… und dann machte ich mich auf den Weg … - Fritz Kratzeisen - E-Book

… und dann machte ich mich auf den Weg … E-Book

Fritz Kratzeisen

0,0

Beschreibung

"Außer ein paar Sätzen Englisch kann ich keine Fremd­sprache." Das hinderte Fritz Kratzeisen nicht daran, sich mit 64 Jahren auf den Weg zu machen: Mit seinem Fahrrad, einem Anhänger, 80 kg Gepäck und viel Mut.Mehr als 80.000 Kilometer brachte er in vier Jahren hinter sich, besuchte dabei (fast) alle Kontinente und erlebte eine Unmenge an schönen und auch weniger schönen Geschichten.Über 150 Mal musste er einen Reifen flicken, mehr als 80 Mal brachen Speichen oder eine Felge und auch viele andere Schwierigkeiten wurden von ihm bewältigt.Trotzdem: "Ich würde es wieder tun."Von den Begegnungen mit Menschen und seinen Ein­drücken in den vielen Ländern handeln Kratzeisens Reiseerzählungen. Sie zeigen, dass immer etwas mehr möglich ist, als wir selbst glauben …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 525

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fritz Kratzeisen

… und dann machte ich mich auf den Weg …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012

Inhalt

Ein Traum wird wahr

Prolog

Martinique

Das Organisationstalent

Ein Sklaventraum

Unser erster Segeltörn

Von Martinique nach Dominica

Fort Napoléon

Besuch bei Waltraut

Auf den Spuren der Vergangenheit

Der zweite Törn

Santa Lucia

Bequia

Von Union Island zu den Tobago Cays

Mustique und St. Vincent

Von St. Vincent nach Santa Lucia

Trois Ilets

Der Abschied naht

Karibik-Flair

Kuba

Verluste

Bekanntschaften

Havanna

Mehr Bekanntschaften

Voodoo-Zauber

Mit Juli auf großer Tour

Von Varadero nach Santa Clara

Von Santa Clara nach Trinidad

Gastfreundschaft

Trinidad

Hilfsbereitschaft

Bekannte Gesichter

Zurück nach Havanna

Mit dem Oldtimer durch die Stadt

Eine geheimnisvolle Verabredung

Kubanische Nacht

Mexiko

Mexico City

Der maskierte Mythos

Von Mexico City nach Puebla

Cholula

Auf dem Weg nach Orizaba

Eine Unterkunft der besonderen Art

Veracruz

Auf dem Weg nach Yucatán

Eine olmekische Familie

Regen und Wind

Ein ernstes Wort

Agaven

Mérida

Auf den Spuren der Maya

Cancún – eine Idee wird zur Goldgrube

Unangenehme Begegnung

Übernachtungspech

Tulum, Chetumal und Belize

Eine tierische Tour

Pannenserie

Von Palenque nach San Cristóbal

Die längste Abfahrt meines Lebens

Mexikanische Impressionen

USA

San Diego

Versorgungsengpass

Mit Phil durch die Wüste nach Las Vegas

Grand Canyon, Zion Canyon und Bryce Canyon

Ein Wochenende mit Marianne

Von San Francisco nach Bellingham

Was für ein Tag!

Eine Seefahrt nach Alaska

Soldatna und Anchorage

Denali-Nationalpark – Mount McKinley

Flugalarm im Zelt

Fairbanks

Ein Schwarzwälder in der Wildnis Alaskas

Alaska-Pipeline

Kälteeinbruch

Kanada

Nordlicht

Der Yukon

Tierische Begegnungen

Versuchung

Whitehorse

Vancouver, das Tor nach Asien

Von Vancouver nach Toronto

Von Toronto nach Trenton

USA

Back in the USA

Von Nanuet nach Houston

Baltimore

Washington D. C.

Gute und ungute Begegnungen

Sportasse

Cowboys ohne Pferd

Von Nashville nach Memphis

Villa Melrose

Herrenhaus Rosalie

Longwood

Baton Rouge

New Orleans

Weihnachten in Las Vegas

Guatemala

Gastfreundschaft

Honduras und Nicaragua

Costa Rica

Panama und Kolumbien

Ecuador

Peru

Lima

Linien im Wüstensand

Cusco

Aufstieg mit Hindernissen

Ollantaytambo, Choquequirao und Tipon

Auf den schwimmenden Inseln der Uros

Bolivien

Copacabana

Isla del Sol

Von Copacabana nach El Alto

Regierungssitz La Paz

Die gefährlichste Straße der Welt

Oruro und Uyuni

Die größte Salzwüste der Welt

Autotour zu den Flamingos und zum Geysir Sol de Mañana

Bei den Mineros in Potosí

Sucre

Argentinien

Auf nach Córdoba

Kalebasse, Bombilla und Mate

Von Mendoza nach Santiago

Chile

Santiago in Sicht

Ausflug nach Calama

Fast auf Kurs

Geschafft!

Besuch aus Deutschland

Von Puerto Varas nach Bariloche

Isla Chiloé

Ausflüge mit Freunden

Vier Tage in Puerto Natales

Von Puerto Natales nach Punta Arenas

Argentinien

Feuerland

Buenos Aires

Uruguay

Colonia, Montevideo und Cabo Polonio

Die argentinischen Iguazu-Wasserfälle

Brasilien

Deutsche Wurzeln

São Paulo

Santos

Rio de Janeiro

Santos

Südafrika

Mit dem Schiff von Santos nach Durban

Von Durban nach Johannesburg

Von Johannesburg nach Windhuk

Botswana

Diamanten

Namibia

Auf den Spuren der Ureinwohner

Etosha-Wildnationalpark

Swakopmund

Von Windhuk nach Kapstadt

Südafrika

Robben Island

Von Kapstadt nach Johannesburg

Soweto (South Western Townships)

Australien

Anlaufschwierigkeiten

Historisches

Von Sydney nach Canberra

Weltrekord

Durchs Outback

An der heiligen Stätte der Aborigines

School of the Air

Eine herrliche Begegnung

Tennant Creek und weitere Tage im Outback

Krokodile und Kakadus

Neuseeland

Das Land der langen weißen Wolke

Die Südinsel

Die Nordinsel

Singapur und Malaysia

Thailand

Bangkok

Kambodscha

Angkor Wat

Phnom Penh

Vietnam

Versuchungen und Erinnerungen

Hanoi und Umgebung

China

Xian und Peking

Die Chinesische Mauer

Shanghai

Fahrt nach Lhasa/Tibet

Mongolei

Einsamkeit

Ulan Bator

Abschied

Russland

Vier Tage in der Transsibirischen Eisenbahn

Datscha-Freuden

Moskau

Von Moskau nach Tula

Von Tula nach Kiew

Endspurt

Rumänien, Ungarn, Österreich

Zurück in Deutschland

Der erfüllte Traum …

Ein Traum wird wahr

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter.

Ungelebte Gefühle, Gedanken und Träume,

endlich sind sie Wirklichkeit,

endlich bin ich vogelfrei!

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter,

voller Euphorie, Freude und Hoffnung

auf das Kommende.

Was erwartet mich auf meiner Reise?

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter.

Die Grenzen sind offen, vor mir die weite Welt,

der Alltag liegt weit hinter mir,

das gibt mir Rückenwind.

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter.

Mein neues Leben liegt vor mir,

voller Erwartungen, aber auch Ängste.

Werde ich euch je wiedersehn?

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter,

schließe Bekanntschaft mit Menschen aus aller Welt,

wir tauschen uns aus,

begleiten einander ein Stück.

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter,

kämpfe gegen Wind, Kälte, Regen und Hitze,

sehe Armut und Reichtum, Glück und Schmerz.

Hilflosigkeit überfällt mich.

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale,

trete und schiebe weiter,

steil hinauf und immer den Abgrund vor Augen.

Was tun, wenn die Bremsen versagen?

Ich fahre, schiebe und trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter,

werde überfallen und fast zu Tode gewürgt,

ein Scheinwerferlicht rettet mich.

Werde ich zurückkehren?

Ich fahre, trete weiter.

Ich fahre, trete in die Pedale, trete weiter,

bin ausgebrannt und ausgelaugt,

die Schmerzen sind übermächtig,

Prolog

Mit 16 Jahren machte ich mit meinem Bruder Erwin, der ein Jahr jünger ist als ich, eine Radtour von Kehl/Straßburg nach Italien, Südfrankreich und wieder zurück. In drei Wochen legten wir rund 2.000 Kilometer zurück, mit ganz einfachen Rädern ohne Gangschaltung. Am ersten Tag radelten wir bis Basel. In Zürich übernachteten wir auf einem Campingplatz, und als wir am frühen Morgen unsere Köpfe aus dem Zelt streckten, sahen wir die schneebedeckten schweizerischen Berge. Die Straße über den Gotthardpass war noch gesperrt, so fuhren wir von Göschenen bis Airolo mit dem Zug. Auf der anderen Seite erwartete uns eine tolle Abfahrt. Auf dem Weg durch die Po-Ebene in Richtung Genua trafen wir einen 12-jährigen Jungen, der dem damaligen Radsportidol Italiens, Fausto Coppi, nacheiferte und auf seinem Rad täglich 80 Kilometer radelte. Was wohl aus ihm geworden ist?

Der erste Weg in Genua führte uns zum Hafen, wo mich angesichts der riesigen Schiffe das Fernweh packte und die Idee geboren wurde, einmal eine Weltreise mit dem Rad zu machen.

So sammelte ich jahrelang Reiseberichte aus Zeitschriften und heftete sie schön ordentlich nach Ländern und Kontinenten sortiert in Ordnern ab. Da ich nur in warmen Regionen fahren würde, setzte ich mich auch mit den klimatischen Verhältnissen in den Ländern auseinander. Das war später die Basis für meine Routenplanung, an die ich mich übrigens mit geringen Abweichungen auch gehalten habe.

Als Lehrer habe ich in meiner Schule 25 Jahre lang in den großen Ferien Radtouren für Schüler und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren an. Meist suchten wir uns eine europäische Hauptstadt aus, waren dann 14 Tage mit dem Rad unterwegs, schauten uns ein paar Tage in der Stadt um und fuhren mit der Bahn nach Hause. Für diese Touren waren immer mal wieder Anschaffungen notwendig – schon dabei achtete ich darauf, dass diese auch für eine Weltreise taugten.

Beim Fahrradkauf ließ ich mich von Joachim Lutz, einem immer noch aktiven Radrennfahrer beraten. Er betreibt ein Fahrradgeschäft in Zierolshofen bei Kehl und war während meiner Reise über das Internet mein technischer Berater. Ersatzteile, die ich in den besuchten Ländern nicht erhielt, wurden von ihm per Luftfracht auf die Reise geschickt. Grundmaterial wie Speichen, Ketten, Schläuche, Fahrradmäntel und Flickzeug hatte ich stets bei mir. Ein einfaches Zelt und eine Isomatte komplettierten meine Ausrüstung.

Zu Beginn meiner Reise hatte ich noch einen guten alten Fotoapparat, den ich später (mehrfach) durch eine digitale Kamera ersetzte.

Um meine Reise zu finanzieren, ließ ich meine private Krankenversicherung ruhen und schloss eine Auslandskrankenversicherung ab. Mit dem Differenzbetrag konnte ich schon 50 Prozent finanzieren. Den Rest bezahlte ich mit meiner Rente.

Auf der Reise wurde mir hier und da auch Geld oder meine Visakarte gestohlen. Da war ich auf schnelle Geldbeschaffung angewiesen. Die Western Union Bank leistete gute Dienste, je nach Zeitzone hatte ich innerhalb von ein bis zwei Stunden das benötigte Geld.

Vor der Reise hatte ich mich ein Jahr vorher schon gegen alle Krankheiten, für die das notwendig erschien, impfen lassen. Außer Pflastern und einer Wundsalbe hatte ich keine Medikamente bei mir.

Als Sportlehrer hatte ich immer selbst am Unterricht aktiv teilgenommen und als Leichtathletiktrainer wurde ich darüber hinaus gefordert – eine weitere sportliche Betätigung zur Vorbereitung war daher nicht notwendig.

Ich spreche keine Fremdsprachen, nur ein klein wenig Englisch. So ließ ich auf der Reise mein Herz, meine Hände und Füße sprechen. Und es hat wunderbar funktioniert!

Als ich in Hongkong einen ehemaligen Sportler besuchte, der in einer großen Computerfirma arbeitete, nahm ich ein DIN A4-Blatt und schrieb mir die wichtigsten Dinge auf. „Wo gibt es ein Internet-Café?“ war beispielsweise wichtig, um die Kommunikation mit zuhause aufrechtzuerhalten. „Wo gibt es ein Hostel? Wo ist der Bahnhof?“ waren weitere Sätze, die mein ehemaliger Sportler in seiner Firma ins Chinesische übersetzen ließ. Auch das funktionierte später hervorragend.

Ein Handy lehnte ich ab. Wo sollte ich anrufen, wenn mir etwas passieren würde? Und um angerufen zu werden … – darauf konnte ich verzichten.

Von Haus aus bin ich ein sehr umtriebiger Mensch, für Neues aufgeschlossen und begeisterungsfähig, ein typischer Widder. Mit 50 Jahren stellte ich an meiner Schule den ersten Antrag für eine vierjährige Dienstbefreiung. Dieser und auch die drei folgenden wurden abgelehnt. Ein- oder zweijährige Befreiungen wären genehmigt worden. Also musste ich bis zu meiner Pensionierung warten, um mir diesen Traum zu erfüllen.

Dann kommen mir Zweifel, ob ich das mit 64 Jahren körperlich noch schaffe. Als ich meine Wohnung kündige, beschleichen mich Ängste, Altes, Liebgewonnenes und Vertrautes aufzugeben. Während ich meine Zelte abbreche, ahne ich noch nicht, was mich da draußen in der weiten Welt so alles erwartet. Ich breche auf in eine ungewisse Zukunft. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Martinique

Das Organisationstalent

Kurz vor meiner Pensionierung hatte ich mich auf eine Zeitungsanzeige gemeldet, in der ein Hausverwalter auf der Insel Martinique gesucht wurde. Der Auftraggeber versprach, mich zurückzurufen, wenn er seinen Segeltörn auf dem Atlantik beendet habe. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.

Ein Jahr später las meine Bekannte Gerda eine ähnliche Anzeige. Da sie sich beruflich verändern wollte, nahm sie Kontakt mit dem Herrn auf. Es war der gleiche Mann. Ich begleitete sie zu ihrem ersten Gespräch.

Georg hat als gelernter Metzger und Koch eine steile Karriere gemacht. Mit 21 Jahren ging er auf die Meisterschule nach Hamburg. Er finanzierte sie, indem er am Hamburger Bahnhof Würstchen verkaufte und anschließend in der Fernsehkantine noch die Mitarbeiter der „Tagesschau“ verköstigte. Die Meisterprüfung schloss er als Prüfungsbester ab. Georg ging als Leiter einer Wurstfabrik nach Paraguay.

Der geborene Organisator baute zwei eigene Wurstfabriken auf und besaß bald zwei Hotels. Auf Martinique kaufte er ein halb fertiges Haus, stellte es fertig und vermietete fünf Doppelzimmer. Bald konnte er sich eine Yacht leisten und baute Martinique zu seiner „Trans-Ozean-Station“ aus.

Seit einigen Jahren lebt Georg, inzwischen 65 Jahre alt, mit seiner jungen Lebenspartnerin in den Wintermonaten auf Martinique und im Sommer in Deutschland und Österreich. Er will nun verschiedene Projekte in gute Hände geben. Wir überlegen nicht lange und nehmen die Herausforderung an. Meine Weltreise beginnt in der Karibik.

Georg lässt uns acht Wochen lang „zur Probe“ schuften, nichts geht ihm gut und schnell genug, und für unsere Unterkunft müssen wir auch noch teuer bezahlen. Er ist ein moderner Ausbeuter und Sklavenhalter. Ich komme mit seiner poltrigen Art ganz gut zurecht, Gerda dagegen weniger.

Ein Sklaventraum

Bei einer Radtour ins Landesinnere habe ich mich auf dem Rückweg mit der Zeit vertan. Die Sonne geht bereits unter und ich befinde mich kurz vor Lamentin, nahe dem Flughafen. Bis zu meinem Stützpunkt Anse Mitan sind es noch 20 Kilometer. Eigentlich bin ich schon wagemutig, aber an eine Weiterfahrt ist nachts und bei diesem Verkehr nicht zu denken. Am Stadtrand von Lamentin entdecke ich eine Siedlung: etwa 30 kleine Häuschen, denen der Sklaven nachempfunden. In einem Schuppen richte ich meinen Schlafplatz ein.

Mitten in der Nacht erwache ich schweißgebadet von meinem eigenen Schrei. Ich hatte einen schrecklichen Traum: Als Sklave werde ich in Ketten auf einem Schiff aus Afrika hierher gebracht und auf dem Sklavenmarkt feilgeboten. Wegen meiner großen, kräftigen Statur werde ich als einer der Ersten verkauft, an den Besitzer einer Zuckerrohr-Plantage. Um den Preis wird lange gefeilscht. Ein Eisenring mit eine Kette liegt um meinen Hals. Wir sind insgesamt neun Sklaven und marschieren mit vier Aufsehern durch hügeliges und steiniges Gelände in der brütenden Hitze eine Stunde zur Plantage.

Schon früh am nächsten Morgen müssen wir in der glühenden Sonne Zuckerrohr schneiden und auf einen großen zweirädrigen Karren verladen. Diese Schufterei soll bis an unser Lebensende so weitergehen. Ich entschließe mich zur Flucht. Doch die Aufseher hetzen mir die Hunde auf den Hals und legen mich wieder in Ketten. Als ich unterwegs zusammenbreche, werde ich weitergeschleift. Mein Körper ist zerschunden und blutig. Ich werde in ein stinkendes, dunkles Verlies geworfen und am nächsten Morgen auf den Hof des Grundbesitzers gebracht. Zahlreiche Zuschauer sind bei der öffentlichen Auspeitschung anwesend.

Mitten im Hof wird dafür ein dicker Pfahl in den Boden gerammt, an dem ich an Händen und Füßen festgebunden werde. Die Stahlrute reißt meine Haut auf, ich schreie vor Schmerzen, Blut strömt aus unzähligen Wunden. Nach dem zwanzigsten Peitschenhieb wird mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir komme, geht die Auspeitschung weiter. Nach weiteren 15 Hieben breche ich mit einem lauten Schrei erneut zusammen. Der hat mich aus dem Albtraum geweckt. Vielleicht war ich in meinem früheren Leben ein Sklave? Ein Aufrührer wäre ich sicherlich gewesen. Der Traum verfolgt mich noch lange.

Unser erster Segeltörn

Georgs Segelboot, die 17 Meter lange und 24 Tonnen schwere „Sunrise“, liegt für einige Zeit in einer Werft im Süden von Martinique. Das Boot bekommt auf dem Trockendock von unten einen neuen Anstrich. Auch das Getriebe muss ausgewechselt werden. Georg, der in den letzten Tagen sehr angespannt und nervös war, hat Angst, das Boot könnte nicht termingerecht fertig werden, da der erste Törn bereits gebucht ist. Doch nun steht er mit seiner grünen Kapitänsmütze am Steuerrad und ein zufriedenes Lächeln huscht über sein kantiges Gesicht. Wir nehmen Fahrt auf in Richtung Anse Mitan, dem Heimathafen der „Sunrise“, und segeln an der Südküste Martiniques in Richtung Norden, wobei uns Georg die Sehenswürdigkeiten bis ins kleinste Detail erläutert. Wir brauchen keinen Reiseführer.

Ingrid, seine Lebenspartnerin, wartet bereits auf uns. Am Abend trifft auch Skipper Gerry ein. In drei Tagen soll unsere erste größere Tour beginnen.

Von Martinique nach Dominica

Mit Motorkraft verlassen wir die Bucht in Richtung Norden, vorbei an dem Städtchen Schölcher, das nach einem Elsässer benannt ist. Nach eineinhalb Stunden taucht die alte Hauptstadt St. Pierre auf. Von Weitem schon erkennen wir die Kirche und das Sklavenhaus. Am nördlichsten Zipfel von Martinique angekommen setzen wir endlich die Segel.

Wir erreichen streckenweise eine Geschwindigkeit von 10 Knoten, wobei sich das Boot so weit auf die (rechte) Steuerbordseite legt, dass der obere Schiffsrand fast das Wasser berührt.

Georg beschließt, zu angeln. Nach einer halben Stunde kreuzt uns ein Boot. Georg flucht, denn das kreuzende Schiff hat den Haken des Köders, der angeblich 60 Euro gekostet hat, abgerissen. Nach einer weiteren Stunde ist es soweit. Die Angel biegt sich fast bis zur Wasseroberfläche. Wir verlangsamen die Geschwindigkeit, Georg schreit: „Das ist ein ganz Großer!“ Er strahlt, doch in diesem Augenblick entkommt der Fisch samt Haken. Zum Abendessen auf Dominica gibt es statt Fisch einen Linseneintopf.

Wir liegen am nördlichsten Zipfel der Insel, in Portsmouth, vor Anker. Der Ort besteht fast ausschließlich aus Bretterbuden, entlang der Bucht entdecke ich einige Schiffswracks, Hurrikanopfer vergangener Jahre. Selbst Frachtschiffe haben bei solchen Naturkatastrophen keine Chance. Die Insel Dominica hat ca. 100.000 Einwohner und ist auf der Westseite 27 Meilen lang.

Am nächsten Morgen machen wir eine Kanufahrt auf dem Indian River. Alexander, unser Bootsführer, rudert uns gemächlich flussaufwärts durch die Mangrovenwälder. Plötzlich steuert er das rechte Ufer an. Er hat in der Krone eines Mangrovenbaums den vom Aussterben bedrohten Nationalvogel, einen Sisserou-Papagei, entdeckt. Nach einer Stunde erreichen wir eine Dschungelbar. Da die „Aida“, ein riesiges Kreuzfahrtschiff, auch gerade vor Anker liegt, herrscht reger Betrieb. Gerry steuert direkt die Bar an, Gerda und ich erkunden zu Fuß den Dschungel auf einem Trampelpfad durch die üppige Vegeta­tion. Als wir schließlich an die Bar kommen, sind nur noch wenige Leute da. Neben der Bar hockt an einem Holzklotz die dreijährige Tochter des Barbesitzers und trommelt mit zwei Holzstöckchen den Takt der Musik, die aus der Musikanlage dröhnt. Ich setze mich zu ihr und wir trommeln gemeinsam. Dann mahnt Gerry zum Aufbruch. Wir rudern zurück zum Boot und nehmen Kurs auf Les Saintes.

Fort Napoléon

Von der Bucht Anse du Bourg sehen wir oben auf einer Anhöhe das Fort Napoléon. 1782 fand hier die größte Schlacht aller Zeiten mit Segelschiffen statt. Die Franzosen erlitten gegen die Briten unter Admiral Rodney eine ihrer größten Niederlagen. Erst 1816 konnten die Franzosen die Vorherrschaft über die Kleinen Antillen zurückerobern.

Das Fort Napoléon ist heute ein Museum mit Kakteengarten. Rechts und links der Dorfstraße reihen sich kleine, in kräftigen Pastelltönen gestrichene Holzhäuschen wie Streichholzschachteln aneinander. Die Dächer sind mit rotem oder grauem Wellblech gedeckt. Auf dem Fort waren einst fast 3.000 französische Soldaten stationiert. Da es dort keine Frauen gab, wurden sie von den Nachbarinseln einfach entführt. Heute leben auf der vier Quadratkilometer großen Insel etwa 8.000 Einwohner. Nachdem wir das Dorf inspiziert haben, machen wir einen Inselrundgang und steigen hinauf zu den Ruinen des 300 Meter hoch gelegenen Forts Napoléon. Zwischendurch fällt unser Blick immer wieder auf die Schmetterlingsinsel Guadeloupe.

Plötzlich entdecken wir auf der Atlantikseite der Insel eine nagelneue Sportanlage mit einer Tartanbahn. Unglaublich, aber wahr: Der französische Staat gibt jedes Jahr Unsummen für Förderprojekte ihrer überseeischen Departments aus!

Auf dem Fort wird es bereits dunkel. Das Museum hat nur am Morgen geöffnet, also ziehen wir unverrichteter Dinge wieder ab. In einer kreolischen Kneipe treffen wir Georg, Gerry und einen gemeinsamen Seglerkameraden aus Österreich.

Besuch bei Waltraut

Am nächsten Tag segeln wir zurück nach Dominica. Diesmal ankern wir etwas südlicher in der Bucht von Portsmouth. Georg will eine alte Bekannte besuchen, die hier ein Restaurant betreibt und Appartements vermietet.

Sie ist Deutsche und lebt nun schon seit 25 Jahren hier. Georg hat eine selbstgemachte Schwarzwurst aus dem Vorratsraum in Alufolie gewickelt. Wir legen mit unserem Dingi direkt vor Waltrauts Restaurant an. Das Haus steht ganz einsam, von Palmen umgeben, in dieser wunderschönen Bucht. Waltraut ist sehr überrascht und erfreut über den deutschen Besuch. Georg tauscht die schwäbische Schwarzwurst gegen zwei Säcke voller Pampelmusen ein. Die Tische im Restaurant sind alle selbst gezimmert, in verschiedenen Größen, keiner gleicht dem anderen. Die kleine Mauer, die das Restaurant umgibt, ist mit Muscheln und Steinchen verziert. Ein Plätzchen zum Verweilen und Verlieben! Ich gratuliere der Besitzerin zu ihrem schmucken Restaurant, dem hübsch angelegten Garten und den wunderschön eingerichteten Appartements. Bei frisch gepresstem Pampelmusensaft mit Eiswürfeln genießen Gerda und ich den Sonnenuntergang: Ganz allmählich färben sich die paar Wolken am Himmel zunächst zart-, dann kräftigrosa. Sie spiegeln sich im Wasser. Georg holt mich unsanft aus meinen Tagträumen. „Abendessen?“ Die Spezialität des Hauses ist ein typisches kreolisches Gericht, serviert auf einem Bananenblatt.

Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr holen wir die versprochenen Pampelmusen bei Waltraut ab. Die beiden Säcke sind randvoll, insgesamt 102 Stück. Hätte Georg sie in Martinique gekauft, dann hätte er dafür 90 Euro bezahlen müssen. In Dominica kosten Pampelmusen gerade mal ein Zehntel. Die Insel gehört zu den niederschlagsreichsten Gebieten der Erde. In den Bergen regnet es bis zu 10.000 und an der Küste noch 2.000 Millimeter im Jahr.

Dominica soll von Kolumbus an einem Sonntag (daher der Name) vor 500 Jahren entdeckt worden sein. Im Nordosten der Insel leben in einem Reservat noch einige hundert echte Kariben.

Auf den Spuren der Vergangenheit

Weiter geht unsere Fahrt entlang der wild zerklüfteten Küste von Dominica in Richtung Süden. Georg erzählt von seinem Geschäftspartner, einem Metzger aus Westfalen, der wegen der ständigen Kontrollen der deutschen Gesundheitsbehörden und der steuerlichen Knebelungen des Staates seine Wurstfabrik verkaufte und sich nach Dominica in die Karibik zurückzog, um mitten im Urwald eine neue Wurstfabrik sowie vier Appartements mit einem tollen Schwimmbad aufzubauen. Georg hatte vor Jahren durch einen Bericht im „Stern“ von ihm erfahren und ihn kurzerhand mit einem Leihjeep im Dschungel besucht, um sich von ihm Tipps für seine eigenen Projekte zu holen.

Je näher wir Roseau kommen, desto aufgeregter wird Georg. Seit 15 Jahren ist er nicht mehr hier gewesen. Die Fabrik liegt ziemlich weit oben im Dschungel, auf etwa 500 Metern. Mit dem Fernglas in der Hand steht Georg an der Reling. Er hat Angst, sie zu verpassen. Dass ich sie zuerst entdecke, gefällt ihm gar nicht.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf die Suche nach seinem ehemaligen Partner. An einem belebten Platz spricht Georg einige Einheimische auf ihn an. Ein älterer, fast zahnloser Mann mit karibischen Gesichtszügen bestätigt, dass da oben im Dschungel mal „ein verrückter Deutscher“ gelebt und einige einheimische Frauen geschwängert habe. Georg hat seine offiziellen Besitzdokumente dabei. Er kann es nicht erwarten, die Fabrik wiederzusehen.

Die Fahrt durch unwegsames Gelände ist sehr strapaziös. Unser Gelegenheitschauffeur verlangt dafür 100 US-Dollar, die Georg auf 60 herunterhandelt. Wir sind froh, heil angekommen zu sein. Georg führt uns in der baufälligen alten Fabrik herum, er ist ganz aus dem Häuschen. Ich sehe mich in den nahegelegenen Appartementhäusern um. Hier wimmelt es nur so von kleinen Leguanen, die in alle Richtungen davonflitzen. Die Häuser, allesamt aus bestem Material gebaut, sind völlig heruntergekommen. Auch das Haupthaus, das bewohnt scheint, sieht sehr ramponiert aus. Ein Hund begrüßt uns bellend. Georg erzählt, dass die Ehefrau seines Partners eines Tages die Nase voll hatte von seinen Affären und dem einsamen Leben im Dschungel. Ihr Mann versuchte, sich der Verantwortung für seine inzwischen sechs Kinder von verschiedenen Einheimischen zu entziehen. Die Familien der geschädigten Frauen setzten ihn jedoch unter Druck und terrorisierten ihn. Einsam, allein und vom Glück verlassen verfiel er schließlich dem Alkohol. Georg hat vor zwei Jahren zum letzten Mal von ihm gehört. Wer weiß, ob er noch lebt? Bewaffnet mit seiner Besitzurkunde steigen wir weiter den Hang hinauf.

Diana, eine hübsche junge Frau Ende zwanzig kommt uns, angelockt vom Hundegebell, entgegen. Georg versucht ihr klarzumachen, dass er der rechtmäßige Besitzer dieses Geländes ist. Sie führt uns auf einem schmalen Pfad durch den Dschungel hinauf und zeigt uns einen liebevoll angelegten Kräutergarten, einen Gemüsegarten sowie ein riesiges Gewächshaus und einen großen Obstgarten. Neben einer großen Terrasse vor einem kleinen Restaurant entdecke ich auch drei kleine Appartementhäuschen direkt unterhalb der alten Wurstfabrik, die von oben nicht einsehbar sind. Diana ist Amerikanerin, lebt seit ein paar Jahren hier und hat sich alles selbst aufgebaut. Gäste zahlen für ein Appartement 100 Dollar am Tag. Ein stolzer Preis für das Leben außerhalb der Zivilisation, aber wer Ruhe sucht, findet sie hier mit Sicherheit.

Am nächsten Morgen setzen wir die Segel zur Heimreise nach Martinique. Schlagartig ziehen dunkle Wolken am Himmel auf, ein orkanartiger Wind peitscht die See auf, wolkenbruchartiger Regen prasselt auf uns nieder, die See schlägt meterhohe Wellen. Nur noch leise hören wir die sonst donnernd laute Stimme des Skippers. Wir sollen Regenkleidung und Schwimmwesten anlegen. Das Großsegel wird eingeholt. Ich sehe Georg an, dass er den Kampf mit der Natur liebt. Das Boot ächzt durch das aufgewühlte aquamarinblaue Wasser. Nach 15 Minuten ist der ganze Spuk vorüber, die Segel werden wieder voll gesetzt und stehen prall im Wind.

Der zweite Törn

Am 21. Dezember 2003 ruft mich Georg zu sich ins Büro. Die Sunrise soll heute mit sechs Mann Besatzung einschließlich Skipper Richtung Venezuela auslaufen. Gerda und ich könnten seine Kajüte kostenlos benutzen, wenn wir uns an der Bordkasse beteiligen, die Essen, alkoholfreie Getränke, Diesel sowie das Wasser und Anlegegebühren für das Ankern an den verschiedenen Inseln bestreitet. Gerda wehrt sich zunächst heftig dagegen, an diesem Törn teilzunehmen. Doch dann sagt sie schließlich doch noch zu. Unsere Sachen sind schnell gepackt und verstaut, die Aufgaben verteilt.

Tanja und ich sind während der gesamten 13 Tage für das Ankern oder das Festmachen der Bojen an den Moorings zuständig. Das erste Fahrtziel heißt Santa Lucia. Wir kommen zum „Diamanten“, einem 176 Meter hohen Felsen, der etwa 400 Meter vom Land entfernt aus dem Meer ragt. In früheren Zeiten war er ein wichtiger strategischer Stützpunkt für die Engländer, denn Martinique war zwischen 1794 und 1804 zwischen Briten und Franzosen hart umkämpft. Zeitweilig mit britischen Kanonen ausgerüstet, erhoben ihn die Engländer sogar in den Status eines Kriegsschiffs. Der „HMS Diamond Rock“ im Dienste Ihrer Majestät war für die Franzosen zwei Jahre lang uneinnehmbar. Dann ließ der französische Admiral Villeneuve ein Rumfass in Richtung „Diamant“ treiben, die Engländer enterten das Fass und betranken sich. Nun war es für die Franzosen ein Leichtes, die Engländer zu besiegen.

Wir scheitern allerdings daran, diesen Felsen zu umsegeln. Nach mehreren vergeblichen Manövern segeln wir zurück in die nächstgelegene Bucht. Einer der Mitsegler verträgt den Seegang nicht und entschließt sich, mit seiner Frau das nächste Taxi zurück zu nehmen. Sein teurer Urlaub fällt buchstäblich ins Wasser.

Santa Lucia

Am nächsten Tag klart das Wetter auf und wir erreichen die nördlichste Bucht von Santa Lucia, Rodney Bay. Die Insel ist relativ flach, hat viele Erhebungen und 15.000 Einwohner. Bis 1814 wechselte die Insel vierzehn Mal den Besitzer, bis die Briten Santa Lucia zur Kronkolonie ernannten. Die Haupteinnahmequelle sind die Ausfuhr von Bananen sowie der Tourismus. Auf einer Anhöhe liegt ein kleines Fort, das ich besichtigen will. Ich jogge am Sandstrand entlang, vorbei an einer herrlichen Hotelanlage, in der die Bediensteten gerade das Abendessen aufdecken. Schnell erreiche ich die Anhöhe und habe eine atemberaubende Sicht über die Rodney Bay: In der Ferne erhebt sich eine Insel aus dem Wasser, davor segelt ein Schiff mit vollen Segeln direkt auf mich zu.

Die Karibikinsel Santa Lucia hat als erstes Urlaubsgebiet das Schulfach „Tourismus“ eingeführt. Die Kinder werden bereits in den Grundschulklassen über die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus und seinen Einfluss auf die Entwicklung des Inselstaates unterrichtet. Sie erfahren dabei, dass die Touristen keine unglaublich reichen Leute sind, sondern in ihrer Heimat hart arbeiten müssen, um auf diesen Inseln ihre Ferien verbringen zu können.

Am nächsten Tag segeln wir gemächlich entlang der langgestreckten Insel und ankern bei den Pitons, zwei riesigen, steilen Erhebungen von 700 Metern Höhe. Meine Nase wittert Schwefelgeruch. Es gibt hier viele Schwefelquellen und Mineralbäder. Gerda und ich wandern zu einer Quelle und nehmen ein warmes Bad. Danach steuern wir die nahegelegene Hauptstadt Soufrière an, vorbei an Frangipanibäumen, Hibiskus, Papayas, Mangos, Riesenfarnen und Passionsfrüchten sowie Bananenplantagen. Hier werden jährlich etwa 120.000 Tonnen Bananen geerntet. Besonders stolz sind die Lucianer auf Arthur Lewis, der 1971 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, und auf Derek Walcott, den Literaturnobelpreisträger von 1992.

Vorbei geht unsere Fahrt auch an der kleinen Insel Petit Nevis, seit dem 17. Jahrhundert bis vor wenigen Jahren eine Walstation, an der Wale gejagt, geschlachtet und verarbeitet wurden. Die Tiere wurden mit offenen Booten, gesegelt oder gerudert, verfolgt. Hermann Melville beschreibt die Jagd in seinem Buch „Moby Dick“ in allen Einzelheiten. Die Harpune wurde auf traditionelle Art und Weise mit Muskelkraft geschleudert. Durch das Fernglas sind noch die verfallenen Schuppen zu erkennen, in denen die Wale zu Öl verarbeitet wurden.

Bequia

Von St. Vincent bis nach Grenada erstreckt sich die Inselgruppe der Grenadinen. Sie besteht aus acht ständig bewohnten Inseln sowie etwa 100 Eilanden und Felsen. Von Grenada aus sind es bis nach Venezuela nur 150 Kilometer. Wir steuern Bequia, eine 18 Quadratkilometer große Insel an und machen an der Admiraltybucht fest. Die Insel war bis 1993 nur mit dem Schiff erreichbar. Durch den kleinen Flughafen besitzt sie nun eine Anbindung an den Weltluftverkehr. Auf Bequia ist der Anteil der Weißen an den etwa 6.000 Einwohnern gegenüber anderen Inseln relativ groß, da sich hier einst schottische Walfänger niedergelassen hatten. 1840 wurden Bequia und Mustique als Walfangzentren ausgebaut. Früher war Bequia auch bekannt für den Bau von Holzschiffen. 1939 wurde auf der Insel einer der größten Schoner, die in der Karibik jemals vom Stapel liefen, gebaut: das 165 Fuß lange Prachtschiff „Gloria Golita“. 1941 wurde es bei den Bermudas auf offener See mit angeschlagenen Segeln treibend aufgefunden. Sturmschäden waren nicht zu erkennen. Die spanische Crew sowie der Skipper sind nie gefunden worden. Der Sohn des Skippers ist der heutige Ministerpräsident. Die Bucht mit dem malerischen Port Elizabeth ist eine kleine Wunderwelt. 90 Minuten bleiben mir, um die Insel zu erkunden, danach bereiten wir das Weihnachtsmenü vor. Herrliches Wetter! Ein warmer Wind streicht über meine Haut. Von Weihnachtsgefühlen keine Spur, obwohl im Strandpark ein Weihnachtsbaum voller Glitzerketten und elektrischer Leuchtkerzen steht, typisch amerikanisch. Zu Weihnachten gehören, zumindest für mich, Schnee und Kälte!

Auf dem Boot sind alle Mitsegler schon mit den Menüvorbereitungen beschäftigt. Da ich für die Nachspeise zuständig bin, habe ich noch ein wenig Zeit. Tanja hat die Tischdekoration übernommen. Reginas Salat mit einer Avocadosoße mit viel Knoblauch schmeckt allen vorzüglich. Andreas hat gebratenes Rindfleisch mit Kartoffeln und Bohnen gekocht. Leider ist das Fleisch sehr zäh. Doch alles in allem hat das Weihnachtsmenü sehr gut geschmeckt. Gut gelaunt ziehen wir uns in die Kojen zurück und erleben eine Überraschung.

In meiner Koje liegen auf dem Bett verstreut mein Einkaufszettel, Führerschein und Bankkarten. Mein Brustbeutel ist nicht mehr an seinem Platz. Tanja, die das Boot nach unserem Landausflug als Erste betreten hatte, war aufgefallen, dass es überall so nass war. Jemand ist an Bord gewesen und hat unsere Sachen durchwühlt. Mein Brustbeutel ist nicht mehr auffindbar und 350 Euro sind weg. Bei Regina und Andreas fehlen 1.000 Euro, bei Tanja und Gerry wurde nichts gestohlen. Wir sind schockiert. Am nächsten Tag stelle ich fest, dass auch noch meine Sportschuhe weg sind.

Von Union Island zu den Tobago Cays

Der südlichste Abschnitt unserer Segelreise ist Union Island, eine nur sieben Quadratkilometer große Insel mit einem kleinen Flughafen. Die Insel gehört zu St. Vincent und hat etwa 2.000 Einwohner. Wir legen direkt vor der Hotelbar an. Neben einem Steg vor dem Hotel entdecke ich ein Haifischbecken. Es gibt weder ein Geländer noch ist das Becken abgesichert. Das wäre bei uns zu Hause undenkbar! Das Meer schimmert in allen erdenklichen Grün- und Blauschattierungen, ich kann mich gar nicht sattsehen. In Clifton Harbour herrscht viel Betrieb. Von überall her ertönt Musik, es gibt fast alles zu kaufen, ein richtig pulsierender Ort. Am Abend ist in Lambis Restaurant ein herrliches Buffet aufgebaut. Eine Steel-Liveband sorgt schon während des Essens für die richtige Stimmung. Danach gehen wir alle zusammen in die Dorfdisco. Es riecht sehr intensiv nach Gras, der Bass der Jukebox dröhnt in meinen Ohren und das Trommelfell droht zu platzen. An Tanja und Gerda schmeißen sich zwei hübsche Rastamänner heran, während ich von einer Karibin mit einem überdimensionalen Busen in Beschlag genommen werde. Hier in diesem kleinen Dorf ist wirklich was los!

Von Union Island in die Tobago Cays ist es nur ein Katzensprung: vom Ankerliften bis zum Ankersetzen 90 Minuten. Als wir die Tobago Cays ansteuern, sind wir alle begeistert von der Bilderbuch-Kulisse dieser vier winzigen, unter Naturschutz stehenden unbewohnten Inseln. Wir ankern zwischen Petit Ramon und Petit Bateau. Hinter diesen beiden Inseln liegt das kleinere Island Baradal, rechts von Petit Bateau Jamesby, die kleinste der vier Inseln. Ein Boatboy kommt längsseits und bietet uns Lobster an, die er abends am Strand auf dem Grill zubereiten will. Wir nehmen das Angebot an und verabreden uns für 19 Uhr. Gerry setzt Gerda und mich auf Petit Rameau ab, Andreas, Regina und Tanja fahren zu einem hufeisenförmigen Riff hinter der Insel Baradal, um zu schnorcheln. Gerda erkundet die Insel, ich liege faul im Schatten einer Palme. Gegen 17 Uhr holt uns Gerry mit dem Dingi wieder ab. Die Badeleiter wird ausgebracht und wenig später tummeln wir uns im 25 Grad warmen Wasser. Schnell versinkt die Sonne im Meer, eine tropisch warme Nacht bricht über die kleinen Inseln und die See herein.

Der Bootsfahrer hat Wort gehalten. Er serviert uns den Lobster auf einem grob zusammengezimmerten Tisch. Der Mond sorgt für das passende Licht. Romantik pur! Doch als wir den Preis für unsere Schlemmerei erfahren, kommen wir schnell auf den Boden der Tatsachen zurück: pro Person umgerechnet 20 Euro für einen halben Lobster ohne alle Zutaten – ein teurer Spaß!

Einen so herrlich blauen Sternenhimmel kenne ich sonst nur aus dem Gebirge auf über 2.000 Metern. Die Sterne leuchten zum Greifen nah am Himmel, ein leichter Passatwind bringt wohltuende Kühle. Allmählich sinkt der große Wagen am nördlichen Horizont des Himmels und verschwindet, während auf der gegenüberliegenden Seite ganz langsam das Kreuz des Südens erkennbar wird.

Am nächsten Tag fahre ich gleich nach dem Frühstück auf die Insel Petit Bateau. Am Strand entdecke ich einen kleinen Holztisch, den ich in den Schatten einer Palme stelle, beginne zu schreiben und beobachte nebenher kleine Leguane, die sich in der Sonne aalen. Mit einem Becher Kaffee aus der Thermoskanne lehne ich mich an eine Palme, mein Blick schweift über die vier kleinen Inseln. Die Farben des Wassers reichen von Tintenblau über Smaragdgrün bis zu hellem Türkis, dort, wo es am flachsten ist. Als mich das Dingi um 17 Uhr abholt, gebe ich Gerry lediglich meinen Rucksack mit und schwimme zur „Sunrise“ zurück. Die geistige Arbeit hat mir richtig gut getan.

Mustique und St. Vincent

Vor vielen Jahren hat ein amerikanischer Multimillionär die Insel Mustique gekauft, um sie parzellenweise mit viel Gewinn weiterzuveräußern. Auf dem fünf Quadratkilometer großen Eiland besitzen Mick Jagger, David Bowie, Raquel Welch sowie Prinzessin Margret von England Villen und führen hier wenige Tage oder Wochen im Jahr ein Robinsonleben in Luxus. Die Insel hat einen eigenen kleinen Flughafen. Wenn die etwa 80 Luxusvillen leer stehen, kann man sie mieten – natürlich zu einem entsprechenden Preis. Ich mache einen kleinen Inselrundgang, um mir einige der Villen der oberen Zehntausend anzuschauen. Am auffälligsten ist ein schneeweißes Gebäude wie aus Tausendundeiner Nacht, hoch oben auf dem Berg gelegen und im arabischen Stil erbaut. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das ganze Baumaterial musste mit dem Schiff herangeschafft werden, ebenso die unzähligen Handwerker!

Weiter geht die Fahrt gen Süden. Wir haben alle Segel gesetzt, den Motor abgeschaltet und machen etwa 6 bis 7 Knoten in der Stunde. Nun kommt St. Vincent in Sicht, der weltweit größte Produzent von Pfeilwurz, einer stärkehaltigen Pflanze zur Herstellung von Computerpapier. Aber hier werden auch Bananen, Ananas, Kartoffeln, Brotfrüchte, Avocados, Kakao, Mangos und Gewürze angepflanzt. Angeblich wurde die Insel von Christoph Columbus auf seiner dritten Westindienreise am 22. Januar 1498, dem Namenstag des heiligen Vincent, entdeckt. Fast auf den Tag genau 500 Jahre später betrete ich nun die 322 qkm große Insel, die etwa 120.000 Einwohner hat. Die Hauptstadt heißt Kingston. Die Insel ist weltweit in die Schlagzeilen gekommen, denn hier wurde der Film „Der Pirat“ gedreht. Wir fahren an der Walilabou-Bucht vorbei und erkennen auch die anderen Filmkulissen in etwa 200 Metern Entfernung deutlich. Die Engländer taten sich vor 400 Jahren nicht leicht, diese Insel einzunehmen, denn die einheimischen Kariben leisteten immer wieder erbitterten Widerstand. Eines Tages strandete ein Schiff aus Bequia auf St. Vincent. Die schwarzen Sklaven flohen in die Freiheit. Es entwickelte sich eine Mischrasse, die sogenannten Black Caribs.

St. Vincent besteht vollständig aus vulkanischem Gestein. Der Sand an den Stränden ist schwarz und grobkörnig. An der Cumberland-Bucht gehen wir vor Anker, einer wunderschönen kleinen Bucht, die jedoch nur von sehr wenigen Segelschiffen angesteuert wird. An der Insel geht der Tourismus fast völlig vorbei, trotz der Dreharbeiten. Es fehlt hier an allem, was der moderne Reisende benötigt, um sich in den Tropen wohlzufühlen. Im Norden der Insel erhebt sich der Mount Soufrière, ein immer noch aktiver Vulkan. Nur ein Jahr nach dem Mount Pelée auf Martinique brach der Mount Soufrière aus und begrub 2.000 Menschen unter sich.

Mit dem Dingi fahren wir an Land, organisieren einen Pick-up und genießen die Fahrt über die Insel auf der Pritsche. Ein schmaler Waldweg führt zu einem Fluss, den wir an der niedersten Stelle durchqueren. Danach geht es auf einer betonierten Straße entlang der wild zerklüfteten Küste. Immer wieder passieren wir kleine Orte. Angebundene Hausschweine, Kühe, Hühner und Ziegen bevölkern die Berghänge und der Blick von oben auf die verschiedenen kleinen Buchten ist phantastisch. Die einheimischen Black Caribs winken uns freundlich zu. Endlich verlassen wir die Küstenstraße und fahren ins Landesinnere, vorbei an Bananen- und Ananasplantagen. Die Wege werden immer schlechter, nur gut, dass wir Allradantrieb haben.

Weiter geht es über Stock und Stein bis zu einem sogenannten „Parkplatz“: Mehr als drei Fahrzeuge können dort nicht stehen. Ein schmaler Pfad führt durch den tropischen Regenwald zu unserem Ziel, einem Wasserfall.

Ich bin als Erster dort, gefolgt von Gerry. Die Wassermassen stürzen mit ohrenbetäubendem Getöse zu Tal. Am Fuße des Wasserfalls liegt ein kleiner See, in den Gerry und ich springen. Die herabstürzenden Wassermassen bilden riesige Wirbel im See. Ich werfe ein Stück Holz ins Wasser, um zu sehen, wo es wieder auftaucht. Bei allen drei Testläufen landet es immer wieder am Ausgangspunkt. Ich stürze mich in die Fluten. Direkt unter dem Wasserfall saugt mich die Strömung auf, wirbelt mich einige Male um die eigene Achse und zieht mich in die Tiefe. Sekundenlang ist mir richtig mulmig zumute. Wenn ich auf die andere Seite abgetrieben werde, finde ich keinen Halt und stürze 10 Meter in die Tiefe, in der große Felsbrocken aus dem Flussbett ragen. Doch der Wirbel treibt mich tatsächlich zu meinem Ausgangspunkt zurück. Das macht so viel Spaß, dass ich es ein Dutzend Mal wiederhole. Dann streife ich mir meine nassen Klamotten über und trete den Rückmarsch sogar barfuß an. Eine knappe Stunde später bin ich wieder am Parkplatz.

Nun fahren wir die gleiche Strecke zurück. Im ersten Ort biegt der Fahrer vor einem Restaurant auf einen Parkplatz. Gerda, Tanja und ich sind gebannt von den hohen Wellen, die sich in Sekundenabständen an der Strandmauer des Restaurants brechen. Mit mächtigem Getöse fallen die Wellen in sich zusammen, die schäumende Gischt wird an Land gespült

Nach einer kleinen Zwischenmahlzeit auf dem Boot bereiten wir das Silvestermenü vor. Tanja macht eine Gemüsepfanne und kocht, da es auf der Segelyacht lediglich zwei Gasflammen gibt, Reis vor, der locker für 20 Personen reichen würde. Regina bereitet frisch gefangenen und ausgenommenen Fisch zu. Andreas holt eine Flasche chilenischen Wein aus einem Versteck und das Silvestermenü kann beginnen. Als Nachspeise gibt es Bananen in Orangensaft-Rum-Mango-Sud, eine meiner Eigenkreationen. Von der Neujahrsnacht spüren wir in dieser Bucht nicht viel: keine Musik, kein Feuerwerk, nichts, was auf einen Jahreswechsel hindeutet.

Von St. Vincent nach Santa Lucia

Diese Fahrt wird den ganzen Tag dauern. Eigentlich war Frühaufstehen angesagt. Doch da die letzte Nacht für einige von uns sehr lang war, herrscht um 6 Uhr noch totale Funkstille. Ich opfere mich, stehe auf, stelle die Wasserpumpe an und setze Wasser für Kaffee und Tee auf. Als Gerry ans Steuerrad tritt und den Motor anwerfen will, gibt er keinen Ton von sich. Die Batterien sind leer und wir liegen in einer einsamen Bucht vor Anker. Ein einheimischer Obstverkäufer paddelt auf einem ausgedienten Surfbrett auf unser Boot zu. Er wird in das ca. 1,5 Kilometer entfernte Dorf geschickt, um eine Batterie zu besorgen. In der Zwischenzeit frühstücken wir oben an Deck in aller Ruhe. Nach einer weiteren Stunde Wartezeit können wir endlich Fahrt aufnehmen. In der offenen Karibik erwartet uns eine tobende See: Vier bis sechs Meter hohe Wellen werfen unser Boot wie eine Nussschale hin und her. Der Skipper hat Schwierigkeiten, den Kurs zu halten. Gerda und Tanja nehmen K. o.-Tabletten und legen sich in die Koje. Auch Andreas und Regina verschwinden in der Kajüte. Gerry und ich sind alleine an Deck. Eine Achterbahnfahrt bis nach Santa Lucia: Es geht immer auf und ab, die ganze Zeit schwappt das Wasser an Deck. Regina und Andreas legen vorsichtshalber ihre Schwimmwesten an. Gerda kommt an Deck und muss sich sogleich übergeben. Die Fahrt will kein Ende nehmen, doch dann tauchen Santa Lucia und die Pitons in der Ferne auf. Die beiden über 700 Meter hohen Felskegel, von den Einheimischen liebevoll „vulkanische Stöpsel“ genannt, zeigen an, dass wir nun noch etwa drei Stunden zu segeln haben. Gegen 19 Uhr laufen wir endlich in die Bucht ein. Alle haben riesigen Hunger und ich koche aus den Resten des Vortags Reissuppe mit Würstchen.

24 Stunden später treffen wir wieder in Martinique ein. Wir räumen die Kabinen, tanken das Boot voll mit Diesel und Wasser und beginnen mit der Großreinigung des Bootes, denn morgen wird eine neue Crew die gleiche Route segeln wie wir.

Trois Ilets

Gerda und ich fahren nach dem Frühstück mit dem Fahrrad in das kleine Touristenstädtchen Trois Ilets, das wunderschön am Berghang in einer kleinen Bucht liegt.

Gerda besorgt Holzleim in einem Laden etwas außerhalb des Dorfes. Ich warte mit dem ganzen Gepäck am Marktplatz. Mitten auf dem Platz stellt unter einem überdimensionalen Sonnenschirm ein schlanker, gutaussehender Mann um die 50 seine Aquarelle mit verschiedenen Motiven der Karibik aus.

Gerda kommt vom Einkauf zurück. Der Maler spricht uns an und will wissen, was es mit dem vollbeladenen Rad auf sich hat. Gerda erzählt ihm, dass ich von Martinique aus nach Kuba, Mexiko, Kalifornien, Kanada und Alaska und zurück in die Südstaaten über Mittelamerika nach Südamerika fahren will. Davon hat er vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen und ist fasziniert von meinem Vorhaben. Wir erfahren, dass Manuel Franzose ist und in Bordeaux ein Haus und eine Familie mit zwei Kindern hat. Segeln ist seine große Leidenschaft. Seine Frau mag das Segeln nicht, aber sie lässt ihn gewähren. Seit fünf Jahren malt er Aquarellbilder, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Auf dem Marktplatz versucht er an drei Tagen der Woche, seine Bilder zu verkaufen. „Ich lebe bescheiden und bin glücklich.“ Er hat sich gefunden. „Und ich bin auf dem besten Weg dahin“, denke ich in diesem Moment.

Innerhalb von 30 Minuten verkauft er sieben seiner 17 Bilder zu einem Preis von jeweils 20 Euro. Schließlich kaufe ich ihm auch noch ein Bild ab. Als er es zusammenrollt, fragt er mich, ob mir noch ein anderes Motiv gefallen würde. Ich deute auf eines, da schnappt er sich seine Zeichenmappe, entnimmt ihr ein Bild und verpackt es zusammen mit dem gerade gekauften. Ein Geschenk! Ich bedanke mich herzlich.

Der Abschied naht

Nach fast drei Monaten ist es an der Zeit, die schöne, liebgewonnene Insel zu verlassen. Die Tiefgarage eines Neubaus ist meine vorletzte Schlafstätte. Ausgerechnet an diesem Morgen erlebe ich eine kleine Überraschung. In diesem Neubau gibt es etwa 20 Wohnungen, aber nur eine Wohnung ist bisher bezogen. Die Bewohnerin hat in den letzten Tagen immer gegen 6.45 Uhr die Garage verlassen. Für mich der Hinweis, die Garage zu räumen, denn es sind immer noch einige Handwerker an der Arbeit. Doch heute öffnet sich plötzlich mein Garagentor und ein Arbeiter steht vor mir. Wild gestikulierend redet er in völlig unverständlichem Kreolisch auf mich ein. Ich versuche ihm klarzumachen, dass ich in 10 Minuten wegfahren werde. Er dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet. „Glück gehabt“, denke ich. Doch als ich gerade meine Isomatte auf das Fahrrad schnalle, taucht der Handwerker mit der Verwalterin des Hauses auf. Ein erneuter unverständlicher Wortschwall, diesmal auf Französisch, ergießt sich über mich. Gesichtsausdruck und Tonfall sind bedrohlich. Ich signalisiere, dass ich in zwei Minuten verschwunden bin. Nun ist höchste Eile geboten, ehe noch die Polizei auftaucht. In Windeseile verlasse ich die Tiefgarage. Auf dem Weg zum Strand kaufe ich mir ein Baguette und radle zu meinem Lieblingsplatz, einem Tisch mit zwei Bänken, der für 10 Personen Platz bietet, um erst einmal in Ruhe zu frühstücken.

Ein Kreole sitzt schon dort. Heute verweigert er mir einen Sitzplatz, obwohl wir in den letzten Tagen immer gemeinsam hier gesessen haben. Schließlich setze ich mich durch, indem ich ihm mit der Polizei drohe. Ich mache Tee, presse vier Pampelmusen aus und belege mein Baguette. Eine Hälfte ist noch übrig. Plötzlich fragt er mich, ob er ein Stück haben könne. Erst verneine ich, bin dann aber doch bereit, etwas abzugeben. Nun will er nicht mehr. Sein Stolz lässt das wohl nicht zu.

Nach der Morgentoilette beginne ich zu schreiben. Plötzlich taucht ein älteres schweizerisches Ehepaar auf. Sie freuen sich, endlich wieder mit jemandem Deutsch sprechen zu können. Sie sind schon seit sieben Jahren immer von Anfang Januar bis April zum Überwintern auf der Insel. Der Schweizer holt Gebäck in einer Bäckerei und wir trinken gemeinsam meinen Kaffee. Dann radle ich zur knapp 30 Minuten entfernten Pferderanch, um meinen Hänger abzuholen. In Trois Ilets kaufe ich noch eine Gaskartusche, denn ich weiß nicht, ob ich in Kuba überhaupt eine bekomme. Ich kopple den Hänger an das Fahrrad an und hole im benachbarten Park den Fahrrad- und Hängerkarton, den ich zum Verpacken auf dem Flughafen benötige, aus einem Versteck. Mit zwei Flaschen Wein und ein paar Rest­lebensmitteln ausgerüstet, fahre ich nochmals zu der Ranch­besitzerin, einer gebürtigen Elsässerin, die auf einer kleinen Anhöhe in einer wunderschönen Finca lebt. Sie kommt zum Eingangstor und ich bedanke und verabschiede mich. Sie wünscht mir viel Glück für meine Reise.

Es wird bereits dunkel, doch ich muss noch 20 Kilometer bis zu meinem letzten Quartier auf der Insel zurücklegen. Die Nationalstraße Richtung Fort de France ist stark befahren. Hier ist es mit dem Fahrrad schon bei Helligkeit sehr gefährlich! Nach einer halben Stunde fahre ich auf der Autobahn bis zur ersten Tankstelle. Dahinter führt ein kleiner Pfad zu einem nahestehenden, unbewohnten Haus. Das Einfahrtstor steht offen. Ich schiebe mein Rad unter ein Vordach, nehme die Taschen herunter und steige eine Treppe hinauf zur überdachten Veranda. Zum Abendessen gibt es Eierpfannenkuchen mit Apfelmus.

Doch das Nachtlager ist nicht allzu gut ausgewählt. Die vorbeirauschenden Autos machen einen Höllenlärm. Ich zähle mehr als 100 in der Minute. Ans Schlafen ist bei diesem Lärm nicht zu denken, doch für einen Quartierwechsel bin ich dann doch zu faul. Wer weiß, ob und wann ich bei Dunkelheit etwas Besseres fände. Inzwischen ist der Lärmpegel zwar etwas leiser, aber nun beginnt die Zeit der Raser. Genau auf der Höhe des Hauses wird in den vierten und fünften Gang geschaltet. Das ist sogar noch nervtötender als der gleichmäßige, monotone Sound vorher. Irgendwann fallen mir aber doch noch die Augen zu.

Nach dem Frühstück gehe ich zur Tankstelle, spüle das Geschirr und putze mir die Zähne. 20 Minuten später bin ich auf dem Flugplatz. Für das Verpacken von Rad und Trailer brauche ich 90 Minuten. Mit einem Kuli bringe ich die beiden Gepäckstücke zum Abfertigungsschalter: 35 Kilogramm Übergewicht – je Kilogramm 5 US-Dollar Gebühr zusätzlich! Ich verziehe das Gesicht und schüttle den Kopf. Die Kubanerin am Schalter hat ein Einsehen und senkt den Preis auf 3 Dollar. Ich bedanke mich herzlich.

Tränenreich verabschiede mich von Gerda, die nach Deutschland zurückfliegt. Ihr Sohn hat in sechs Wochen Geburtstag.

Karibik-Flair

Ich schlendere über exotische Märkte, genieße idyllische Palmstrände, fahre durch gepflegte Zuckerrohr- und Bananenplantagen und stelle fest: Auch das ist Frankreich. Die beiden Inseln Martinique und Guadeloupe in der Karibik sind gleichberechtigte französische Departements wie jedes andere im europäischen Mutterland Frankreich. Das wurde vor etwa 60 Jahren im französischen Parlament gesetzlich festgelegt. Hier herrscht kein Drang zur Unabhängigkeit, abgesehen von einer ganz kleinen Gruppe. In Gesprächen mit Einheimischen höre ich oft: „Wir fühlen uns als Franzosen und stehen fest zu Frankreich.“ Verständlich, denn von dort fließt doch einiges Geld hierher.

Die Kreolen sind sich bewusst, dass ihr Lebensstandard wesentlich höher ist als auf den Nachbarinseln. 200 Jahre nach der Entdeckung durch Christoph Kolumbus wurden diese beiden Inseln kolonialisiert. Mitten auf der Insel Martinique liegt die Hauptstadt Fort-de-France. Mit meinem bepackten Rad sorge ich auch hier für Aufsehen. Ein großes Gebäude weckt meine Aufmerksamkeit: die Schölcher-Bibliothek, benannt nach dem Elsässer Victor Schölcher.

Beim Stichwort Elsass bekomme ich Heimweh, denn meine Heimat Baden ist lediglich durch den Rhein vom Elsass getrennt.

Der Journalist, Schriftsteller und Musikwissenschaftler Victor Schölcher stammte aus einer reichen Fabrikantenfamilie. Er kämpfte gegen die Sklaverei und war 1848 mitverantwortlich für ihre Abschaffung auf Martinique.

Ich verlasse die Hauptstadt Fort-de-France, durchradle den vornehmen Villenort Schölcher und komme auf der Westküstenstraße vorbei an armseligen Fischerdörfern. Mein Blick schweift über das Meer, fast erwarte ich, am Horizont ein historisches Segelschiff in voller Takelage zu sehen. Ein erhebendes Gefühl, dort zu stehen, wo einst Kolumbus an Land ging! Ein kleines Museum erinnert daran, dass hier gegen Ende des 19. Jahrhunderts der französische Maler Paul Gauguin seine Zelte aufschlug. Kurz darauf erreiche ich die alte Hauptstadt am Fuß des mächtigen Mount Pelée mit knapp 1.400 Metern Höhe. Der noch aktive Vulkan hat bei seinem letzten Ausbruch 1902 binnen zwei Minuten alle 30.000 Einwohner unter Lava und Asche begraben. Nur der Häftling Cyparis hat die Katastrophe des „Pompeji der Karibik“ überlebt. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs hielt er sich in einem Keller auf. Im nächsten Fischerdorf stelle ich mein Fahrrad unter, um zu Fuß den Gipfel zu erklimmen. Über Bergwiesen und durch schattige Farnbaumwälder steige ich hinauf. Etwas mulmig ist mir schon zumute, als ich vom Kraterrand auf die erstarrte Lava blicke. Jederzeit kann der Vulkan wieder aus dem Tiefschlaf erwachen. Plötzlich überfällt mich eine merkwürdige Unruhe und ich breche schnell auf. Der Abstieg führt mich durch wildromantische Täler. Ausgelassen wie ein kleines Kind hüpfe ich von Stein zu Stein über munter sprudelnde Bergbäche. An einem kleinen Wasserfall nehme ich in einer kleinen Grotte ein erfrischendes Bad. Der Wasserfall prasselt auf mich herab und massiert meinen Körper.

Nach dem Abstieg vom Mount Pelée lande ich mitten in einer Ananas- und Bananenplantage. Die Ananas stammt ursprünglich aus Eleuthera, einer der vielen Bahama-Inseln. Von hier aus trat sie ihren Siegeszug um die ganze Welt an. Heute wird sie vor allem in feucht-heißen Ländern angebaut.

Ich wandere Richtung Süden, durch tropische Gartenlandschaften voller Jasmin, Hibiskus und Trompetenblumen. Hier in der Domaine de la Pagerie kam 1763 Marie Josephe Tascher zur Welt, die spätere Kaiserin Josephine von Frankreich. Stunden später erreiche ich den äußersten Südzipfel der Insel. Einen Kilometer weiter breitet sich ein feiner Sandstrand aus. Hier pulsiert das Leben. Junge Kreolinnen führen den Badegästen Pariser Designerklamotten vor, die sie in Säcken mit sich herumschleppen. Flink schlüpfen sie von einem Kleid ins nächste und tänzeln aufreizend vor der Kundschaft. Die Männer greifen tief in die Tasche.

Eine Prise französische Lebensart, ein Kaffeelöffel afrikanische Rhythmen, ein Hauch Pariser Charme und ein kräftiger Schuss karibische Sonne prägen den Cocktail Mandinia. So nannten die Ureinwohner ihre Insel, bevor Kolumbus sie entdeckte.

Kuba

Verluste

Die Maschine landet um 20.15 Uhr in Havanna. Mein erstes Gepäckstück bekomme ich relativ schnell, aber das zweite taucht nicht auf. Inzwischen sind alle Mitreisenden weg und das Band ist leer. Eine wahre Odyssee von Schalter zu Schalter beginnt, bis sich eine nette Kubanerin meiner annimmt. 20 Minuten später habe ich auch mein zweites Gepäckstück. Bei der Zollkontrolle werde ich außerhalb der Reihe abgefertigt, denn beide Gepäckstücke müssen aufgeschnürt und alles offen ausgelegt werden. Ein höherer Zollbeamter wird geholt und inspiziert meine Sachen. Ein Kilogramm getrocknete Zwetschgen und ein Kilogramm Walnüsse werden einbehalten – die Einfuhr von Lebensmitteln ist verboten. Den Rest Zwetschgen und Nüsse in der Lenkertasche finden die Zöllner nicht. Dann packe ich alles wieder zurück in die Kartons. In der Vorhalle beginne ich erneut mit dem Auspacken. Im Nu bildet sich eine Menschentraube um mich und schaut mir zu. Ein Kubaner hilft mir. Als er erfährt, was ich vorhabe, informiert er alle Umstehenden über meine Pläne. 40 Minuten später bin ich fahrbereit. Inzwischen ist es fast Mitternacht. Unter Applaus verlasse ich den Flughafen. Auf der gut ausgebauten Straße fahre ich im Halbmondlicht in Richtung der 20 Kilometer entfernten Hauptstadt Havanna. Zum Glück ist kaum Verkehr. Ich muss möglichst schnell ein geeignetes Nachtquartier finden. Das Gelände rechts und links der Straße ist eingezäunt. Nach acht Kilometern erreiche ich Diaz. Am Ortseingang liegt ein Sportgelände, zwar auch eingezäunt, aber mit vielen Schlupflöchern. Ich stelle mein Rad an einer Straßenlaterne ab. Alles sieht etwas heruntergekommen aus. Doch zu mitternächtlicher Stunde herrscht hier noch reger Betrieb. Kurzerhand fahre ich weiter. Nach 20 Minuten taucht erneut ein Sportgelände mit einer kleinen, zerfallenen Tribüne auf. Es gibt hier sogar eine 400-Meter-Aschenbahn, die jedoch völlig mit Gras überwuchert ist. Ich schiebe mein Rad auf die Tribüne und richte das Nachtlager. Mein Rucksack dient als Kissen.

Am Morgen stelle ich mit Erschrecken fest, dass mein Rucksack weg ist. Er muss mir im Schlaf weggerutscht und gestohlen worden sein. Gott sei Dank trage ich auch in der Nacht meinen Brustbeutel mit allen wichtigen Papieren sowie dem Geld am Körper. Aber meine ganzen E-Mail-Adressen, Telefonnummern, etwa 60 Seiten Tagebuchaufzeichnungen und das Flug­ticket nach Mexiko sind weg, ebenso der wasserdichte Rucksack, ein Geschenk meiner Tochter Claudia. Der Verlust meiner gesamten Notizen ist verdammt ärgerlich. Auch die beiden Bilder, die ich auf Martinique erstanden habe, sind weg. Mülltonnen, Plastiktüten, die nicht nur von Hunden und Katzen nach Essbarem durchwühlt werden – im Umkreis von tausend Metern suche ich alles ab, doch vergeblich.

Auf der Polizeistation wimmelt es nur so von Polizisten, aber keiner fühlt sich für mich zuständig. Endlich tritt ein älterer Herr in Zivil auf mich zu und fragt nach meinem Problem, und ich erzähle von dem Diebstahl. Er wendet sich an den Bürovorsteher, der mir endlich einen Polizisten zuteilt, der sich um meinen Fall kümmert. Handschriftlich hält er alle Daten fest. Der hilfreiche Kubaner und ich werden in ein anderes Büro geführt. Hier sitzt ein Beamter am Computer. Er soll mir ein Dokument ausstellen, damit ich bei Air Cubana ein Ersatzticket für Mexiko beantragen kann. Doch er beachtet uns gar nicht und plaudert munter mit einem Kollegen. Juan, der hilfsbereite Kubaner, schüttelt den Kopf. „Das ist Kuba.“ Er ist 69 Jahre alt, hat früher in einem Ministerium gearbeitet und schaut ab und zu bei der Polizei vorbei, um Hilfesuchenden unentgeltlich seine Dienste anzubieten. 20 Minuten dauert das Plauderstündchen. Der für mich zuständige Polizeibeamte ist nicht gerade der Schnellste, doch nach 30 Minuten hat auch er das Schriftstück erstellt. Beim Bürovorsteher erhalte ich drei Stempel und kann nach insgesamt fast drei Stunden die Polizeistation verlassen. Ich bedanke mich überschwenglich bei Juan. Der Himmel ist inzwischen wolkenverhangen und es sieht mächtig nach Regen aus. Keine fünf Minuten später fallen die ersten Tropfen. Ich bin gerade wieder bei meinem Nachtquartier angelangt, die Rückseite der Tribüne bietet Schutz. Drei Stunden lang prasselt der Regen herunter. Die Straße steht im Nu unter Wasser, die Autos spritzen Wasserfontänen nach allen Seiten. Um mich herum stinkt es gewaltig. Überall liegt Unrat herum, sogar ein verwester Hund wird angetrieben. Jetzt könnte ich die Zeit nutzen, um zu schreiben, aber ich habe weder Papier noch Kugelschreiber.

Bekanntschaften

Inzwischen ist es 14 Uhr und ich habe immer noch nicht gefrühstückt. Endlich hört es auf zu regnen. Ich setze mich aufs Rad und steuere die nächste Imbissbude an. Bei immer wiederkehrendem Regen erreiche ich nach vielen Zwischenstopps endlich Havanna. Hier gibt es viele verfallene Häuser und Ruinen, aber keine Neubauten, schlecht für mich. Die wenigen Baustellen werden am Abend alle verriegelt, denn Baumaterial ist knapp und sehr teuer und jeder kann alles gebrauchen. Dann entdecke ich eine größere Baustelle, bei der Licht brennt und noch gearbeitet wird. Die muss ich mir merken! Ein Stück weiter streicht unter den Arkaden ein Kubaner sein Velo an. Wir kommen ins Gespräch. Seine Schwester lebt in Ulm, er lädt mich zum Kaffee ein. Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich bedanke mich und fahre zur Baustelle zurück. Es brennt immer noch Licht und einige der Arbeiter schlafen selbst dort. Nach weiteren 45 Minuten vergeblicher Suche spricht mich ein junger Kubaner an. „You casa?“ Nach langem Hin und Her einigen wir uns schließlich auf 15 Dollar für die Nacht. Zwei Straßen weiter bei seinem Freund Raphael komme ich unter. Auch das Fahrrad wird in der Wohnung untergebracht. Alles ist sehr improvisiert. Die Klospülung in der unteren Etage ist defekt, deshalb muss mit einem Eimer Wasser nachgespült werden, der Gasherd ist notdürftig mit Draht zusammengeflickt. Doch ich bin zufrieden.

Havanna

Havanna hat 12 Millionen Einwohner. Die ehemals herr­lichen Gebäude aus spanischer Kolonialzeit sind vom Verfall bedroht und in einem miserablen Zustand. Die Kehrseite des Sozialismus: Die Eigeninitiative geht völlig verloren. Der Staat ist pleite, die Produktivität der heimischen Wirtschaft sinkt in den Keller, Baumaterialien wie Zement, Holz und Farbe sind kaum erschwinglich. Die Nebenstraßen befinden sich in einem erbärmlichen Zustand und trotzdem pulsiert hier das Leben. Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Die Frauen bieten für 8 US-Dollar ihren Körper an. Mehrmals täglich werde ich von jungen, hübschen Kubanerinnen angesprochen. Der Ver­suchung zu widerstehen, ist nicht ganz einfach.

Auf der ersten größeren Stadtrundfahrt haben mich die alten Prachtbauten aus der spanischen Kolonialzeit tief beeindruckt. Am Capitol mache ich eine Kaffeepause. Ich sitze noch keine 10 Minuten, da spricht mich ein Kubaner an, erzählt von seinem Angolaeinsatz, zeigt mir seine vier Verletzungen und will mich zur Hemingway-Bar führen. Ich willige ein, aber wir landen in einer anderen Bar, weil die Ernest-Hemingway-Bar angeblich gerade restauriert wird. Er bestellt sich einen Rumpunsch und ich ein Wasser. Da er keine Zigaretten mehr hat, ordert er welche auf meine Rechnung. Er erzählt mir allerlei Geschichten mit einer so dröhnenden Stimme, dass die anderen Gäste herüberschauen. Irgendwann flüchte ich in die historische Altstadt. Kubanische Musik dringt an mein Ohr. In einer Cafeteria spielt eine Band und davor tanzen zwei ältere kubanische Herren. Ich geselle mich zu ihnen und wir tanzen zu dritt. Das Publikum applaudiert. Da taucht ein Polizist auf und verjagt die beiden nach einem Wortgefecht. Tanzen auf offener Straße ist in Kuba nicht erlaubt.

Mehr Bekanntschaften

Als ich zu meinem Fahrrad zurückkehre, klatscht eine attraktive Senorita Beifall. Ich verabrede mich mit Aljuscha zum Kaffeetrinken. Nach einer Tour durch die historische Altstadt treffe ich pünktlich ein. Aljuscha hat gleich noch ihre Freundin mitgebracht. Aljuscha ist 27 Jahre alt, Mutter einer achtjährigen Tochter und Kindergärtnerin. Ich verabrede mich mit ihr für 20 Uhr. Sie will mir die Altstadt bei Nacht zeigen. Wir nehmen in einer Rikscha Platz. Da es für Kubanerinnen verboten ist, sich mit Touristen auf der Straße zu zeigen, muss der Fahrer des Öfteren einen Umweg nehmen, um nicht den zahlreichen Polizeiposten zu begegnen. Aljuscha rückt immer näher und dann mit ihrem Anliegen heraus. Sie bietet mir Sex zum hier üblichen Standardtarif von 8 Dollar an. Ich lehne das verlockende Angebot ab, möchte mich aber trotzdem wieder mit ihr treffen.

Vor meiner Unterkunft spricht mich eine bildhübsche junge Kubanerin an. Sie wohnt hier in der Nähe und hat mich als den „Bikefahrer“ erkannt. Auch sie macht mir ein eindeutiges Angebot. Leidi ist 19 Jahre alt. Ich habe eine Schwäche für das weibliche Geschlecht. „Du könntest meine Enkelin sein“, sage ich, aber sie versteht mich nicht. Ich verabrede mich mit ihr für den nächsten Abend zum Essen. Punkt 19 Uhr steht sie vor der Tür, gestylt bis in die Haarspitzen. Sie trägt eine schwarze Hose, einen schwarzen Blazer und darunter ein raffiniert geschnittenes Top, das mehr enthüllt als bedeckt. Ihr langes, gewelltes dunkles Haar ist kaum zu bändigen. Ich streiche ihr behutsam eine widerspenstige Locke hinters Ohr und hauche ihr ein Begrüßungsküsschen auf die Wange. Leidi kann sich mit ihrer makellosen Figur auf jedem Laufsteg sehen lassen.