Und dann kamst du - Becky Wade - E-Book

Und dann kamst du E-Book

Becky Wade

5,0

Beschreibung

Nora Bradford hat ein Faible für die 1950er-Jahre - und sie betreibt Ahnenforschung. Als bei dem erfolgreichen John Lawson eine erblich bedingte Krankheit diagnostiziert wird, muss er sich gezwungenermaßen mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen - und dadurch auch mit der Tatsache, dass er als Kind zur Adoption freigegeben wurde. Gemeinsam mit Nora begibt er sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern. Je mehr Zeit die beiden zusammen verbringen, desto klarer wird ihnen, dass sie eigentlich perfekt zusammenpassen. Doch es gibt gleich mehrere Haken an der Sache ... Der Roman wurde 2018 mit dem "Christy Award" für das "Buch des Jahres" ausgezeichnet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 570

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (2 Bewertungen)
2
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin

Becky Wade steht für unterhaltsame zeitgenössische Romane und einen humorvollen und mitreißenden Schreibstil, der ihr bereits mehrere Auszeichnungen eingebracht hat. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Dallas, Texas.

Für Chris.Für dich, meinen Ehemann und besten Freund,der mich jeden Tag zum Lachen bringt.Ich liebe dich.

Kapitel 1

Sich plötzlich auf Gnade und Barmherzigkeit einem irren Amokschützen ausgeliefert zu sehen, ist ganz und gar nicht lustig.

Ganz und gar nicht, dachte Nora Bradford. Wirklich überhaupt nicht. Nicht einmal dann, wenn der besagte Amokschütze ein Schauspieler war, der mit einer Gewehrattrappe herumfuchtelte, und man selbst sich freiwillig und aus noblen Gründen bereit erklärt hatte, die Rolle der Geisel zu spielen.

Wenn man ihrer Schwester Britt glauben wollte, dann inszenierte Lawson Training Incorporated Notfallsituationen wie die, in der sie gerade mitten drinsteckte, als Höhepunkt jedes Kurses, den das Unternehmen anbot. Heute waren die Teilnehmer Sozialarbeiter der Gemeinde Centralia. Direkt hinter der Wand des Raumes, in den Nora und Britt eingeschlossen worden waren, suchten die Sozialarbeiter nach einer strategisch geschickten Reaktion auf einen Pseudofeind, der versuchte, dieses Pseudobürogebäude in seine Gewalt zu bringen.

Angesichts des gegenwärtigen Zustands der Welt glaubte Nora ganz sicher daran, dass es seinen Wert hatte, auf Notfälle vorbereitet zu sein und zu wissen, wie man sich im Fall der Fälle verhalten sollte. Tatsächlich hatte Nora nur deshalb zugestimmt, ihre Schwester heute zu begleiten, weil Britt ihr diesen Ausflug als Möglichkeit dargestellt hatte, proaktiv etwas für den Frieden in der Welt zu tun. Und Nora wollte Frieden in der Welt! Nur dass jetzt mit jeder Minute, die verstrich, ihre Gewissheit wuchs, dass sie für die Rolle der Geisel ganz und gar ungeeignet war. Ihre jahrzehntelange Liebe zum Lesen hatte in ihr eine sehr lebhafte Vorstellungskraft ausgeprägt.

In ihren Ohren klangen die aufgeregten Kommandos des Gangsters erschreckend echt.

Seit der „Angriff“ begonnen hatte, war ihre Anspannung beständig gestiegen. Jetzt saß sie ihr im Nacken, und die Nervosität verursachte in ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie hätte sich besser als Freiwillige für die Suppenküche in ihrer Gemeinde melden sollen, um etwas für den Weltfrieden zu tun. Das wäre definitiv eher etwas für ihre Nerven.

Zornige Stimmen drangen durch die Wand, gefolgt von ein paar Angstschreien.

Nora schluckte. Angstschreie? Sie konnte nur hoffen, dass die Freiwilligen, die die Büroangestellten spielten, sich einige künstlerische Freiheiten erlaubten.

Britt schien den ganzen unheilschwangeren Aufruhr überhaupt nicht wahrzunehmen. Natürlich. Sie war vier Jahre jünger als Nora, das Nesthäkchen der Familie, und die Unerschrockenste von allen.

Britt schob ihre Fingerspitzen unter den Rand des einzigen Fensters im Raum und probierte, es aufzuziehen. „Ich glaube, wir sollten versuchen zu fliehen.“ Sie warf Nora ein Lächeln von der Art zu, wie sie es ihr auch immer geschenkt hatte, wenn sie irgendwelche nicht ganz koscheren kindlichen Abenteuer vorgeschlagen hatte. Ihre Augenbrauen zuckten vergnügt in die Höhe.

„Nein“, antwortete Nora entschlossen. „Der Gentleman, der uns diesen Raum hier zugewiesen hat, sagte eindeutig, wir sollen nichts anderes tun, als hier zu warten.“ Sie sagte es in einer Art, als wäre sie die Ruhe in Person. „Wenn wir entdeckt werden, sollen wir auf die Situation, die sich dann ergibt, so reagieren wie im echten Leben.“

„Genau das tue ich gerade! Nämlich, das Ganze als Herausforderung zu betrachten. Weißt du – wie in diesen Escape-Spielen, die gerade so in sind.“

„Das hier ist kein Spiel. Wir sind hier, um den Kursteilnehmern Anschauungsunterricht zu geben. Es geht hier doch nicht um uns.“

Britt zog noch ein paarmal kräftig am Fensterrahmen, bevor sie zurücktrat und die Hände in die Hüften stemmte. Langsam drehte sie sich um und ließ den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Der enthielt nichts außer einem Schreibtisch und dem Stuhl, den Nora belegte.

Britts Aufmerksamkeit blieb an dem Entlüftungsgitter hängen, das ein Stück unterhalb der Decke in der Wand installiert war.

Nora verengte die Augen zu Schlitzen. „Du glaubst doch wohl nicht, dass wir durch einen Luftschacht hier rauskommen?! Das machen vielleicht die Schurken in Filmen, aber im wirklichen Leben sind diese Schächte viel zu eng. Oder etwa nicht? Und vor allem: Die Anweisung lautet, hier zu warten! Und wir werden nicht versuchen, als die mutigsten Pseudogeiseln in die Geschichte einzugehen.“

„Ich überzeug mich lieber selbst.“ Britt kam mit scheuchenden Handbewegungen auf Nora zu.

„Schhhh, weg!“

„Britt …“

„Weg da!“

Nora gab den Stuhl frei.

Britt zog ihn unter den Luftschacht, kletterte auf den Stuhl und spähte in den Schacht.

Nora wollte sich gerade auf dem Teppich niederlassen, als von der anderen Seite der Wand ein lautes Krachen zu hören war, als ob ein großes Möbelstück umgefallen wäre.

Konnte es vielleicht sein, dass diese Übungsveranstaltung von einem echten Angreifer übernommen worden war?

Nein. Aber trotzdem fühlte Nora sich genau so, wie sie sich immer im Flugzeug fühlte, wenn es über die Startbahn rollte und dann abhob. Ihr Verstand wusste, sie war sicher. Aber ihre Emotionen sprachen dagegen, sie flüsterten ihr zu, dass Flugzeuge auch abstürzen können.

Wie gern wäre sie jetzt in der Suppenküche.

„Ist der Schacht denn groß genug, um durchzukriechen?“, fragte Nora.

„Nein.“

„Tja, wir könnten ja den Schreibtisch zerhauen und mit den Tischbeinen ein Loch in die Wand schlagen.“

Britt sprang vom Stuhl auf und nickte geschäftsmäßig. „Okay, ich bin dabei.“

„Das war ein Scherz!“

„Könnte aber funktionieren.“

„Nie im Leben. Außerdem können wir nicht das Eigentum von Lawson Training demolieren.“ Nora runzelte die Stirn und zupfte das braune Tuch zurecht, das sie als Dekoration um ihre Rosie-the-Riveter-Frisur gebunden hatte. „Hör auf, diesen Schreibtisch mit deinen Augen zu verschlingen, Britt.“

Ihre Schwester kehrte ans Fenster zurück. Ihre Gesichtszüge wiesen eine entfernte Ähnlichkeit mit der jungen Sophia Loren auf. Am Morgen hatte Britt ihr langes kastanienbraunes Haar in einen losen einseitigen Zopf geschlungen, der ihr absolut stand. Sie trug schmale Jeans unter einem weiten silberfarbenen Top. Flach ausgebreitet würde Britts Top aussehen wie ein Rechteck mit Ärmeln. Aber an ihrer fünfundzwanzigjährigen Schwester sah es bequem und trendy aus. Britt machte sich nicht allzu viel aus ihrem Outfit, aber das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Alle Klamotten bestanden darauf, ihr zu schmeicheln.

An diesem ersten Tag im Mai hatte der Wetterbericht für den pazifischen Nordwesten Temperaturen von höchstens 17 Grad vorhergesagt. Daher trug Nora ihren Lieblingsstrickpulli. Der war drei Jahre alt, und ausgebreitet sah auch er aus wie ein Rechteck mit Ärmeln. Unglücklicherweise änderte sich das nicht, wenn er Noras Körper umhüllte.

Gott musste sie als einen sehr leidensbereiten Menschen diagnostiziert haben, denn er hatte ihr zwei attraktive Schwestern geschenkt. Eine ältere und eine jüngere. Nora selbst fühlte sich manchmal, als wäre sie dazu verdonnert, eine alte Jungfer zu werden.

Sie sah auf die Uhr. Fünf vor zwölf. „Wir sind hier jetzt schon fast eine Dreiviertelstunde drin. Was meinst du, wie lange das noch dauert? Ich vermisse mein Telefon.“

„Du brauchst mal einen Handy-Entzug.“ Wieder ein Rütteln am Fenster.

Hätte Nora ihr Smartphone bei sich gehabt, hätte sie sich abgelenkt und ihre Mails und Chats nach einer Nachricht von Duncan durchsucht. Sie hier in diesem Raum ohne ihr Telefon einzuschließen, war ungefähr so, als stieße man Linus ohne seine Schmusedecke hinaus in die böse Welt.

Ein weiterer dumpfer Aufschlag ließ die Luft erzittern. Zwei Männerstimmen stießen gedämpfte Drohungen aus.

Nora schloss die Augen. Um sich abzulenken, ließ sie im Geist eine Liste all der Dinge abspulen, die sie sich für Samstag vorgenommen hatte. Sie wollte den sechsten Band der Silverstone-Chroniken lesen. Flyer für den Sommerantikmarkt in Merryweather entwerfen. Apfel-Zimt-Seife nach einem handschriftlichen Rezept ihrer Urgroßmutter von 1888 herstellen. Und wenn dann noch Zeit war, hatte sie gehofft, noch das tun zu können, was sie am Wochenende immer mit noch nicht verplanter Zeit tat: ein paar Episoden von Northamptonshire ansehen.

Es hatte sie und Britt dreißig Minuten gekostet, um hierher in das Städtchen Shore Pine zu fahren. Wenn sie auf der Rückfahrt noch bei Mr Hartnett vorbeischauen würden, damit Nora das jüngste einer langen Reihe von kleinen Bestechungsgeschenken abliefern konnte, und dann schließlich endlich in Merryweather ankommen würden, wäre ganz sicher nicht mehr genug Zeit, um heute noch ein bisschen ihre geliebte Serie zu genießen.

Ein Geruch wie von brennenden Chemikalien, in die man Zucker gemischt hatte, drang an Noras Nase. Ein Seitenblick zur Tür zeigte ihr, dass Rauch in den Raum eindrang. Rauch! „Ähem!“ Sie wies mit der Hand in die Richtung.

„Wow!“, sagte Britt. „Cooler Effekt.“

Nora atmete sehr bewusst ein, um sich zu vergewissern, dass der Rauch nicht roch wie ein echtes Feuer. Aber das war nicht der Fall.

Stimmen im Befehlston und Geräusche von einem Tumult, einem Handgemenge, näherten sich ihrem Aufenthaltsort. Noras Herzschlag beschleunigte sich wie die Nadel einer Nähmaschine, die immer schneller wird …

„Oh Mann“, sagte Britt. „Die Sache gefällt mir.“

Von oben kam ein Knirschen. Die in der Decke angebrachte Sprinkleranlage senkte sich. „Nein!“, entfuhr es Nora.

Im nächsten Moment schwappte ihr kaltes Wasser ins Gesicht. Kreischend rollte sie sich zusammen, zog den Kopf zwischen die aufgestellten Knie und schlang die Arme um die Beine. Hinter ihr zischte Britt empört.

„Vielen Dank auch, dass du mich eingeladen hast, bei dieser vergnüglichen Unternehmung dabei zu sein“, rief Nora ihrer Schwester zu, aber die Worte blieben an ihren Uralt-Clogs hängen. „Wenn ich mich das nächste Mal übermäßig zufrieden und trocken und warm fühle, kann ich ja vielleicht wieder vorbeikommen.“

Mit einem Knall öffnete sich die Tür. Nora schielte hinüber. Ein Mann stand in der Türöffnung. Ein großer Mann. Mit kantigem Kinn. Sein ernster Blick erfasste den kleinen Raum in einer Millisekunde. Er schien die fallenden Wassertropfen nicht zu bemerken, die in sein nasses strubbeliges Haar fielen und dann an seinem stoppeligen Kinn herunterliefen. Er strahlte absolute und umfassende Kompetenz aus.

Die Wirkung seiner Gegenwart traf Nora wie ein Sturm mit 150 Stundenkilometern. Aber sie konnte nicht anders reagieren, als hocken zu bleiben und zu blinzeln.

Irgendwo im Gebäude begann eine Alarmsirene zu heulen.

Ein viel kleinerer und weitaus menschlicher aussehender Typ in einem nassen Anzug schlüpfte in den Raum. Der Kleine winkte Britt zu sich. „Folgen Sie mir, bitte. Ich bringe Sie raus.“ Weg war er, und Britt folgte ihm beschwingt und war ebenfalls verschwunden.

Ein leises Missfallen kräuselte die Lippen des großen Mannes, der nun seine ganze Aufmerksamkeit auf Nora richtete. Der Kleine, vermutete Nora, war wohl einer der Übungsteilnehmer. Der hier musste der Trainingsleiter sein, der jetzt sicher verärgert war, weil sein Schüler die zusammengekauerte Gestalt am Boden nicht bemerkt und nur die eine Geisel in seine Obhut genommen hatte, die direkt vor ihm gestanden hatte und unmöglich zu übersehen gewesen war.

Jetzt trat er ein wenig zur Seite, sodass sie genug Platz hatte, den Raum zu verlassen. „Hier entlang.“

Nora verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, in längst vergangene Zeiten und an Orte zu reisen, die nur in der Fantasie existierten. Aufgrund dieser Tatsache und auch der Nervosität, die sie tatsächlich empfunden hatte, war es nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieser fantastische Kerl tatsächlich ihr Retter war.

Sein Haar war kräftig und gut geschnitten. An der Stirn stand es leicht hoch. Seine Augenfarbe konnte sie nicht erkennen. Haselnussbraun? Feine Falten zogen sich quer über seine Stirn. Wie alt mochte er sein? Dreißig? Fünfunddreißig? Sein Gesicht ließ keine Spur von Sanftheit erkennen. Es wirkte wie die Miene eines Menschen, den Erfahrung und Kondition gestählt hatten. Und dasselbe galt auch für seinen hochgewachsenen, kräftigen Körper.

Er trug einen schwarzen Pulli, eine braune Cargohose und abgetragene Lederarbeitsschuhe. „Ma’am?“ Er betrachtete sie mit professioneller Höflichkeit, durch die allerdings etwas Ungeduld hindurchschimmerte.

Nora, die ihn immer noch anstarrte, wischte sich mit den Fingerspitzen das Wasser aus den Augen, in der Hoffnung, ihn besser sehen zu können. Um ehrlich zu sein, er schien ein bisschen zu perfekt, um wahr zu sein.

Andererseits war sie neunundzwanzig Jahre alt und Single, und sie hatte sehr bewusst – inzwischen ganze drei Jahre lang – ihr Leben mit anderen Dingen ausgefüllt als mit romantischen Abenteuern. Was ihre Kontakte anbetraf, so waren es überwiegend Einwohner von Merryweather, die sie bereits ihr ganzes Leben lang kannte, ihre Familie oder ältere Menschen. In ihrem normalen Leben traf sie nie Männer wie diesen oder bekam wenigstens mal einen zu Gesicht …

Er kam auf sie zu.

Vielleicht zögerte sie zu lange. Vermutlich hielt er sie für stumm oder für so störrisch, dass sie die Rolle der aufsässigen Geisel absichtlich spielte.

Nora begann, sich aufzurichten, aber bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, hatte er sie schon auf seine Arme gehoben. Ihr Mund öffnete sich und automatisch legte sie ihren Arm um seine breite Schulter.

Er durchquerte das Zimmer und auch den raucherfüllten Raum dahinter. Immer noch tropfte Wasser von der Decke.

Er trug sie in seinen Armen! Trotz des zusätzlichen Gewichts, das sie darstellte, war sein Gang leicht und fließend. Junge Frauen in Not zu retten, war vielleicht etwas ganz Alltägliches für ihn. „A…“, begann sie, bemerkte aber dann, dass sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich sagen wollte. Und das passierte ihr, die sonst nie um Worte verlegen war.

Ein wunderbar männlicher Duft entströmte seiner Haut. Er hatte einen Arm um ihren Rücken gelegt und den anderen unter ihren angewinkelten Knien. Ihre Seite wurde somit gegen seinen Rumpf gedrückt, der so wenig nachgab wie der Stamm einer Fichte.

Das hier war … unglaublich vertraulich. Und alles, was sie bisher hervorgebracht hatte, war ein „a…“. Sie musste etwas sagen.

Nora räusperte sich. „Sorry wegen meiner langsamen Reaktion gerade. Ich war ganz überwältigt von …“, Ihnen, „… der unerwarteten Dusche.“

Er konzentrierte sich weiterhin ganz auf den Weg vor ihnen. Sein Gesichtsausdruck war undurchschaubar.

„Wissen Sie, es ist das erste Mal für mich, dass ich eine Geisel spiele. Als Geisel bin ich Anfängerin.“ Allmählich begann sie, vor Kälte und Nässe ein wenig zu zittern.

Keine Reaktion.

„Wahrscheinlich hätte ich den Raum auch auf meinen eigenen Beinen verlassen können. Irgendwann.“

Sie erreichten eine Treppe, die nach unten führte. Puh! Stufen. „Wenn Sie mich jetzt …“

Er trug sie hinunter.

Ein schmales Foyer zog an ihr vorüber, dann verließen sie das Gebäude durch Glastüren, die sich von selbst öffneten. Hinter einer Absperrung warteten alle anderen, die ebenfalls an der Übung teilgenommen hatten.

Ein kurzer Applaus ertönte, als man die beiden sah. Noras Blick fand Britt sofort. Ihre Schwester hatte die Augen aufgerissen. Vor Überraschung. Oder vielleicht auch Belustigung.

Ihr Retter stellte sie auf die Füße und sah sie dann direkt an. „Es tut mir leid wegen der Sprinkleranlage. Normalerweise springt sie nicht an, wenn wir Rauch einsetzen.“

„Kein Problem. Ich vermute, der Einsatz von Rauch ist eine komplizierte Sache.“ Was redete sie da? Das war nicht witzig. Es klang einfach nur albern.

„Sind Sie okay?“

„Ja.“

„Vielen Dank, dass Sie heute mitgemacht haben.“ Er nickte kurz und wollte davongehen …

„Ich bin Nora. Bradford.“

Er hielt inne und sah sie wieder an. „John Lawson.“

Spontan streckte sie ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie kräftig.

„Ich wohne in Merryweather“, schob sie rasch nach, nicht bereit, ihn so bald gehen zu lassen. „Ich betreibe das historische Dorf im Stadtzentrum.“

Sein Kinn senkte sich zwei Zentimeter.

„Ich bin Leiterin der Bibliothek im Naturschutzmuseum.“ Scham trieb ihr die Hitze in die Wangen. Warum spulte sie hier ihren Lebenslauf ab, als wolle sie einen möglichen Arbeitgeber beeindrucken?

Keine Antwort. Er bot ihr nicht gerade viel an Reaktionen in diesem Gespräch, mit denen sie arbeiten konnte.

„Ich bin Genealogin und Historikerin. Na ja, egal.“ Sie richtete sich auf und lächelte strahlend. „Wenn ich irgendwie behilflich sein kann bei …“ Sie wies vage auf das Gebäude. Die entfernte Sirene verstummte endlich. „… dem, was Sie hier tun, lassen Sie es mich wissen.“ Weil Ahnenforscher so wahnsinnig gut dabei behilflich sein konnten, Krisensituationen zu inszenieren.

Seine Augenbrauen zogen sich eine kleine Spur zusammen. „Sagten Sie, Sie sind Genealogin?“

„Ja.“ Ihr Puls und ihre Hoffnung flackerten auf.

„Kann sein, dass ich Sie mal wegen etwas anrufe.“

„Würde mich freuen.“

Dann war er fort und schritt zielstrebig auf eine Gruppe von Leuten zu, von denen sie annahm, dass es seine Kollegen waren. Sie hatte ihre Visitenkarten nicht dabei. Zusammen mit ihrem Handy lagen sie in der Tasche, die man sie bei ihrer Ankunft abzugeben gebeten hatte. Aber wenn John tatsächlich beschließen würde, sie wegen diesem mysteriösen „etwas“ anzurufen, würde es nicht schwer sein, die Telefonnummer ausfindig zu machen. Eine Internetsuche „Bibliothek am Naturschutzmuseum“ wäre sofort erfolgreich.

Ein Mann mittleren Alters mit dem steifen Gehabe eines Armeeangehörigen stieg auf ein Podest, um den Freiwilligen für ihren Einsatz zu danken. Er wies auf ein paar Tische und lud sie ein, sich an den Sandwiches, Chips, Wasserflaschen und Obstkörben zu bedienen, die dort warteten.

Alle stürmten in Richtung des Imbisses davon. Nora drängte sich zu Britt durch.

„Was um alles in der Welt ist da gerade passiert?“, fragte Britt.

„Na ja, als John auftauchte …“

„John? Du nennst ihn beim Vornamen?“

„Er trug mich in seinen Armen. So nah bin ich schon jahrelang keinem Mann mehr gekommen. Daher hielt ich es für klug, dass wir uns unsere Namen nennen.“

„Warum hat er dich getragen?“

„Ich glaube, ich habe ihn ein paar Sekunden zu lange angestarrt, als er auftauchte, um uns zu retten.“

„Was soll das heißen: ,angestarrt‘?“

„Das soll heißen, dass ich ihn buchstäblich angestarrt habe. Ich war einen Moment wie erstarrt. Ich glaube, er ist ungeduldig geworden. Also hat er mich geschnappt und rausgetragen.“

Britt gab ein ungläubiges Lachen von sich.

Nora hob die Hände. „Findest du nicht, dass er einer der bemerkenswertesten Männer ist, die du je gesehen hast?“

„Er ist in der Tat bemerkenswert.“

„Und er gehört mir, denn er hat mich rausgetragen, und du hast bereits einen Freund.“

„Ich hab mit Carson Schluss gemacht.“

„Was? Wann ist das denn passiert?“

„Ist schon ein paar Tage her“, sagte Britt abschätzig. „Er fing an, mich zu nerven.“

„Du warst doch so glücklich.“

„Nun, das Glück hatte eben ein Ende. Er war anstrengender, als die Sache es wert war.“

Britts Liebeleien starteten immer wie Raketen, die von Verheißung und Energie und der Hoffnung auf ein Happy End angetrieben wurden. Dann, nach ein paar Monaten, strandeten sie wie ein leeres Elektroauto meilenweit entfernt von der nächsten Ladestation.

Die beiden Schwestern holten ihre Taschen. Keine Facebook-Nachrichten, Tweets, E-Mails oder SMS, außer einem Newsletter vom Smoothieshop in Merryweather mit einem Sonderangebot fürs Wochenende.

Sie stellten sich ans Ende der Schlange vor dem Imbiss. Während sie sich langsam vorarbeiteten, versuchte Nora, in der Menge einen Blick auf John zu erhaschen. Kein Glück. „Also. Wegen John …“

„Du denkst immer noch an John?“

„Willst du mich veräppeln? Ich werde für die nächsten Monate an nichts anderes mehr denken als an John.“

„Wenn du so auf ihn abfährst, solltest du ihn besser um ein Date bitten, bevor wir fahren.“

Nora entschied sich für ein Schinkensandwich und eine Tüte Chips. „Du glaubst nicht wirklich, dass ich tough genug bin, einen Mann um ein Date zu bitten, den ich gerade erst getroffen habe, oder?“

„Wenn du ihn fragst, könnte ein Date draus werden. Wenn du nur davon träumst, wohl kaum.“

Nora prustete spöttisch.

„Sagt dir eigentlich der Name John Lawson auch irgendwas?“

„Na ja, wir sind hier bei Lawson Training Incorporated.“

„Ja, aber sonst noch?“

Britt legte den Kopf schief, um zu überlegen. Zwei Kekse und eine Flasche Wasser wanderten auf ihr Tablett. „Also … ja, da klingelt was. Sehr leise.“

„Bei mir auch.“

Sie beschlossen, ihren Imbiss in Noras Auto zu verspeisen, denn dort konnten sie sich aufwärmen und ihre feuchten, am Körper klebenden Klamotten ein wenig trocknen. Sobald sie im Wagen saßen, widmete Britt sich ihrem Menü. Nora gab bei Wikipedia John Lawson ein. Ein Bild von John in einer Navy-Uniform erschien. Auf dem Foto sah er jünger aus als heute, aber kein bisschen weniger fesselnd, ernst und unerschrocken.

John Truman Lawson

Geboren: Seattle, Washington

Treueeid: Vereinigte Staaten von Amerika

Truppenteil: US Navy

Dienstjahre: sechs

Einheit: US Navy SEALs

Auszeichnungen: Ehrenmedaille

Nora lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. Sie war gerade vor einer Pseudokatastrophe von einem echten Träger der Ehrenmedaille gerettet worden. Das erklärte, warum ihr der Name bekannt vorkam – sie hatte damals die Berichte über die Verleihung der Ehrenmedaille in den Medien verfolgt.

„Irgendwas gefunden?“, fragte Britt.

„Er war bei einer Spezialeinheit der Navy und ist Träger der Ehrenmedaille. Gute Güte. Ist das nicht die höchste Auszeichnung überhaupt?“

„Ich glaube, ja.“

Nora überflog den Rest des Eintrags. „Er war an einem Einsatz beteiligt, bei dem es um die Rettung von amerikanischen und kanadischen Geiseln ging. Er hat bei der Rettung eines Kollegen sein Leben riskiert und anschließend den Gegner aufgehalten, bis die Verstärkung eintraf. Es gibt sogar ein Buch und einen Film über ihn: Uncommon Courage.“

„Wow.“

„Dann steht hier noch, dass er in Shore Pine wohnt und Chef und Eigentümer von Lawson Training Incorporated ist.“ Allerdings enthielt dieser Eintrag nicht annähernd genügend Details, um sie zufriedenzustellen. Mit ein paar Klicks bestellte sie die Buch- und die Filmversion von Uncommon Courage.

Nora starrte durch die Windschutzscheibe auf eine Gruppe Espen. Das leuchtende Hellgrün der ersten Blätter hob sich stark von den schlanken weißen Stämmen ab. Ihre Schwester knusperte Kartoffelchips. Die Heizung im Wagen surrte. Ihr eigener Imbiss lag unangerührt da.

Es war Jahre her, dass sie sich für jemanden begeistert hatte, der nicht fiktiv war … oder Schauspieler und eine frei erfundene Rolle spielte. Sie war kompetent und gebildet und absolut abgeneigt, sich je wieder auf eine Romanze einzulassen. Aber jetzt … John hatte etwas an sich, was etwas in ihr ansprach. Es war unerklärlich. Wenn nicht schlimmer … abenteuerlich!

Und doch. Schon der Gedanke an ihn, die Erinnerung an die paar Worte, die sie gewechselt hatten, ließ es in ihr angenehm warm werden.

•••

Eintrag von John Lawson in die To-do-Liste auf seinem Handy:

Sprinkleranlage abstellen. Zulässig im Rahmen der Brandschutzordnung?Nora Bradford in Bibliothek Naturschutzmuseum kontaktieren

•••

Facebook-Nachricht von Duncan Bartholomew an Nora Bradford:

DUNCAN:Wie war dein Tag, beste Bibliothekarin von allen?

NORA: Überdurchschnittlich. Ich war die Geisel bei einer Notfallübung zu Trainingszwecken. (Eine Rolle, die ich nicht gerade genossen habe.) Aber am Ende hat mich ein Navy-SEAL gerettet. (Diesen Teil habe ich dagegen ausgesprochen genossen.)

DUNCAN: Solange du dich nicht in den Navy-SEAL verguckst. Adolphus neigt zu Eifersucht, wenn es um Miss Lucy Lawrence geht.

NORA: Adolphus hat die Existenz von Miss Lucy Lawrence bisher nicht zur Kenntnis genommen. Sehr zu meinem ewigen Missfallen.

DUNCAN: Aber wenn er Lucys Existenz zur Kenntnis nehmen wird, glaube ich schon, dass er zu Eifersucht neigen wird.

NORA: Wenn (und falls) Adolphus Lucys Existenz schließlich zur Kenntnis nehmen wird, wird sie die Seine. Für immer und ewig.

Kapitel 2

Nora reagierte auf das Klingeln des Telefons, wie sie es immer tat, mit einem fröhlichen: „Bibliothek am Naturschutzmuseum.“

„Könnte ich mit Nora Bradford sprechen?“

Das ruhige und selbstbewusste Timbre der männlichen Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte sie sofort. Fünf unerträglich lange Tage hatte sie darauf gewartet, dass John anrief, und die ganze Zeit gebetet, dass sein unverbindliches „Kann sein, dass ich Sie mal wegen etwas anrufe“ irgendwann Realität würde.

Sie hatte in ihrem Büro am Schreibtisch gesessen, die Beine bequem übereinandergeschlagen. Jetzt stemmte sie beide Füße auf den Boden und rutschte an die Stuhlkante, den Rücken kerzengerade aufgerichtet. „Sie sprechen mit Nora.“

„Nora, hier ist John Lawson.“ Er fing an, zu erklären, wo und wann sie sich begegnet waren.

Sie unterbrach ihn nicht. Sie verriet ihm nicht, dass sie eine professionelle Rechercheurin war und inzwischen jedes öffentlich verfügbare Detail über ihn durchleuchtet hatte.

Sie wusste zum Beispiel, dass er dreiunddreißig war und dass er, ebenso wie sie, Christ war. In seinem Buch hatte er wiederholt Gott für alles gedankt, was bei seinem heldenhaften Einsatz gut gegangen war. Schweig still, mein Herz, hatte sie jedes Mal gedacht, wenn sie wieder auf eine dieser bescheidenen, aber offenen Bekundungen seines Glaubens gestoßen war.

Sie hatte erfahren, dass John der älteste Sohn von Ray, Kapitän eines Bootes, das Touristen zu Angeltouren auf den Puget Sound hinausfuhr, und Linda, Leiterin einer Grundschule, war. Sie wusste, dass er und seine jüngere Schwester Heather in Upper Rainier Beach in Seattle aufgewachsen waren. Er hatte seinen Abschluss an der Northern Arizona University gemacht und war dann zur Navy gegangen. Damit hatte er einen Weg eingeschlagen, der zum berüchtigten, da knallharten Unterwassertraining BUD/S führte, dem ersten Schritt auf dem Weg, ein SEAL zu werden, ein Mann für Spezialeinsätze zu Wasser, zu Land und in der Luft. Sie hatte sein Buch gelesen und den Film gesehen, und auf der Webseite seiner Firma hatte sie jedes Wort auf jeder Seite durchforstet.

„Ach ja, stimmt“, sagte sie leichthin, als er fertig war, als hätte er gerade ihrer Erinnerung auf die Sprünge geholfen. „Schön, von Ihnen zu hören. Haben Sie heute schon jemanden aus einer Sprinklerdusche gerettet?“

Ein Moment Stille. „Fünf bisher. Es war ein etwas träger Vormittag.“

Nora lachte. „Ihre anderen Geiseln haben vermutlich Beine, die sich schneller bewegen als meine.“

„Ja“, stimmte er zu.

„Was kann ich für Sie tun, John?“ Oh wie köstlich, seinen Namen auszusprechen. Es war ein gewöhnlicher Name. Der gewöhnlichste überhaupt. Aber dafür war er zeitlos. Männlich. Stark. Irgendein Modename hätte nicht zu ihm gepasst. Das kompromisslose John war gerade richtig.

„Helfen Sie manchmal anderen, etwas über ihre Abstammung herauszufinden?“, fragte er. „Sozusagen als Teil Ihres Jobs?“

„Ja, das kommt vor. Ich bin einigermaßen bewandert darin, Dokumente online aufzuspüren, und außerdem habe ich hier im Museum eine ziemlich umfangreiche Sammlung von Büchern und Dokumenten, die meist sehr hilfreich sind, wenn jemand mehr über seine Vorfahren wissen will. Der Schwerpunkt unseres Museums ist Mason County, aber ich habe auch eine ganze Reihe Quellen aus anderen Regionen hier.“

Schweigen. Sie hatte das Gefühl, John wog ab, ob er sie um Hilfe bitten sollte oder nicht. Wie konnte sie ihn überzeugen, ihr eine Chance zu geben?

Nora biss sich auf die Lippe, um die schlagartig aufkommende Sehnsucht zu unterdrücken, und richtete ihren Blick nach draußen. Das Fenster ihres Büros im zweiten Stock bot eine Aussicht auf blühende Hickoryzweige, und jenseits der Bäume konnte man einen Blick auf das historische Dorf Merryweather werfen. In diesem Büro zu arbeiten, war, als arbeite man in einem Baumhaus.

„Sind Sie gerade dabei, Informationen über Ihre Vorfahren zu sammeln?“, fragte sie.

„Das könnte man so sagen.“

„Nun, ich würde Sie gern unterstützen. Menschen zu helfen, ihren Stammbaum zu vervollständigen, gehört zu den Dingen, die ich an meinem Job am liebsten mag.“ Vor allem, wenn einer dieser Menschen John Lawson hieß.

„Können wir uns einmal treffen?“, fragte er.

„Sicher!“ Hatte das jetzt zu begeistert geklungen?

„Wann würde es Ihnen passen?“

Ihre Gedanken überschlugen sich. Es war fast fünf, kurz vor Dienstschluss. „Morgen Nachmittag?“

„Ich könnte gegen vier Uhr da sein.“

„Hast du deine Hausaufgaben fertig?“, fragte Nora Randall am nächsten Tag. Der elfjährige Randall Cooper gehörte inzwischen ebenso zum Inventar der Bibliothek am Naturschutzmuseum wie die Ausstellungsvitrinen.

„Nein, noch nicht.“ Er unterbrach das Actionspiel auf seinem Handy und hob den Kopf. Wie gewöhnlich hatte er es sich in dem Schaukelstuhl neben dem Eckfenster des Museums bequem gemacht. Nora hatte die Stühle ursprünglich um die Kinderspielecke herumgruppiert, damit die Eltern dort sitzen konnten. Aber inzwischen besetzte Randall „seinen“ Stuhl öfter als irgendjemand sonst.

„Noch zehn Minuten von diesem nicht sehr heilsam aussehenden Spiel und dann Hausaufgaben?“, lockte Nora.

„Okay.“

„Möchtest du einen Tee? Um deinen Adrenalinspiegel etwas zu senken?“

„Nein, danke.“

Nora hatte ihr Bestes getan, um Randall die Freuden des Teetrinkens nahezubringen. Bisher waren ihre Bemühungen ungefähr so erfolgreich verlaufen wie Ahabs Suche nach dem Weißen Wal. „Heiße Schokolade?“

„Ja, gern.“ Er grinste sie an. Seine großen, gleichmäßigen und strahlenden Zähne glänzten weiß neben seiner ebenholzfarbenen Haut.

Angesichts dieses Lächelns war Nora schon immer schwach geworden. Sie verschwand in die kleine Küche des Museums, um die Schokolade zuzubereiten.

Randall war eines Vormittags vor zwei Jahren in der Bibliothek aufgetaucht, nachdem er nach Merryweather gezogen war, um dort bei seiner Großmutter zu wohnen. Weil das Museum etwa auf der Hälfte seines Schulwegs lag, war es für ihn der geeignete Rastplatz geworden.

Zuerst hatte Nora ihn höflich und kundenorientiert behandelt, wie sie es mit allen Bibliotheksbesuchern tat. Aber bald hatte sie zwei Dinge begriffen: dass Randalls Besuche zum Alltag gehören würden und dass Randalls Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Nora hatte selbst schon früh im Leben einen schweren Verlust erfahren müssen. Die wachsende Nähe zwischen ihnen und das gemeinsame Band einer traumatischen Kindheitserfahrung verbanden Nora und Randall. Und inzwischen behandelte sie ihn wie einen Neffen.

Um fair zu sein, muss man sagen, dass Randall eigentlich keine inoffizielle Tante brauchte. Er war ein intelligenter, pfiffiger und selbstständiger Junge. Aber da Nora zu Hause niemanden hatte, den sie bemuttern konnte, kam ihr Randall gerade recht. Gelassen erlaubte er ihr, ihn mit Snacks, kleinen Arbeiten im Museum, gelegentlichen Fahrdiensten zum Basketballtraining und zu den Spielen, Hausaufgabenüberwachung und warnenden Geschichten über die Mittelstufe zu versorgen.

Im Gegenzug schenkte Randall Nora ein offenes Ohr, wohlüberlegte Anregungen im Blick auf das Museum und eben dieses herzbetörende Lächeln.

Nora war sich nie sicher, wer eigentlich mehr von der Freundschaft profitierte. Wahrscheinlich war es unentschieden!

Wie es sich gehörte, garnierte Nora die Schokolade mit Minimarshmallows und servierte Randall den Becher zusammen mit zwei Shortbread-Keksen. Die Kekse kaufte sie extra für ihn …

Also gut. Sie kaufte sie auch für sich selbst. Etwas, was in einer Dose mit einem schottischen Plaidmuster daherkam, konnte nicht allzu schlecht für einen sein.

„Danke, Ms Bradford.“

„Gern geschehen, Randall. Noch fünf Minuten und dann die Hausaufgaben, okay?“

„Ja, Ma’am.“ Er senkte den Kopf auf die Weise, mit der Kinder Ja sagen und sich gleichzeitig schon wieder weitaus wichtigeren Dingen widmen. In diesem Fall dem Display seines Handys.

Sie sah auf die Uhr. John müsste in einer Viertelstunde hier sein. Je näher dieser Zeitpunkt kam, umso tiefer spürte sie ihre nervöse Aufregung.

„Nora?“ Eine der beiden alten Damen, die vor einer Karte indigener Völker des pazifischen Nordwesten standen, winkte sie zu sich heran.

„Ja, Mrs Williams?“

Die Lady wies auf ihre Begleiterin. „Dies ist eine gute Freundin von mir, Iris … ach ja, natürlich, Sie kennen Iris ja.“

„Ja, ich kenne sie.“

„Ich habe Iris gerade von meinem Vorfahren Arthur Thacker erzählt. Und natürlich ist sie total fasziniert und würde seine Aufzeichnungen gern selbst einmal sehen.“

Mrs Williams war eine regelmäßige Besucherin des Museums mit einem Hang zur Hypochondrie und einem unstillbaren Durst nach Information über ihren Vorfahren Arthur Thacker aus Mason County. Nora hatte bereits unermüdlich jede mögliche Spur von weiteren Informationen über Thacker verfolgt, aber Mrs Williams hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, doch noch weitere neue Details ausfindig zu machen.

Die arme Iris war immer wieder mit Mrs Williams hier gewesen und hatte die Aufzeichnungen bereits mindestens drei Mal gesehen. Iris war entweder die denkbar nachsichtigste Freundin, die man sich denken kann, oder sie hatte Demenz und die früheren Besuche vergessen.

„Sicher, ich gehe nur rasch und hole ein Paar Handschuhe.“ Ob man wirklich Handschuhe brauchte, wenn man antike Schriftstücke durchblätterte, darüber waren die Meinungen geteilt, aber Nora fiel lieber auf der sicheren Seite vom Pferd.

Noch zehn Minuten, bis John kam.

Das Obergeschoss des Gebäudes beherbergte Noras Büro und einen großen zentralen Raum, der Platz bot für einen Sitzbereich und für Nikkis Schreibtisch. An drei Tagen in der Woche arbeitete Nikki im Museum. Sie kümmerte sich um die Hausverwaltung, Gebührenerfassung, die Webseite, Veranstaltungsplanung und das Marketing. An Samstagen und Sonntagen führte sie interessierte Besucher durch das historische Dorf.

Nikki saß stirnrunzelnd vor ihrem Computer. „Ich brauche einen Mann.“

„Gute Männer sind schwer zu finden“, antwortete Nora und nahm zwei Paar weiße Handschuhe aus einer Schublade.

„Ich habe auch nichts von einem guten Mann gesagt.“ Nikki sah auf und brach in ihr typisches kehliges Lachen aus. Sie war achtundfünfzig, ihr Modegeschmack glich einem Ausschnitt aus Highlights der 80er, sie trug starkes Make-up, und ihr Körper ähnelte einer Sanduhr. Vor allem ihre Oberweite war monumental. Von fast ebenso epischer Größe war der bauschige Dutt, den sie hinter ihre Ponyfransen und vor die Haarspange steckte, die ihr langes braun gefärbtes Haar an den Seiten zurückhielt.

Nikki hatte zwei Ehemänner geliebt und begraben. Vor, zwischen und nach diesen beiden hatte sie sich noch in etliche andere verliebt.

„Könntest du vielleicht für fünf Minuten nach unten kommen?“, fragte Nora. „Mrs Williams ist da, und es wäre sehr nett, wenn du dich weiter um sie kümmern würdest. Ich habe gleich einen Termin, mit dem ich verabredet bin.“

„Ist dieser verabredete Termin vielleicht männlich?“

„Ich verweigere die Aussage.“ Nora kehrte nach unten zurück.

Die beiden alten Damen machten sich daran, die Handschuhe anzuziehen.

Vorsichtig nahm Nora Thackers Tagebuch aus dem dazugehörenden Karton.

„Nora, ich glaube, ich habe die Schwindsucht“, sagte Mrs Williams traurig. „Ich habe einen schrecklichen Husten, nachts habe ich Schweißausbrüche und hohes Fieber. Ich rechne damit, dass ich jeden Moment Blut spucke.“

„Ich glaube, heutzutage nennen wir es Tuberkulose, und gerade habe ich noch gedacht, wie gut Sie aussehen …“

John. In nur sieben Minuten würde John Truman Lawson leibhaftig vor ihr stehen.

Der historische Wegweiser vor Nora Bradfords Bibliothek im Naturschutzmuseum informierte John darüber, dass das Gebäude im Jahr 1892 als erste Apotheke der Stadt gebaut worden war. 1938 hatte die Gemeinde es erworben und in eine Bibliothek umgewandelt. Diese bestand bis in die Siebzigerjahre, als man die Bücher an einen anderen Standort am Stadtrand umsiedelte.

John öffnete die Eingangstür. Dunkel gefleckte Fichtenholzdielen boten den zahlreichen Vitrinen und Bücherregalen festen Boden. Zahlreiche Kunstwerke schmückten die Wände. In der Ecke stand ein Kindertisch mit Papier und Kästen mit Buntstiften und Malkreiden.

Er sah Nora hinten im Raum im Gespräch mit zwei weißhaarigen Ladys. Sie hob grüßend die Hand.

Er bedeutete ihr mit einer Geste, sich Zeit zu nehmen. Er kam immer fünf Minuten zu früh.

Inzwischen betrachtete er eine Waffensammlung aus der Zeit der ersten Siedlerpioniere. Je länger er davorstand, umso bedrückender lastete die intensive Stille im Raum auf ihm. Ein wenig vor ihm stand ein Paar mittleren Alters, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und studierte die Information zu einem der Gemälde. In einem der Schaukelstühle saß ein Junge, den Kopf über sein Handy gebeugt.

Er konnte jedes Wort von Noras Gespräch verstehen – eine der Damen beschrieb gerade ihre nächtlichen Schweißausbrüche in allen Details –, obwohl sie ein paar Meter entfernt standen.

Es würde ihm schwer genug fallen, mit Nora, die ihm ja völlig fremd war, über die Dinge zu sprechen, wegen denen er hergekommen war. Und auf keinen Fall würde er es hier tun, wo es all diese Zuhörer gab.

Eine auffallende Brünette gesellte sich zu Nora und den Ladys, dann kam Nora mit einem Lächeln auf ihn zu.

Ihr Haar war das Erste, was er bemerkte. Es war rot. Kein bräunliches Rot, sondern ein leuchtendes Kupferrot. Eine ungewöhnliche Farbe. Sie hatte die gleiche Frisur wie an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, die ihn an Pin-up-Girls aus den Vierzigern denken ließ. Warum trug sie ihr Haar so? Als modisches Statement? In diesem Fall verstand er es nicht. Diese ganze Retro-Welle hatte er schon immer höchst seltsam gefunden.

„Sie sind pünktlich“, sagte sie.

„Ja, bin ich.“

„Sollen wir uns setzen?“ Sie wies auf die Schaukelstühle. „Ich schicke diesen Goldjungen nach oben. Unter uns gesagt, er sollte eigentlich längst an seinen Hausaufgaben sitzen.“

Die Brünette betrachtete ihn mit offensichtlicher Neugier.

„Ach, es gibt doch dieses kleine Café hier nebenan.“ Die Tische draußen vor dem Café würden ihnen mehr Privatsphäre ermöglichen. „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“

Ihre Augen vergrößerten sich ein wenig. „Gern.“ Sie drehte sich um. „Nikki?“

„Ja“, antwortete die Brünette. Bildete er sich das ein oder hatte sie ihm gerade zugezwinkert?

„Ich geh kurz mal weg. Bin bald wieder da.“

„Aber klar. Ich halte hier die Stellung.“

Ein langer Rasenstreifen erstreckte sich unterhalb der Treppe, die ins Freie führte. Altmodische Gebäude aller Form und Größe waren um den Rasen herumgruppiert, alle mit dem Eingang zur Mitte.

Sie gingen den Kiesweg entlang, der den Rasen umgab, und John warf Nora einen Seitenblick zu. Mit dem Scheitel reichte sie ihm gerade bis zum Kinn. Wenn er sie neulich nicht getragen hätte, hätte er sie für schwerer gehalten, als sie war. Das lag daran, wie sie sich anzog. Der Pulli, den sie am Samstag angehabt hatte, und der blaue, den sie heute trug, waren beide riesig. Ihr Haar, ihr Pulli, der lange Rock und die flachen Schuhe ließen sie exakt aussehen wie das, was sie war: eine Bibliothekarin.

„Waren Sie schon einmal hier im historischen Dorf?“, fragte sie.

„Nein. Ich bin zum ersten Mal hier.“ Er wohnte jetzt seit fünf Jahren in Shore Pine und kam nur gelegentlich nach Merryweather. Beide Städte hatten etwa sechstausend Einwohner, beide waren beliebte Ausflugsziele für Wochenend- und Sommerurlauber, beide hatten einen historischen Ortskern, der in den letzten Jahren restauriert worden war, und beide lagen am Wasser. Merryweather lag an der „großen Südkurve“ des Hoodkanals. Shore Pine, westlich davon, war am Ufer des gleichnamigen Lake Shore Pine erbaut worden.

John wusste, dass Merryweather nach Meriwether Lewis benannt war, einem der beiden Köpfe der großen Überlandexpedition zur Westküste im Jahr 1804. Und er wusste, dass die Stadt von Holzfällern erbaut worden war und von der Holzindustrie lebte. Das historische Dorf hatte er noch nicht besucht; er verbrachte seine Zeit lieber auf seinem Boot, mit Fitnesstraining oder damit, sich Sportübertragungen anzuschauen. Idyllische Museumsdörfer mochten Mädchen begeistern, sein Ding waren sie ganz sicher nicht. Ein paar der Häuser hier waren so winzig, dass man meinen konnte, Schneewittchen und die Zwerge hätten darin wohnen können.

„Als das große Einkaufszentrum in Shelton eröffnet wurde“, sagte Nora, „wurde dieser Teil von Merryweather sehr bald zu einer Art Geisterstadt. Mein Vater kaufte die Lagerhäuser, die auf dem Gelände hier standen, und ließ sie abreißen. Er liebt Geschichte ebenso wie ich, und wir hatten die Idee, in diesem Areal historische Gebäude wiederaufzubauen. Was wir, wie Sie sehen, auch getan haben.“ Sie stotterte nicht herum oder verlor sich in Ähms oder unvollendeten Halbsätzen. Sie sprach zusammenhängend und intelligent.

„Wie lange ist es her, dass Ihr Vater dieses Land kaufte?“

„Das war vor acht Jahren.“

„Ich war mal als Kind mit meiner Familie in einem historischen Dorf. Wir haben uns Häuser angesehen, die innen so eingerichtet waren wie zu der Zeit, als sie erbaut wurden.“

„Ja, so sind die meisten Museumsdörfer konzipiert.“

Aber nicht dieses hier. Die Gebäude wurden alle genutzt. Er sah einen Modeladen, eine Kunstgalerie, eine Töpferei, ein Blumengeschäft. Und überall Passanten, die in den Läden stöberten und Fotos machten. Auf dem Rasen saßen ein paar Mütter und sahen ihren Kindern beim Spielen zu.

„Wir möchten gern, dass sehr viel mehr Menschen hierherkommen“, erklärte Nora. „Und ich persönlich möchte die Geschichte lebendig erhalten, indem man die historischen Gebäude und Gebrauchsgegenstände nicht nur ausstellt, sondern nutzt. Deshalb haben wir beschlossen, die Häuser als Ladengeschäfte zu vermieten.“

„Das klingt, als ob Sie und Ihr Vater ein gutes Team sind.“

„Ja, das waren wir – ich meine, das sind wir. Mein Vater ist heute im Wesentlichen mein Berater. Er hat mir das historische Dorf überlassen, als Geschenk zu meinem Collegeabschluss.“

Er blickte sie über die Schulter an und hob eine Augenbraue.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich weiß. Ein sehr großzügiges Geschenk.“

„Ich habe eine Krawatte und einen silbernen Füllfederhalter gekriegt.“

Sie lachte. „Mein Vater hat jeder von uns, meinen beiden Schwestern und mir, zum Studienabschluss etwas geschenkt, was uns helfen sollte, in dem Beruf, den wir gewählt hatten, sattelfest zu werden. Und seit diesem Zeitpunkt tragen wir selbst die Verantwortung für das, was wir bekommen haben.“

Sie erreichten ein Schieferhaus mit Holzveranda, das das Café beherbergte. Innen roch es nach Butterkaramell. Und jetzt, wo sie drinnen standen, sah er auch, dass es mehr eine Konditorei war als ein schlichter Coffeeshop. Die Bedienung hinter dem Tresen begrüßte Nora wie eine alte Freundin.

„Was hätten Sie gern?“, fragte er.

Sie bestellte Tee.

„Und was noch?“, hakte er nach und zückte das Portemonnaie. „Ein Stück Torte?“

„Nein, danke. Nur Tee.“

Er bestellte Kaffee, und sie gingen mit ihren Getränken nach draußen. Der Kaffee war in einem Einmalbecher serviert worden, ihr Tee in einer verspielten Porzellantasse mit Unterteller. Er führte sie zu einem Holztisch, der am weitesten vom Haus entfernt war.

„Wie viele Häuser gab es hier, als Ihr Vater Ihnen das Gelände überließ?“, fragte er, während sie sich setzten.

„Drei. Die Bibliothek ist noch am ursprünglichen Standort. Und die beiden anderen Gebäude, die wir bis dahin hier wiederaufgebaut hatten, sind Montgomery House und Hudson House.“ Sie wies auf die entsprechenden Häuser. „Ich habe sofort begonnen, nach Mietern für die Gebäude zu suchen. Als ich sie gefunden hatte, habe ich die Bibliothek restauriert, damit sie als Museum dienen kann.“

„Und wie viele Häuser haben Sie jetzt hier?“

„Zwölf.“ Sie trank einen Schluck Tee.

So von Unternehmer zu Unternehmerin war er beeindruckt. „Wie haben Sie denn dieses Wachstum finanziert?“

„Durch die Mieteinnahmen von den Häusern, die bereits existierten. Immer, wenn ich genug Geld zusammenhatte, habe ich ein weiteres Gebäude erworben und es hierher umgesiedelt. Und irgendwann hat es eingeschlagen. Es kamen mehr Touristen, so wie ich gehofft hatte, und schließlich kam wieder Leben in das ganze Stadtviertel. Kleine Pensionen und Restaurants eröffneten. Unternehmen zogen in die Bürogebäude in der Nähe des historischen Dorfs. Für ältere Gebäude fanden sich Investoren, die sie zu Appartements umbauten. Und jetzt sind wir ein sehr lebendiges Viertel.“

„Ist die Stadt Merryweather juristisch für das historische Dorf zuständig?“

Sie schüttelte den Kopf. „Dad und ich müssen für alles, was wir hier vorhaben, die Zustimmung der Stadt einholen. Aber ansonsten ist das Dorf Privatbesitz.“

„Dann sind Sie hier Ihr eigener Boss?“

„Ja.“ Sie warf ihm über den Rand ihrer Teetasse einen Blick zu. Bevor sie den nächsten Schluck Tee nahm und wieder wegsah, hatte er etwas wie Stolz und Zufriedenheit aufblitzen sehen.

Am Tag der Übung war sein erster Eindruck von Nora Bradford gewesen, dass sie bemitleidenswert war mit ihrem tropfnassen Haar und ihrer Unfähigkeit, einfach aufzustehen und das Gebäude zu verlassen. Sein zweiter Eindruck war: Sie war unscheinbar. Und der dritte, dass sie sich zwar seltsam anzog, aber vermutlich jünger war als er.

Nur im Blick auf ihr Alter hatte er recht gehabt.

Sie war nicht bemitleidenswert. Und sie war auch nicht wirklich unscheinbar. Zu ihrem leuchtenden Haar hatte sie sehr helle Haut und ein Gesicht, das auf eine unaufdringliche Weise hübsch war. Nora Bradford war der Typ Mädchen, die sich in der Highschool immer im Hintergrund halten und dann alle überraschen und nach Harvard gehen.

„Nur damit ich es richtig verstehe“, sagte er. „Sie sind Immobilienbesitzerin, Historikerin und Familienforscherin?“

„Wenn man es genau nimmt, ja. Den Immobilienbesitz managt Nikki, die mit mir zusammenarbeitet. Sie kümmert sich um die Mieter und die Mieteinnahmen. Ich habe die größeren Vorhaben im Zusammenhang mit dem Dorf im Blick, aber im normalen Alltag konzentriere ich mich vor allem auf die Bibliothek. Und ich verbringe einen guten Teil meiner Zeit damit, Leute zu unterstützen, die etwas über ihre Vorfahren erfahren möchten.“

Er trank seinen Kaffee und genoss das nussige, herbe Aroma.

„Als ich noch auf der Suche nach weiteren Gebäuden war, hat das Dorf mehr Zeit und Einsatz von mir gefordert, aber inzwischen ist es diesbezüglich ruhiger geworden. Ich denke, wenn ich noch ein weiteres Haus finde, ist das Dorf komplett. Sehen Sie den freien Platz dahinten in der Nähe des Ufers?“ Sie deutete mit der Teetasse in die genannte Richtung.

Er nickte. Die Bibliothek bildete den Abschluss der Siedlung auf der einen Seite. Der freie Platz auf der anderen.

„Ich möchte dort gern eine Kapelle haben. Die MacKenzie-Holzlagerscheune steht schon auf dem Platz daneben. Sie ist bereits so renoviert, dass sie sich als Raum für Empfänge und Veranstaltungen eignet.“

„Und eine Kapelle haben Sie noch nicht finden können?“, erkundigte er sich.

„Nein, ich habe bereits eine gefunden. Ich konnte nur den Besitzer, Mr Hartnett, noch nicht überzeugen, sie mir zu verkaufen.“

„Warum suchen Sie dann nicht nach einer anderen?“

„Weil die Hartnett-Kapelle perfekt ist. Rund um den Kirchenraum gibt es eine handbemalte geschnitzte Bordüre unterhalb der Decke. Und sie hat einen Glockenturm.“ Sie zuckte die Schultern. „Wie auch immer. Jetzt aber genug von mir.“

Sie sagte nichts mehr, woraus er schloss, genug von mir war ihre freundliche Einladung, ihr zu sagen, warum er sie um dieses Treffen gebeten hatte.

John setzte sich gerade auf, den Blick auf den freien Platz gerichtet, an dem Nora ihre Kapelle aufbauen wollte. Ihre Teetasse klirrte leise, als sie sie abstellte. Durch die Baumzweige über ihnen wehte ein leichter Wind.

Es war John noch nie leichtgefallen, persönliche Dinge von sich mitzuteilen. Und seine Zeit bei der Navy hatte ihn nur in seiner Gewohnheit bestärkt, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

Er hätte Nora nicht angerufen, wenn es da nicht die Notwendigkeit gäbe, etwas über seine medizinische Geschichte zu erfahren. Und diese Notwendigkeit wäre nicht so dringend geworden, wenn er nicht vor zwei Monaten diese Diagnose bekommen hätte.

Sein Handy klingelte. „Entschuldigen Sie mich.“

„Natürlich.“

Er las den Text und schickte eine kurze Antwort, steckte dann das Handy in die Jackentasche und wandte sich wieder Nora zu. Sollte er sich ihr anvertrauen?

Mit ihr zu sprechen, war nicht schwer. Sie unterbrach ihn nicht und fiel ihm nicht ins Wort. Sie war weder verkrampft noch zu bemüht. Sie schien intelligent und qualifiziert und freundlich zu sein. Sie gab ihm ein Gefühl von Unbefangenheit. Sie war genau der Typ Mensch, dem er sich mit seiner Frage anvertrauen konnte. „Ich wollte Sie treffen, weil ich versuche, meine leibliche Mutter zu finden“, sagte er.

Sie erwiderte seinen Blick ruhig. „Okay. Erzählen Sie mir mehr.“

„Meine leibliche Mutter hat mich direkt nach meiner Geburt zur Adoption freigegeben. Kurz danach haben meine Eltern mich adoptiert.“

Sie saß still, die Hände im Schoß verschränkt. Er konnte spüren, wie ihre Gedanken arbeiteten. „Haben Ihre Eltern Ihnen alle Unterlagen bezüglich der Adoption ausgehändigt, die sie von der Agentur bekommen haben?“

„Ja, schon vor einer ganzen Weile. Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen, dass ich … mich entschlossen habe, nach meiner Mutter zu suchen.“ Er wollte seinen Eltern keinen Kummer machen. Außerdem war ihm nur allzu klar, dass er seine leibliche Mutter vielleicht nie finden würde. Und welchen Sinn hätte es dann, seinen Eltern überhaupt von seiner Suche zu erzählen?

„Was haben Sie über Ihre leibliche Mutter in Erfahrung gebracht?“

„Sie war jung und unverheiratet. Meine Eltern haben sie nie getroffen, und sie hat auch nie versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen.“

„Verstehe.“

„Der Staat Washington hat die Adoptionsregister vor ein paar Jahren öffentlich zugänglich gemacht“, sagte er. „Ich habe hingeschrieben und um meine Geburtsurkunde gebeten, und sie haben sie mir zugeschickt.“

„In diesem Fall“, sagte sie, „können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie in Washington geboren wurden. Diese Dokumente sind nur in wenigen Bundesstaaten freigegeben worden. Normalerweise haben Betroffene nur Zugang zu den Adoptionsdokumenten und der Geburtsurkunde, in der die Adoptiveltern aufgeführt sind.“

Sie kannte sich aus. „Ja, stimmt. In der Originalurkunde ist der Name meines Vaters nicht erfasst. Meine Mutter war als Sherry Thompson gemeldet. Ich wurde im Presbyterian Hospital in Shelton geboren.“

„Shelton.“ Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

Shelton war zwölf Meilen entfernt von Merryweather. Und das Presbyterian Hospital war damals wie heute das größte Krankenhaus in der Gegend. Patienten aus Merryweather und Shore Pine und allen anderen Orten im Umkreis von dreißig Meilen gingen dorthin.

„Und wo hat die Vermittlungsagentur ihren Sitz?“, fragte sie.

„Seattle.“

„Ich schlussfolgere, Sie haben mich kontaktiert, weil sie eine Frau namens Sherry Thompson, die in dieser Gegend von Washington ansässig ist, nicht haben aufspüren können.“

Er war es nicht gewohnt, mit Leuten zu sprechen, die Worte wie schlussfolgern und kontaktiert und ansässig verwendeten. „Genau. Thompson ist ein sehr häufiger Nachname. Ich habe etliche Webseiten durchforstet und auch diese Datenbank …“ Ihm fiel der genaue Name nicht ein.

„Die, die einen Kontakt herstellt, wenn Eltern ebenfalls nach ihrem Kind suchen?“

„Ja, die. Aber ich hatte kein Glück.“

Sie tippte mit dem Daumen an den Henkel der Teetasse. Ihre Stirn verzog sich, als versuche sie, ein Rätsel zu lösen. „Es überrascht mich nicht, dass Sie Sherry nicht gleich haben ausfindig machen können. Die Chancen stehen hoch, dass sie inzwischen geheiratet und ihren Namen geändert hat.“

„Stimmt. Und da ich alles, was mir selbst eingefallen ist, schon versucht habe, bin ich jetzt an einem Punkt, wo ich den Rat einer Expertin gebrauchen könnte.“

„Ich würde Ihnen gern mit Rat und Tat zur Seite stehen“, sagte sie umgehend. Dann zögerte sie und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. „Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass Adoption nicht mein eigentliches Spezialgebiet darstellt. Bisher habe ich nur mit wenigen Menschen zu tun gehabt, die ihre Eltern suchten. Und ich habe mir drei oder vier Bücher zum Thema Adoption und Elternsuche angeeignet.“

„Das ist in jedem Fall mehr, als ich dazu gelesen habe.“

„Ich bin gern bereit, die nötigen Kenntnisse zu erwerben, wenn wir weitersuchen wollen. Und wenn wir in einer Sackgasse landen, aus der ich uns nicht rausnavigieren kann, werde ich Ihnen Kontakte zu Organisationen oder auch Privatermittlern verschaffen, die Sie dann vielleicht auf dem restlichen Weg begleiten können, bis Sie Ihre Mutter finden. Wäre das ein Vorschlag?“

„Ein guter Vorschlag. Natürlich werde ich Sie für Ihren Einsatz bezahlen.“

„Nein, nein.“ Sie hob beide Hände. „Ich lebe gut von den Einnahmen durch die Mieten aus dem Dorf. Ich nehme nie Geld von Menschen, denen ich in Sachen Familienforschung helfe. Nie. Sie sind da keine Ausnahme.“

„Ich bin eine Ausnahme.“

Sie lehnte sich zu ihm vor, beide Hände auf die Tischkante gestützt. „Ich möchte gern etwas klarstellen. Ich liebe Geschichte. Und ich bin diejenige, die ihre Klienten bezahlen sollte, weil sie mir die Freude machen, ihre Suche begleiten zu dürfen.“

„Kein schlechter Versuch. Aber nein. Ich arbeite nicht mit Ihnen, wenn Sie dafür kein Geld annehmen.“

Sie runzelte die Stirn.

Er ebenfalls. Er war kein Sozialfall. Und er war auch niemand, der rasch seine Meinung änderte. Rothaarige Bibliothekarinnen, die beeindruckende Wörter verwendeten, schreckten ihn nicht ab.

„Im Ernst“, versuchte sie es noch einmal. „Es wäre mir viel lieber, kein Geld von Ihnen zu nehmen. Es wäre doch auch unfair, wenn ich mich für etwas bezahlen ließe, was ich anderen umsonst gebe.“

„Schicken Sie mir eine Rechnung für die Zeit, die Sie vermutlich in den nächsten zwei Wochen mit meinem Fall verbringen werden. Und wenn wir in zwei Wochen noch immer auf der Suche sind, schicken Sie mir noch eine.“ Er nahm eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und reichte sie ihr.

„Ich würde wirklich lieber …“

„Nein!“

Sie seufzte und betrachtete die Karte.

„John!“, rief eine Frauenstimme über die Rasenfläche vor ihnen.

Er wandte sich um und sah Allie auf sie zukommen. Als sie erfahren hatte, dass er heute im Dorf sein würde, hatte sie sofort den Plan gefasst, sich mit ihm zu treffen – für einen Einkaufsbummel und ein anschließendes gemeinsames Essen. Er hatte ihr in seiner Nachricht vorhin erklärt, wo sie ihn finden würde.

„Sind wir uns einig?“, fragte er Nora und stand auf.

Sie erhob sich ebenfalls. „Jawohl. Können Sie mir alle Dokumente zukommen lassen, über die Sie verfügen? Wenn wir uns das nächste Mal treffen, würde ich sie gern mit Ihnen durchgehen.“

„Sicher. Sobald ich Ihre Rechnung habe, können wir einen nächsten Termin für ein Treffen vereinbaren.“ Er hatte nicht umsonst etliche Kurse in Verhandlungsführung absolviert.

„Hey.“ Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen kam Allie näher.

„Hey. Allie, das ist Nora. Nora, Allie.“

Nora strahlte sie an, als hätte sie gerade erfahren, dass sie im Lotto gewonnen hat. „Äußerst erfreut, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“ Allie schob ihre Hand in die von John. Die beiden Frauen wechselten noch einige unverbindliche Worte.

John hörte mit halbem Ohr zu, während er sich innerlich fragte, wie lange er noch so tun müsste, als begeistere er sich für einen Einkaufsbummel, und ob es in der Nähe auch ein Restaurant gab, das Steaks servierte. „Wir sollten jetzt besser los“, warf er an Allie gewandt ein, als das Gespräch der Frauen stockte.

„Klingt gut.“

„Wir sehen uns, Nora“, sagte er.

„Ja!“, erwiderte Nora. „In der Tat. In der Tat.“

Diese Bibliothekarin war schon ein wenig seltsam.

* * *

Nein, nein, nein. Nora hatte jedes Detail über John gründlich studiert. Von einer Heirat hätte sie etwas erfahren müssen. Allie musste also Johns Freundin sein. Seine sehr attraktive Freundin mit ihrem langen dunkelblonden Haar, einem durchtrainierten Körper und jeder Menge natürlichem und selbstverständlichem Selbstvertrauen.

Noras Lächeln schmerzte vor Anstrengung. Es fühlte sich an wie das Lächeln der Grinsekatze aus Alice im Wunderland, nur noch dümmlicher. Natürlich hat er eine Freundin, Nora! Natürlich. Wie kommst du nur darauf, dass nicht? Er ist die Verkörperung attraktiver Männlichkeit und die Definition von legendärem Wagemut bis in die Zehenspitzen. Sie war nicht die einzige Frau in Amerika, der aufgefallen war, wie attraktiv er war. Alle Frauen, denen er tagtäglich begegnete, mussten es merken.

Während ihrer gesamten Begegnung war sie in ihrem Element gewesen. Sie hatte über das historische Dorf sprechen können und dann über die Suche nach seiner leiblichen Mutter. Nora liebte nichts mehr, als wenn andere sie um Hilfe baten. Sie war gern nützlich, und dass er sie brauchte, hatte ihr Auftrieb gegeben. In der neuen Strickjacke und dem Rock, die sie gestern Abend noch extra für dieses Treffen gekauft hatte, fühlte sie sich sogar ein bisschen hübsch. Und sie hatte sich den Gedanken erlaubt, John könnte ebenfalls bemerkt haben, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte.

Die Enttäuschung verfestigte sich in ihrer Körpermitte wie Zement.

Nur weil sie auf einem solchen Höhentrip gewesen war, fühlte sich die Rückkehr in die Wirklichkeit jetzt so schmerzhaft an. Wenn sie erst Zeit haben würde, darüber nachzudenken, würde sie sich besser fühlen.

Harrison der Schreckliche und Rory, seine schwangere Frau, wählten diesen Moment, um aus der Kinderboutique herauszutreten, die in Golding’s Mill untergebracht war. Harrison winkte Nora freundlich zu. Sie erwiderte die Geste, in der Art der Grinsekatze. Kein Zweifel, die beiden waren eifrig damit beschäftigt, winzige Babykleidung für ein Neugeborenes und entzückende Kleinigkeiten für das Kinderzimmer anzuschaffen.

Kalter Neid stach Nora wie ein Pfeil ins Herz. Hastig brachte sie ihre Teetasse zurück in die Konditorei.

Harrison der Schreckliche und seine Frau kauften eine Babyausstattung.

Und John, der Begehrenswerte, hatte eine Freundin.

•••

Nachricht von Nora an Willow Bradford:

NORA: Habe mir eine Eiscreme-Medikation gegen emotionalen Notstand verordnet. Welche Höchstdosis ist unbedenklich? Ich würde es ungern damit übertreiben.

WILLOW: Nicht mehr als eine Familienpackung.

NORA: Uuuaaah!

WILLOW: Ich komme morgen nach Merryweather. Dann können wir das Eis zusammen verputzen. Eis, das man in Gesellschaft einer Schwester isst, schmeckt viel besser und hat weniger Nebenwirkungen.

Kapitel 3

Am nächsten Tag bezog Nora Wachposten auf der überdachten Veranda von Bradfordwood, ihrem Elternhaus, in dem sie aufgewachsen war. Graue Wolken zogen vorüber wie ein lebendiges Aquarell. Regen tropfte vom Dach auf die Steintreppe und die roten Ziegelsteine, mit denen die Einfahrt gepflastert war. Ein trübes, diffuses Licht war das Ergebnis des Regens und der Tatsache, dass irgendwo hinter den Wolken die Sonne im Begriff war unterzugehen.

Nora schob die Hände in die Taschen ihres Sweatshirts. Am Vormittag hatte sie ihre Sportsachen angezogen, weil sie den ehrgeizigen Plan gehegt hatte, irgendwann an diesem Samstag noch ins Fitnessstudio zu gehen. Aber dann hatte sie Ewigkeiten damit verbracht, zu überlegen, wie viel sie wohl von John als Bezahlung verlangen konnte, bevor sie endlich die Rechnung geschrieben und ihm zugemailt hatte. Dann hatte sie zu den Silverstone-Chroniken gegriffen, sich für zwei Stunden hineinvertieft, anschließend ihre Lieblingsblogs zu Romanneuerscheinungen aufgerufen und ihre Wintergarderobe im Schrank gegen die Sommergarderobe ausgetauscht. Ins Fitnessstudio hatte sie es nicht geschafft, und jetzt stand sie hier in Jogginghose und einem ausgeleierten Sweatshirt.

Ihre ältere Schwester Willow musste jeden Moment eintreffen, und die Familientradition befahl, dass die Familie auf der Veranda stand und sie winkend begrüßte, sobald der Wagen in der Einfahrt erschien. Nora war ganz entschieden eine Verfechterin dieser Tradition. Gelegentlich gaben ihr allerdings Willows ständige Abreisen und Ankünfte das Gefühl, im Vergleich zu ihrer Schwester langweilig zu sein. Nora, die Verlässliche: die Schwester, die Merryweather nie verlassen hatte, ihre Collegezeit ausgenommen. Immer noch hier. Verwurzelt in ihrer Heimatstadt.

Die Wahrheit? Sie liebte Merryweather. Sie hatte sich bewusst entschieden, hier zu leben. Es gab also keinen Grund, warum sie sich wegen dieser Entscheidung wie eine graue Maus vorkommen sollte …

Nora hätte fast verächtlich geschnaubt. Wann hatte je ein Vergleich zwischen ihr und Willow und Britt nicht dazu geführt, dass sie sich vorkam wie eine graue Maus?

Sie konnte sich noch gut an den Moment erinnern, in dem sie sich ihrer Rolle in ihrer Familie bewusst wurde. Sie war dreizehn gewesen, und sie hatte zwischen ihren beiden Schwestern vor dem Spiegel im Bad gestanden, um sich für eine Theateraufführung von König der Löwen fertig zu machen.

Auf der einen Seite von ihr beugte sich Willow, fünfzehn, vor, um Mascara aufzulegen. Im Licht der indirekten Wandbeleuchtung sah Willows Gesicht atemberaubend schön aus. Sie hatte große mandelförmige Augen und hohe Wangenknochen. Perfekte Wangenknochen, wirklich.

Willow war die Schönheit von den dreien.

Nora blickte auf die andere Seite und sah zu, wie Britt ihr kräftiges langes Haar bürstete. Britt war zwar erst neun, aber ihre Eltern hatten sie schon als kreatives Genie erkannt. Seit Monaten produzierte sie nun bereits wie am Fließband meisterhafte Nachspeisen, die besser geeignet schienen, das Cover von Rezeptzeitschriften zu zieren, statt den Familientisch.

Britt war die Talentierte.

Dann hatte Nora eingehend ihr eigenes Spiegelbild betrachtet. Mausbraunes Haar. Sie hatte erst während ihrer Collegezeit begonnen, es rot zu färben. Gewöhnliches Gesicht. Gewöhnliche Figur. Zahnspange.

Okay, hatte sie pragmatisch gedacht. Die Wirklichkeit im Blick auf ihre Schwestern hatte sie schließlich nicht plötzlich überfallen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gewusst, dass ihre Schwestern besondere Qualitäten besaßen. Aber in diesem einen Moment forderte die Wahrheit eine Entscheidung von ihr.

Deine Schwestern werden immer hübscher und begabter sein als du. Wie willst du damit umgehen, Nora?

Sie hatte die Lippen zusammengekniffen und das Kinn gehoben. Ich bin die Schlaue. So werde ich damit umgehen.

Diese Entscheidung hatte alles beeinflusst, was danach kam. Inzwischen blickte Nora mit Stolz auf ihr mutiges dreizehnjähriges Ich zurück, denn dieses unbeholfene Mädchen hatte die richtige Spur gewählt.

Noch in dem Jahr, als Willow ausgezogen war, um die University of California zu besuchen, wurde sie von einer Modelagentur entdeckt. Seitdem reiste sie um den Globus und faszinierte die Welt mit ihrer Schönheit.

Britt verfolgte ihre Leidenschaft mit einer Passion, die keine Dampflok hätte aufhalten können. Sie war eine Überfliegerin in ihrer Ausbildung zur Chefköchin und ging anschließend ins Ausland, um zwei Jahre lang unter legendären französischen Konditoren zu arbeiten. Sie wurde Maitre Chocolatier und eröffnete schließlich im Dorf in Merryweather einen Laden namens Sweet Art.

Willow und Britt hatten es beide zu etwas gebracht, definitiv! Natürlich hatten sie auch ihre Schwächen, aber sie hatten ebenfalls tonnenweise Gutes zu bieten. Nora kannte sie durch und durch, und sie liebte ihre Schwestern. Sie stand ihnen näher als irgendjemandem sonst auf der Welt.

Inzwischen vergeudete sie nur noch sehr wenig emotionale Energie mit dem Thema ihres Aussehens oder ihrer gottgegebenen Talente (oder dem Mangel derselben) im Vergleich zu ihren Schwestern. Manchmal machte sie sich sogar selbst über das Thema lustig. Aber es traf sie doch, wenn sie jemandem vorgestellt wurde und die Leute verblüfft reagierten: „Was, Sie sind Willows Schwester?“

Aber sich deshalb zu grämen? Nein.

Sie hatte sich darauf gefreut, dass Willow nach Hause kam.

Wie lange war es her, dass sie zum letzten Mal hier gewesen war? Fünf Monate? Sie bemühten sich zwar, einander so oft wie möglich zu besuchen – Nora war im Februar für ein verlängertes Wochenende nach LA geflogen –, aber sie fanden nie so viel gemeinsame Zeit miteinander, wie Nora es sich gewünscht hätte.

Dieser Besuch jetzt versprach aber, etwas ganz Besonderes zu werden, denn Willow würde für mehr als sechs Monate in Merryweather bleiben. Seit sie ausgezogen war, um aufs College zu gehen, hatte sie nicht mehr so viel zusammenhängende Zeit in Washington verbracht.

Schritte näherten sich, dann erschien Britt neben Nora. „Noch nichts von ihr zu sehen?“

Nora schüttelte den Kopf und schaute auf ihr Handy. „Sie muss jede Minute kommen, nehme ich an. Ich warte nur auf ihre übliche Nachricht ,Bin schon unten am Tor‘.“