Und dazwischen ein Ozean - Martina Meienberg - E-Book

Und dazwischen ein Ozean E-Book

Martina Meienberg

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Beschreibung

Unterschiedlicher als diese beiden könnten Schwestern kaum sein. Während Iris erfolgreich das Café ihrer Eltern weiter­führt, reüssiert Gabriela als international anerkannte Bildhauerin. Die Schwestern trennen Welten – und doch sind sie sich tief verbunden und teilen mehr miteinander, als Iris ahnt. Nach dem tragischen Unfalltod von Gabrielas kaum zwanzigjähriger Tochter Lea erfüllen die Schwestern mit einer Transatlantikfahrt von Hamburg nach New York einen dringlichen Wunsch des Mädchens. Doch zwischen Hamburg und New York liegt nicht nur ein Ozean, sondern auch ein Geheimnis, das Gabriela aufdeckt. So wird Iris mit einer erschüttern­den Wahrheit konfrontiert und gezwungen, sich den blinden Flecken in ihrem Leben zu stellen. Für die Schwestern wird die Überfahrt nach New York buchstäblich zur Reise in die «Neue Welt». Klug und temporeich erzählt, überrascht dieser Roman mit unerwarteten Wendungen. Dabei sorgen die von der Autorin elegant gegeneinander geschnittenen Stimmen der Protagonistinnen, hier das Reiseprotokoll von Iris, dort Gabrielas Tagebuch, das nach und nach Licht ins Dunkel der vergangenen Jahre bringt, für zusätzliche Spannung.

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Martina Meienberg

Und dazwischen ein Ozean

Roman

»Jeder Mensch erfindet sich früher oder

später eine Geschichte, die er für sein Leben hält,

oder eine ganze Reihe von Geschichten.«

Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein

Inhalt

Bericht einer Reise, Tag eins. Hamburger Hafen

Gabrielas Tagebuch: 10. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag eins. Weiche Stacheln

Gabrielas Tagebuch: 11. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag eins. Schwarze Tränen

Gabrielas Tagebuch: 12. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag eins. Auf dem Rad zum Tigris

Gabrielas Tagebuch: 13. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag zwei. Mauerfüße

Gabrielas Tagebuch: 14. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag drei. Buddha und Blumenkleid

Gabrielas Tagebuch: 15. Juli 2016

Bericht einer Reise, Tag drei. Gefangen in der Schuld

Gabrielas Tagebuch: 5. August 2016

Bericht einer Reise, Tag vier. Campari Orange

Gabrielas Tagebuch: 9. August 2016

Bericht einer Reise, Tag fünf. Der Schwimmer

Gabrielas Tagebuch: 11. August 2016

Bericht einer Reise, Tag sechs. Kalter Fisch

Gabrielas Tagebuch: 13. August 2016

Bericht einer Reise, Tag sieben. Väter und Töchter

Gabrielas Tagebuch: 15. August 2016

Bericht einer Reise, Tag acht. Stiefeletten und Zimtsterne

Gabrielas Tagebuch: 31. August 2016

Bericht einer Reise, Tag neun. Vogelzug

Gabrielas Tagebuch: 18. Dezember 2016

Bericht einer Reise, Tag zehn. New York, New York

Quellenverzeichnis

Bericht einer Reise, Tag eins. Hamburger Hafen

Meine Schwester hätte das Schiff beinahe verpasst. Ich zweifelte schon, ob sie überhaupt kommen würde, als ich ihre Schuhe über den Steg eilen sah: Sie waren kariert – kobaltblau und lindengrün. Auf dem Rist war eine seltsame Kugel angebracht.

Die Absätze waren breit und hoch. Sie waren so hoch, dass es wohl eines gewissen Trainings bedurfte, um in diesen Schuhen mühelos gehen zu können – meine Schwester jedenfalls bewegte sich darin, als betrete sie das Schiff über einen Laufsteg. Ihr ganzer Freiheitsdrang, alles Rebellische und Widerständige schien sich in diesen Schuhen zu manifestieren. Alles, was ich nicht gelebt hatte, nicht gewagt hatte zu leben, trug sie an den Füßen.

Ihre extravaganten Schuhe waren allerdings das einzig Bunte. Sonst war sie vollkommen schwarz gekleidet. Immer noch schwarz. Nie ist sie hingestanden und hat Verantwortung übernommen, aber als sie das Schiff betrat, musste sie ihre Trauer öffentlich zur Schau stellen, die ganze Welt sollte wohl Anteil nehmen an ihrem Schicksal. – Zumindest sah ich das damals so.

Ich wusste nicht, ob ich froh oder enttäuscht sein sollte, dass sie das Schiff noch erreicht hatte. Ich wusste nur, dass ich sie nicht gleich begrüßen konnte, und entfernte mich deshalb, bevor sie mich zu Gesicht bekam. Aus der Distanz beobachtete ich, wie sie die Schiffslobby betrat und sich mit zwei Crewmitgliedern unterhielt. Vermutlich entschuldigte sie sich für ihre Verspätung. Sie wird nahe beim Hafen in einem ihrer Lieblingscafés gesessen und zwischen Cappuccino und Skizzenbuch die Zeit vergessen haben. Ich sah, wie sie in ihrer Tasche kramte und nach etwas suchte. Bestimmt vermisst sie die Bordkarte, die sie gar nicht haben kann, dachte ich. Ich ließ sie suchen, ging zur Bar um die Ecke und bestellte grünen Tee. Er blieb Minuten unberührt stehen.

»Sie sollten den Beutel entfernen«, sagte der Kellner. Ich sah ihn verständnislos an.

»Den Beutel, Sie sollten ihn rausnehmen, sonst wird er bitter.«

»Ach.«

Ich fischte ihn mit dem Löffel heraus und legte ihn auf den Tellerrand.

»Eigentlich habe ich gar keine Zeit zum Teetrinken.«

»Keine Zeit?« Der Kellner lachte. »Aber es dauert doch noch zehn Tage, bis wir in New York sind!«

Mir wurde etwas flau im Magen. Nachdem meine Schwester und ich mehr als zwanzig Jahre nichts mehr gemeinsam unternommen hatten, sollten wir zusammen den Ozean überqueren, von Hamburg nach New York. Das hatten wir Lea versprochen.

Vor der Reise zweifelte ich daran, ob ich mein Café in der Weihnachtszeit schließen könnte. Aber Mutter bot mir an, mich während meiner Abwesenheit zu vertreten. Sie hat das Café lange Zeit selbst geführt und kennt sich immer noch bestens aus – oder besser ausgedrückt: Sie hat die Zügel nach wie vor fest in der Hand: »Wir schließen das Café über die Weihnachtsfeiertage und Silvester bist du ja wieder da«, sagte sie.

»Du schlägst mir tatsächlich vor, auf das große Weihnachtsgeschäft zu verzichten? Ich erkenne dich nicht wieder!«

»Schließe Frieden mit deiner Schwester, für mich ist es zu spät.«

»Diese Reise machen wir nur wegen Lea.«

»Eben«, sagte sie.

Vielleicht hatte Mutter gehofft, dass sich auf dem Schiff alles klären werde, dass ich danach heimkehren würde und wieder alles wie früher wäre oder ich wenigstens so tun würde. – Eigentlich ging es ihr immer nur um Letzteres: Als Vater auszog und die Scheidung einreichte, erzählte Mutter allen Gästen, die nach ihm fragten, von einer längeren Reise.

»Sie kennen ja seine Leidenschaft für Vietnam«, sagte sie. »In den letzten Jahren hat Lorenz immer nur gearbeitet. Diese Auszeit ist jetzt genau das Richtige.«

»Wie viele Lügen willst du den Gästen noch auftischen?«, fragte ich, nachdem sich eine Stammkundin nach Vaters angeblicher Reise erkundigt hatte.

»Du musst noch viel lernen, Iris. Du wirst sehen, wenn du Geschäftsführerin bist, wirst du mit der Wahrheit nicht weit kommen. Am Ende geht es nur um den Schein. Den gilt es so lange zu wahren, bis die Leute das Interesse an der Wahrheit verloren haben. Irgendwann wird meine Scheidung zur Nebensache, du wirst sehen.«

»Aber …«

»Nichts aber, die Stadt ist klein. Wir haben einen Ruf und ein Geschäft zu verteidigen, davon leben wir – und nicht allzu schlecht.«

Den Jahreswechsel verbrachte ich allein in New York. Nach unserer Ankunft entschied ich mich, vorläufig in einem Hotel in der Fifth Avenue zu bleiben. Seither verlaufen meine Tage gleichförmig: Ich schlafe, bis ich von allein erwache, und gehe dann zu einem Coffee-Shop, den ich bei meinem ersten Spaziergang durchs Viertel zufällig entdeckt habe, als mich die Kälte in die Wärme trieb. Dort frühstücke ich und schreibe dann ein paar Stunden.

Schreiben wollte ich eigentlich schon immer. Aber diesen Wunsch hatte ich längst begraben, so tief, dass er vergessen schien. Und seit ich das Café meiner Mutter übernommen und damit ihren größten Wunsch erfüllt habe, dachte ich sowieso nicht mehr daran. Meine letzten Schreibversuche unternahm ich, als ich noch aufs Gymnasium ging. Manchmal las ich Mutter meine Texte vor. Einmal erfand ich eine Geschichte von einer Frau, die jahrelang unbemerkt auf einem Dachboden lebte. Sie hieß Emma und trug bei jeder Witterung einen grünen Regenhut und rote Gummistiefel mit gelben Fröschen.

»Erzähl mir mehr von Emma«, sagte Mutter.

»Ich schreibe einen ganzen Roman über sie«, antwortete ich enthusiastisch und stellte mir vor, wie es aussähe, wenn auf dem Einband eines Buches mein Name stehen würde.

Mutter schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Dafür wird dir die Zeit fehlen, sobald du mein Café führst. Ich verlasse mich auf dich.«

Natürlich konnte sich Mutter auf mich verlassen. Immer konnte sie sich auf mich verlassen, im Gegensatz zu meiner Schwester. Nach der Matura entschied ich mich für die Hotelfachschule in Luzern. Mutter strahlte: »Mein Café bleibt in der Familie. Das Gander bekommt eine würdige Nachfolgerin.«

Dass ich mir lieber etwas Eigenes aufgebaut hätte, wagte ich nicht zu sagen – und schon gar nicht, dass ich mir auch ein Leben als Schriftstellerin hätte vorstellen können.

Wenn es nach Mutter gegangen wäre, hätte auch meine Schwester die Hotelfachschule absolviert, aber ihr graute davor, in weißer Bluse und schwarzem Rock – »in Uniform«, wie sie es nannte – Champagner und Apéro-Häppchen zu servieren.

Als wieder einmal die Feier eines neu gewählten Stadtpräsidenten bevorstand, sagte sie: »Meine Hände zittern allein beim Gedanken, die vollen Tabletts durch all die herumstehenden Leute zu balancieren.«

Wie sehr ich Gabriela bewunderte, als sie damals auf Mutters Frage nach ihren Studienplänen so selbstverständlich wie irgend möglich sagte: »Ich werde Bildhauerin.«

Mutter war die Empörung ins Gesicht geschrieben.

»Und wovon gedenkst du zu leben? Willst du dich künftig hungrig ins Bett legen?«

Sie lässt selten ein Klischee aus, wenn sie sich aufregt.

»Ein solches Studium erlaube ich niemals«, sagte sie.

Meine Schwester zeigte sich unbeeindruckt und wiederholte unmissverständlich: »Ich werde Bildhauerin. Das Studium mache ich in Hamburg.«

Mutter zog den Stecker des Bügeleisens aus der Dose, ließ die Bluse auf dem Brett liegen und ging aus dem Wohnzimmer. In den folgenden Tagen sprach sie nicht mehr mit Gabriela. Sie verließ sich darauf, dass sie sich für ein anderes Studium entscheiden würde.

An jenem Morgen, als Gabriela pünktlich zu Semesterbeginn ihre lange Reise nach Hamburg antrat, begleiteten Vater und ich sie zum Bahnhof. Mutter kam nicht mit. Jemand müsse sich ums Geschäft kümmern, sagte sie.

Sie spielte sich als Besitzerin des Cafés auf, obwohl es Vater gehörte. Aber davon merkte niemand etwas. Gewöhnlich ließ Vater sich dort nur einmal täglich kurz blicken. Er begutachtete die Vitrine und erkundigte sich bei Mutter nach der Patisserie: »Wie sind die blauen Törtchen angekommen? Hast du noch genügend Kirschpralinen?«

Einmal wollte er wissen, ob für Hans noch eine Cremeschnitte da sei. Er wolle gegen Abend vorbeikommen.

»Alle verkauft. Aber Hans bekommt eine wunderbare Himbeerschnitte«, sagte Mutter.

»Hans bekommt seine Cremeschnitte«, sagte Vater.

»Aber du wirst doch nicht extra für ihn … Das lohnt sich doch nicht.«

»Für einen Freund lohnt sich alles«, entgegnete Vater und verschwand wieder im Untergeschoss, wo er Kuchen buk, Torten verzierte und wöchentlich neue Pralinensorten kreierte, während Mutter ihre Rolle als Geschäftsführerin genoss. »In meinem Café gibt es nur Stoffservietten«, sagte sie, oder: »Mein Café ist das teuerste der Stadt, aber Seesicht hat nun mal ihren Preis.«

Gleichzeitig ließ sie keine Gelegenheit aus, ihr Café als Familienunternehmen zu präsentieren und spannte meine Schwester und mich regelmäßig in den Service ein: »Die Gäste sollen sehen, dass bei uns alle an einem Strang ziehen.«

Nach der Scheidung meiner Eltern vermachte mir Vater das Café und verließ die Stadt. Genau genommen ist er mein Stiefvater, aber das ist nur im engsten Familienkreis bekannt.

Meine kleine Schwester, inzwischen eine Frau von zweiundfünfzig Jahren, etablierte sich als erfolgreiche Künstlerin – und ich mache hier in New York endlich das, was ich schon immer tun wollte: Ich schreibe. Die weißen runden Tische im Coffee-Shop sind gerade groß genug für meinen Laptop und mein Frühstück, immer serviert von derselben jungen Frau. Bereits bei meinem ersten Besuch fiel sie mir wegen ihrer Stirnfransen auf. Die verlaufen so gerade und exakt, dass sie perückenhaft wirken. Obwohl ich immer eine Kanne Schwarztee und einen Blueberry Muffin bestelle, fragt sie mich täglich nach meinen Wünschen. Sie verhält sich so, als ob ich noch nie da gewesen wäre. Ich mag das. Das gibt mir genau das Gefühl von Anonymität, das ich jetzt brauche, um ganz in meine Welt abzutauchen.

Bei den Stammgästen in meinem Café halte ich es auch so; ich will, dass sie sich frei fühlen, jederzeit etwas bestellen zu können, das von ihrer Gewohnheit abweicht. Natürlich habe ich auch Stammgäste, die es schätzen, wenn ich ihre Wünsche kenne. Dann sage ich halt: »Einen Cappuccino wie immer, Frau Sutter, oder haben Sie heute einen anderen Wunsch?«, und wenn Frau Sutter dann alle paar Wochen einen Espresso bestellt, fühle ich mich in meinem Konzept bestätigt.

Erstaunlich, wie wenig ich an mein Café denke. Dabei glaubte ich immer, das sei mein Leben. Aber das war vor der Schiffsreise, vor dem Geständnis meiner Schwester, an einem Nachmittag beim Tee – mitten auf dem Ozean. Kein Land in Sicht. Kein Entkommen. Manche glauben, das Wasser nehme alles auf, das Meer schlucke alles. Vielleicht dachte das auch meine Schwester.

Aber ihr Geständnis versank nicht spurlos, im Gegenteil: Es glich einem Stein, der ins Wasser fällt und weite Kreise zieht.

Wenn alles nicht mehr ist, wie es einmal war – oder wie es einmal schien, woran kann man sich dann orientieren? Woran kann ich mich jetzt noch festhalten? An einem Bericht vielleicht? Ich will es zumindest versuchen und schreibe alles auf, alles von der Schiffsreise und überhaupt alles. Der Reihe nach.

Also zurück zum Anfang unserer Reise, zurück zum Hamburger Hafen. Meine Schwester hatte also das Schiff in letzter Minute erreicht, und ich hatte mich in einer Bar verkrochen, um unsere Begrüßung hinauszuzögern. Dort ließ ich meinen grünen Tee unberührt stehen und ging zurück in die Lobby, zurück zu meiner Schwester, die immer noch nach ihrer Bordkarte suchte. Ich stellte mich direkt vor sie hin und fragte, ob ich helfen könne.

»Iris, gut, dass du da bist. Ich muss meine Bordkarte zu Hause vergessen haben.«

Ich zückte sie wortlos.

»Danke, große Schwester.«

Das hatte sie lange nicht mehr zu mir gesagt. Es war eine vertraute Floskel aus unserer Kindheit. Damals bedankte sie sich so, wenn ich eine ihrer Aufgaben im Haushalt erledigte, weil sie es wieder einmal vergessen hatte. Und sie schenkte mir immer eines ihrer kleinen Kunstwerke: Es waren Steine, die sie mit bunten Mustern bemalt hatte, oder Fabelwesen aus Salzteig mit Nelkenaugen. Sie machte auch kleine Drahtfiguren, die mich heute an Giacomettis Bronzeskulpturen erinnern. Ihre kleinen Kunstwerke aus Kindertagen sind für mich Repräsentanten unserer unbeschwerten Geschwisterzeit. Ich habe viele davon aufbewahrt, vielleicht deshalb. Vielleicht nur deshalb.

Später bewunderte auch Lea die Werke ihrer Mutter aus Kindertagen. Am meisten gefiel ihr ein Drahtengel, der eine Sonnenblume in der Hand hält. Gemeinsam rätselten wir darüber, aus welchem Material Gabriela die Blume gebastelt hatte. Ich vermutete eine Art Knetmasse, die im Laufe der Jahre hart geworden war. Lea dachte an Marzipan. »Bestimmt hat Mami ein Stück bei Großvater in der Konditorei geholt«, sagte sie.

Wenige Tage vor der Schiffsreise habe ich diesen Engel auf Leas Grab gestellt.

»In gut einer Stunde folgt das fußballerische Highlight dieses Sommers. Dann startet der EM-Final Portugal gegen Frankreich. Vor einer knappen Stunde sind die Busse der beiden Teams im Stade de France eingetroffen. Portugal gegen Frankreich, das ist auch das Duell der beiden Superstars Cristiano Ronaldo und Antoine Griezmann.«

(Steffi Buchli, SRF Tagesschau, 10. Juli 2016)

Gabrielas Tagebuch: 10. Juli 2016

Liebe Lea. Dein erster Geburtstag ohne dich. – In Paris wird gefeiert. Portugal ist soeben Europameister geworden. Ich habe mich nie für Fußball interessiert. Dein Großvater meinte, ich solle mir das Endspiel anschauen, das sei eine gute Ablenkung. Ich habe es versucht. Der Fernseher lief, aber das Spiel habe ich nicht gesehen. Nach dem Abpfiff sah ich die Portugiesen jubeln. Hättest du dich über ihren Sieg gefreut? Nicht mal das weiß ich.

Heute Morgen war ich schon sehr früh an deinem Grab. Ich wollte einen Moment mit dir allein sein – aber Iris war auch schon dort. »Schau an, meine Schwester«, sagte sie. »Sogar du hast an Leas Geburtstag gedacht, oder bist du zufällig hier?«

Ich schwieg. Nicht streiten. Wenigstens hier nicht. Wenigstens heute nicht.

Weißt du, Lea, ich habe gehofft, wieder einen Draht zu Iris zu finden. Aber vielleicht war dein Grab einfach der falsche Ort dafür. An deinen Wunsch wollte ich Iris trotzdem erinnern: »Wann machen wir die Schiffsreise?«, fragte ich.

Iris wusste erst nicht, wovon ich sprach.

»Die Transatlantikfahrt, von Hamburg nach New York, du weißt schon.«

»Du willst doch nicht etwa mit mir allein … Welchen Sinn hätte das ohne Lea?«

Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Zu laut für den Friedhof. Du weißt ja, wie Iris ist, wenn sie sich aufregt.

»Dafür ist es zu spät, Gabriela – auch dafür.«

Ist es das wirklich? Sag’s mir, liebe Lea, sag’s mir! Sollen wir ohne dich den Ozean überqueren? Klar ist es zu spät – jedenfalls für uns drei. Aber für Iris und mich? Du hast dir diese Reise doch auch wegen uns gewünscht. Stimmt’s? Und wir? Was haben wir gemacht? Jahrelang haben wir die Reise verschoben, jedes Weihnachtsfest aufs Neue. Wir fahren, wenn du zwanzig bist, dann überqueren wir gemeinsam den Ozean, versprachen wir zuletzt.

Heute bist du zwanzig – und hast eine ganz andere Reise gemacht. Liebe Lea, wo bist du nur?

Frische Blumen schmücken dein Grab. Rosen von Iris, Sonnenblumen von mir. Inzwischen werden es viele mehr sein, ein Blumenmeer, vermute ich. Wozu? Hast du etwas davon? Was soll ich dir denn zu deinem Geburtstag wünschen? Hast du überhaupt noch Wünsche, noch Träume?

Ich habe nie daran gedacht, dass deine Zeit vor meiner ablaufen könnte. Welche Mutter denkt schon an die Beerdigung ihres Kindes? – War ich für dich überhaupt eine Mutter? Oder wirft mir Iris zu Recht vor, versagt zu haben? Das habe ich mich gefragt, als ich heute Morgen neben ihr vor deinem Grab stand.

»Für diese Schiffsreise ist es zu spät«, sagte Iris nochmals.

»Zwanzig. Da hat das Leben doch noch gar nicht richtig begonnen«, sagte ich.

Und Iris: »Hast du deshalb an vielen von Leas Geburtstagen durch Abwesenheit geglänzt? Haben die für dich noch gar nicht gezählt? Ich habe keinen verpasst, ich nicht! Wir haben jeden gefeiert.«

Ich weiß nicht, was mich dazu bewog, aber in jenem Moment hatte ich plötzlich das Bedürfnis, Iris zu erzählen, was du zu mir gesagt hast, nachdem ich die Feier deines zehnten Geburtstags verpasst hatte. Weißt du es noch? Du hast dich über die Ungerechtigkeit des Lebens beklagt: »Iris wollte immer Kinder und hat keine bekommen. Und du hast mich gekriegt, obwohl du gar keine Zeit für ein Kind hast.« Deshalb sei es gut, dass Iris und ich die Rollen getauscht hätten.

Als ich nicht verstand, wie du das meintest, hast du erklärt: »Du bist meine Mutter und spielst die Tante, und Iris ist meine Tante und spielt die Mutter.«

Liebe Lea, inzwischen kannst du das vielleicht verstehen. Vielleicht ist es aber auch nicht zu verstehen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich heute für dich entscheiden würde – egal zu welchem Preis.

»Lea hat sich diese Titanic-Reise so sehr gewünscht«, sagte ich eindringlich vor deinem Grab. Iris schwieg.

Weißt du noch, wie Großvater, du und ich gemeinsam vor dem Fernseher saßen und Titanic schauten? Da warst du ungefähr dreizehn. Du wolltest diesen Film unbedingt auf DVD. Ich schenkte ihn dir, als du an einem Stephanstag mit Großpapa nach Hamburg kamst, um die Tage bis Neujahr bei mir zu verbringen. Weihnachten mit Iris, Silvester mit mir. So war die Abmachung, fast wie bei geschiedenen Eltern, nicht? Wieso sollte das bei geschiedenen Schwestern anders sein?

Als der Film zu Ende war, hast du dich mit Großpapa über den Atlas gebeugt. Er zeichnete die Schiffsroute nach und forderte dich auf, die Streckenlänge zu berechnen.

Du wolltest die Reise unbedingt machen. Am liebsten hättest du noch am selben Abend deinen Koffer gepackt. Die Vorstellung, mehr als eine Woche auf dem Meer zu sein und das Ufer zeitweise nicht mehr zu sehen, gefiel dir. Ich versuchte dich damit zu vertrösten, dass die Queen Mary jeweils im Hamburger Hafen zu sehen ist, bevor sie sich auf die Reise nach Amerika macht.

»Das Auslaufen ist immer ein großes Spektakel«, sagte ich.

Aber du hast nur gefragt: »Wann fahren wir?«

»Ich fahre mit dir, wohin du willst, aber nicht nach Amerika«, sagte dein Großpapa.

Was er gegen die Amerikaner habe, wolltest du wissen.

»Ich habe ihnen den Vietnamkrieg nicht verziehen. Weißt du, tief im Herzen ist dein Großvater ein Vietnamese.«

Ich sah dir an, dass du ihn verstehen wolltest, aber deine Enttäuschung war größer. Als ich unbemerkt in der Küche verschwinden wollte, fragtest du: »Was ist mit dir?«

»Ich komme natürlich mit.«

»Und Iris?«

»Iris nehmen wir auch mit«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Vater sah mich erstaunt an. Und du strahltest über das ganze Gesicht: »Versprochen?«

»Versprochen«, sagte ich.

Ich vergaß deine Reisepläne und mein Versprechen schnell. Du nicht: »Iris ist einverstanden!«, sagtest du bei unserem nächsten Wiedersehen. »Wir fahren mit dem Schiff von Hamburg nach New York, fast wie im Film. Eigentlich müssten wir ja in Southampton einsteigen, aber Hamburg ist praktischer für dich.«

»Wie rücksichtsvoll von dir«, sagte ich.

Erst da wurde mir klar, was ich mir eingebrockt hatte und dass ich aus dieser Sache nicht mehr so leicht rauskommen würde. Heute Morgen hat Iris eine Schale mit zwanzig schwimmenden Kerzen auf dein Grab gestellt. Als wir sie gemeinsam anzündeten, sagte ich, dass ich gerade an Titanic gedacht habe. »Es war Leas Lieblingsfilm, weißt du noch?«

Natürlich wusste Iris. Sie hat dich damit getröstet, als du deinen ersten großen Liebeskummer hattest, als Iris und du »kiloweise«, wie du sagtest, Torten und Pralinen verdrückt habt. Du hast mir erzählt, dass Iris das Café frühzeitig geschlossen habe. Dann habe sie dich gebeten, ihr zu helfen, die restliche Patisserie in Schachteln zu verpacken und im Auto zu verstauen. Zu Hause habe sie alles auf dem Salontisch ausgebreitet und Titanic in den DVD-Player geschoben. »Dann aßen wir durcheinander verschiedene Torten und Kuchen, bis wir nicht mehr konnten.«

»Auch Iris?«, fragte ich.

Dass meine Schwester unkontrolliert Unmengen von Leckereien verschlingt, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.

»Sie trank sogar heiße Schokolade dazu«, sagtest du.

Jedes Detail deiner Schilderung gab mir einen Stich.

»Auf Iris ist zu hundert Prozent Verlass, auf dich nur zu zehn, und das ist großzügig gerechnet, Mami, sehr großzügig.«

Nur eine Zehn-Prozent-Mutter, dachte ich. Ich starrte in die zwanzig kleinen Flammen auf deinem Grab und hoffte, dass der Wind keine auslöschen würde.

»Du warst eine gute Mutter«, sagte ich kaum hörbar zu meiner Schwester.

»Hast du etwas gesagt?«

»Du warst eine gute Mutter«, wiederholte ich und hob die Hand zum Abschied.

Vorhin kam ihr Anruf: »Die Sache mit der Schiffsreise lasse ich mir durch den Kopf gehen«, sagte sie. »Wir haben es Lea schließlich versprochen.«

Liebe Lea, Iris und ich überqueren gemeinsam den Ozean!

Mit Einzelkabinen geht das.

Mit Iris auf dem Meer. Zehn Tage. Dann muss ich ihr alles sagen. Alles.

Bericht einer Reise, Tag eins. Weiche Stacheln

Einzelne dunkle Wolken hingen am Himmel, als ich vor der Ausfahrt über die Außentreppe bis zum obersten Deck stieg. Gabriela saß mit schwarzer Wollmütze und Kapuzenmantel auf einem Liegestuhl und winkte mich herbei, als sie mich zwischen den an Deck strömenden Passagieren entdeckte. Sie deutete auf den freien Stuhl neben sich. Die Arme hatte sie um die angewinkelten Beine geschlungen. Vor ihr lagen einzelne Teile der Zeitung durcheinander, darauf standen drei leere Kaffeetassen. Mein Blick fiel auf die karierten Absatzschuhe, die mir schon bei ihrer Ankunft aufgefallen waren. Gabriela hatte sie vor den Liegestuhl gestellt. So konnte ich sie aus der Nähe betrachten und sah, dass die schwarzen Kugeln über dem Rist aus lauter feinen Stacheln bestanden.

»Igel?«, fragte ich.

»Arbacia lixula da Caruso.«

»Von Paolo also.«

»Schwarzer Seeigel. Aber keine Sorge, diese Stacheln sind weich.« Sie griff nach einem der Schuhe und fuhr mit der Hand darüber.

»Ist dein Schuhmacher unter die Meeresbiologen gegangen? Sind auch Haifisch-Modelle im Angebot?«, fragte ich.

»Sein Geschäft ist bereits verkauft. Paolo verlässt Hamburg. Er kommt in die Schweiz und will sich bei mir in Beckenried niederlassen.«

»Er gibt für dich tatsächlich seine Goldgrube auf?«

»Seit Lea … Er verträgt den Kontakt mit seiner anspruchsvollen Kundschaft nicht mehr. Er will nur noch nähen und mit seinen Schuhen allein sein.«

»Davonlaufen, wenn es schwierig wird. Kein Wunder, versteht ihr euch so gut.«

Gabriela ließ meine Provokation ins Leere laufen. Nicht zum ersten Mal. Als ich sie vor langer Zeit fragte, was ein Italiener im Norden suche, weil ich herausfinden wollte, was es mit der Beziehung zwischen ihr und Paolo auf sich hat, sagte sie: »Er ist seiner großen Liebe nach Lübeck gefolgt.«

»Aber dann hat er dich kennengelernt.«

Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, erzählte sie mir vom Hausbrand und dass Paolo als Einziger vor den Flammen gerettet werden konnte, weil er im Keller gearbeitet hatte. Nach dem Unglück habe er es in Lübeck nicht mehr ausgehalten, zog nach Hamburg und stürzte sich in die Arbeit – nähte gegen die Trauer an.

»Unglück und Liebeskummer machen kreativ«, sagte Gabriela schließlich.

»Du musst es wissen«, sagte ich und dachte: Deshalb ist sie so erfolgreich mit ihren eigenwilligen Skulpturen.

Gabriela richtete sich im Liegestuhl auf und schlüpfte in ihre Seeigel-Schuhe: »Ich bin froh, Paolo bald wieder in meiner Nähe zu wissen. Seit ich in der Schweiz bin, vermisse ich ihn sehr. Und seit Leas Tod …«

Ihre Stimme versagte. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber ich konnte nicht. Ich berührte die schwarzen Stacheln ihrer Schuhe und war überrascht, wie geschmeidig sie waren, obwohl ich um ihre Künstlichkeit wusste.

Wie viele Schuhe hatte Paolo für Gabriela wohl genäht? Und für Lea erst? Gabriela brachte sie jeweils bei ihren Besuchen mit: Einmal waren es rote Lackschuhe, ein anderes Mal bunt gestreifte Sandalen oder dick gefütterte Winterstiefel mit aufgestickten Schneeflocken, je nach Jahreszeit halt. Es waren so viele, dass ich für Lea bald einen eigenen Schuhschrank kaufen musste. Ein Kindergartenkind mit eigenem Schuhschrank, man stelle sich das vor! Wie oft habe ich mich über diesen Wahnsinn geärgert.

»Soll sie etwa damit im Sandkasten spielen?«, fragte ich Gabriela, als sie ihr weiße Sommerschuhe aus edelstem Leder überreichte. Aber meine Schwester meinte gelassen: »Lea ist das Enkelkind, das Paolo nicht hat – also lass ihm doch die Freude.«

»Enkelkind? Ich weiß doch, dass du Partner bevorzugst, die mindestens zwanzig Jahre älter sind«, sagte ich, obwohl ich Paolo schon damals nicht für Leas Vater hielt.

Gabriela war aufgestanden und an die Reling getreten. Sie warf einen Blick aufs Hafengelände.

»Ob Paolo wohl schon da ist? Er wollte uns zuwinken«, sagte sie.

»Er kommt extra zum Hafen? Er sieht uns doch sowieso nicht.«

»Wenn Lea dabei wäre, würde er sogar mitfahren. Für seine Principessa hat er alles gemacht – sogar Schuhe für ihr Meerschweinchen Moritz.«

Gabriela lächelte und erzählte dann, wie Lea Paolo davon überzeugte, dass Moritz für den Besuch bei ihr im Kindergarten Schuhe brauche. Lea habe gleich zwei Paar bestellt: zwei kleine Schuhe für die Hinter- und zwei noch kleinere für die Vorderfüße. Als Paolo bei Moritz habe Maß nehmen wollen, sei er zum Entsetzen einer Kundin quer durch den Laden gerannt. Ob er denn jetzt hier Meerschweinchen halte, habe diese wissen wollen, worauf Paolo erwiderte, die südamerikanischen Nager hätten eben ein Faible für italienische Luxusmarken. Seine Schlangen seien im Untergeschoss, die bräuchten ja keine Schuhe.

Darauf habe die Kundin den Laden wortlos verlassen. Gabriela lachte und ergänzte: »Lea wollte natürlich wissen, ob es in der Werkstatt tatsächlich Schlangen gibt. Paolo schüttelte den Kopf und sagte: ›Schlangen kann man am besten mit Schlangen erschrecken.‹«

Auf Deck versammelten sich immer mehr Passagiere. Gabriela kramte den Fotoapparat aus ihrer Umhängetasche, und ich begann, ihre Tassen zusammenzustellen.

»Entspann dich, Iris, hier läuft der Laden auch ohne dich. Außerdem geht es gleich los. Ich bin schon ganz aufgeregt.«

»Das ist bei deinem Kaffeekonsum ja keine Überraschung.«

»Und auf nüchternen Magen ist das sowieso nicht gut. Du bist bestimmt total übersäuert!«, sagte Gabriela und fragte: »Wolltest du das nicht auch noch sagen, Iris?«

Dann lachte sie, zuerst zurückhaltend, dann frei heraus.

»Sei doch nicht immer so wahnsinnig vernünftig, große Schwester!«