinden. Ich widme es den Menschen, die das Meer von uns gerissen hat, als sie versuchten, ihr nacktes Leben zu retten. Und nicht zuletzt widme ich es denjenigen, die Tag und Nacht im Einsatz sind, um im Mittelmeer in Seenot geratene Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

Mein ganz besonderer Dank gilt der lieben Freundin, die mir ihren Computer zur Verfügung gestellt hat und damit dieses Buch möglich gemacht hat.

Aber an allererster Stelle danke ich Allah dafür, dass er mich auf meinem Weg begleitet und beschützt hat, so dass ich meine Erlebnisse in diesem Buch niederschreiben konnte.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Weg nach Ägypten

3. Der Weg nach Libyen

4. Bengasi: Tage des Grauens

5. Von Bengasi nach Ben Dschawad

6. Ben Dschawad

7. Die Schlacht um den Golf von Sidra

8. Von Ben Dschawad nach Adschdabiya

9. Unvergessliche Tage in Bishr

10. Al-Arqub: Ein neues Leben

11. Der Entschluss

12. Von Bishr nach Tripolis

13. Abschied von Bishr

14. Ras Lanuf

15. Sirte

16. Wadi Zamzam

17. Bani Walid

18. Tarhuna

19. Zliten

20. Wadi Alrabie

21. Espiia

22. Zuwara

23. Italien

24. München

25. Osnabrück und Bramsche

26. Braunschweig

27. Hildesheim

28. Der Ablehnungsbescheid

1. Einleitung

Wer wie ich den Entschluss fasst, aus politischen Gründen aus dem Sudan zu fliehen und sich nach Libyen durchzuschlagen, muss sich der Konsequenzen dieses Schrittes bewusst sein und dann auch bereit sein, diese zu tragen. Und jedem, der sich innerhalb Libyens auf den Weg nach Tripolis oder in irgendeine andere Stadt machen will, muss klar sein, dass ihm eine schwere Zeit voller Leid und großer Herausforderungen bevorsteht!

Wer sich in die Hände von Schleusern begibt, ist ihnen absolut ausgeliefert und nur Allah kann ihn noch schützen. Wer sich Schleusern anvertraut, muss akzeptieren, dass ihn Gefangenschaft, Folter, Erniedrigung, Hunger, Durst und Versklavung erwarten können. Frauen droht darüber hinaus die Vergewaltigung. Auch die verschiedenen Milizen stellen eine große Gefahr dar. Sie nehmen Menschen willkürlich gefangen, inhaftieren oder töten sie.

Dies umreißt das Martyrium, welches Migranten und Ausländer immer wieder in Libyen durchleben müssen. Auf meinem Weg durch das Land, der mich bis nach Tripolis führte, habe ich viele negative Erfahrungen gemacht. Dieses Buch vermittelt einen Eindruck von den Strapazen und Qualen, mit denen ich auf meiner Flucht konfrontiert war. Es erzählt von den Erlebnissen, die ich als Gefangener der Schleuser machte. Es ist auch ein Zeugnis über den unwürdigen Umgang mit uns als Ausländern sowie vom Leid und den Schwierigkeiten, die uns auf unserem Weg durch Libyen widerfuhren. Es schildert die psychische und physische Gewalt – Erniedrigungen, Prügel und Raub –, die uns die Schleuser antaten, deren Menschenverachtung besonders die Frauen traf. Nicht zuletzt vermittele ich in den folgenden Kapiteln auch einen Einblick in die Schleuserrouten nach und von Libyen, den Weg über das Mittelmeer und die Methoden der Schleuser.

Anlass des Buches:

Während ich in der libyschen Stadt Bengasi wohnte, verschlechterte sich die Lage der dort lebenden Migranten und Geflüchteten zusehends. Ständig hörten wir Geschichten darüber, dass wieder jemand beraubt, verprügelt, verhaftet, entführt oder getötet wurde. Andere gingen zur Arbeit und kamen nie wieder zurück. Es geschahen schreckliche Dinge, die mich auch persönlich betrafen. Daher entschied ich mich, ein Buch vor allem über meine Erlebnisse in Libyen zu schreiben. Es heißt „Ums Überleben kämpfen“, denn jeder Mensch will leben und kämpft um sein Überleben.

Alles, was ich und all die anderen taten, die ihre Heimatländer aus verschiedensten Gründen über das Mittelmeer und andere Routen verließen, taten wir, um zu überleben – wie alle anderen auch, die ihre Häuser und ihre Heimat hinter sich ließen, um vor Kriegen und Konflikten in Gebiete zu flüchten, die ihnen Schutz gewähren. Wir alle kämpfen um unser Leben.

Bereits in Libyen begann ich, meine Geschichte auf einem kleinen Notizblock niederzuschreiben. Allerdings vernichtete ich die Aufzeichnungen, noch während ich im Land war, weil ich das Gefühl hatte, dass diese mein Leben gefährden könnten. Aber die Erinnerungen blieben so stark, dass ich sie auch auf der anderen Seite des Mittelmeeres nicht vergaß und sie wieder aufschreiben musste.

2. Der Weg nach Ägypten

Nachdem ich mich entschieden hatte, den Sudan in Richtung Ägypten zu verlassen, verabschiedete ich mich am Morgen des 17. November 2013 von meiner Familie. Zusammen mit meinem engen Freund Ishak ging ich am Abend zum Abfahrtspunkt Dunkula auf dem sogenannten libyschen Markt in der Stadt Omdurman. Dort mieteten wir zwei Betten in einer Unterkunft und schliefen mit unseren Taschen als Kissen unter dem Kopf.

Am Montagmorgen nahmen wir dann den Bus in Richtung Wadi Halfa im Norden des Sudan. Als wir ankamen, war es bereits gegen fünf Uhr abends. Beim Aussteigen bemerkten wir in der Nähe der Haltestelle eine große Moschee. Wir gingen gleich hinein, um das Mittags- und Nachmittagsgebet zu verrichten. Erst danach mieteten wir ein Zimmer für 60 Sudanesische Pfund am Tag in einer der traditionellen Herbergen; einem normalen Wohnhaus, in dem mehrere Zimmer vermietet werden. Reisende bleiben in diesen Unterkünften in der Regel zwischen einem Tag und einer Woche, bevor sie sich wieder auf den Weg machen. Manche der Gäste kehrten gerade aus Ägypten zurück, während andere, wie wir, den Sudan verließen.

Wir verbrachten insgesamt zwei Tage in der Unterkunft. Die Reise sollte dann per Schiff vom Hafen Halfas aus weitergehen und so machten wir uns am frühen Morgen des darauffolgenden Tages auf den Weg zu einem Ticket-Office. Wir mussten jedoch lange warten, bis das Büro endlich aufmachte. Zusammen hatten wir 800 US-Dollar dabei, von denen wir insgesamt 100 US-Dollar für die Tickets ausgeben mussten, umgerechnet 370 Sudanesische Pfund pro Person.

Absurd: Alle Reisenden müssen ein Hin- und Rückfahrtticket kaufen, selbst wenn sie gar nicht die Absicht haben, zurückzukehren. Also kauften wir beide ein Ticket für Hin- und Rückfahrt.

Beim Ticketkauf fehlten mir knapp drei Sudanesische Pfund, um die notwendigen Dokumente zu bezahlen. Ich sagte dem Polizisten am Schalter, dass ich nicht mehr als anderthalb Pfund hätte. Obwohl ich zusätzlich 30 Dollar bei mir hatte, stimmte das, denn man konnte am Schalter nur mit Sudanesischen Pfund bezahlen. Zu meinem Glück stand neben mir ein Ägypter, der hörte, was ich zu dem Beamten sagte. Er erklärte sich bereit, die drei Pfund für mich zu bezahlen.

Dafür war ich sehr dankbar. Also sprach ich ihn nochmals an und wir gingen gemeinsam mit Ishak und einem Freund des Ägypters in ein Restaurant zum Mittagessen. So wurden wir zu Reisefreunden.

Nach dem Mittagessen kehrten Ishak und ich zur Unterkunft zurück. Wir beteten das Nachmittagsgebet und machten eine kleine Erkundungstour östlich der Herberge. Dort gab es einen auffälligen Wasserspeicher, der von einem kleinen Hügel umsäumt wurde. Wir entspannten uns ein wenig und gingen schließlich wieder zur Herberge. Nach dem Abendgebet schauten wir etwas Fernsehen und gingen dann ins Bett.

Am Morgen des 20. November 2013 machten wir uns fertig zum Aufbruch. Um zehn Uhr gingen wir zum Hafen, um die letzten Vorbereitungen für die Reise zu erledigen. Gegen fünf Uhr abends bestiegen wir das Schiff, welches sich in Richtung Ägypten in Bewegung setzte. Insgesamt waren mehr als 350 Passagiere aus Ägypten und dem Sudan an Bord.

Am 21. November erreichten wir um neun Uhr morgens den Hafen von Assuan in Ägypten.

Es war nicht nur meine erste Schiffsreise in ein anderes Land, es war überhaupt meine erste Reise ins Ausland. Ich war in äußerst guter Stimmung!

Dass das Schiff bis zum Anschlag mit Passagieren besetzt war, änderte daran nichts. Es war so dichtgedrängt, dass sich immer sofort jemand auf den freien Platz setzte, sobald man aufstand. Dann hieß es warten, bis wiederum ein anderer Passagier aufstand, um eine Tasse Kaffee zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Hatte man Glück, ließen einen nette Menschen zwischenzeitlich auf ihrem Platz sitzen oder rutschten etwas, um etwas Platz zu machen.

Der Mechanismus der Platzvergabe auf dem Schiff erinnerte mich an das demokratische Prinzip des friedlichen Machtwechsels. Das heißt, niemand darf ewig sitzen bleiben – ganz im Gegensatz zu den afrikanischen Präsidenten also, denen der folgende Grundsatz egal zu sein scheint: „Du hast das Recht sie zu regieren, aber sie haben auch das Recht, über dich zu richten.“

Manchmal gingen wir auch an Deck, aber dort war es so kalt, dass man es nicht länger als 20 Minuten aushielt. Wir gingen also nur nach oben, um ein bisschen Abwechslung vom Innenleben des Schiffes zu bekommen. Von Zeit zu Zeit tranken wir einen Tee im Bordrestaurant. Das war auch eine Möglichkeit, dem Gedränge zu entkommen, einen Sitzplatz zu ergattern und der durch den Zigarettenqualm der vielen Raucher verpesteten Luft zu entfliehen.

Als wir dann nach einer beschwerlichen und anstrengenden Reise am Freitagmorgen im Hafen von Assuan ankamen, war es gegen neun Uhr. Wie bei solchen Reisen üblich, wurden wir bei der Ankunft in Ägypten als Erstes kontrolliert und durchsucht.

Nachdem wir zwei Stunden am Hafen verbracht hatten, fanden wir Reisebusse mit dem Ziel „Ägypten“, wie die Menschen ihre Hauptstadt Kairo auch nennen. Ishak und ich kauften genau wie Mohammad, ein Landsmann, den wir im Bus kennenlernten, für 100 Ägyptische Pfund pro Person ein Ticket von Assuan in die Hauptstadt. Um 11 Uhr vormittags setzten wir uns in Richtung Kairo in Bewegung. Merkwürdig war, dass es entlang der Strecke zwar viele Checkpoints gab, aber keiner der dort stationierten Wachposten von Armee und Polizei uns nach unserer Herkunft, unserem Ziel oder unseren Reisepässen fragte.

Dass nicht kontrolliert wurde, lag an den zu dieser Zeit guten Beziehungen zwischen dem Sudan und Ägypten, die sich in der Folgezeit aufgrund des Grenzkonfliktes um das sogenannte Hala’ib Dreieck, das beide Staaten für sich beanspruchen, drastisch verschlechtern sollten. Auch der brutale Umgang der ägyptischen Regierung mit den sudanesischen Bergleuten im Grenzgebiet und der Versuch des Sudans, sich mit der Erhöhung der Visagebühren zu revanchieren, trugen zur Verschlechterung der Beziehungen bei.

Um 22 Uhr hatten wir Kairo immer noch nicht erreicht. Dann ging auch noch der Bus kaputt. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was das Problem war, aber wir brauchten mehr als drei Stunden, um es zu lösen. Erst um 4 Uhr morgens konnte der Schaden endlich behoben werden und wir setzten uns wieder in Richtung Kairo in Bewegung, was wir schließlich um 7 Uhr morgens erreichten.

Zu unserem Glück hatte Mohammad einen Verwandten in Kairo, der als Händler im Südsudan tätig war. Schon auf der Fahrt rief Mohammad ihn an. Er holte uns vom Busbahnhof im Zentrum Kairos ab und wir tranken etwas in einem nahegelegenen Café. Danach gingen wir zusammen in ein nicht weit entferntes Hotel im Stadtteil Diqn al-Bascha. Das Hotel lag in der Nähe des Tahrir-Platzes und wir mieteten für insgesamt 100 Pfund pro Tag ein Zimmer für uns drei.

Mohammads Bruder hatte Kontakte zu jemandem, der uns an Schleuser vermitteln konnte. Er rief ihn an und erklärte ihm, er wisse von drei Personen, darunter ein Verwandter, die nach Libyen wollten. Der Mittelsmann versprach, sich mittags mit neuen Informationen zu melden.

Nach zwei Stunden Warten im Hotelzimmer entschieden wir uns, den nahegelegenen Markt zu erkunden. Dieser Markt mit seinen Läden für Tee und Kaffee ist einer der Orte in Kairo, an denen sich viele Ausländer tummeln, insbesondere Sudanesen. Dort trafen wir schließlich auch den Mittelsmann der Schleuser, die die Route zwischen Ägypten und Libyen organisierten. Die Schleuser verlangten von uns 400 US-Dollar pro Person!

Wir versuchten mit Hilfe des Mittelsmanns zu verhandeln. Er fragte uns, wo genau in Libyen wir hinwollten. Als wir ihm sagten, unser Ziel sei Bengasi, senkte er den Preis auf 600 Dollar für Ishak und mich zusammen. Nachdem wir die Summe bezahlt hatten, blieben uns für die gesamte Reise nur noch 100 Dollar zum Leben. Der Mittelsmann wies uns an, unsere Sachen zu packen und uns bereit zu halten, denn schon in wenigen Stunden würden wir nach Libyen aufbrechen.

Wir gingen ins Hotel zurück, um unsere Sachen zu packen. Drei Stunden später, um sechs Uhr abends, holte uns der Mittelsmann mit einem Taxi ab und brachte uns zum Tahrir-Platz, wo der Wagen der Schleuser schon wartete. Eigentlich bot er nur Platz für 14 Personen, wir waren aber 17. Von unserem Standpunkt in der Nähe einer der Hauptverkehrsadern der Stadt fuhren wir zunächst zu einem Restaurant in der Innenstadt und aßen dort zu Abend. Es sollte das letzte Mal für lange Zeit sein, dass ich etwas Richtiges aß.

Es sollte auch das letzte Mal für lange Zeit sein, dass ich mich frei fühlte. In jenem Restaurant hörte ich auf frei zu sein und wurde in die Welt der Schleuser hinabgezogen – eine Welt voller Erniedrigungen und Angst, die weder Annehmlichkeiten, noch Sicherheit, Mitleid und Erbarmen kennt.

3. Der Weg nach Libyen

Die Begegnung mit den Schleusern war das erste Mal in meinem Leben, dass ich der Macht und Willkür anderer Menschen absolut ausgesetzt war.

Mit 17 Personen in einem Wagen, der eigentlich nur Platz für 14 bot, verließen wir Kairo in Richtung Alexandria, am Steuer ein professioneller Schleuser. Er wies uns an, uns als Touristen auf dem Weg nach Alexandria auszugeben, falls unterwegs irgendwer Fragen stellen sollte. Aber obwohl wir auf der Fahrt an mehreren Kontrollposten der ägyptischen Armee und Polizei vorbeikamen, stellte uns niemand Fragen. Gegen Mitternacht trafen wir auf einen Soldaten, der am Straßenrand stand. Er sprach mit dem Fahrer und verlangte von ihm, ihn an einen Ort zu bringen, der ungefähr eine Autostunde entfernt lag. Zuerst antwortete ihm unser Fahrer, dass das Auto bereits voll sei und er nicht noch eine Person mitnehmen könne. Letztlich lenkte er aber ein, woraufhin wir den Soldaten mitnahmen.

Ich weiß nicht, warum unser Fahrer am Ende einwilligte. Vielleicht hatte er Angst davor, dass der Soldat den überfüllten Wagen melden würde. Vielleicht hatten sie schon einmal miteinander zu tun gehabt oder kannten sich sogar gut, das konnten wir nicht wissen. Vielleicht war das Ganze auch eine Inszenierung für uns gewesen, damit wir nicht auf die Idee kämen, sie würden unter einer Decke stecken. Jedenfalls nahm er den Soldaten mit, obwohl eigentlich kein Platz mehr im Wagen war.

Kurz nachdem wir unsere Fahrt wieder aufgenommen hatten, kamen wir an einen weiteren Kontrollpunkt. Die Stimmung im Wagen war gedrückt, alle hatten Angst. Denn nur der Fahrer und der Soldat waren Ägypter, während wir anderen allesamt aus dem Sudan kamen. Dieses Mal wurden wir am Kontrollpunkt angehalten. Zu unserem Glück trug der Soldat seine Uniform. Drei Wachsoldaten näherten sich unserem Wagen und als sie einen Blick ins Innere warfen, sahen sie die Uniform. Noch bevor sie etwas fragen konnten, sagte der Soldat scherzend zu ihnen: „Die hier stehen alle unter amerikanischem Schutz!“

Es war seine Art, den Wachen zu verstehen zu geben, dass auch er erstens ein Staatsdiener sei und zweitens für uns bürge. Als er seinen Mantel öffnete, zeigte sich, dass er sogar Offizier war! Da er der Ranghöchste unter den anwesenden Soldaten war, salutierten sie ihm und ließen uns ohne weitere Umstände passieren.

Im Nachhinein schätze ich jenen Kontrollposten als sehr gefährlich für die Schleuser ein. Umso sicherer bin ich mir, dass der Offizier eingeweiht war und mit ihnen zusammenarbeitete.

Letztlich konnten wir den Kontrollposten ohne Probleme wieder verlassen. Nur fünf Minuten später und nicht weit vom Kontrollposten entfernt erwartete uns bereits einer der Köpfe der Schleuserbande. Er gehörte zum Stamm der Awlad Ali, die im Grenzgebiet zwischen Ägypten und Libyen leben. Ich habe keine Ahnung, wie der Fahrer mit dem Schleuser kommuniziert hatte. Angerufen hatte er ihn jedenfalls nicht.

Sie befahlen uns, schnell in den Wagen des zweiten Schleusers zu wechseln. Der moderne Toyota Pickup stand direkt vor uns, mitten auf der Straße, die Ladefläche mit einer Plane abgedeckt. Wir beeilten uns, umzusteigen. Offensichtlich wurde der Wagen tagsüber für den Transport von Tieren verwendet, während er nachts dazu diente, Menschen wie uns zu schleusen. Obwohl der Wagen nur Platz für acht Personen bot, wurde wir alle „aufgeladen“ und sofort raste der Fahrer mit uns davon. Kurz darauf verließen wir die reguläre Straße und fuhren auf einem unbefestigten Weg durch die Wüste.

Der Fahrer machte alle Lichter am Wagen aus. Dass die Strecke auch von anderen Autos aus der Gegend benutzt wurde, scherte ihn offensichtlich nicht. Ohne Licht raste er an ihnen vorbei! Zusammengepfercht und in Schockstarre, weil wir mit einem Affenzahn durch die tiefdunkle Nacht jagten, mussten wir vier Stunden lang ausharren. Nach einer schrecklichen Fahrt kamen wir schließlich gegen sechs Uhr morgens in einem kleinen Dorf in der Region Matruh an. Die wenigen Häuser, die es dort gab, lagen alle ungefähr 500 Meter weit auseinander.

Der Schleuser ließ uns an einem halbfertigen Haus aussteigen und befahl uns, vorsichtig und mucksmäuschenstill zu sein. Wer sich erleichtern müsse, sollte das gefälligst möglichst geräuschlos tun. Im Haus gab es weder eine Toilette oder Küche, noch Betten oder Decken, geschweige denn irgendetwas, mit dem man den Boden hätte abdecken können. Es war komplett leer! Nichts weiter als eine Ansammlung von Zimmern. Leere Saftpackungen, teils voller Urin, standen überall herum und es stank erbärmlich.

Nachdem uns der Schleuser abgeladen hatte, ging er in sein Haus, um uns etwas zu essen zu holen. Er kam mit zwei Packungen Brot, ein bisschen Käse, Erdnüssen und ein paar Dosen Thunfisch zurück. In der ersten Nacht waren wir 17 Personen im Haus. Am Abend des zweiten Tages waren es schon 21. Noch in der gleichen Nacht wuchs die Gruppe auf 30 Personen an.

Während des zweiten Tages kam der Schleuser eilig mit einem Stift und einem Block zu uns und fragte, wer sein Geld in Libysche Dinar tauschen wolle. Denn in Libyen, so sagte er, könne man nur mir Libyschen Dinar bezahlen. Keiner von uns misstraute seinen Worten. Also gaben wir ihm unser Geld. Manche, wie mein Freund Ishak und ich, gaben ihm sogar alles, was sie hatten. Andere gaben ihm nur einen Teil ihres Geldes. Ishak und ich hatten unsere restlichen 100 US-Dollar schon in Kairo in Ägyptische Pfund umgetauscht. Als der Schleuser uns anbot, das Geld in Dinar zu wechseln, gaben wir ihm alles, im Vertrauen darauf, er würde tun, was er versprochen hatte.

Der Schleuser notierte unsere Namen und die erhaltene Summe. Dazu schrieb er den Gegenwert in Libyschen Dinar. 700 Ägyptische Pfund wären damals 140 Dinar für mich und meinen Freund Ishak gewesen. Wir hatten absolutes Vertrauen in sein Versprechen. Er sagte, er würde das Geld noch am selben Tag umtauschen und es uns dann bringen.