Unabhängigkeitserklärung - Martin Betschart - E-Book

Unabhängigkeitserklärung E-Book

Martin Betschart

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  • Herausgeber: Ariston
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Wer hat gesagt, du musst?

Tagtäglich begeben wir uns in innere und äußere Abhängigkeiten, weil wir meinen, wir müssten Dinge sagen und tun, wie andere es von uns verlangen. Glücklich macht das nicht. Martin Betschart lebt anders – er hat sich dank seiner Unabhängigkeitserklärung von allen Zwängen befreit und führt heute ein glücklicheres und erfolgreicheres Leben denn je!

Sich anpassen, Ja sagen, wenn man Nein meint, es allen recht machen wollen: Martin Betschart, erfolgreicher Keynote-Speaker und Seminarleiter, lebte wie die meisten von uns ein fremdbestimmtes Leben – bis zu seinem persönlichen Befreiungsschlag, der auch vor äußeren Konventionen, Statussymbolen und unausgesprochenen Erwartungen anderer nicht haltgemacht hat. Mit seiner unkonventionellen Geschichte und seinem leidenschaftlichen Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben inspiriert er dazu, endlich auszubrechen und seinen eigenen Weg zu gehen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 309

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Martin Betschart

Unabhängigkeits

erklärung

Warum mir niemand mehr vorschreibt, was ich sage, denke oder tue

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2013 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Überland, Schober & Höntzsch

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-10810-6V002

Inhalt

Prolog: Fast alles

Kapitel 1

Energiestaubsauger, Titeldiener, Networkingzecken

Kapitel 2

Das Dagobert-Syndrom

Kapitel 3

Loslassen und reich werden

Kapitel 4

Der 93. Geburtstag

Kapitel 5

Vom »Was ich wollen soll« zum »Was ich wirklich will«

Kapitel 6

Wer hat gesagt, Sie müssen?

Kapitel 7

Warum unverdientes Geld unglücklich macht

Kapitel 8

Der Briefträger und der Bauer

Kapitel 9

Wissen, was man wert ist

Kapitel 10

Nicht um jeden Preis

Epilog: Wovon ich freiwillig abhängig bin

Prolog: Fast alles

Sie können jedes Nummernschild aufschlüsseln, wissen über Möglichkeiten der Wärmedämmung in Altbauten Bescheid, kennen den Unterschied zwischen Carrera GT und GTS. Sie ändern innerhalb von 30 Sekunden Ihre PIN beim Onlinebanking, in Ihrem Unternehmen halten Sie Vorträge über Rohertrag und Gewinnerwartung, Sie diskutieren im Freundeskreis über das marode Bildungssystem. Und längst haben Sie alle Preisangebote für die Spiegelreflexkamera verglichen, die Sie sich demnächst anschaffen möchten.

Sie haben gelernt, über alles Mögliche Bescheid zu wissen. Zu fast allem können Sie etwas sagen, etwas beisteuern. Nur nicht zu dem Thema, bei dem Sie sich am besten auskennen müssten, welches für Sie jedoch von allergrößter Wichtigkeit ist: Ihr eigenes Leben.

Was wollen Sie wirklich?

Das ist die am schwersten zu beantwortende Frage überhaupt. Denn die Erwartungen anderer lenken den Blick vom Wesentlichen ab. Sie diktieren Ihnen Ihr Leben.

Was hält Sie davon ab, Sie selbst zu sein? Solange Sie diese Frage nicht beantwortet haben, werden Sie nicht Ihr eigenes Leben führen können. Solange Sie nicht wissen, was Sie wirklich wollen, sind Sie dazu verurteilt, so zu leben, wie andere es für richtig halten. Gäbe es eine Hölle – so sähe sie aus.

Machen Sie sich also mit mir auf den Weg zu Ihrem eigentlichen Ich. Gehen Sie auf die Suche nach den Dingen, die Sie in Abhängigkeit halten und Sie davon abhalten, der Mensch zu sein, der Sie wirklich sind.

Kapitel 1

Energiestaubsauger, Titeldiener, Networkingzecken

Die Venen winden sich über den Bizeps wie Regenwürmer nach einem Sommergewitter, der gewaltige Trapezmuskel der Schulter berührt fast die Ohren. Die einzelnen Armmuskeln bieten sich wie in einem Anatomielehrbuch dem Auge des Betrachters dar, kein Gramm Fett verstellt den Blick auf Bi- und Trizeps. Unter dem ärmellosen Shirt zeichnen sich ganze Gebirgszüge von Bauchmuskeln ab. Die Waden sind Fußbällen gleich. Staunend schaue ich den Muskelberg vor mir an.

So wie er aussieht, hat dieser Mann wohl einen Großteil seines bisherigen Lebens im Fitnesscenter zugebracht. Für einen Bodybuilder nichts Ungewöhnliches. Aber ich sitze nicht im Publikum eines Bodybuilder-Events, sondern stehe auf dem Parkplatz des Getränkemarktes. Während ich mich abmühe, meinen Einkauf im Kofferraum meines Autos zu verstauen, schwingt mein Nebenmann mit demonstrativer Leichtigkeit gleich vier Kisten auf einmal in den Laderaum seines Transporters. Es ist Mitte November. Sein Muskelshirt und die Dreiviertelhose sind vom eiskalten Nieselregen bereits durchnässt. Ich schüttle den Kopf. Friert der Mann denn nicht? Und so eindrucksvoll sein Körperbau auch ist – hat er keine Jacke? Was treibt ihn wohl an, dass er meint, sich auf diese Weise in der Öffentlichkeit produzieren zu müssen? Einen trostloseren Catwalk als den Parkplatz des Getränkemarktes, wo der Wind die weggeworfenen Kassenzettel und halb zusammengeknüllten, fetttriefenden Servietten des Dönerstandes an der Ecke vor sich hertreibt, kann es doch kaum geben!

Ich lächle, als mir einfällt, dass es noch ganz andere gibt, die Showtalent besitzen.

Dr. No

Der Weg ist erprobt und kann nur nach oben führen: Wenn sie den Diplom-, Bachelor- oder Mastergrade erlangt haben, machen Studenten, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter: die Promotion. Und wenn sie sich als zielstrebig und intelligent genug erweisen, werden sie schließlich als Professor und Lehrstuhlinhaber zum Mentor für die nächste Forscher- und Wissenschaftlerelite.

Doch die Realität sieht anders aus. Im Jahr 2009 durften sich in Deutschland rund 25.000 Studenten aller Fachrichtungen, von Architekten bis zu Zoologen, erstmals die beiden Buchstaben »Dr.« vor den Namen setzen. Zugegeben: 7.700 davon waren Mediziner – ein Sonderfall, denn 80 Prozent der Mediziner promovieren. Bleiben immer noch über 17.000 frischgebackene Doktoren – in einem einzigen Jahr. Mit ihnen könnte man fast die Hälfte aller hier zur Verfügung stehenden Professuren besetzen. Der erprobte Weg ist also eine Milchmädchenrechnung: Nur die allerwenigsten können an Uni oder Fachhochschule bleiben. Was machen all die anderen?

Nun ja, die meisten Promovierten hatten sowieso nie vor, ihr Leben der Lehre und Forschung zu widmen. Sie gehen in die Wirtschaft. Ihr Einsatz, zwei bis vier Jahre an ihrer Doktorarbeit zu werkeln, zahlt sich in der Regel trotzdem aus. Zwischen promovierten und nicht promovierten Chemikern zum Beispiel beträgt die Differenz im Einstiegsjahresgehalt rund 10.000 Euro. Auch für Geisteswissenschaftler und Juristen erweist sich die Promotion als gut fürs Vorankommen – es hat schon seinen Grund, dass das lateinische Wort »promotio« Beförderung bedeutet. In den Vorstandsetagen von Banken und Versicherungen ist kaum ein Nicht-Promovierter anzutreffen. Und es ist Usus, dass der zukünftige Partner der Rechtsanwaltskanzlei ein Doktor ist. »Wer heute als erfolgreich wahrgenommen werden will, braucht den Doktortitel«, wurde Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Berliner Humboldt-Universität, im März 2011 in der ZEIT zitiert.

Immerhin beweist eine abgeschlossene Promotion Fleiß, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und die nicht zu unterschätzende Fähigkeit, sich einem System anzupassen. Manchmal allerdings auch nur erfreuliche finanzielle Mittel: Mehr oder weniger offen werben ein paar Dutzend auf Dissertationen spezialisierte Institute mit dem Versprechen, die Dinge umfassend in die Hand zu nehmen, wenn sich der Kunde mit einem »Dr.« vor dem Namen schmücken will. Pro Buchstabe wechseln mindestens 10.000 Euro den Besitzer, wenn der Doktorand meint, anderes zu tun zu haben, als in Bibliotheken nach Literatur zu suchen und an den Seminaren des Doktorvaters teilzunehmen. Noch einfacher scheint es zu sein, sich bei gewissen Fakultäten, meist im nicht-deutschsprachigen Ausland, durch großzügige Spenden für die Verleihung eines Doktorgrades honoris causa in Position zu bringen.

Und wenn das alles nicht klappt, gibt es immer noch einen Plan B. Eine Reihe von Wochenendkursen und -seminaren besuchen, und dies akribisch im Lebenslauf, bei XING oder auf der eigenen Homepage dokumentieren. Wer sich fortlaufend weiterbildet, kann nur wissensdurstig und intelligent sein. Natürlich werden ausschließlich Veranstaltungen gewählt, bei denen ein vorzeigbares Zertifikat herausspringt.

Ganz gleich, auf welchem Wege eine Dissertation zustande gekommen ist, ganz gleich, wie die Zusatzausbildungen und Zertifizierungen motiviert sind: Sie sind der Schlüssel, der die Tür zu beruflichem Aufstieg bis in die höchsten Kreise öffnet. Aber was ist, wenn der Schlüssel das Schloss geöffnet hat? Wenn die Stelle ergattert, das Gehalt sicher ist? Reichen die Titel und Zertifikate wirklich, um ein Leben lang oben zu schwimmen?

Muskelspiele

Ein Hotel in der Provinz. Am Empfang lehnt ein eleganter, in helles Sommerleinen gekleideter Herr und wartet auf seine Zimmerschlüssel. Währenddessen klappert der junge Rezeptionist hektisch auf der Tastatur und versucht gleichzeitig, seine Chefin ans Telefon zu bekommen. Irgendetwas hat wohl eine Verzögerung verursacht. Der Rezeptionist kommt mit der Buchung nicht klar.

Der Gast wartet fingertrommelnd. Auch wenn erst seit etwa einer Minute. Geduld scheint jedenfalls nicht seine Stärke zu sein. Nun gehöre ich definitiv nicht zu dem Menschenschlag, der andere belauscht. Aber während ich in der Lobby auf meinen Geschäftspartner warte und an einem Kaffee nippe, kann ich die Szene, die sich vor meinen Augen abspielt, einfach nicht übersehen. Ohne es darauf angelegt zu haben, beobachte ich, wie der Gast feurige Blicke um sich schleudert und sich in Positur wirft.

»Hören Sie, guter Mann. Mein Name ist Schneider. Doktor Schneider.«

Bei ihm hört sich das so an wie: Bond. James Bond. Er macht eine kleine Kunstpause und setzt dann mit deutlich artikulierten Worten fort:

»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt. Die Zimmerreservierung ist bereits vor drei Wochen von meiner Sekretärin vorgenommen worden.« Er lächelt maliziös. »Das sollte doch Zeit genug gewesen sein, um sich darüber klar zu werden, welches Zimmer Sie mir geben wollen, oder?«

Der Rezeptionist hört auf einmal auf zu tippen. Er ist kreidebleich und sieht aus wie vom Blitz getroffen.

Was für ein arroganter Zeitgenosse!, denke ich und stelle meine Tasse konsterniert ab. Der hat seinen Doktortitel daheim bestimmt in Großbuchstaben auf sein Türschild gravieren lassen. Während ich mir diese Tür bereits bildlich vorstelle, fällt mir der Witz mit der Opernvorstellung ein.

Zu Beginn der Pause – die Zuschauer stehen gerade von ihren Sitzen auf und machen sich auf den Weg ins Foyer – ruft ein Mann in den Aufführungssaal hinein: »Ist hier ein Doktor?« Für einige Sekunden wird es ganz still im riesigen Raum. Bestürzte Gesichter, mitfühlendes Gemurmel. Ein älterer Herr reckt den Arm und ruft: »Ja! Hier!«, und schickt sich an, nach vorne zu eilen. Doch der erste ruft ihm nur über die Köpfe der Anwesenden zu: »Hallo, Herr Kollege. Famose Aufführung, nicht wahr?«

Ein Doktortitel ist für viele Promovierte nur halb so schön, wenn die Normalsterblichen gar nicht mitbekommen, mit wem sie es zu tun haben. Also wird der Titel den Umstehenden unter die Nase gerieben, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Dass sie sich als Doktor präsentieren können, lässt diese Menschen gleich noch mal fünf Zentimeter größer werden. Sicher, der akademische Grad wirkt gediegen, und bei so manchem Metzger bekommt die Gattin sogar heutzutage noch gerne ein besonders gut abgehangenes Stück Rinderbraten über den Tresen gereicht – »Für die Frau Doktor.«

Es ist leicht, sich über solche geltungssüchtigen Menschen lustig zu machen. Aber so richtig lachen kann ich nicht. Ja, die Art und Weise, wie sie sich immer wieder in den Vordergrund spielen und titelgläubige Mitmenschen um sich herumtanzen lassen, sieht aus wie ein abgekartetes Spiel. Aber meine Erfahrung sagt: So schlau sind viele dieser Titelinhaber nicht. Im Gegenteil. Sie sind tatsächlich der Auffassung, dass ihr Einsatz, irgendwann einmal eine Dissertation von 300 bis 400 Seiten abgefasst zu haben, ihnen das lebenslange Recht zusichert, dass alles springt, wenn sich ihre Augenbraue hebt. Man könnte meinen, all die Mitglieder der Spezies Doktor mit ganz großem D und all die Diplom-an-die-Wand-Dübler, Ordensträger und Professoren, die sich beleidigt zeigen, wenn sie nicht korrekt angesprochen werden, seien sämtlich Egozentriker reinsten Wassers.

Ich bin da allerdings vollkommen anderer Meinung.

Aufpoliert

Der Typus, der nach Zertifikaten, Titeln, Diplomen und Orden giert, braucht all dies, um das Bild, das andere sich von ihm machen, aufzuwerten. Das funktioniert. Ich selbst habe es ausprobiert. Einmal habe ich mich in einem Hotel als Professor Doktor angekündigt – sowohl der Titel als auch der akademische Grad waren frei erfunden. (Bevor mich nun jemand wegen Titelklaus anzeigen will: Ich habe mein falsches Spiel später natürlich aufgeklärt.) Mein Auftritt als Professor Doktor Betschart hatte eine erstaunliche, deutlich spürbare Wirkung: Ich wurde noch schneller, noch umsichtiger als sonst behandelt. Es kann nicht an meinem Auftreten gelegen haben, dass ich so überaus zuvorkommend empfangen wurde – ich war dem Hotelpersonal ja noch gar nicht bekannt. Nein, da hatte schon im Vorfeld der prächtige Buchstabenvorbau seine Sogwirkung erzeugt, der sich so wenige entziehen können.

Diese Erfahrung bestätigt nur meine Einschätzung: Der Wert eines Menschen wird tatsächlich sehr häufig am Titel gemessen. Das freut mich für all die Titelinhaber, die souverän damit umgehen können. Keine Frage. Aber was ist mit den vielen anderen, die sich an ihre Namenszusätze und Ehrennadeln klammern wie der Efeu an die Hauswand? Was ist mit denen, die Auszeichnungen und Urkunden anscheinend dringend nötig haben, um sich überhaupt wahrgenommen zu fühlen? Diese Leute sind mir suspekt. Offenbar fehlt ihnen das stützende innere Gerüst, wenn sie immer wieder eine Stütze im Außen suchen.

Im Grunde haben diese Wichtigtuer mit dem muskelzeigfreudigen Mann vom eingangs erwähnten Getränkemarktparkplatz viel gemeinsam. Für denjenigen, der nicht zeigen kann, was er hat, ist nicht viel anderes übrig, was ihn definiert. Oder warum friert er lieber, als eine Daunenjacke anzuziehen? Wenn er es nicht ertragen kann, dass sein wohlgeformter, in Tausenden Stunden fachkundig modellierter Körper unsichtbar bleibt, dann hat er ein Problem. Und zwar dasselbe wie der Doktor, dem die Huldigungen zur Droge geworden sind und der seinen akademischen Grad nennen muss, um seinem Auftreten die notwendige Bedeutung und das erforderliche Gewicht zu verschaffen.

Der Grund, warum diese Showtalente so viel Wert auf Äußeres legen, ist ganz einfach: weil das Innere so mangelhaft ausgestattet ist. Ganz tief drinnen sind sie unsicher, fühlen sich minderwertig, nicht beachtens- und liebenswert. Ihr wahres Ich ist winzig klein. Und um von ihrem desaströsen Innenleben abzulenken, legen sie großen Wert auf eine auf Hochglanz polierte, im wahrsten Sinne des Wortes blendende Oberfläche. Wenn das Ego nicht taugt, dann muss es eben der Titel richten. Oder das Aussehen. Oder das viele Geld. Was wäre denn, wenn der 23-jährige Rezeptionist sich nicht von dem Doktortitel seines Gastes beeindrucken ließe? Oder die allzu junge Freundin nicht vom Porsche Cabrio? Dann würde die ganze Pracht und Herrlichkeit in sich zusammenfallen. All die Äußerlichkeiten sind ja nur dazu da, das Ego ein wenig aufzupolieren und andere zu beeindrucken.

Diese Blender sind also alles andere als Egozentriker; denn wo kein Ego ist, da kann man es auch nicht als Maß aller Dinge, als Fixstern für sein eigenes Leben nehmen. Sie sind viel eher wie eine Christbaumkugel. Aufgeblasen und federleicht liegt sie in der Hand. Auf das Glas mit einer Wanddicke von nur wenigen Hundertsteln eines Millimeters ist eine noch dünnere Silberschicht aufgedampft, in der sich die Außenwelt spiegelt. Nur ihre glänzende Oberfläche hält sie zusammen. Spektakulär und kostbar sieht sie aus. Von inneren Werten, gar von Substanz, kann aber kaum die Rede sein. Es gibt nur die Spiegelung, sonst nichts. Innen befindet sich ein gähnender Hohlraum, ein Vakuum. Keine Frage, was passiert, wenn die Kugel mal von der Baumspitze herunterfällt …

Spielbälle

Ich kenne Mary gut. Sie lebt in Bangkok. Ihr Mann ist schon vor Jahren gestorben. Ihr ganzer Lebensinhalt ist ihr Sohn. Zum ersten Mal fiel mir das auf, als wir sie einmal zu Silvester einluden. »Ich würde so gerne kommen, aber mein Sohn bekommt Besuch«, lautete ihre Absage. Mary wollte nicht, dass er allein mit seinen Freunden daheim blieb. Nicht weil sie fürchtete, dass er nach der Feier ein Schlachtfeld in der Wohnung hinterlassen würde, sondern weil sie ihm bei der Betreuung seiner Kumpel helfen und sich um das Essen kümmern wollte. Weil sie bei ihm sein wollte.

Marys Sohn war damals schon kein pubertierender Teenager mehr, er war 23 Jahre alt. Inzwischen sind ein paar Jahre ins Land gegangen, aber noch immer ist er für Mary der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Und egal, was Mary vorhat, sie macht nichts, ohne es vorher mit ihrem Sprössling besprochen zu haben. Er ist ihr ganzer Halt, an ihm klammert sie sich fest.

Ich werde hier nicht klarmachen, dass es die Aufgabe der Eltern ist, ihrem Kind den Weg dafür zu ebnen, dass es sich von ihnen lösen kann. Dies ist schließlich kein Erziehungsratgeber. Und überhaupt sind Ratschläge das Letzte, was ich Ihnen geben möchte. Nein, ich will auf etwas ganz anderes hinaus. Ich meine, was auf den ersten Blick nach reiner Mutterliebe aussieht, ist manchmal nichts anderes als der Wunsch, eine Rolle zu spielen, einen Platz zu haben. Mary hat beides geschafft. Ihr Platz: dort, wo der Sohn ist. Ihre Rolle: ihm ein Rundum-sorglos-Paket anzubieten. Deshalb macht sie einen ganz glücklichen Eindruck. Mich aber macht es fast verrückt, das mit anzusehen.

Denn auch Mary ist eine Christbaumkugel. Außer der Spiegelung ihres Sohnes hat sie nichts vorzuweisen. Dass sie keinen anderen Lebenssinn findet, als ihren Sohn zu bemuttern, einen Sinn, der ihrer Individualität entspricht, ist ein Trauerspiel. Sie schaut nicht auf sich, sondern nur auf einen anderen – und verzichtet damit auf ein eigenes Leben. Wünsche, Gefühle? Nur für den Sohn, nicht für sich selbst. Sie ordnet ihre Interessen den seinen unter. Wahrscheinlich hat sie schon längst vergessen, dass sie überhaupt mal eigene hatte.

Weil ihr Lebensmittelpunkt nicht in ihr selbst, sondern außerhalb ihres Wesens liegt, ist ihre Existenz eine wacklige Angelegenheit. Die Katastrophe ist vorhersehbar: Wenn dem über alles geliebten Sohn die ganze Fürsorge irgendwann aufdringlich wird und er sich davon erdrückt fühlt und sich von ihr abwendet, steht Mary plötzlich ohne Inhalt, ohne Sinn da. Dann ist es so, als würde die glänzende Kugel in Seidenpapier gepackt und im Pappkarton auf den Dachboden gebracht werden. Dann gibt es nichts mehr, was sie spiegeln könnte. Es gibt nur noch den Staub, den sie im Dunklen ansetzt.

Die spannende Frage ist: Warum macht Mary das? Warum geht sie das Risiko ein, alle Karten auf ihren Sohn zu setzen? Meine Erklärung, nachdem ich sie schon einige Jahre kenne: Sie kann einfach nicht anders. Irgendwann hat sie den Absprung verpasst, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Nur ihren Sohn auch über das angemessene Alter hinaus zu versorgen, gibt ihr noch das Gefühl, einen Wert zu haben. In dieser Rolle fühlt sie sich geborgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mary aus dieser Scheinwelt herausgerissen wird, ist allerdings nicht so groß, wie man meinen könnte. Sollte ihr Sohn Fluchttendenzen zeigen, hat sie immer noch ein Ass im Ärmel. Marys Mantra: Es ist mein Sohn.

»Mein Auto«– das kann man sagen; jedenfalls so lange, bis man es zu Schrott fährt oder der Motor mit einem Kolbenfresser den Geist aufgibt. Aber »mein Kind«? »Mein Partner«? – Wer genau hinhört, dem fällt auf: Das gibt es nicht. »Mein« ist ein besitzanzeigendes Fürwort, doch niemand, wirklich niemand kann einen Menschen besitzen. Wenn jemand über »seinen Hans« oder »seine Lotte« spricht, fühle ich mich immer an einen Hundebesitzer erinnert. Ich kenne viele, die sagen: »Mein Hund ist das Wichtigste in meinem Leben!« Und Lumpi, Bella und Bonzo werden gehätschelt, gefüttert, dürfen mit ins Bett. – So gesehen behandelt so mancher seine Mitmenschen wie Hunde.

Doch Menschen sind keine Hunde. Sie können nicht domestiziert werden. Jedes Kind wird irgendwann erwachsen und will seinen eigenen Weg gehen. Partner können sich auseinanderleben. Freunde ziehen manchmal fort und lassen kaum mehr von sich hören. Der Chef kann seinen Mitarbeiter nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit schlichtweg nicht mehr brauchen. Oder der unersetzliche Angestellte kündigt, weil er etwas Besseres gefunden hat. Das alles kommt vor. Ständig. Wer aber sein eigenes Leben auf das Leben anderer aufbaut, der weigert sich einzugestehen, dass sich die Bindungen auch mal lösen. Dann wird der vermeintliche Besitzstand mit Zähnen und Klauen verteidigt. Mit kaltblütiger Erpressung wird versucht, den Status zu halten – koste es, was es wolle. Das ist eine reine Überlebensstrategie.

Diese Erpressungen funktionieren, indem das schlechte Gewissen des Möchtegern-Abtrünnigen aktiviert wird: »Ich war immer für dich da, du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen! Wenn du mich jetzt verlässt, bist du ein schlechter Mensch.« Mit jedem Fluchtversuch wird die psychologische Fessel stärker angezogen: »Heute geht es mir nicht so gut. Mein Herz macht das alles nicht mehr mit …«

Mit anderen Worten: Gib mir dein Leben! Verzichte auf deine Erfüllung! Bleib auf Gedeih und Verderb bei mir! Und wenn der Trick mit dem schlechten Gewissen nicht mehr funktioniert und dem Erpresser trotz all seiner Bemühungen der Zugriff auf das Leben des anderen entgleitet, wird in vielen Fällen nur verbrannte Erde hinterlassen: »Du bist nicht mehr mein Sohn. Ich will dich nie mehr sehen.« Wenn es um Scheidung oder die Auflösung eines Geschäftsvertrages geht, will der Erpresser wenigstens das Geld. Dann wird jedes Maß und jeder Anstand über Bord geworfen und an sich gerafft, was es zu raffen gibt. Das Haus? Meins. Die Kinder? Die siehst du nur noch zu bestimmten Terminen und selbst dann finde ich Mittel und Wege, deine Treffen mit ihnen zu torpedieren. Die Firma? Auch wenn du es warst, der sie aufgebaut hat, will ich mindestens die Hälfte. Der Spruch »Geld oder Leben« bekommt so eine ganz neue Bedeutung.

Doch meistens kommt es gar nicht so weit. Schon im Vorfeld werden Mittelwege gefunden, Konzessionen gemacht – alles schön und gut. In jeder Beziehung ist es durchaus auch mal notwendig, Entgegenkommen zu zeigen. Doch gegen faule Kompromisse habe ich etwas. Der eine will Urlaub am Meer, den anderen zieht es in die Berge. Das Zugeständnis beider Seiten: Urlaub am Bergsee. Das Ergebnis dieser tollen Kompromisslösung: Keiner hat das, was er eigentlich wollte. Und keiner wird in diesem Urlaub wirklich glücklich.

Oder die Frau, die mit dem Golfen angefangen hat. Auf die Frage, ob es ihr Spaß macht, antwortet sie achselzuckend: »Na ja, mein Mann spielt auch Golf.« Das ist doch wie eine Bankrotterklärung! Richtig schlimm wird’s, wenn es nicht nur um zehn Tage Urlaub oder ein Hobby geht, sondern um den Rest des Lebens: Wenn man beieinander bleibt, weil das Haus noch nicht abbezahlt ist oder weil die Kinder noch nicht groß genug sind; wenn man den Job nicht kündigt, weil es doch nicht geht, ein paar Monate arbeitslos zu sein.

Auch hier ist die Anziehungskraft einer glänzenden Oberfläche seltsam mächtig: lieber ein Leben in Kompromissen, als einen hässlichen Kratzer zu riskieren. So werden Lebensentwürfe zu Zerrbildern. Menschen führen Musterehen, in denen sie nicht glücklich sind. Für sie reicht es, niemanden zu enttäuschen – nicht einmal die Nachbarn. Lieber weiter einen Minderleister im Unternehmen durchziehen, als ihm den Stuhl vor die Tür zu stellen und als gnadenloser Chef dazustehen. Lieber im ungeliebten Job bleiben als Konsequenzen zu ziehen und in einer neuen Stellung eventuell nicht mehr ein zehnköpfiges Team zu leiten und im Tennisklub entsprechend gut dazustehen. Dass es im Grunde Schwäche zu sein scheint, die einen hindert, sein eigenes Leben zu leben, wird verdrängt.

Ich habe das selbst erlebt. Es gab Momente in meinem Leben, da habe ich mir meine eigene Schwäche so deutlich vor Augen geführt, dass ich nicht umhinkam, ihr irgendwann ins Gesicht zu sehen.

Mittlerweile weiß ich, wie trügerisch angenehm es ist, sein eigenes Lebensmuster an ein fremdes anzudocken. Ich habe es erlebt, wie groß die Angst davor sein kann, niemanden zu haben, an den man sich anlehnen kann. Ich habe erfahren, was es bedeutet, aus Schwäche und Fahrlässigkeit ein unfreies Leben zu führen.

Ich war ganz unten.

Unter Nullen

Mit meiner ersten Firma bin ich gnadenlos pleite gegangen. Mit Schulden in den Hunderttausenden saß ich auf den Trümmern meiner Existenz. Wie das kam? Ich war nicht souverän genug gewesen.

Ich hatte das Unternehmen allein, aus eigener Kraft aufgebaut. Ohne dass mir von einem vermögenden Clan im Hintergrund oder einem Mentor goldene Brücken gebaut worden wären. Das war harte Arbeit. Bald lief es gut, das Unternehmen florierte. Doch ich hatte wenig Selbstvertrauen und war unsicher, ob ich das wachsende Geschäft auch weiterhin ohne Hilfe stemmen konnte. Meine Verantwortung wuchs, und so fiel es mir auch immer schwerer, wichtige Entscheidungen allein zu treffen. Aber es war nun mal niemand da, mit dem ich mich hätte austauschen können. Unter all den anderen Unternehmern fühlte ich mich fremd und isoliert. Bis ich eines Tages einen erfahrenen Manager kennenlernte, der sich in diesem Umfeld wie ein Fisch im Wasser bewegte.

Dieser smarte, eloquente, durchsetzungsfreudige Typ schien keine Selbstzweifel zu kennen. Er war all das, was ich nicht war, und konnte all das, was ich meinte nicht zu können. Sein Glanz, seine Selbstsicherheit, sein starkes Auftreten beeindruckten mich. Doch je mehr ich zu ihm aufschaute, desto kleiner fühlte ich mich selbst.

Als ich ihn dafür gewinnen konnte, bei mir mit einzusteigen, hatte ich das Gefühl, den Deal meines Lebens gemacht zu haben. Endlich lag die Last nicht mehr allein auf meinen Schultern. Es tat so gut, ihm Verantwortung zu übertragen, mehr und immer mehr. Alles machte er mit leichter Hand. Ich war heilfroh, ihn an meiner Seite zu wissen, denn ich dachte: Allein bist du nichts. Klar – an seiner Seite wollte ich lernen, mich entwickeln. Aber es war auch so verdammt einfach, ihm immer mehr Macht zu geben. Ich spürte blindes Vertrauen.

Dann musste ich, wie in der Schweiz üblich, für ein paar Wochen zum Militär. Als ich zurückkam, war ich schockiert: Ich fand eine ganz andere Firma vor als die, die ich verlassen hatte. Mein Kompagnon hatte in meiner Abwesenheit alles verändert. Bereits am Eingang begrüßte mich ein neuer Gerätefuhrpark mit neuer Fax- und Kopieranlage. Die Büroräume waren komplett umgekrempelt, jeder Schreibtisch stand an einem anderen Ort. Und die Aufgabenverteilung der Mitarbeiter war auf den Kopf gestellt. Die Umstellungen waren aber nicht nur an mir vorbei entschieden worden, sondern auch schlichtweg unsinnig. Ich konnte nur noch zusehen, wie meine Firma ausblutete. Schlagartig wurde mir klar, wie viel Macht mein Partner bereits hatte. Dass er alles hatte, was er brauchte, um meiner Firma seinen Stempel aufzudrücken. Dass ich mich selbst ins Aus manövriert hatte. Dass ich keine Rolle mehr spielte.

Diese Zeit war ein Tiefpunkt in meinem Leben. Ich sah, dass ich einem anderen Menschen Verfügungsgewalt über meine Firma gegeben hatte – und ihm damit auch gleichzeitig Macht über mich zugestanden hatte. Denn meine Firma war mein Leben. Und mein Kompagnon machte Dinge, die ich niemals gutheißen konnte und die am Ende auch das Aus der Firma bedeuteten. Was er tat, fiel auf mich zurück und brachte mich in Misskredit. Für die Erkenntnis, dass es mein mangelndes Selbstwertgefühl gewesen war, das mich in die totale Abhängigkeit von einem anderen getrieben hatte, habe ich einen hohen Preis bezahlen müssen. Lehrgeld eben.

Dann habe ich noch einmal ganz von vorne angefangen. Meine Schulden bezahlt. Und mir vorgenommen: Nie wieder stütze ich mich auf einen anderen. Nie wieder will ich von anderen abhängig sein. Nicht von Geschäftspartnern. Nicht von Banken. Auch nicht von Freunden. Und nicht einmal von meiner eigenen Familie. Das hat nichts mit fehlendem Vertrauen oder gar mangelnder Liebe zu tun. Sondern mit dem Wert, den ich mir selbst gebe. Und ich weiß: Meine Eltern wollen gewiss keinen Sohn, der es nötig hat, sich an ihrem Rockzipfel festzuhalten.

Abhängigkeit ist also der Knackpunkt. Der eine ist abhängig von seinem Titel oder Status, der andere von »mein Haus, mein Boot, mein Auto«, der Nächste von dem Glanz der Menschen, an die er sich hängen kann wie ein Putzerfisch an einen Walhai und von dem er sich ausrechnet, dass ein klein wenig auch für ihn abfällt.

Networkingzecken sind dafür ebenfalls ein gutes Beispiel. Diese Weiterempfehlungsdrängler und Ich-hab-schon-1.853-Freunde-auf-Facebook-Typen plustern sich auf, manipulieren, lügen schamlos – nur damit sie ihrem Profil ein neues Gesicht hinzufügen können. 1.854 … Manchen reicht es nicht, sich nur im virtuellen Raum an mehr oder weniger bekannte Namen heranzuwanzen. Auch in der realen Welt erwecken sie den Eindruck, alles und jeden zu kennen. Der berühmte Schauspieler? Ja, mit dem war ich kürzlich gemeinsam im Konzert. Dass der drei Reihen weiter vorne saß und vom Name-Dropper überhaupt keine Notiz genommen hat, spielt ja keine Rolle. Den Geschäftsführer des Furore machenden Start-ups? Klar, kenne ich. Neulich waren wir zusammen beim neuen Nobelitaliener. Dass der Klammerer nur zufällig am Fenster des Restaurants vorbeigekommen war und den Geschäftsführer dort speisen gesehen hatte, interessiert in diesem Zusammenhang ja nicht. Diese Bedeutungsschnorrer sind genau die Leute, die sich beide Zahnreihen zeigend auf jedes Foto drängen, die oktopusgleich ihren Arm um jede Schulter legen und überall ihren Senf dazugeben, um sich und anderen zu beweisen, dass sie dabei gewesen sind.

Oder nehmen wir Charity-Veranstaltungen: Wie vielen Besuchern solcher Events dient ihr Engagement nur dazu, sich mit einem Image als Menschenfreund zu profilieren? Nun, solange Spendengelder zusammenkommen und dorthin gelangen, wo sie dringend gebraucht werden, ist das in Ordnung. Aber die Leute, die so etwas nötig zu haben scheinen, sind mir nicht wirklich sympathisch. Sie missbrauchen ein gut gemeintes System dazu, sich selbst zu erhöhen.

Oder die Energiestaubsauger, die immer nur den eigenen Vorteil im Blick haben. Für sie gilt das Motto »Nehmen ist seliger denn Geben«. Das sind diejenigen, die für ihren Umzug gerne alle Freunde und Bekannten aktivieren und sie nach getaner Arbeit mit einem warmen Händedruck verabschieden, selbst aber nie zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, mit anzupacken. So wie die Freundin, die mindestens einmal in der Woche zu jeder Tages- und Nachtzeit anruft und nicht aufhört zu reden. Wie es auf Santorin war, wie der neue Lover sich macht, dass der neue Vorgesetzte keine Ahnung hat und nur Stress verbreitet … Sie holt sich mit größter Selbstverständlichkeit Mitgefühl, Zuspruch und Rat ab wie an einer Supermarkttheke. Auf der anderen Seite kommt von ihr aber kein Interesse. Nicht einmal fragt sie: »Und? Wie geht’s dir eigentlich so?« Das macht unendlich müde. Irgendwann müsste man sagen: »Hör mal, immer wenn du angerufen hast, bis ich total erledigt. Mein Energiepegel ist dann regelmäßig auf null und ich habe dann oft keine andere Wahl mehr, als erschöpft ins Bett zu fallen. Ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr, dass du mich nur anrufst, um deinen Seelenballast bei mir abzuladen.« Aber man tut es nicht.

Ich frage mich ernsthaft: Was ist nur los mit all den Leuten, die sich hinter einem Titel verstecken, ihr Leben unlösbar an das eines anderen ketten oder sich an mehr oder weniger virtuelle Gemeinschaften hängen, als wäre ihr Ego nicht größer als das einer Seepocke? Das ist im Grunde sehr traurig! Diese Menschen suchen ihr Heil im Außen, weil es im Innen scheinbar nichts zu holen gibt. Sie alle machen sich von der Aufmerksamkeit oder Zuneigung anderer abhängig. Wie gesagt, ich finde das traurig. Nicht für die Wirte dieser »Parasiten«, solange diese damit zurechtkommen, wenn ein blinder Passagier sich in ihre Entourage einschleicht ... Nein, für die kapitelnamensgebenden Energiestaubsauger, Titeldiener, Networkingzecken selbst tut es mir leid. Denn Abhängigkeit heißt schlichtweg: nicht selber auf eigenen Füßen stehen.

Jetzt können Sie mit Recht fragen: Ist das denn wirklich so schlimm, sich bei Gelegenheit einmal von anderen mitziehen zu lassen? Menschen sind doch keine batteriegeladenen Maschinen, die von alleine laufen; sie brauchen im Leben auch Unterstützung von außen! Das ist richtig. Aber sobald der innere Rückhalt fehlt, hilft nichts mehr – auch nicht die Hilfe von außen …

In der Hölle

Wer bei Abhängigkeit gleich harte Drogen und schwere Suchtprobleme vor Augen hat, geht zu weit – und denkt zu kurz. Wenn ich persönlich an Abhängige denke, habe ich nicht die armen Menschen vor Augen, die sich in irgendeiner schmierigen Bahnhofstoilette den goldenen Schuss setzen. Oder die es nachts nicht mehr aus der Kneipe heimschaffen und auf der Straße in ihrem Erbrochenen liegen bleiben, bis sich jemand ihrer erbarmt. Ich denke hierbei eher an die »Christbaumkugeln« und blinden Passagiere. Deren Abhängigkeiten kommen natürlich nicht so drastisch und schlimm zum Vorschein, sondern viel leiser, aber auch sie können das Leben erschweren, wenn auch auf anderer Ebene.

Wer es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, in den Augen anderer gut dazustehen, oder darauf bauen muss, dass immer und überall andere für ihn da sind, zahlt einen sehr hohen Preis. Indem er sich von anderen abhängig macht, steht er nicht mehr für sich selbst und ist damit unfrei. Für mich undenkbar, für andere vielleicht erst mal kein Katastrophenszenario – solange sie nicht erkennen, was sie sich mit dieser Unfreiheit einhandeln: ein Leben im Schatten anderer. Und weil niemand sich im Schatten von jemand anderem sonnen kann, ist man in Unfreiheit zu einem Leben im Halbdunkel verurteilt.

Dazu kommt: Wer seinen Wert nur über andere, über Äußeres definiert, spricht sich selbst keinen eigenen, von der Einschätzung anderer unabhängigen Wert zu. Dieser ist in seiner Wahrnehmung gleich null. Das ist schlimm. Aber noch schlimmer wird es, wenn die Person oder die Position, auf die sich der Abhängige stützt, wegfällt. Dann bricht automatisch auch sein Wert weg. Wenn Marys Sohn nach Australien zieht, bleibt eine Mary zurück, die sich nutz- und wertlos fühlt. Wenn der Ministerialdirigent pensioniert wird, bekommt er nicht mehr 150, sondern nur noch drei Glückwunschkarten zum Geburtstag. Solche Einschnitte zu verkraften, wenn zuvor das ganze Leben auf Titel, Position und Rolle ausgerichtet war, gelingt kaum jemandem. Bricht der Lebenssinn weg, macht das krank. Dieser Effekt hat durchaus auch auf gesellschaftlicher Ebene Folgen: Typische Krankheiten – von chronischen Rückenschmerzen über Burnout bis zum Schlaganfall – machen den Einzelnen und die Gesellschaft kaputt.

Das Leben in Abhängigkeit birgt auch noch andere Gefahren. Zum Beispiel dass das System mit der Spiegelung der Oberfläche nur dann funktioniert, wenn der, der gespiegelt wird, erfolgreich ist – und es auch bleibt. Einem Abhängigen kann es wie dem Peter Munk in Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz gehen.

Peter ist Köhler und unzufrieden. Seine Arbeit ist schmutzig, anstrengend und bringt nicht viel ein. Er fühlt sich benachteiligt. Mit begehrlichem Blick schaut er auf die anderen im Dorf. Bei ihnen sieht er all das, was er haben möchte und doch nicht hat. Da wird ihm durch einen Zauber gewährt, dass er immer genauso viel Geld in den Taschen hat wie sein Vorbild und Widersacher Ezechiel. Das geht eine Weile gut. Peters Leben wird leicht und angenehm. Je reicher Ezechiel wird, desto mehr Geld hat auch Peter. Als er aber im Wirtshaus gegen Ezechiel Runde um Runde im Würfeln gewinnt, merkt er, dass die Abmachung ihre Tücken hat. Weil Ezechiel ja alles Geld verliert, besitzt auch Peter plötzlich keines mehr – und wird verjagt.

Und die Moral von der Geschicht’: Wer sich an andere klammert, erlebt mit ihnen nicht nur die Höhen, sondern auch die Tiefen. Wie viele – an sich kompetente – Politiker und Manager sind nie groß herausgekommen, weil ihre Mentoren, in deren Windschatten sie bis an die Spitze zu gelangen hofften, plötzlich von der Bildfläche verschwanden? Ihre Namen sind von einem Tag zum anderen dem Vergessen anheim gegeben.

Noch einmal ganz deutlich: Abhängige leben nicht ihr eigenes Leben. Das ist furchtbar und wohl das Schlimmste, was geschehen kann. Und doch viel verbreiteter als auf den ersten Blick angenommen. Denn was ein normales, konformes, angepasstes Lebensmuster zu sein scheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen oft als graues Elend in Abhängigkeit.

Warum versuchen diese Leute aber nicht, ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung wieder zu erkämpfen? Eine berechtigte Frage. Weil die meisten ihre Unfreiheit gar nicht wahrnehmen. Man hat sich in seiner Abhängigkeit eingerichtet wie der Igel im Winterschlaf. Außerdem sind die Betroffenen häufig beratungsresistent. Wenn ein guter Freund einmal sagen würde: »Es ist nicht gut, wenn du dich so stark an dein Kind hängst«, oder: »Hör doch mal auf, immer zu betonen, dass du Führungsverantwortung für 20 Leute hast«, oder: »Du könntest bestimmt auch selbst mal was auf die Beine stellen; du hast es gar nicht nötig, immer nur für andere zu schuften«, dann wird die eigene Position bis auf die Knochen verteidigt. Jeder Ratschlag von außen wird als Angriff verstanden und hat als Reaktion nicht ein Nachdenken, sondern das Ausfahren der Geschütze zur Folge. »Du hast ja keine Ahnung« heißt es dann, und es wird noch mehr geklammert und geblendet als zuvor. So verstärkt sich die Abhängigkeit nur noch.

Es ist schon paradox: Abhängige Menschen besitzen keinerlei innere Reflexionsmöglichkeit – und das bei maximaler äußerer Spiegelung.

Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht so einfach, die folgende Frage für sich beantworten zu können: »Wer bist du wirklich?«

Kapitel 2

Das Dagobert-Syndrom

Es könnte so leicht sein: Jede Woche einen Tipp abgeben, und nach rechnerisch 2,7 Millionen Jahren hat man endlich die sechs Richtigen plus Zusatzzahl. Dann gehen alle Träume in Erfüllung. Endlich raus aus dem Reihenhäuschen und eine Finca an der Costa Brava gekauft. In der Vierer-Garage steht neben dem Porsche Cabrio ein Ferrari. Und im Keller stapeln sich die Champagnerflaschen. Endlich ist man ganz vorne mit dabei. Endlich geht das Leben richtig los!

40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland setzen mindestens einmal im Jahr Geld auf Lottozahlen. Die Hälfte von ihnen, also rund 20 Millionen Deutsche, tippen mindestens einmal im Monat – mit durchschnittlich 30 Euro Einsatz. Allein diese regelmäßigen Tipper füttern die gigantische Geldumverteilungsmaschine mit 600 Millionen Euro pro Jahr. Diese braucht eine Menge Schmieröl, rund 50 Prozent der Einsätze werden als Gewinne wieder ausgeschüttet. 10 Prozent gehen in die Verwaltung, den Rest holen sich die Bundesländer. Eigentlich könnte ein Lottospieler gleich 15 Euro seines monatlichen 30-Euro-Einsatzes dem erstbesten Passanten, der ihm entgegenkommt, in die Hand drücken und die anderen 15 Euro dem örtlichen Sportverein zukommen lassen. Das wäre wahrscheinlich sinnvoller.

Sechs Richtige und ein falsches Leben