... und Jesus war eine Frau - Elisabeth Schrattenholzer - E-Book

... und Jesus war eine Frau E-Book

Elisabeth Schrattenholzer

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Beschreibung

»Ich habe solche Angst, dass alles aus ist zwischen uns. Thomas. Ich will ja nur dass du hörst, was ich sage!« Petra ist verzweifelt, dass Thomas im Bett den Unterschied zwischen eine Nummer abziehen und Liebe abstreitet. Während einer vereinbarten Auszeit schreibt sie ihm Briefe, in denen sie offen über ihre sexuellen Erfahrungen, Wünsche und Träume redet. Ihr Bemühen um Klärung der Beziehung führt sie nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch weit fort: von der eisbedeckten Donau bis nach Jordanien in die 2000 Jahre alte Stadt, die denselben Namen trägt wie sie selbst, Petra. Petra ist Anfang dreißig. Die letzte gemeinsame Nacht mit Thomas hat ihr Vertrauen in ihn erschüttert. Sie beginnt aufzuschreiben, was sie ihrem Freund bis jetzt nie gesagt hat. Sexuelle Wünsche sind jedoch schwer zu kommunizieren. Passende Worte fehlen. Angst um ihre Beziehung, Wut und Ärger über Thomas kämpfen in Petra. In dem Versuch, ihre Träume und Fantasien zu erklären, schreibt sie über ihre Kindheit, über erste Erfahrungen und Enttäuschungen. Sie stärkt ihren Mut zur Konfrontation durch eine Erinnerung an Petra in Jordanien ... wo Jesus eine Frau war. Sie erinnert sich an diese Reise und an ihre Anstrengung, andere Zeiten und andere Welten zu erfassen. Eine Reise in eine 2000 Jahre alte Stadt.

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autorin und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Danksagungen

Leseproben

Corinna Antelmann - Hinter die Zeit

Corinna Antelmann - VIER

Gudrun Büchler - Unter dem Apfelbaum

Isabella Feimer - Der afghanische Koch

Isabella Feimer - Zeit etwas Sonderbares

Elisabeth Schrattenholzer

... und Jesus war eine Frau

Roman

© 2012, Septime Verlag e.U.

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagfotos: Elisabeth Schrattenholzer

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-05-7

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-14-4

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Elisabeth Schrattenholzer

nennt sich am liebsten Sprachwerkerin, „denn das umfasst als einziges alle meine beruflichen Tätigkeiten: sprechend, schreibend, lehrend und gestaltend habe ich mit Sprache zu tun“. Sie absolvierte eine Schauspielausbildung, war einige Jahre Englischlehrerin, promovierte aus Theaterwissenschaft und lehrt heute als a.o.Universitätsprofessorin an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien das Fach „Sprachgestaltung“. Ihr erster Roman „Ich habe das Wort so gern – Die Reise der Hiran Ganimud“ erschien 2003. Zu zahlreichen Veröffentlichungen in Lyrikanthologien und Zeitschriften kommen Artikel über Sprache und Gesellschaft in wissenschaftlichen Werken sowie zwei Sachbücher, zuletzt „Sorry, Nathan! Wortblind und sinntaub: Die Beschädigung des Denkens durch die Sprache des Patriarchats – Analysen, Betrachtungen, Gegenwehr“ (Wien, 2005). Vorträge und Lesungen aus eigenen und anderen Werken führten sie nach Deutschland, in die Schweiz und in die USA. Zum Schreiben bewegt sie der drängende Wunsch, „der Wirklichkeit auf die (Sprach-)Spur zu kommen“. In PERSPEKTIVENWECHSEL No3 ist sie mit der Taschkent-Erzählung vertreten.
 2012 erschien bei Septime ihr Roman 
... und Jesus war eine Frau.

Klappentext

»Ich habe solche Angst,

dass alles aus ist zwischen uns.

Thomas.

Ich will ja nur dass du hörst, was ich sage!«

Petra ist verzweifelt, dass Thomas im Bett den Unterschied zwischen eine Nummer abziehen und Liebe abstreitet. Während einer vereinbarten Auszeit schreibt sie ihm Briefe, in denen sie offen über ihre sexuellen Erfahrungen, Wünsche und Träume redet. Ihr Bemühen um Klärung der Beziehung führt sie nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch weit fort: von der eisbedeckten Donau bis nach Jordanien in die 2000 Jahre alte Stadt, die denselben Namen trägt wie sie selbst, Petra.

Petra ist Anfang dreißig. Die letzte gemeinsame Nacht mit Thomas hat ihr Vertrauen in ihn erschüttert. Sie beginnt aufzuschreiben, was sie ihrem Freund bis jetzt nie gesagt hat. Sexuelle Wünsche sind jedoch schwer zu kommunizieren. Passende Worte fehlen. Angst um ihre Beziehung, Wut und Ärger über Thomas kämpfen in Petra. 

In dem Versuch, ihre Träume und Fantasien zu erklären, schreibt sie über ihre Kindheit, über erste Erfahrungen und Enttäuschungen. Sie stärkt ihren Mut zur Konfrontation durch eine Erinnerung an Petra in Jordanien ... wo Jesus eine Frau war. Sie erinnert sich an diese Reise und an ihre Anstrengung, andere Zeiten und andere Welten zu erfassen. Eine Reise in eine 2000 Jahre alte Stadt.

Elisabeth Schrattenholzer

...und Jesus war eine Frau

Roman | Septime Verlag

Den Anfang lösch ich, das zuallererst Hingekotzte in meiner Wut.

Löschen würde ich am liebsten den ganzen Streit.

War es bloß ein totales Missverständnis? Hoffentlich! Nur ein Auseinanderklaffen unserer Meinungen. Aber was für eines!

Ich habe solche Angst, dass alles aus ist zwischen uns, Thomas.

Ich will ja nur, dass du hörst, was ich sage! Du kannst doch nicht einfach etwas gehört haben, was ich nie gesagt habe.

Also noch einmal: Nein, nein, nein, dass es zu schnell war, habe ich nicht gesagt! Wir waren damals im spätabendlichen Wienerwald beide begeistert von unserem Quickie. Es gab auch noch ein oder zwei andere. Wir hatten beide Spaß. Du weißt das ganz genau. Wie kannst du mir dann diesmal plötzlich kommen mit: »Na gut, nie mehr ein Quickie, wenn du nicht willst.«

Außerdem ist Quickie eine saublöde Bezeichnung. Irreführend und völlig daneben. Da war doch vorher viel. Spazierengehen nebeneinander, Reden miteinander, Hände ineinander, meine Schulter, die deinen Arm streift … So viel Zeit möchte ich immer haben. Von wegen quick.

Falls ich dir das im Urlaub tatsächlich zu lesen gebe, dann hat das Schreiben eine Woche vorher begonnen. An dem Montag deiner Geschäftsreise, als du in Kairo warst. Und es kann mit uns nur weitergehen, wenn du begreifst, was mein Anliegen ist. Wenn du verstehst, was ich sage.

Nach Kroatien fahr ich sicher mit dir mit. Ich will mir nicht vorwerfen müssen, dass ich es nicht versucht habe. An mir soll es nicht liegen. Ich gebe uns die Chance.

Hoffentlich war der Riss nicht … mitten durchs Herz, hätt ich bald gesagt.

Zweiter Anfang

Montag

Zum Verzweifeln. Das Herz will fort. Das Brustbein lässt es aber nicht raus. Der Hals ist auch zu eng. Lunge, Rippen fühlen sich an, als wäre ich in einem Schraubstock, der mich grade noch am Leben lässt.

Warum bloß haben wir Schweigen vereinbart? Für eine ganze Woche! Kaum mehr als zwei Tage sind vergangen, und mindestens zwanzigmal habe ich Mails gecheckt, und es war tatsächlich keines von dir dabei.

Anrufen möchte ich nicht. Da würden wir nur sofort den Streit fortsetzen. Ist wohl besser, ich halte mich an unsere Vereinbarung und schreibe für mich.

Warum bloß haben wir Schweigen vereinbart?

Nicht einmal die Uni hat mich abgelenkt. Obwohl Semesterende. Und die Wahnsinnskraft, die ich gebraucht habe, das Seminar zu halten, wo ich doch mit allen Fasern bei dir bin. Bei uns.

Die Studierenden, die bis jetzt dringeblieben sind, wirken auch schon ziemlich gestresst. Ich hatte als letztes Referat »Ufre Sarduk und ihr Menschenbild« angesetzt. Der Student konnte ungeniert eine Frau im Mittelpunkt seines Interesses stehen lassen, richtig wertschätzend. Ein Glück, dass er meine Lieblingsdichterin verstanden hat. Sonst wäre ich vermutlich ausgerastet.

Reden. Ich muss reden. Wenigstens mit dem PC. Die Mitternacht ist geduldig. Der PC auch. Mikro ein. Immerhin ein Anfang. Ich rede. Mein braves Diktierprogramm schreibt alles auf. Spracherkennung ohne Verstehen. Aber tröstlich. Die Worte sind sichtbar auf dem Bildschirm. Nicht zu leugnen. Ich habe es gesagt. Und zwar genau so, wie es da steht.

Was haben wir alles gesagt! Wir haben vorbeigeredet aneinander, du und ich. Fürchterlich aneinander vorbei.

Vorbeilieben. Aneinander vorbeigeliebt. Hast du geliebt?

»Es war schön wie immer!«, stellst du trocken fest.

Es war überhaupt nichts wie sonst! Absolut nichts. Es war anders, ganz anders.

Vielleicht war das für dich trotzdem »so schön wie immer«, mag ja sein. Aber ein Jahr Zusammensein, und du merkst keinen Unterschied zwischen Lieben, Strömen, Ineinanderfließen, Paradies, Vesuv, Universum … und einer bloßen … einer bloßen Nummer! Sexgymnastik Fickerei.

Er hat keinen Unterschied gemerkt, sagt er! Keinen Unterschied zu sonst!

Hättest du gesagt, du bist abgedriftet, ein Ausrutscher, weil zu viel Arbeit, weil überlastetes Hirn, Vorbereitung auf die Reise nach Kairo oder was auch immer: schlimm genug für mich.

Aber du bestehst tatsächlich darauf zu behaupten, es war so schön wie immer! Du hast keinen Unterschied gemerkt.

»Na, tu dir nichts an«, sagst du, »war es halt einmal nicht ganz so schön für dich im Bett. Wir lieben uns, das ist doch das Wichtigste! Sei doch nicht so!«

Ich fass es nicht! Du hast den Unterschied nicht bemerkt, nicht gespürt, nicht registriert und willst, ich soll das harmlos finden.

Ich weiß nicht, welchen Teil ich schrecklicher finde: den, als du cool getan hast, oder den, als du ätzend geworden bist.

Nicht ganz so schön wie immer, meinst du? Ich sage dir, wie es war: Scheußlich war es! Entsetzlich! Schrecklich!

Mir hat es nach und nach den Magen umgedreht. Mir war, als stünde ich teilnahmslos in einer Ecke und schaue einem Automaten zu. Nur: Der Automat bin ich. Benützt von dir!

Ein Foto von mir hätt ich hinlegen können, ein dreidimensionales. Dear Sir Thomas wäre sich grad so megageil und pfunds-ich-weiß-nicht-was vorgekommen.

Darauf kam es ihm nämlich an. Nicht auf mich als Person, nicht auf ein Zusammensein. Sondern dass er auf irgendeiner vorgegebenen Skala punktet. Männlichkeit filmreif oder so was. Ein »Sehr gut« bekommen im Fach Business-mal-Macho-hoch-Scheiße.

Mag schon sein, wie du gesagt hast: Jede und jeder hat das Recht, die Wirklichkeit auf die eigene Art zu sehen. Dass wir miteinander leben wollen, schmälert dieses Recht nicht. Die allerwichtigsten Dinge der Zweisamkeit sollten wir allerdings annähernd gleich einschätzen. Oder mindestens ähnlich.

Liebe, Sex, Erotik – nenn es, wie du willst! – ist uns beiden wichtig. Warum, das haben wir nie als Frage empfunden. Dass es wichtig ist, da sind wir einer Meinung. Tatkräftig nachweisbar sozusagen. Vielleicht weil es intensiv ist. Oder einfach als Ausdruck unserer Begeisterung. Für das Leben, für einander. Das müssen wir aber beide in etwa gleich beurteilen und empfinden, sonst stimmt etwas nicht. Sonst redet eins von uns Chinesisch, das andere Russisch. Oder?

Bildlich gesprochen waren es für dich rote Rosen, der siebente Himmel, so schön wie immer, ja, fast noch aufregender. – Ich kapier es nicht! Es geht nicht in mein Hirn!

Für mich waren es Dornen, Verletzung, ein Stück Hölle. Ein seelischer Frontalzusammenstoß. Wo ich sonst ganz ich, ganz wir, … von Farben durchströmt, … – oder was auch immer die Versuche, es mit Rosen und Himmel zu umschreiben, sein mögen.

So war der Unterschied für mich: als wär ich nicht da. Er schläft mit mir, als wär ich nicht da.

Aneinander vorbeilieben.

Ich wollte das nicht wahrhaben. Ich habe wirklich zuerst an meiner eigenen Wahrnehmung gezweifelt. Dir zugute-gehalten, dass nach so vielen begeisterten Umarmungen und liebevollen Vereinigungen du doch nicht plötzlich ein Holzstück in mir sehen kannst. Oder eine Gummipuppe. Der Schock war zu groß. Mein Teil der Schuld jedenfalls war, dass ich mitgemacht habe.

Es war zuerst auch zu beschämend für mich, zur Kenntnis zu nehmen, dass du an mir herumturnst. Dass du über mich verfügst. Als hättest du mich bezahlt.

Das ist für mich die eigentliche Katastrophe, dass er sagt, er hat keinen Unterschied gemerkt.

Ich kenne zu viele Männer, die nicht wissen, was sie im Bett tun. Denen das Hirn ausfällt, sobald. Sobald die Schwellkörper schwellen. Die sich nachher nicht vorstellen können, was frau ihnen erzählt, das stattgefunden hat. Inzwischen hab ich genug Erfahrung. Ich traue heute mir und meiner Erinnerung mehr als einem abwehrenden »Liebling, was du nur hast! Es war doch super!«.

Übersetzt für die Frau heißt das, der Mannfand sich super.

Statt wie sonst gemeinsames Gewoge, Liebesstürme, Zärtlichkeit, Gerangel und was es alles sonst noch war, war ich diesmal die passende Steckdose. Ratsch! Stecker rein, raus, rein, raus … Ah! Und aus.

Aber da war diesmal überhaupt kein Strom! Kein Fließen! Schon gar kein Lieben. Da war nichts dergleichen! Absolut gar nichts.

Nichts zwischen uns, nichts miteinander, nichts für mich.

Anbrüllen hätte ich dich sollen: He, ich bin auch noch da! He, was für ein Film läuft in deinem Hirn?

Das hab ich nicht getan. Das werf ich mir vor. Perplex gefragt hab ich: »Warum hast du nicht gewartet auf mich?«

Das war es aber nicht. Darum ging es gar nicht. Das war eine Ausflucht. Vor mir selber.

Ich konnte es nicht fassen. Dachte irgendwie, vielleicht komm ich noch drauf, was war. Das kann doch nicht gewesen sein, was da grad war.

Immer wieder gehen wir irgendwelche neuen Fährten. Jedes Mal ist es anders. Aber diesmal warst du nicht bei uns! Das hab ich nicht gleich … gecheckt.

Ich hab es nicht wissen wollen. Dass ich ein Versatzstück bin. Ein Requisit für irgendeine geile Regieanweisung.

Einige Male ist so etwas früher schon dann und wann aufgeflackert. Aber immer war es gleich vorbei und du warst wieder bei mir, bei uns. Das konnte ich locker wegstecken. Ist okay. Wer ist schon perfekt.

Aber wo warst du diesmal? In einer total anderen Wirklichkeit.

Dann wirfst du mir noch dazu vor: »Jetzt hast du mir die Freude verdorben!«

Holla! Was habe ich dir verdorben? Dass du nicht bei mir warst? Seelisch, meine ich. Oder wie immer du das genannt haben willst, was mehr als körperlich-materiell ist. Körperlich warst du da. Kein Zweifel. Verdorben habe ich dir vielleicht deine triumphale Checkliste vom Abreisetag: Konferenz mit der Firmenleitung, Urlaubsvertretung einweisen, Kaviar mit Geschäftsfreunden, Kofferpacken und dann als Beweis deiner Mega-ich-weiß-nicht-was noch mit der Freundin bumsen.

So bist du mir vorgekommen. Als ob du innerlich auf eine Erfolgsliste schielst und im Voraus genießt, was du für ein Kerl bist. Liebe als cooler Programmpunkt. Angefeuert von der begeisterten Masse im Stadion: Yeah! Wow! Thomas …! Wahnsinn! Businessman, Lover …, jede Sekunde programmgemäß! Niemand kann mehr als er!

Na ja, wenn er drei Frauen gevögelt hätte, oder zehn. Das wäre vielleicht noch besser gewesen. Oder ein Milliarden-Euro-Deal.

Ekelhaft.

Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals zu lesen gebe. Ist auch egal. Ein Gespräch mit dem PC ist besser als gar keines. Montagnacht, ein Uhr. Knapp vor dem totalen Zusammenbruch.

Übrigens: Solange ich mit mir noch scherzen kann, ich meine bloß meinen Zusammenbruch, und nicht den vom PC, kann ja nicht alles verloren sein.

Hunderte Kilometer zwischen uns. Und eine Woche Auszeit.

Warum sitz ich wirklich todmüde da und schreibe?

Dienstag

Er muss mich verstehen, wenn es mit uns weitergehen soll. Anders kann ich nicht mit ihm leben. In dieser grundsätzlichen Sache muss er mich verstehen.

Dass der Faden manchmal reißt, okay, condition humaine. Dass er es nicht merkt, wenn er reißt: Hölle.

Aber so etwas muss sich kommunizieren lassen! In dieser Wahrnehmung muss man sich einig sein. Sonst kann man es gleich bleiben lassen. Das Zusammenleben.

Ich müsste es bleiben lassen. Ihn stört der Unterschied offenbar nicht. Oder er hat nur so getan. War es ihm peinlich? Wollte er es vielleicht nicht zugeben?

Zumindest müsste er es dann später zugeben.

Zu den vielen »Er muss …« hätte Oma jetzt schon längst gesagt: »Sterben muss man, mein Kind, sonst nichts.« Und ich hätte ihr zum x-ten Mal erklärt, dass es sehr wohl notwendige Bedingungen gibt, um ein bestimmtes Ereignis Wirklichkeit werden zu lassen. Damit Wasser zu Eis wird, muss eine bestimmte Temperatur herrschen. Das ist nicht diktatorisch. Das hat nichts mit Zwang zu tun. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung. Was soll ein Zusammenleben bringen, bei dem nicht gehört wird, was ich sage, und egal ist, wie ich etwas empfinde? »Enthören«, wie Sarduk das nennt, enthören, Oma, lass ich mich nicht. Aber in einer Krise würde Oma auf jeden Fall auf meiner Seite sein.

Krise heißt bekanntlich auch Chance.

Mag sein, dass mein Teil an der Krise ist, dass ich manches nicht schon früher gesagt habe. Er war da, es war schön für mich, es war schön für ihn. Wozu auf leise Warnsignale hören? Ich war viel zu beschäftigt. Oder zu feig. Die üblichen Flüsterstimmen: Nicht jetzt! Wozu das schöne Zusammensein stören, man muss ja nicht das Gras wachsen hören! Vollkommenes Glück gibt es nirgends. Sei keine Prinzessin auf der Erbse! Und wie die Duldsamkeitslehren eben alle heißen. Die Ausweichereien, die Ausreden.

Ich war zu feig.

Und jetzt bin ich müde, so müde.

Zuflucht. Zum Namensritual meiner Kindertage. Petra bin ich, das heißt Fels. Und aus diesem Felsen bau ich mein Leben. Nichts wirft mich um. Jetzt schon gar nicht mehr. Anfang dreißig. Job als Lektorin in diesem Wahnwitz namens Universität. Da wird sich doch in einer großen Liebe – wenn es denn eine ist – eine Verständigung bauen lassen. Das muss doch zu schaffen sein. Muss.

Thomas, du liebst mich, sagst du.

Erinnerst du dich, als du ihn das erste Mal gesagt hast, diesen Satz? So, so mit jeder Faser.

Du hast mich in der Nacht nach Hause begleitet. Wir hatten uns verabschiedet und das Tor war schon offen. Du hast die Fäuste in die Anoraktaschen gebohrt. Weil der Herbstwind kühl war? Weil du mich sonst festgehalten hättest? Weil du Mut gebraucht hast? Ich wende den Blick endgültig zum Haus, da sagst du: »Ich liebe dich, Petra.« Und ich dreh mich noch einmal zu dir, zur Nacht, zum Herbstduft. Die Wärme vom Stiegenhaus, die Kühle von draußen, dein Gesicht, unser liebendes Staunen und Lauschen, das alles ist wie eine Ewigkeit.

Ich liebe dich. Beide wollen wir glücklich sein und bleiben. Was soll da schiefgehen?

Von der Wiener Sommerhitze in die Hitze Kairos bist du gereist. Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte. Hast du Zeit, über uns nachzudenken?

Klärung brauche ich. Klarheit.

Ich will nicht anklagen.

Möglicherweise hast du längst verstanden, was ich gemeint habe. Vielleicht hat es nur gedauert, bis du es siehst wie ich.

Wenn es als Anklage bei dir ankommt, nimm alles Streicheln, alles Lieben der Monate davor, nimm unsere Küsse als Gegenargument.

Es war spät. Wir waren müde. Wir waren einig, dass wir »nur einschlafen« wollen.

Dass dann etwas anderes draus wird, in Ordnung.

Neulich nach dem Fest bei H. war das auch so. Da war in der erschöpften Umarmung dann ein Spüren, ein Herzschlag-Hören, ein Suchen nach mehr Haut. Und noch mehr Haut. Und Schnuppern. Synchron ändern sich die Wünsche. Als du vorsichtig nachfragst, zieh ich dich halb auf mich, winde mich aus dem Nachthemd. Das ruft spezielle andere – Veränderungen hervor. Küsse. Pyjamahose weg. Weil. Für ein langes Ineinander.

Und die Nacht war kürzer als geplant. Oder länger. Denn die Uhr hört auf zu ticken, wenn alles stimmt.

So oder so ähnlich hatte ich es wieder erwartet, als wir unsere Nur-Einschlaf-Pläne geändert haben.

Dass du den Unterschied abstreitest. Ich fass es nicht. Es geht nicht in meinen Kopf. Da nützt kein Bärli-Katzi-Mausi-Schnucki-Muschi-Butzi. (Das hat mein Spracherkennungssystem jetzt verweigert. Verständlich. Und ausgerechnet heute war der Tagestipp: »Mit dem Befehl X können Sie anordnen, dass das Spracherkennungssystem immer, wenn Sie ›Schnuckiputzi‹ sagen, ›mein Gemahl‹ schreibt!«)

Das ist vielleicht das eigentliche Problem, die unzureichende Sprache.

Ich war verstört. Ich bin es immer noch. Existenziell. Das Wort muss jetzt sein.

Es ist ein großer Unterschied, ob du mich liebst. Oder benützt. Als Versatzstück in einem inneren Film.

Durchaus ein edles Versatzstück, das habe ich verstanden! Eines, das stolz sein darf auf sich! Sie ist schließlich erwählt! Auserwählt! Von ihm! Wir Frauen sind immerhin das Ewig-Weibliche, das euch hinanzieht, und all der Psycho-Kitsch.

Nein, nein, nein. Ich will verstanden werden und geliebt. Als Gegenüber. Geschätzt. Durchaus auch benötigt. Aber nicht verwendet. Nicht benützt. Nein!

Ich geh schlafen.

Mittwoch, halb elf Uhr abends

Ganz leicht könnte ich dir jetzt viel vom heutigen Tag erzählen. Dass die wechselnden Gesetze an der Uni mit ihrer unterschiedlichen Noch-Gültigkeitsdauer ein Horror sind, dass Kollegin K. unmöglich war wie immer, dass die Arbeit viel zu viel ist, dass die Studierenden sich über Zeitverzögerungen beschweren, aber selbst schon groggy und gereizt sind. Als Thema das Wetter nicht zu vergessen, es ist plötzlich kühler geworden. Und so weiter. Aber das will ich alles nicht sagen. Nicht, wenn es mir so geht, wie es mir seit Freitagnacht geht. Mich beschäftigt meine Sehnsucht, meine Angst, meine Wut. Und das Wichtigste: Wie reparieren wir das, was da passiert ist?

Und. Bei dem, was ich sagen möchte, da sind Erfahrungen von früher dazwischen. Die haben falsche Verbindungen mit der Gegenwart. Wie Figuren von Keith Haring untereinander. Oder die Bilder von Escher, wo Falsches verdreht zusammenwächst, als wäre es organisch. Alte Erlebnisse reden mit. Obwohl sie nicht hergehören. Sie behaupten, Stimmrecht zu haben. Aus Angst. Aus Angst vor Verletzungen, die gewesen sind.

Mit wem reden? Wie Klarheit schaffen?

Freundin nicht da.

Eltern?

Vater nie. Dem darf man nur Erfolge berichten. Sonst ist Zuhören angesagt: dem väterlichen Worte.

Mama, die kriegt selber Angst. Hört nicht zu, wenn sie was nicht sofort regeln kann. Dann kommt sprachliche Zuckerwatte und die Floskel: »Mein Kind, es geht dir doch so gut!«

Oma noch am ehesten. Aber ich trau mich nicht. Auch wenn ich ihr viel zutraue. Und sie mir. Ich müsste zu weit ausholen. Und manches weiß sie nicht von mir.

Das Dreinreden aus der Vergangenheit.

Hat mit dem Gehirn zu tun. Ist ein Netzwerk. Viele Jahre lang gewachsen an Groß- und Kleinigkeiten. Pfuscht drein. Als ob die Lehre aus dem eigenen Leben so unumstößlich wäre wie die Natur. Und es gäbe keine Alternative, nichts darüber hinaus. Selbstverständlich. Sagen hingegen lässt sich nur das Bewusste. Mühsam eins nach dem andern. Dem Gegenüber. Sagen. Ein Satz ist dann alles oder gar nichts. Ausgeliefert dem Gehirn des Gegenübers.

Wann ist Verschweigen gut?

Wann Reden?

Bücher lesen hilft auch nicht immer. Das sage ich bei all meinem Glauben an Bücher. Sie lassen dich nicht gezielt fragen. Genauer gesagt, sie antworten nicht gezielt auf deine Fragen. Manchmal sind es Bücher mit Rezepten und Regieanweisungen. Die behaupten dann, alles ist lösbar, alles ist ganz einfach! Und ich komm mir noch schuldiger und wertloser vor und fühl mich noch elender, weil ich keine Lösung finde.

Obwohl.

Regieanweisung. Ein Stichwort, ein Impulswort, ein Lichtschalter für die Freudehirn-Areale. Damals war ich froh über die Regieanweisung, die du aus einem Buch von irgendwann einmal zur Verfügung hattest. Du weißt sicherlich, was ich meine.

Immer noch zögere ich. Wenn ich beim Berühren, Kuscheln, Streicheln, Lieben etwas Bestimmtes will. Warum braucht es Mut, dem Menschen, den man am meisten liebt, zu vermitteln, zu sagen oder auch nur anzudeuten, was die ureigensten Wünsche sind? Immer noch habe ich Sorge, du nimmst mir meine Lust übel. Wie kommen bloß diese ewigen Schuldgefühle in uns hinein? Kein Baby fühlt sich schuldig, dass es so ist, wie es ist. Dass die Finger da sind und dort sind, und dort und da!

Meine Finger bei dir.

Als ich damals das Schuldig-Fühlen vorsichtig erwähnt habe, lagen wir auf deinem Teppichozean. Da rollst du mich liebevoll auf dich, lachst und sagst, bitte zeig mir die Lust, die ich dir übel nehmen könnte! Bitte erklär sie mir ganz genau! Im Detail! Für welche Lust musst du dich ganz bestimmt schuldig fühlen? Ganz schrecklich schuldig?

Zuerst ist es mir eine ehrlich große Überwindung, etwas Konkretes zu tun.

»Ahh«, sagst du, »das! Das verstehe ich!«

Es klingt noch ein wenig spöttisch, aber sehr liebevoll.

Überwindung, Überwindung, Überwindung. Dann wandert meine Hand. Kichernd zeig ich dir das Nächste.

Dein »Oho!«, das folgt, ist schon recht heftig ausgestoßen.

Unter dem Vorwand, dass ich meine Sorgen genau bekennen soll, habe ich dich erkundet, erfunden, erobert, beschnuppert, befühlt, gekostet: Schau, das darf eine sittliche Frau doch unmöglich! Und das nicht. Und das! Und das schon gar nicht!

Dazwischen ist meine Stimme verschwunden. Und fast die Sinne auch. Obwohl ich genau weiß, was war.

Aber nach dem zweiten Mal bist du dann doch verunsichert, dass meine Fingerkuppen, die bloß von deinem Hals abwärts in weitem Bogen um die Schulterblätter herum mit irgendeinem sanftem Druck und unerträglicher Langsamkeit dann die Wirbel entlang gefahren sind – auf, ab, auf – deine Körperlandschaft sofort wieder zu Aufwärtsbewegungen veranlasst haben. Ohne dein Zutun nämlich. Ohne sozusagen dein Verdienst und deine Anstrengung.

Konzentration ist ja auch eine Anstrengung. Und die ist bei ganz Neuem leichter.

Ich weiß, du hast es genossen.

Aber ich hatte Schuldgefühle, dass ich »so« bin. So fordernd. So wissend. So erfolgreich in meinem Sinn, denn die Lust war auch meine.

Dabei bin ich gar nicht wissend. Die Finger tun das einfach von selbst. Ich darf sie nur nicht zensurieren oder beklügeln. Dann ist es unsere, meine, deine, unsere Lust. Es ist-sind wir, wir, wir! Wir sind Lust! Wir haben uns und alles.

Das war auch eine unserer längsten Liebesnächte.

Vorigen Freitag war nur ein Gedröhn von »Ich, ich, ich« auf deiner Seite. Und irgendetwas stand im Raum, auf das du geschielt hast. Wie auf eine Anzeigetafel im Stadion, wo die geschossenen Tore draufstehen.

Er will geil sein. Zum Geilsein braucht er mich.

Und das dann Liebe nennen.

Schuldgefühl – beinahe hätte ich gesagt natürlich – auch beim Fordern, selbst bloß bei einer anderen Sicht der Dinge, geschweige denn beim Kritisieren. Es ist wie eine Lähmung. Unbeweglich gemacht wie ein Insekt im Bernstein. Mundhalten als Überlebensstrategie. Als würde ich bedroht, noch bevor ich den Mund aufmache. Als würde die Inquisition noch ihre Häscher herumschicken: Wenn dir dein Leben lieb ist, so schweige und erdulde.

Seltsam.

Warum sollte ich schuldig sein? Was sollte daran falsch sein, zu sagen, wie es für mich war? Du hast das getan, was du wolltest. Und ich sage, wie es mir dabei gegangen ist.

Auch die aktive Selbstständigkeit beim Lieben kann ich noch immer nicht ganz ohne Schuldgefühle erleben. Dass wir nie wieder darüber gesprochen haben! Schuldgefühle sind wie ätzender Qualm von feuchtem, schlecht brennendem Holz. Der breitet sich aus. Hemmt den Atem. Drückt auf den Magen. Sie lassen sich nicht wegbefehlen.

Du hast mich nie gefragt, ob ich sie mir erklären könne.

Wobei. Erklären allein nützt ja auch nicht viel. Neulich hat mir ein Student erklärt, wie er sich den Arm gebrochen hat. Deswegen wird der Arm auch nicht heil. Aber es lassen sich zumindest heilsame Maßnahmen ergreifen.

Ein Teil davon ist sicher eine Folge vom »ersten Mal«. Von wegen »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« und all dem Gequassel.

Spazierengehen zwischen Weingärten ist mir heute noch unbehaglich. So viele Jahre danach. Wenn ich einer Holzhütte zu nahe komme, wird mir übel.

Wegen damals.

Ich wollte nicht mehr die Einzige in der Klasse sein, die keine Ahnung hat. Die, die es noch nicht gemacht hatte. Na, dann bring ich es eben hinter mich, denke ich mir, und das war ein Fehler. Meinem Hausarzt erzähle ich etwas von riesiger Verliebtheit, und er verschreibt mir die Pille. Mit R., dem Typ, der den Ruf hat, er macht es mit jeder, verabrede ich mich. Wir treffen uns zu einem Spaziergang. In den Weinbergen. Ich stell mir vor, wir wandern nachmittags durch die herbstbunten Weingärten, gehen zum Heurigen und dann bringt er mich zu sich nach Hause. Dazwischen könnte ich vielleicht doch auch noch abhauen, denke ich, falls ich es mir anders überlege.

Die Weinstöcke sind abgeerntet. Hier und dort hängt noch eine Traube. Wir kosten. Er weicht von der Straße ab. Jetzt hat er eine besonders schöne gesehen, denke ich, aber sein Blick ist anders. Irritiert geh ich ihm nach. Zur Holzhütte. Die Tür ist angelehnt. Er drückt sie mit der Schulter auf. Spinnweben seh ich, Laub, Gerümpel. Der modrige Geruch schreckt mich. Ich will zurück. Sein Griff um mein Handgelenk ist eisern. Mit einem Ruck hat er mich an der Wand. Sein Gesicht ist irgendwo in meinen Haaren. Meine linke Hand stopft er in seine Hose, keucht. Ich krieg kaum Luft, so fest drückt er seinen Brustkorb gegen mich. Das warme Zeug aus Haut und Haaren, gegen das meine Hand stößt, ist mir widerlich. Wie er es geschafft hat, meine Jeans runterzuziehen, weiß ich nicht mehr. Beim Fenster eine rostige, kaputte Sense, die ich anstarre. Erst, als es furchtbar wehtut, der Moment ist gestochen scharf im Gedächtnis. »Schrei net, sonst bring i di um!«, keucht er, und: »Ah, so eine bist du! Wehtun muss es der Sau!« Aber zum Holz sagt er das. Zur Wand. Er ist in einer andern Wirklichkeit. Er hat ein Programm und zieht es durch. Für ihn war ich gar nicht da. Es hat ihm geekelt vor mir. Das weiß ich. Er hat mich gehasst. Er hat es trotzdem getan. Von Frage nach Verhüten keine Rede. Er hatte keine Freude, keine Lust.

Dann war er weg.

Ich in Panik. Den körperlichen Schmerz hab ich erst später gemerkt. Irgendwie nach Hause fahren. Alle sehen es mir an, denke ich. Zu Hause zum Glück zuerst allein. Die Wäsche sauber kriegen, ohne dass meine Mutter etwas merkt. Und innen. Als wären die Knochen alle durcheinander und in Nadeln gewickelt.

Eine Geschichte von Ufre Sarduk hat mich später erleichtert. Eine junge Frau erinnert sich plötzlich an das Entsetzliche:

Und dann wusste sie es.

Der Beginn war ein Traum. Ein Traum, so wirklich, wie Wirklichkeit nur sein kann.

Die Steintreppe von der Veranda in den Garten. Die Stützmauer getreppt. Immer drei Stufen. Blumentröge als Geländer. Dazwischen Platz für die kleinen Füße.

Ein Mädchen. Sie selbst. Vor Jahren.

Das Springen hatte sie gelernt. Es macht jetzt Spaß. Hinauflaufen, hinunterschauen, Kitzeln im Bauch. Hinunterspringen. Kein Kinn anschlagen. Weil Knie auseinander.

Die Lieblingshöhe dort. Über der Lüftungsöffnung der Mauer. Die Lüftung für den Abstellraum unter der Treppe. Voll mit Gerümpel.

Und weit musste sie springen. Denn in dem schmalen Beet davor, da durfte sie nicht landen.

Windig war der Tag. Sonnig. Noch nicht heiß. Die Petunien und Begonien hatten gerade zu blühen begonnen. Viele Bienen. Der Kastanienbaum hatte die Blüten schon abgeworfen und bekam die ersten stacheligen Perlen. Hin und wieder ein Vogel. Hundegekläff in der Ferne.

Stiegen hinauflaufen. Hinunterspringen.

Immer wieder.

Und sie war der Kastanienbaum, der ihr dabei zuschaute. Im Traum. Im Traum war sie beides. Das kleine Mädchen und der Kastanienbaum.

Das kleine Mädchen springt. Der Aufprall drückt den Kopf zwischen die Knie. Sie hebt den Kopf. Sieht dunkel. Eine Männerhose.

Eine Hand klappt über ihren Mund. Über ihr Gesicht.

Zeitlupentraum.

Zeitlupenangst.

Der Kastanienbaum. Sieht wie der Mann das Kind packt und hochreißt. Zwei Schritte. Fort. Im Abstellraum unter der Treppe.

Der Baum hat schon vorher gesehen.

Hat es ihr aber nicht sagen können.

Dass der Mann. Der wohnt auf der anderen Seite. Macht den Garten. Bekommt dafür Geld. Hat ein hartes Gesicht. Wie aus Metall. Die Kinder weichen ihm aus.

Eine dreckige Decke hat er in den Abstellraum. Getan. Schon früher.

Presst das zappelnde Kind an sich.

»Still bist. Sei brav!«

Hecheln. Keuchen. Gestank. Aus dem Mund. Aus dem Moder. Viel zu nah.

Sie, das Kind, kann gar nicht. Schreien. Seine Hand vor ihrem Mund. Sieht aber. Mit aufgerissenen Augen. Seine Augen. Schmal. Hasserfüllt.

Sie sieht und windet sich. So es geht. Er drückt ihr fast den Atem. Aus dem Leib. Der Mann. Immer näher. Das Gesicht.

Ein großer Finger drängt sich in ihren Mund. Bitter. Hart. Tief. In den Mund.

»Beiß nur.«

Es reckt sie.

»Nicht kotzen.«

Der Finger gibt nach. Ruckt grob hinaus aus ihrem Mund. Die Hände packen jetzt anders. Zu. Auf den Boden.

Er wälzt sich auf sie.

Luft. Jetzt gar keine.

Der Baum weiß, sie wird ohnmächtig.

Wacht auf.

Der ganze Körper. Wie Schläge. Innen und außen. Gesplittert. In allen. Körperteilen.

Der ganze Körper. Gepresst. Gewalkt.

Hin und her.

Am Gesicht ein Ding wie Haut. Hart. Heiß und kalt. Stößt in den Mund.

Und es muss so etwas wie eine Ohnmacht gewesen sein. Wieder.

Im Traum ist sie auch der Baum. Will mit Tausenden Blättern das Kind bergen. Das Kind, das seinen Körper nicht mehr kennt.

Der Baumengel löst sich aus dem Baum.

Der Mann hat sich vom Kind herunter. Gewälzt. Sein Hass. Töten. Das Kind töten. Die Hände. Zieht es. Zum dünnen. Hals.

Der Baumengel zeigt ihm Bilder vom Hass. Hass ist stark. Weiß er. Der Hass auf Kindermörder.

Die Hände weichen zurück.

So kommt er vielleicht davon.

Sich anziehen.

Das Kind. Ist noch da. Liegt. Atmet. Rührt sich aber nicht.

Es widert ihn an. Er hebt es vom Boden. Sie hängt. In seinem Griff.

Er lehnt sie draußen. In die Ecke. Eine Puppe.

Holt seine Decke.

Verschwindet.

Später. Hat er nachgeschaut. Das Kind anderswo. Lehnt am Kastanienbaum. Und spielt.

Passt, hat er gedacht. Soll mir wer. Was beweisen. Kinder lügen doch immer.

Es hat seinen Hass.

Sie. Wacht auf. Aufgewacht. Aus dem. Traum.

Der Körper ist noch drinnen. Das Spüren. Die Schläge. Innen. Außen. Den Druck. Dass der Körper. Nicht platzt. Die Ohnmacht. Die Schwärze. Aber sehen. Wissen. Den schmerzenden Körper. Oder. Keinen Körper.

Tränen. Angst vorm Ersticken. Schluchzen.

Weinen.

Rufen nach der Freundin. Die hört. Kommt.

Würgen. Herauswürgen diesmal. Wörter. Bilder. Tränen.

Und war doch nur ein Traum, diese Wirklichkeit.

Gehalten sein. Geschüttelt vom Weinen.

Der Körper tut so weh.

Aus den Schmerzen hinaus.

Riss in der Wirklichkeit.

Kein Körper. Das ist noch mehr Panik.

Zurück in den Schmerz.

Sie hält durch. Sie erkauft sich ihre Geschichte. Ihre Geschichte mit dem Schmerz.

Sie wird nicht mehr keine Geschichte haben.

Die Freundin sagt, sie wird auch eines Tages den Frühling wieder lieben. Und sogar das Springen.

Ein Satz. Sie glaubt ihn nicht.

Aber sie lächelt bei der Vorstellung.

Es war ein Jahr danach, als ich das zum ersten Mal erzählen konnte. Einer Freundin von weit her. Einer sanften, zarten, lieben thailändischen Freundin. Sie hat in Wien studiert und war in unserer Schule, um von ihrer Heimat zu erzählen. Wir haben uns angefreundet. Erst kurz bevor sie von Wien abreist, rede ich mit ihr. Damit ich dem Menschen, der das von mir weiß, nie mehr ins Gesicht schauen muss. In einer langen Nacht erzählt. Herausgekotzt. Buchstäblich.

Ihr Verständnis hat gut getan. War aber auch erschreckend.

Lang nachher war mir klar, sie hat genau gewusst, wovon ich rede. Zu genau. Nachdem sie wie selbstverständlich das Waschbecken gereinigt hatte, zu dem ich es noch rechtzeitig geschafft habe, sitzen wir auf diesem lieblosen Bett im Studentenheim. Mich schüttelt es vor Schluchzen. Sie streichelt mich und wiederholt nur immer und immer wieder: »Seine Ehre ist kaputt, nicht deine. Seine Ehre ist kaputt, nicht deine.«

Seine Ehre ist kaputt.

Weiß er das? Wissen diese Wahnsinnigen, welche Verbrechen sie begehen?

Im achten Höllenkreis lässt Dante Verbrecher büßen, von denen ich lange gehofft habe, dass es die Vergewaltiger sind. Es ist eine brennende Sandwüste. Alle rennen, weil die Flammen den Füßen unerträglich sind. Jeder, der so versucht zu fliehen, ist durchbohrt von einer Schlange, die ihm die Hände an die Wirbelsäule fesselt. Andere Schlangen stoßen auf den Fliehenden zu, er verbrennt zu Asche, entsteht sofort wieder neu, muss rennen, verbrennt, entsteht, muss rennen …

Das beschreibt die innere Folter der Opfer wohl recht gut. Jahrelang durchbohrt dich die Erinnerung, du kippst hinein, bist in Panik, dann holt dich wer heraus, die Erinnerung holt dich ein, du kippst …

Weiß R. das?

Dass es jahrelange Therapie braucht. Ich hab dir kurz davon erzählt.

Gar nichts weiß er.

Unsere Wege haben sich täglich gekreuzt. War nicht vermeidbar.

»Na, gehen wir wieder mal spazieren?«, fragt er eines Tages und will den Arm um meine Schultern legen. Ich dreh mich. Das war ein Handkantenschlag. Unbeabsichtigt. Der wehgetan haben muss. So schnell konnt ich gar nichts überlegen.

Er nur: »Dumme Trutschn!« Mitleidig, als hätt ich einen Millionen-Gewinn ausgeschlagen, reibt er sich den Arm.

Was weiß so ein Mensch von sich? Von den andern?

Nichts. Absolut nichts, nehme ich heute an.

Aber kann er tatsächlich in zwei Wirklichkeiten leben? Ohne dass er von Schuld weiß? Von den Schmerzen, die er auslöst?

Er hat Rache geübt. Was soll Rache an einem Menschen, der ihm nie etwas getan hat? Ich war Stellvertretung. Für was? Für wen? Keine Ahnung!

Deshalb alle meine Alarmglocken, Thomas! Deshalb mein Entsetzen über Freitagabend.

Zwischen uns darf es so ein Zweierlei-Filmzeug nicht geben. Uns muss einigermaßen klar sein, was mit uns ist. Und zwischen uns. Und das muss uns beiden einigermaßen dieselbe Wirklichkeit sein. Jedenfalls auf den Gebieten, wo wir aufeinander angewiesen sind.

Wahrscheinlich würden mir hundert Leute, und leider auch Oma, in so einem Fall raten, zu verzeihen. »Mein Kind, du musst verzeihen können! Das tut dir gut. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, heißt es in der Bibel!«

»Verzeihen heißt / aufstehen können aus all dem Schmerz.

Verzeihen heißt / wissen, es ist vorbei«, schreibt Sarduk. Wenn es den Schaden gar nicht mehr gibt, den ich erlitten habe, ich ihn also nicht mehr vorzeigen kann, bin ich selbst schuld, wenn ich mein Leiden dadurch verlängere, dass ich nachtragend bin. Zeihen hat dieselbe Wurzel wie zeigen. Und nachtragen ist eine Mühe, die man selbst ablegen muss. Wie ist das aber mit inneren Schäden? Wer kann beweisen, dass sie nicht mehr da sind? Ist das tatsächlich vorbei, was so wehtut? Nein! Und dann auch noch mit weihrauchverdrehten Augen den Schmerz leugnen und urgütig zu verzeihen, während das Gegenüber auf die gleiche Art verletzend bleibt, ist ein Blödsinn. Ein selbstzerstörerischer Schwachsinn.

Und daher: Wenn du nicht weißt – oder abstreitest –, dass es passiert ist, setze ich mich der Gefahr aus, dass es für den Rest meines Lebens so weitergeht. Das will ich sicher nicht. Ich muss mich doch einigermaßen darauf verlassen können, dass wir einer Meinung sind, so etwas nicht zu wiederholen! Vernünftigerweise.

Deshalb müssen wir darüber reden können, Thomas. Eine Sprache haben dafür, die uns beiden dasselbe sagt. Auch was die Liebe betrifft, die körperlich gelebte.

Warum haben wir nie darüber geredet? Über meine persönliche Geschichte mit der Liebe und mit dem, was so Liebe genannt wird.

Für einige Zeit hatte ich damals genug davon.

Dann dachte ich mir, ich muss wohl warten, bis einer um mich wirbt. Wie im Film. Wie in einem positiven Film. Einem mit Happy End.

Derjenige kam dann auch. Nachdem ich lange genug Nein gesagt hatte, wie es, so dachte ich, das Drehbuch verlangt, lasse ich mich einladen. Zu ihm nach Hause.

Der erste Besuch ist ein etwas eckiges Ereignis. Muss wohl so sein in diesem Fall, denke ich mir. Bis spät in die Nacht diskutieren wir Dinge, die tiefsinnig klingen, aber weder ihn noch mich wirklich betreffen. Nichts, was für unser Leben einen Unterschied machen würde. Wir fühlen uns aber beide so im richtigen Fahrwasser. Und sind zufrieden, weil edel unterwegs.

Rollendeckend, wie ich es später für mich genannt habe. Eine erhabene Rolle habe ich gut erfüllt: So empfinde ich es, als ich damals zu Hause einschlafe.

Beim zweiten Besuch verblüfft er mich, weil es a tempo zur Sache geht.

Offenbar hatte ich ein anderes Drehbuch.

Unter heftigem Atemausstoß die Frage, ob er vielleicht ein Kondom und so verwenden soll. Hechelt mir vor, dass er seinen Trieb nicht länger zügeln kann. Weil ich mache ihn so geil – er ist überzeugt, dass ich das als höchstes Lob empfinden muss – und so weiter. Nach kurzem, heftigem Geschmuse vermute ich, er erwartet, dass ich mich geniere. Also stelle ich einen Stapel Bücher vor die Lampe bei seinem Bett. Damit es dunkler wird. Das scheint er passend zu finden. Es folgen diese sich windenden Bewegungen, BH unter der Bluse öffnen. Abgrapschen lassen. Endlich liegen wir. Ich am Rücken, er kniend über mir. Irgendwie steh ich eher daneben. Komme mir völlig unbeteiligt vor. Ich schau mir zu, wie ich versuche, völlig überwältigt auszusehen und schmachtend.

Also, genau genommen: Ich habe versucht so dreinzuschauen, wie ich mir vorstelle, dass er sich vorstellt, dass ich dreinzuschauen habe, damit er sich erfolgreich vorkommt und weitermachen kann.

Mir kommt er vor wie ein Straßenköter, der aufreitet. Ich will ihn jetzt wirklich nicht mehr sehen und lege ein Buch direkt auf den Lampenschirm. Das hat nun für ewige Zeiten einen braunen, verschmorten Fleck auf dem Einband.

Ich, Lider halb herunten, Mund halb offen. Seine Antwort ist ein lobendes »Ja, ja, ja«. Ich packe ihn fest am Hintern. Auf seinem Gesicht eine indignierte Wolke. Also lasse ich los. Und so geht das weiter.

Er merkt nur sich. Er ist ganz in sich verstrickt. Und wenn ich erfolgreich für ihn arbeite, gibt es tausend Signale, dass er mich super findet.

Seine grandiose Sicherheit, dass ich die totale Erfüllung habe, weil er mich lobt, ist eindrucksvoll. Irgendwie reißt er mich mit.

Trozdem ist es für mich ungenügend.

Von Gemeinsamkeit hat er keine Ahnung.

Mühsam.

Kurz bin ich dann aber in einen eigenen Film geglitten. Nachher war mir nicht gleich klar, dass ich mich trotz Orgasmus elend und frustriert fühle. Leer. Die Ansicht, dass der Orgasmus doch eben die Erfüllung sei, war überzeugender als mein eigenes Erleben. Noch ein zweites Mal habe ich das mit mir machen lassen. Dann weiß ich endlich, dass ich da nicht mitspiele.

Aussprache zwecklos.

Also Ende. Ohne Schrecken für mich. Er hat sich nie wieder auch nur gemeldet bei mir.

Darauf überlege ich einige Zeit ernsthaft, ob es vielleicht überhaupt nur ein Märchen ist, die Sache mit der hinreißenden Liebe. Vielleicht ist die Sache mit der Begeisterung zweier Menschen füreinander und für das Leben nur eine Erfindung der Literatinnen und Literaten. Und so etwas wie »Meine Seele, die die deine liebet, / Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet« von Else Lasker-Schüler gibt es gar nicht. Ist eben bloß Wunschdenken. Sehnsucht. Utopie. In Wirklichkeit müsse man – oder eben: frau – eine günstige Variante Mann aus den Männern aussuchen, die halt so herumlaufen. Den nehmen, von dem ich mir ein passables, faires Miteinander erwarte. Und schon auch, dass er mich sexuell glücklich macht. Dass es sexuelles Liebesglück gibt, steht schließlich in Gedichten und in wissenschaftlichen Büchern. Ist ja sehr viel, wenn das miteinander möglich ist.