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Jeder geht wohl mit der Trauer um einen geliebten Menschen anders um. Jeder muss wohl auch seinen ureigenen Weg dafür finden. Der Erzähler versucht es mit einer Reise. Eine Reise in das Land Israel, wo seine Liebe begann. Mit den Eindrücken der unterschiedlichsten Landschaften, in der Begegnung mit Israelis und Palästinensern, im Erspüren heiliger Orte und unheiliger Konflikte, mit Hilfe eines neuen Buches und mit einer neuen Liebe, gelingt es ihm seine Trauer zu bewältigen und eine neue Lebensqualität für sich zu entdecken.
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Auf meinem Bett
in den Nächten suchte ich sie,
die ich liebe wie mein Leben.
Ich suchte sie
doch ich fand sie nicht.
Ich will aufstehen,
will herumgehen in der Stadt,
in Straßen,
auf Plätzen
suchen will ich sie,
die ich wie mein Leben liebe.
(nach dem Lied der Lieder (Hld 3,1-2))
Kapitel 1 - Der Flug
Kapitel 2 - Im Negev
Kapitel 3 - Masada
Kapitel 4 - Qumran
Kapitel 5 - Akko
Kapitel 6 - Nazareth
Kapitel 7 - Karphanaum
Kapitel 8 - An den Jordanquellen
Kapitel 9 - Caesarea maritima
Kapitel 10 - Jerusalem
Kapitel 11 - Stadt Davids und Yad Vaschem
Kapitel 12 - Tempelberg und Bet Guvrin
Kapitel 13 - Betlehem und Daouds Weinberg
Kapitel 14 - Rückkehr
Ich hatte den Gurt festgeschnallt. und lehnte mich zurück. Dabei versuchte ich mich so schmal wie nur möglich zu machen. Natürlich hatte ich wieder einmal die Arschkarte gezogen bei diesem Flug LH 1487 nach Tel Aviv.
Der mittlere Sitz in der mittleren Reihe.
Der ältere Mann links neben mir kämpfte immer noch damit, den Gurtteil zu finden, auf dem er saß. Ich hätte ihm helfen können. Aber meine Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe hatte ich wohl bei der Passkontrolle abgegeben.
Rechts neben mir saß eine Frau, die schon bald sämtliche Informationsbroschüren aus der Vortasche vor sich genommen hatte und hektisch durchsah. Wobei ihr linker Ellenbogen immer bedrohlich nah in meine Rippengegend zielte.
Nein, wirklich kein angenehmes Gefühl hier so eingepfercht zu sitzen. Und das noch mindestens drei Stunden und zwanzig Minuten. Wenn ich schon daran dachte, musste ich ein panisches Gefühl von Platzangst mit Gewalt überwinden. Am besten war es, nicht darüber nachzugrübeln und sich so bequem wie möglich einzurichten. Also rückte ich mich möglichst so zurecht im Sitz, dass mir das lange Sitzen nicht irgendwelche Beschwerden verursachen könnte.
Leider war das gar nicht so einfach.
Und dann tauchte in meinem Innern irgendwie wieder die Frage auf, die ich mir heute Morgen im Taxi zum Flughafen schon gestellt hatte:
„Was machst du hier eigentlich?“
Ich war mir gar nicht sicher, ob die Idee dieser Reise nur eine Folge der Überzeugungskraft meiner Psychotherapeutin war oder ob ich mich hatte fallen lassen wollen in einen Teil meiner Vergangenheit, um dort die wieder zu finden, die dieses immens große schwarze Loch in mir hinterlassen hatte.
Wie hatte die Psychotherapeutin gesagt:
„Sie müssen die Trauer an sich ranlassen, sie ausleben!“
und
„Gehen Sie doch noch einmal zurück an die Anfänge und versuchen Sie dort ihre wahre Haut wieder zu finden!“
Meine wahre Haut!
Meine wahre Haut war vor acht Monaten bei der Geburt unserer Tochter gestorben.
Katharina war tot!
Meine Tochter ebenfalls.
Was sollte ich also mit einer wahren Haut?
Und, bitte schön, was sollte das überhaupt sein?
Das Gefühl der Kälte, das dieser Tod hinterlassen hatte, war kein Problem meiner Haut. Es kam von innen. Immer wieder. Selbst eine heiße Dusche oder ein heißes Wannenbad konnten diese Kälte nicht ganz vertreiben. Dieser Verlust hatte mich bis ins Mark getroffen und total verrückte Dinge tun lassen.
Und warum sollte ich an den Ort zurück, wo meine Liebe zu Katharina ihren Ursprung genommen hatte? Warum zurück an den Punkt, an dem ich so seltsame Visionen und Begegnungen hatte?
Angeblich war ich sogar Gott begegnet! Derselbe Gott, der sich seit damals nicht mehr hatte sehen lassen.
Und schlimmer noch.
Er hatte zugelassen, dass das, was die letzten zehn Jahre mein Lebensinhalt gewesen war, einfach starb.
Katharina!
Und unser Kind hatte sogar niemals eine Chance bekommen.
Ich merkte, dass ich das Stimmengewirr und das Rauschen der Klimaanlage um mich herum nicht mehr hörte. Ich war wieder bei diesem Arzt in seinem Zimmer, erinnerte mich deutlich an seinem Leberfleck direkt neben der Nase, an seine Grabesstimme mit der er mir erklärte, was zum Tode meiner Familie geführt hatte. Und das da nichts mehr zu retten gewesen wäre.
Und ich hörte ihm einfach nicht mehr zu.
Ich konnte mich nicht auf ihn konzentrieren, weil mich ein tiefer, nie empfundener Schmerz lähmte.
Katharina war tot!
Meine Tochter tot!
Tot!
Das war das Einzige, was sich in mir ständig wiederholte. Man könnte sagen, ich war starr vor Entsetzen. Und diese Starrheit blieb.
Mir war auch jetzt, hier im Flieger, wieder so nach einem vielleicht befreienden Weinen zu Mute, aber es kamen keine Tränen.
Bei der Beerdigungsfeier nicht.
Bei den Beileidskundgebungen am Grab nicht.
Bei den vielen kleinen Verrichtungen in meiner Wohnung nicht.
Auch nicht nach einer Woche, in der ich mich hatte beurlauben lassen, um mich eigentlich meiner Trauer hinzugeben. Es gab so viel zu regeln, aufzuräumen, auszuräumen, neu zu organisieren.
Und die ganze Zeit lebte ich in dieser Starrheit, ließ nichts an mich ran.
Im Nachhinein gesehen, muss ich meinen Freunden und Bekannten dankbar sein, die mich nicht bemitleideten, sondern mir durch ihre praktische Hilfe einen Halt boten. Sie luden mich zu sich ein, gingen mit mir aus essen und sie redeten ganz normal mit mir. Sie kamen, um zu helfen. Sie kamen, um meinen Verlust mit mir zu teilen. Vielleicht wollten sie auch mit mir trauern. Aber dazu war ich, glaub ich, gar nicht fähig und bereit.
Beim Aussortieren all der Sachen und Dinge, die Katharina gehörten, musste ich entscheiden, was damit geschehen sollte. Auch dabei halfen mir meine, nein, eigentlich unsere Freunde.
Und dann entdeckte ich in unserem Bücherschrank noch neun Exemplare meines Romans.
Meine Starrheit löste sich und wich einer nicht gekannten Wut und Enttäuschung.
Nach den Erlebnissen einer Israelreise vor zehn Jahren zusammen mit Katharina war dieser Roman entstanden. Einer besonderen Reise, von der ich bis heute nicht weiß, ob ich nicht vieles, was ich damals erlebt habe, einfach nur geträumt hatte. Wie viel gemeinsame Erinnerungen von Katharina und mir steckten aber darin?
Dieser Roman war ein „Deal“ mit JHWH gewesen, um meinen Teil daran zu leisten, der Welt vor Augen zu führen, dass es immer noch Propheten gibt, Propheten wie einen Amos.
Das Ergebnis meines Romans war mehr als niederschmetternd. Total enttäuschend. Kein Verlag interessierte sich dafür. Und als ich das Manuskript schließlich als Book on Demand veröffentlichte, wollte es niemand kaufen.
Zuerst hatte ich mich noch mächtig ins Zeug gelegt, hatte für meinen Roman geworben, Lesungen veranstaltet und in Tageszeitungen dafür werben lassen. Alles, um Amos und seinen Anspruch einem breiten Publikum bekannt werden zu lassen. Katharina hatte mich dabei voll unterstützt, aber mich zuletzt auch nur noch trösten können, weil mein Buch so wenige Interesse fand.
Und JHWH?
Der Initiator des Ganzen hatte sich stillschweigend in seine Himmel verzogen.
Nach und nach waren die Erinnerungen an die Israelreise von vor zehn Jahren, die sich in meinem Roman niedergeschlagen hatten, verblasst. Und das war auch gut so. Sie reduzierten sich auf das Wissen, dass Katharina und ich uns auf dieser Reise kennen, ja und auch lieben gelernt hatten. Alles andere drum herum, war nur noch ein ferner Traum, eine Illusion, und nicht mehr wichtig.
Ich hatte die neun restlichen Romanexemplare aus dem Schrank genommen. Ein Exemplar hatte ich aufgeschlagen, rein aus Nostalgie. Und ich erwischte gerade die Stelle, an der ich mir – damals in der Zeit des Amos also zirka 900 v.Chr. – als Zeichen der Trauer um den Tod von Abjatar, dem Vater von Amos, mit Wasser vermischte Asche über den Kopf geschüttet und mir mit einem Messer, auf Oberarme und Brust, Schnitte beigebracht hatte.
Ich las die Stelle zweimal. Auch dass ich damals von diesem „Gottesmann“ dafür gerügt worden war, solche heidnischen Bräuche als Zeichen der Trauer zu vollziehen.
Dass ich gerade diese Stelle meines Buches zu genau diesem Zeitpunkt aufgeschlagen hatte, betrachtete ich als ein Zeichen.
Im Übrigen, glaube ich, konnte ich überhaupt nicht mehr rational denken, weil ich sogleich mit den neun Exemplaren meines Romans auf den Balkon hinaustrat und sie begann in dem Grill, der dort stand, zu verbrennen.
Es war ein anderes Ich, das die Asche mit Wasser vermischte und über das Haar auf dem Kopf, über Gesicht, Brust und Arme verteilte. Und dann brachte ich mir mit einer Rasierklinge auf Brust und Arme auch diese kleine Schnittwunden bei, wie damals in meinem Roman. Blut vermischte sich mit Wasser und Asche. Und ich saß da und spürte wie nur meine Wut nachließ, merkte wie mir plötzlich die Tränen rannen. Und ich endlich weinte.
Eine Nachbarin fand mich so.
Ihr war der starke Rauch aufgefallen, der bis in ihre Wohnung zog. Sie hatte geklingelt und geklopft. Dann hatte sie aus Sorge oder Neugier den Ersatzschlüssel für unsere Wohnung geholt, den Katharina bei ihr für Notfälle deponiert hatte. Sie war total erschrocken wie sie mich vorfand und hatte auf mich eingeredet, mir Fragen gestellt; doch ich hatte nicht reagiert.
Schließlich rief sie den Notarzt, erklärte ihm, dass ich erst kürzlich meine Familie verloren hatte und wohl verwirrt wäre und ganz schön durcheinander. Der Arzt stellte keine bedrohlichen Dinge an mir fest, klebte mir ein paar Pflaster auf die Brust und riet mir nur eindringlich, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Soweit zu meinem ersten Ausraster.
Eine Stewardess hatte sich mittlerweile um das Gurtproblem meines linken Nachbarn gekümmert. Jetzt versuchte er den Gurt etwas lockerer zu machen, wobei der ihm immer wieder aufging.
Die Turbinen erhöhten ihre Lautstärke und mit einem leisen Ruckeln begann sich die Maschine zu bewegen. Erst rückwärts und dann langsam vorwärts. Ich konnte querab zu meiner Rechten durch ein Fenster einen Blick nach draußen erhaschen und sehen, wie die Gebäude des Flughafens dort sich bewegten. Und während der Airbus gemächlich über das Rollfeld in die Startposition rollte, wusste ich immer noch nicht, ob ich mich auf diese Reise nach Israel freuen sollte oder nicht.
Wie hatte meine Psychotherapeutin gemeint:
„Ich glaube, Sie müssen noch einmal dahin. Sie müssen sich von Ihren Träumen von damals verabschieden, und zwar an Ort und Stelle. Lernen Sie vor Ort die Realität des Israels von heute kennen, so wie es wirklich ist. Und lernen Sie dadurch in ihre eigene Realität zurückzufinden.“
Dann sollte ich ihr Orte nennen, an die ich mich besonders stark erinnerte. Und ich überlegte und schwieg. Alle Orte meiner damaligen Reise standen nur in Verbindung mit dem Propheten Amos. Und natürlich mit Katharina.
Das Wadi Tekoa etwa, oder die Annenkirche in Jerusalem. Arad und die Überreste des dortigen Allerheiligsten in den freigelegten Ruinen des Tempelbezirks.
Und noch einmal meine Psychotherapeutin:
„Denken Sie daran, dass Sie jetzt dorthin fahren, um in Ihre Normalität zurückzufinden. Versuchen Sie zu verstehen, wie geht es dem Land, den Menschen, heute und jetzt!“
Sie hatte gut reden, meine Psychotante, wie ich sie insgeheim nannte, obwohl ich mächtig Respekt vor ihr hatte.
„Überlegen Sie mal, was würde das heutige Israel für Sie interessant machen?“
Was zog mich also nach Israel?
Die Negevwüste?
Die Wüste, die Leere überhaupt?
Masada oder En Gedi?
Vielleicht Jesu Spuren in Galiläa?
Tabgha oder Karfarnaum am See Genesaret?
Gott in Jerusalem?
Ich wusste es nicht. Vielleicht von allem etwas. Und doch war dieser Drang in mir gewesen, nach Israel zu fahren. So, als würde mich da etwas besonderes erwarten.
Mit lauter werdenden Turbinen raste das Flugzeug jetzt über die Startbahn.
Ich legte mich zurück und schloss die Augen.
Und dann merkte ich es.
Das Donnern der Räder auf dem Asphalt ließ schlagartig nach und mit angehaltenem Atem verfolgte ich den Übergang ins Schweben. Als dann das Fahrwerk mit einem surrenden Geräusch eingefahren wurde, holte ich ganz tief Luft. Dieser Übergang beim Durchstarten eines Flugzeugs war schon immer für mich ein besonderer Kick gewesen. Ein Moment, der mich ängstigte, aber genauso stark faszinierte.
Die Frau zu meiner Rechten hatte jetzt einen Reiseführer in der Hand. Kurze, bunte Reiter markierten Stellen über Orte, die sie wohl mit ihrer Reisegruppe besuchen würde. Sie unterhielt sich über den Gang hinweg in schwäbischer Mundart mit anderen Frauen aus ihrer Gruppe über die Sehenswürdigkeiten, die sie bald erkunden wollten.
Kurze Zeit später begrüßte uns der Pilot und die beiden Bildschirme ein paar Reihen vor mir erwachten zum Leben. Auf ihnen erschien eine Landkarte und ich konnte Österreich erkennen und die Slowakei, die nördliche Adria bis hin zu einem Teil von Griechenland. Ein kleines Flugzeug ruckelte los und drehte seine Nase in Richtung Süden.
Dann verschwand die Landkarte und es erschienen Zahlen über Geschwindigkeit, Außentemperatur und Flughöhe. Die erschreckendste Zahl war die Flugdauer. Noch über 3 Stunden bis zur Landung. Ich hatte das Gefühl, ich war jetzt schon müde gesessen.
Mir fiel mein zweiter Ausraster ein. Nur ein paar Tage nach meiner Buchverbrennungsaktion auf dem Balkon war das passiert.
Auch da war ich müde vom Sitzen. Die Besprechung im Büro dauerte und dauerte. Alles Wichtige war schon mehrmals durchgesprochen worden und ich konnte, wie gesagt, kaum noch ruhig sitzen.
Nach der Auszeit von einer Woche, die der Beerdigung von Katharina folgte, hatte ich mich wieder in meine Arbeit gestürzt. Sie lenkte mich ab. Meistens war ich der Erste morgens im Büro und der Letzte, der abends ging. Vor dem Alleinsein zuhause, wo mich so vieles noch an Katharina erinnerte, hatte ich Angst. Da tat es gut, mich den ganzen Tag im Büro mit Vergaben von Aufträgen und kniffligen Verträgen zu befassen.
Dann dachte ich zumindest an nichts anderes.
Meine Kolleginnen und Kollegen waren durch die Bank sehr einfühlsam mit mir umgegangen. Trotzdem war der lockere Umgangston nicht mehr da. Ich vermied es meistens auch, mich an privaten Gesprächen zu beteiligen.
Als nun diese Besprechung sich immer weiter in die Länge zog und kein Ende in Sicht schien, wies ich ziemlich übellaunig, wie ich gestehen muss, die anderen daraufhin, dass es schon spät sei und eigentlich ja auch alles gesagt wäre. Als ein Kollege mir darauf zur Antwort gab, warum ich so ungeduldig sei, es warte doch zuhause niemand mehr auf mich, stürzte ich mich voller Wut auf ihn.
Ich hätte ihn wahrscheinlich geschlagen, wenn ich nicht von der Kollegin neben mir festgehalten worden wäre.
Sie beruhigte mich auch.
Unser Chef saß nur fassungslos dabei. Dann hob er die Besprechung auf und bat alle zu gehen. Nur ich sollte noch bleiben.
In seiner ziemlich umständlichen und weitschweifigen Art eröffnete er mir dann, dass das so nicht ginge und ich unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollte.
Natürlich hätte er Verständnis für meine Situation, aber…..
Und so machte ich dann einen Termin mit einer Psychotherapeutin und hatte das unverschämte Glück gleich jemand zu finden, der eine nicht zu lange Warteliste hatte.
Mit einem Gong erlosch das Zeichen „fasten seat belt“.
Mein Nachbar zur Linken öffnete augenblicklich seinen Gurt, stand auf und holte sich aus der Klappe über unseren Köpfen eine Zeitschrift.
Im Mittelteil des Flugzeugs begann das Bordpersonal mit der Vorbereitung Getränke und Bordverpflegung zu verteilen. Hier und da erhoben sich die ersten Passagiere, um die Toiletten zu belagern.
Ich tastete zwischen meinen Füßen nach meinem Rucksack.
In einem Kiosk im Flughafengebäude hatte ich in den zahlreichen Bücherständern gestöbert. Zwischen Krimis, Science Fiktion und Thrillern aller Art war mir ein Buch in einem goldglänzenden Einband aufgefallen. Ein Taschenbuch. Der Einband war über und über mit hebräischen Buchstaben bedruckt und auf der Vorderseite war ein aufgeschlagenes Buch abgebildet.
Der Titel hieß: „Bibel mit Hintergrund“.
Katharina hatte es immer schon geliebt, mir zu Texten aus der Bibel ganz spannende Hintergrundgeschichten zu erzählen. Vielleicht war es die Erinnerung daran, die mich dazu bewog, gerade dieses Buch zu kaufen.
Zumindest konnte ich die restlichen knapp drei Stunden Flugzeit mit dieser Lektüre verkürzen.
Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen:
Nach einer Einleitung, die sich vielversprechend las, blätterte ich um zum ersten Kapitel und da Stand:
„Amos - der Prophet, der sich traut!“
Peng!
Ich klappte das Buch heftig zu.
Dann lehnte ich den Kopf nach hinten an die Kopfstütze und starrte auf das kleine Flugzeug auf dem Bildschirm, dass in Richtung Süden zuckte.
Amos!
Das durfte nicht wahr sein.
Nicht schon wieder.
Mir schien es so als sollte mich dieser Prophet wohl mein Leben lang verfolgen. Fehlte jetzt nur noch, das auch JHWH sich so mir nichts, dir nichts wieder einmal bei mir meldete.
Meine Nachbarin fragte mich besorgt, ob es mir gut ginge?
Ich nickte nur.
Amos!
Bilder stiegen in mir hoch, die ich längst abgehackt hatte. Bilder, die ich in eine vergangene Fantasiewelt abgeschoben hatte.
Amos.
Damals, als ich mit Katharina in Israel war, hatte er die Reise beherrscht.
Und natürlich Gott, mit seiner unmöglichen Forderung, dass ich – ausgerechnet ich – in die Fußstapfen eines zweieinhalbtausend Jahre alten Propheten treten sollte.
Ich hatte meinen Part dazu erfüllt, hatte das Buch geschrieben.
Warum hielt Gott sich jetzt nicht an diesen „Deal“?
Sechs Wochen nach der Beerdigung hatte ich erst den Mut gehabt auf den Friedhof zu gehen. Ein paar Meter neben dem Grab Katharinas stand eine Bank. Ich hatte mich dort hingesetzt und versucht ihr meine Gefühle, meine Stimmung, meine Sehnsucht mitzuteilen. Aber da war eine Blockade in mir gewesen. So hatte ich nur stumm da gesessen.
Aber am gleichen Abend war ich auf den Balkon getreten, einfach um zu sehen, wie das Wetter war. Als ich in den Sternenhimmel hinauf schaute, konnte ich mir Katharina plötzlich da oben vorstellen.
Da, irgendeiner der leuchtenden, funkelnden Punkte, das war sie.
Und ich konnte mit ihr reden.
Dann versuchte ich mir auszumalen, wie viele Lichtjahre ihr Licht brauchen würde, um mich zu erreichen, wie groß das Universum war, wie viele Sonnensysteme es wohl geben würde und wie unendlich das alles war.
Und außerdem wuchs das Ganze immer noch weiter und weiter in Gigantische, ins Unvorstellbare.
Und dann fragte ich mich: „Worin?“
In was für ein endloses Etwas wuchs dieses Universum hinein. War dieser riesige, nicht an das Ende reichende Raum in dem das Universum wuchs und wuchs und wuchs vielleicht Gott? Wenn dem so war, was kümmerte ihn dann das Staubkorn Erde?
Und erst recht so ein kleines winziges menschliches Wesen?
Nein, Amos und seine Episoden, die ich erlebt hatte, mussten Fantasien sein. Und die Gottesbegegnungen erst recht.
Das einzig Reale an dieser vergangenen Israelreise damals war Katharina gewesen. Und auch die war jetzt nur noch ein Traum.
Als die Stewardess mich fragte, was ich gerne trinken wollte, bestellte ich mir einen Rotwein. Dann beschloss ich hier und jetzt, mich von Amos nicht mehr in irgendeiner Weise irritieren zu lassen und im Buch weiter zu lesen. Vielleicht war das mit Amos ja doch ein dummer Zufall. Schließlich hatte sich der Anfang im Buch auch vielversprechend angefühlt.
Ich war so in meiner Lektüre versunken gewesen, dass ich erst durch ein leichtes Anstoßen meines Nachbarn darauf aufmerksam wurde, es gab Bordverpflegung.
Ich wählte Lammfleisch mit Reis.
Mit dem Aufklappen des kleinen Tisches vor mir, begann die eine qualvolle Enge. Das Auspacken der Einzelteile – Besteck, Salat, Dressing, Hauptmenü etc.- ging ja noch. Aber dann hatte ich kaum Platz die Gabel zum Mund zu führen. Jeder Bissen wurde zu einem Balanceakt.
Und dabei hatte ich richtig Hunger.
Vorsichtig aß ich Gabel für Gabel des sehr schmackhaften Gerichtes. Einerseits wollte ich meine beiden Nachbarn nicht behindern, andererseits versuchte ich möglichst wenig mein Hemd zu treffen. Beim Essen zu lesen, was ich zuhause eigentlich immer gerne tat, war hier ganz und gar unmöglich.
Im Geiste hakte ich dafür einen Pluspunkt meiner Katharina an, die schon immer dagegen war, beim Essen zu lesen. Sie sagte immer, entweder das eine oder das andere. Und wenn ich dann resignierend das Buch zur Seite legte, lächelte sie mich an und meinte, das wäre für meinen Magen bestimmt eine gute Entscheidung, wenn ich ihn beim Essen ernst nehmen würde. In Gedanken daran, musste ich jetzt auch lächeln und fühlte mich ihr nicht nur wegen der Flughöhe in diesem Moment ziemlich nahe.
Der Kaffee, der mir dann serviert wurde, hatte den Geschmack von verbranntem Wasser.
Wenigstens war das Lammfleisch gut gewesen.
Als ich mit der üppigen Mahlzeit fertig war, war ich aufgrund der Beengtheit zum einen nass geschwitzt, anderseits aber auch stolz, das Essen-Intermezzo ohne irgendwelche Kleckserei beendet zu haben.
Und als mich eine Stewardess endlich von dem Tablett befreit hatte, konnte ich mich wieder in die spannende Lektüre der Bibelkritik stürzen.
Ich war jetzt tatsächlich sogar neugierig, was der Autor zum Thema „Amos“ bringen würde.
Nach einiger Zeit merkte ich, dass ich völlig steif gesessen war und legte erst einmal das Buch vor mir auf den ausgeklappten Tisch, um mich im Rahmen meiner beengten Möglichkeiten noch einmal anders zurecht zu rücken.
Erinnerungsfetzen tauchten auf.
Seit einem Jahrzehnt waren sie nicht mehr so stark wie gerade jetzt.
Ich sah vor meinem geistigen Auge König Jerobeam auf seinem Thronsessel im Tor von Samaria. Ich sah seine Höflinge, seine Leibwache, die versuchten den Störenfried da oben auf der Stadtmauer auszumachen.
Und ich sah wieder Amos vor mir, wie erschöpft er war, als wir ihn zu den Zelten vor der Stadt zurückbrachten.
So viele Erinnerungen; oder so viele Träume, Illusionen.
Auf dem Bildschirm schräg oben vor mir ruckelte das kleine Flugzeug immer weiter in Richtung Süden. Dann erschienen wieder Zahlen. Noch fast eine ¾ Stunde bis zur Landung. Langsam entwickelte sich in mir so etwas wie Vorfreude.
Einige Orte würde ich wiedersehen, andere Orte neu entdecken müssen.
Ganz schwach tauchte in meiner Erinnerung ein Hotelzimmer auf. Ich konnte mir wieder die Einrichtung vorstellen und das Bett, in dem Katharina und ich uns zum ersten Mal geliebt hatten. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass diese Israelreise eine Suche werden würde. Eine Suche vielleicht nach meinem eigenen Ich. Nach meinem restlichen oder eigentlichen Ich.
„Nach meiner wahren Haut!“, wie meine Psychotherapeutin es ausgedrückt hatte.
Ich begann zu begreifen, dass es wichtig war, mich auf Land und Leute, profane und heilige Orte einzulassen. Und keinesfalls mich in Erinnerungen zu vergraben. Erst recht nicht auf irgendetwas Göttliches zu hoffen oder zu warten.
Ich nahm meine Kopfhörer aus der Brusttasche und klinkte sie in mein Smartphone ein. Zuhause hatte ich mir Musik darauf gespielt, die mich zeitlose entführen sollte. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich diese Musik unbedingt brauchte.
Als die ersten Töne erklangen und meine ganze Umwelt rechts und links ausschlossen, spürte ich auch wieder mehr das Schweben des Flugzeuges unter mir und die leichten Turbulenzen, die es erschütterten.
Ich öffnete erneut das Buch, um vor der Landung den Rest des Kapitels noch zu lesen.
Puh, und dann war das Kapitel dieses Buches zu Ende.
Ich stellte die Musik ab und als ich die Kopfhörer abnahm, bekam ich erst mit, dass das Zeichen zum Anschnallen wieder aufgeleuchtet war. Gleichzeitig schien die Maschine abzusacken und tiefer zu gehen. Auf dem Bildschirm wurden die letzten zehn Minuten Flugzeit angezeigt. Und die Angabe der verbleibenden Höhe signalisierte den stetigen Sinkflug Richtung Flughafen Tel Aviv.
Mit leichtem Bedauern packte ich mein Buch wieder in den Rucksack.
Es war für mich höchst interessant gewesen in die verschiedenen Richtungen der Bibelkritik einzutauchen. Dann auch noch an einem Beispiel aus dem Buch des Propheten Amos. Dies war für mich irgendwie ein positives Signal.
Mein inneres Barometer schien langsam in Richtung „schön“ auszuschlagen.
Das nächste Kapitel in dem Buch war mit dem Titel: „Das Paradies, ein Mythos?“ überschrieben. Gerne hätte ich jetzt weitergelesen, aber vor mir lag noch eine Hürde, die da hieß: Geldautomat.
Bei der Vorbereitung zu dieser Reise hatte es geheißen, dass es am günstigsten sei, in Tel Aviv – was übrigens „Hügel des Frühlings“ übersetzt bedeutet – am Flughafen, an einem Geldautomaten sich mit den nötigen Bargeldreserven für die erste Woche auszustatten.
Das war also nach Passkontrolle und Gepäck abholen die nächste wichtige Etappe.
Plötzlich fiel mir auf, wie schnell die Zeit von 3 ¾ Stunden vergangen war.
Sozusagen im Fluge – um ein Wortspiel zu gebrauchen.
Und dann ging alles auch ziemlich schnell.
Als die Maschine aufsetzte und ausrollte, begannen die Leute zu applaudieren.
Das habe ich nie verstanden, warum?
Vielleicht aus Erleichterung darüber, dass der Pilot sie heil auf den Erdboden zurückgebracht hatte?
Als ich endlich aus dem Sitz mich hochgehievt hatte, fühlte ich mich stocksteif. Alle Muskeln schienen auf Dauerschlaf umgeschaltet und die ersten Schritte waren elastisch wie bei einem Elefanten.
Ich folgte dem Strom der Passagiere und versuchte den ein oder anderen aus meiner Reisegruppe im Auge zu behalten. Kaum am Gepäckband konnte ich schon meinen Koffer ausmachen.
Und wieder reihte ich mich in den Strom derer ein, die zur Passkontrolle eilten. Dort hieß er dann erst einmal wieder Schlange stehen. Zwölf Schalter gab es, sechs waren geöffnet, davon vier für einreisende Israelis und nur zwei für die Riesenmenge an Touristen, die zu diesem Zeitpunkt gelandet waren.
Endlich war auch ich an der Reihe.
Nachdem ich den Pass abgegeben hatte und mit einem eindringlichen Blick gemustert worden war, passierte erst einmal nichts. Nach unendlich langer Zeit wurde mir dann ein Stempel in den Pass gedrückt, ich bekam ihn zurück, nicht ohne vorher noch einmal gemustert worden zu sein und durfte in die riesige Ankunftshalle entschwinden.
Meine Reisegruppe, jedenfalls die, die es bis hierher schon geschafft hatten, entdeckte ich in unmittelbarer Nähe der Geldautomaten.
Ich ließ meinen Koffer in der Obhut der Reisegruppe und reihte mich in die nächste Schlange vor einem dieser Automaten ein. Dabei hatte ich doch tatsächlich einmal die Schlange erwischt, die zügig vorrückte.
Und als ich dann ziemlich nervös davor stand, teilte mir dieser dumme Automat mit, dass meine Bankkarte international nicht zugelassen wäre.
Verdammte hacke, dachte ich nur. Schönen Dank, liebe Bank!
Gottseidank hatte ich mir gestern noch die PIN-Nummer meiner Kreditkarte rausgesucht und gemerkt.
Zweiter Versuch mit der Kreditkarte.
Treffer!
Nach Eingabe der PIN-Nummer und Bestätigung hatte ich meinen gewünschten Schekelbetrag in der Hand. Der Stein, der mir vom Herzen fiel, glich schon einem mittelschweren Felsbrocken.
Ich dachte an Katharina.
Sie hatte mir immer gesagt, man sollte für alles einen Plan B sich überlegen. Das war mir gestern wieder eingefallen, nach dem ich alles Wichtige für die Reise noch einmal durchgecheckt hatte. Erst da war mir eingefallen, mich um meine PIN-Nummer auch für die Kreditkarte zu kümmern. Es könnte ja sein! Und es war so passiert, wie befürchtet.
Die Erleichterung war jetzt total. Nicht auszudenken, wenn ich hier erst einmal ohne Bares gestanden hätte.
Ich löste bei der Reisegruppe meinen Koffer aus und teilte der Reiseleitung mit, dass ich jetzt schon einmal ganz schnell in Richtung Busparkplatz wäre.
Und dann stand ich draußen, zündete nach mehr als sechs Stunden meine erste Zigarette an, inhalierte tief und spürte auf einmal: ich war in Israel!
Bei vier Grad und grauem, trüben Februarwetter zuhause gestartet, war es hier sonnig, wesentlich wärmer und auch eine ganz andere Luft. Ja, ganz anders als bei einem niederrheinischen Wintertag hatte ich hier direkt das Gefühl von Frühling. Die Palmen am Rande des Parkplatzes taten ihr Übriges dazu.
Im Bus erwischte ich die letzte Bank ganz hinten und ganz für mich allein.
Und dann ging es los.
Nachdem wir Tel Aviv mit seinen Wolkenkratzern verlassen hatten, stellte sich unsere israelische Reiseleiterin vor.
Selina Yousuf!
Eine Israelin arabischer Abstammung.
Ich war verblüfft, denn das hatte ich bisher nicht gewusst, dass es arabische Israelis gab. Sie wirkte sehr intellektuell, aber sehr kompetent, als sie uns begann in das Land, in dem wir und befanden, einzustimmen.
Wir fuhren immer weiter in Richtung Süden und die Landschaft sah immer grüner, saftig und wellig aus. Sie erinnerte mich an manchen Stellen in die Eifel. Und nur die immer wieder auftauchenden Palmen signalisierten, dass ich woanders war.
Die ganze Fahrt sollte zirka eineinhalb Stunden dauern.
Langsam wurde dann die Gegend karger und kurz hinter Beer-Sheba waren wir im wahrsten Sinne des Wortes in der Wüste, allerdings in einer Steinwüste.
Hier und da zeigten grüne Stellen im beigebraunen Umfeld, dass hier auch der Frühling Einzug hielt.
Auf der Schnellstraße wurden wir immer wieder von Ampelanlagen zum Halten gezwungen. An jeder dieser Ampeln standen Gruppen von zumeist jungen Leuten mit Transparenten.
Selina Yousuf erklärte uns, dass dies ein Teil des Protestes wäre, den die arabische Bevölkerung um Beer-Sheba herum, veranstaltete. Die Blechbaracken, die wie Slums rechts der Straße immer wieder auftauchten, sollten eigentlich abgerissen werden, denn sie wären illegal. Man wollte die Nomaden, die hier mit ihren Herden seit Urzeiten herumzogen, von Regierungsseite aus sesshaft machen. Aber das funktionierte nicht. Ein Teil zöge immer noch frei herum, ein anderer Teil habe sich in diesen Blechsiedlungen niedergelassen. Da solche Siedlungen aber illegal seien, hätten sie keine Strom- oder Wasserversorgung und auch keine Anbindung an das Schulsystem. Für bessere Lebensbedingungen wäre jetzt zum Protest aufgerufen worden. Und es wäre schon erstaunlich genug, dass der Staat Israel diesen Protest seiner arabischen Bürger zu lasse und nicht einfach