Und wenn sie tanzt - Susan Elizabeth Phillips - E-Book

Und wenn sie tanzt E-Book

Susan Elizabeth Phillips

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Beschreibung

Der brandneue Roman der wunderbaren Susan Elizabeth Phillips!

Nach einem schweren Schicksalsschlag lässt die 35-jährige Tess alles hinter sich und flieht Hals über Kopf in die abgelegene Ödnis des Runaway Mountain in Tennessee. Hier, in einer kleinen Hütte auf dem Berg nahe eines charmanten Örtchens, lässt Tess los – indem sie immer dann tanzt, wenn die Trauer sie wieder einmal überwältigt. Doch die laute Musik bleibt nicht unbemerkt, und eines Tages steht ein zwar sehr attraktiver, aber umso wütenderer Mann neben ihr – Ian North, ein bekannter Street-Art-Künstler, der ebenfalls gute Gründe hatte, die Einsamkeit der Berge zu suchen. Es ist Abneigung auf den ersten Blick, aber die Liebe hat sich noch nie hinters Licht führen lassen …

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Buch

Nach einem schweren Schicksalsschlag lässt die 35-jährige Tess alles hinter sich und flieht Hals über Kopf in die abgelegene Ödnis des Runaway Mountain in Tennessee. Hier, in einer kleinen Hütte auf dem Berg nahe eines charmanten Örtchens, lässt Tess los – indem sie immer dann tanzt, wenn die Trauer sie wieder einmal überwältigt. Doch die laute Musik bleibt nicht unbemerkt, und eines Tages steht ein zwar sehr attraktiver, aber umso wütenderer Mann neben ihr – Ian North, ein bekannter Street-Art-Künstler, der ebenfalls gute Gründe hatte, die Einsamkeit der Berge zu suchen. Es ist Abneigung auf den ersten Blick, aber die Liebe hat sich noch nie hinters Licht führen lassen …

Autorin

Susan Elizabeth Phillips ist eine der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Romane erobern jedes Mal auf Anhieb die Bestsellerlisten in Deutschland, England und den USA. Die Autorin hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Chicago.

Von Susan Elizabeth Phillips bereits erschienen

Bleib nicht zum Frühstück · Küss mich, Engel · Träum weiter, Liebling · Kopfüber in die Kissen · Verliebt, verrückt, verheiratet · Wer will schon einen Traummann? · Ausgerechnet den? · Der und kein anderer · Dinner für drei · Vorsicht, frisch verliebt · Frühstück im Bett · Komm, und küss mich · Die Herzensbrecherin · Küss mich, wenn du kannst · Dieser Mann macht mich verrückt · Mitternachtsspitzen · Kein Mann für eine Nacht · Aus Versehen verliebt · Der schönste Fehler meines Lebens · Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen · Cottage gesucht, Held gefunden · Verliebt bis über alle Sterne

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Susan Elizabeth Phillips

Und wenn sie tanzt

Roman

Deutsch von Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2020

unter dem Titel »Dance away with me« bei William Morrow, an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020

by Susan Elizabeth Phillips

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020

by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Letizia McCall/Photographer’s Choice/

Getty Images; www.buerosued.de

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18388-2V003

www.blanvalet.de

Für die geliebten »Zugaben« in meinem Leben:

Zuerst kam Nickie, die Dancing Queen. Dann folgten

Leah, Andy und Anya. Familien entstehen

auf ganz erstaunlichen Wegen.

Prolog

Der Junge hielt die Spraydose vollkommen gerade. Fixierte sie dicht vor dem geriffelten rostfreien Stahl. Drückte den Sprühkopf und beobachtete, wie der glänzende Strahl aus roter Farbe den Buchstaben I formte.

Er hatte es geschafft. Er hatte eine Bahn erwischt. Eine Wand oder das Rolltor irgendeines doofen Pfandhauses konnte jeder ansprühen, aber nur echte Outlaws, nur die besten Sprayer, konnten einen Wagen der New Yorker U-Bahn taggen. Und er war erst zehn Jahre alt.

Der Weg von der Upper East Side hierher war genauso gefährlich, als würde man sich in dem verdammten Bosnien oder dem Irak oder irgendeinem anderen Krisengebiet durchschlagen. Der Marsch im Dunkeln durch den Central Park. Der Einstieg in die Linie 1 Richtung Norden mit vier Dosen Krylon in seinem Rucksack. Er hatte die Kapuze seines schwarzen Sweatshirts über den Kopf gezogen, um sich für die Betrunkenen und Junkies in der Bahn unsichtbar zu machen, während er bis zur 207th Street gefahren war. Dieses verschissene Inwood, eins der schlimmsten Viertel in Manhattan, wo Mord und Raubüberfälle an der Tagesordnung waren.

Das Anschleichen im Schatten. So war es ihm gelungen, an den Wachleuten vorbei ins Depot zu kommen, wo er sich geduckt durch den nächtlichen Dschungel aus Schienen und Metall geschlängelt hatte, um seinen ersten Zug zu taggen.

Er sprühte ein paar Grashalme in Orange und Dunkelrot auf den unteren Bereich des Wagens. Er fügte coole dämonische Wesen hinzu, die zwischen den Halmen hervorspähten. Und nun, bevor man ihn entdeckte, den Rest seiner Signatur. IHN4.

Es war kein Pseudonym, wie alle anderen eins verwendeten. Er nicht. Dies hier waren seine echten Initialen, und die ersten drei Buchstaben waren dieselben, die sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater hatten. Nur die 4 gehörte ihm allein.

Alle Zeichen in derselben Größe zu malen war was für Amateure, also machte er die 4 extragroß. Letztes Jahr hatte er es nicht besser gewusst, als er sein erstes Gebäude, das Apartmenthaus am Central Park West, in dem er wohnte, getaggt hatte. Das hatte bei der Eigentümerversammlung einen Shitstorm ausgelöst. Niemand hatte ihn verdächtigt.

Fast niemand.

Wenn er nicht bald von hier verschwand, würden sie ihn entdecken. Er verpasste den Buchstaben schwarze Risse, als würden sie zerbröckeln. Hätte er doch nur einen Pinsel und die Zeit, um es richtig zu machen. Aber die hatte er nicht.

Nun musste er nur noch das Foto schießen. Wegen dieser bescheuerten neuen Strategie der Verkehrsbetriebe: Jeder besprühte Zug wurde aus dem Verkehr genommen, bis die Graffitis entfernt waren. Die einzige Möglichkeit, wie ein Sprayer seine Arbeit nachweisen konnte, war mit einem Foto. Ohne Foto existierte das Tag nicht.

Er wühlte in seinem Rucksack nach der Digitalkamera, die er von der Haushälterin zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Dann trat er ein paar Schritte vom Wagen zurück und nahm sein Motiv ins Visier, versuchte möglichst viel davon abzudecken. Das Blitzlicht konnte ihn verraten, aber dieses Risiko musste er eingehen. Ohne das Foto konnte er das Tag nicht für sich in Anspruch nehmen.

»Keine Bewegung!«

Er drückte den Auslöser. Der Blitz flammte im selben Moment auf, als ihn der Wachmann am Arm packte und die Aufnahme ruinierte.

Sein Vater holte ihn auf der Polizeiwache ab. Er war ein hohes Tier in der Stadt, und vor den Bullen tat er furchtbar nett, auf eine »Können wir das nicht unter vier Augen bereden«-Art.

Aber als sie die Wache verließen und den bröckelnden Parkplatz überquerten, schleuderte sein Dad ihn mit voller Wucht gegen die Seite seines neuen Porsche 911.

»Du beschissener Loser!« Er drehte ihm den Arm auf den Rücken und schlug ihn hart ins Gesicht. Erst rechts. Dann links. Mit der Faust.

Im Wagen glitzerten die Diamanten an den Ohrläppchen seiner Mutter, als sie sich abwandte und in die entgegengesetzte Richtung blickte.

Sein Vater stieß ihn auf den engen Rücksitz. Aber als Ian sich mit dem Ärmel seines Sweatshirts das Blut von der Nase wischte, war alles, woran er denken konnte, dass er kein Foto hatte. An die Gewaltausbrüche seines Vaters war er gewöhnt. Er würde es überleben, wie immer. Aber das Foto …

Das Foto hätte ihn zu einem Gott gemacht.

Kapitel 1

Tess tanzte im Regen. Sie tanzte in einem alten Tanktop und im Slip, ihre Füße steckten in traurigen, ehemals silbern glänzenden Ballerinas. Sie stampfte mit den Füßen auf den glitschigen, moosbedeckten Steinplatten unter dem tropfenden Nussbaum, der die Berghütte so viele Jahre geschützt hatte. Heute tanzte sie zu Hip-Hop, gestern zu Reggae, vorgestern … vielleicht zu Grunge, vielleicht auch nicht, Hauptsache, die Musik war laut, laut genug, um eine Komplizin ihrer Wut zu sein, um die Trauer zu heiligen, die nie, niemals weggehen würde. Die Art von Lautstärke, die in Milwaukee nicht möglich war, aber hier auf dem Runaway Mountain, wo Rehe und Waschbären ihre nächsten Nachbarn waren, konnte sie ihren Sound so laut aufdrehen, wie sie es brauchte.

Der kalte, feuchte Februarwind in East Tennessee trug den Geruch von modrigen Blättern und Stinktier mit sich. Es war nicht das richtige Wetter, um sich nur in Unterwäsche draußen aufzuhalten, aber im Gegensatz zu einem toten Ehemann waren Nässe und Kälte etwas, gegen das Tess vorgehen konnte.

Mit der linken Fußspitze blieb sie an einer gebrochenen Steinplatte hängen, und ihr Schuh wurde ins Gestrüpp geschleudert. Ein Schuh an, ein Schuh aus. Sie schickte ihre ganzen Emotionen in ihre Füße. Ein spitzer Stein bohrte sich in ihre Ferse, aber wenn sie aufhörte, würde ihre Wut sie von innen verbrennen. Sie zwang ihre Hüften in den Schwung, warf den Kopf hin und her, sodass ihre nassen, zotteligen Haare flogen. Schneller und schneller. Hör nicht auf. Hör bloß nicht auf. Sobald du aufhörst …

»Sind Sie taub?«

Sie erstarrte, als ein Mann über die wackelige Holzbrücke stürmte, unter der der Poorhouse Creek dahinplätscherte. Ein Bergmensch mit struppigem dunklem Haar, einer markanten Nase und einem kantigen Kiefer. Ein Bär von einem Mann – groß wie ein Bergahorn und unempfindlich gegen den Regen –, der ein rot-schwarz kariertes Flanellhemd über einer robusten Arbeitsjeans und Stiefel voller Farbspritzer trug. Sie hatte von diesen Bergmenschen gelesen: Einsiedler, die sich mit einem Rudel scharfer Hunde und einem Arsenal an Feuerwaffen in der Wildnis verkrochen. Sie lebten monatelang – jahrelang – ohne menschlichen Kontakt, bis sie ihre Herkunft vergaßen.

Tess stand da, bewegungsunfähig, in ihrer ollen Unterhose und dem nassen weißen Baumwollhemd, das über ihren Brüsten spannte. Ohne BH, wütend, selbst halb verwildert und sehr alleine.

Er kam durch den Regen auf sie zugestapft, während die klapprige Holzbrücke hinter ihm schwankte. »Ich habe mir diesen Krach gestern Nachmittag gefallen lassen und gestern Abend und dann mitten in der Nacht um zwei Uhr, aber jetzt habe ich die Schnauze voll!«

Sie musterte ihn, verschaffte sich einen ersten kurzen Eindruck. Trotzig gewelltes, widerspenstiges, zu langes Haar, das sich an seinem Hals feucht lockte. Seine Holzfällerkleidung war zerknittert, die rissigen Lederstiefel waren mit einem Dutzend verschiedener Farben besudelt. Sein Bart war nicht lang genug für einen verrückten Einsiedler, aber er machte trotzdem einen verrückten Eindruck.

Sie würde sich nicht entschuldigen. Sie hatte sich zu Hause in Milwaukee genug entschuldigt für die Belastung, die ihre Trauer für ihre Freunde und Arbeitskollegen darstellte, doch hier würde sie es nicht tun. Sie hatte sich für den Runaway Mountain entschieden, nicht nur wegen seines Namens, sondern auch wegen seiner Abgeschiedenheit – ein Ort, wo sie so unhöflich, so untröstlich, so wütend auf das Universum sein konnte, wie sie wollte. »Hören Sie auf, mich anzuschreien!«

»Wie soll ich mich denn sonst verständlich machen?« Er schnappte sich ihren Bluetooth-Lautsprecher, der auf einem trockenen Platz unter den splittrigen Trümmern eines Picknicktisches stand.

»Stellen Sie das wieder hin!«

Er drückte mit einem stumpfen Finger seiner großen Pranke auf den Power-Knopf, und die Musik verstummte. »Wie wäre es mit ein bisschen Höflichkeit?«

»Höflichkeit?« Sie fand Gefallen daran, ein Ventil zu haben für die Ungerechtigkeit, die ihr im Leben widerfahren war. »So nennen Sie das, wenn Sie wie ein Wilder hier angestürmt kommen?«

»Hätten Sie etwas Respekt vor all dem hier …« Er machte eine schroffe Geste zu den Bäumen und dem Bach, und seine harten Gesichtszüge wirkten wie grob geschnitzt, als wären sie mit einer Kettensäge herausgearbeitet worden. »Hätten Sie etwas Respekt, hätte ich nicht hier angestürmt zu kommen brauchen!«

Und dann sah sie es. Der Moment, in dem er ihre Kleidung wahrnahm – beziehungsweise ihre Nicht-Kleidung. Augen in der Farbe von Schiefer streiften sie abschätzig. Aber was störte ihn? Ihre nassen, verhedderten Haare? Ihr Körper, der schwerer war, als er sein sollte, weil sie sich bis zum Ersticken vollstopfte? Ihre Beine? Ihre schäbige Unterwäsche? Oder vielleicht nur ihre Unverfrorenheit, auf seinem Planeten Platz für sich zu beanspruchen?

Wen wollte sie auf den Arm nehmen? Mit ihren Brüsten, die sich unter dem nassen Trägerhemd abzeichneten, sah sie wahrscheinlich aus wie das groteske Klischee einer betrunkenen Studentin im Partyurlaub in Cancún. Ihr Kopf schwamm im Hochrausch ihrer Wut. »Sie hätten nur höflich zu fragen brauchen.«

Sein Blick durchbohrte sie, seine Stimme klang wie ein leises, tiefes Knurren. »Ja, klar, das hätte sicher funktioniert.«

Sie war eindeutig im Unrecht, aber das war ihr egal. »Wer sind Sie?«

»Jemand, der gern ein wenig Ruhe und Frieden hätte. Zwei Begriffe, die Ihnen offenbar fremd sind.«

Niemand hatte sie zurechtgewiesen, seit ihr Mann gestorben war. Stattdessen taten alle so, als stünden sie noch immer im Verabschiedungsraum mit seiner überladenen Einrichtung und dem ekelerregenden Geruch von Stargazer-Lilien. Eine Zielscheibe für ihre Wut zu haben war auf widerliche Art berauschend. »Sind Sie immer so unverschämt?«, schnauzte sie den Fremden an. »Denn falls ja …«

In diesem Moment schwebte eine Waldfee über die schmale Brücke, tänzelte mühelos über die fehlenden Planken hinweg, so leichtfüßig, dass die Konstruktion sich kaum bewegte. »Ian!« Die langen blonden Haare der märchenhaften Gestalt wehten unter einem großen roten Regenschirm hinter ihr her. Ein wadenlanges Kleid aus hauchdünnem Stoff, das sich eher für Juli als für Anfang Februar eignete, umspielte ihre Beine. Sie war groß und gertenschlank, abgesehen von ihrem Schwangerschaftsbauch.

»Ian, hör auf, hier herumzuschreien«, sagte das ätherische Wesen. »Ich konnte dich vom Schulhaus aus hören.«

Von dort war er also hergekommen – von der umgebauten Schule auf dem Bergrücken oberhalb der Hütte. Im Januar, als Tess hierhergezogen war, war sie den Pfad hochgestiegen, um sich oben umzusehen. Sie hatte das weiße Holzgebäude entdeckt und durch die Fenster gespäht und gesehen, dass es in ein Privathaus umgewandelt worden war, in dem aber niemand zu wohnen schien. Bis jetzt.

»Beachten Sie ihn nicht.« Die Elfe war eine Disney-Fee mit blauen Augen, vermutlich um die dreißig. Sie hatte ihre Feenglanzzeit gerade erst hinter sich. Sie schwebte durch das Dickicht, das an die Hütte grenzte, unempfindlich gegen das nasse Gras, das ihre Waden streifte. »Er ist immer so, wenn ihm vor der Leinwand nichts einfällt.«

Vor der Leinwand. Nicht die im Kino. Der Bergmensch war wahrscheinlich ein Maler. Ein temperamentvoller.

Die Fee lachte, ein Lachen, das es nicht ganz bis zu diesen märchenblauen Augen schaffte. Irgendwie kam sie Tess bekannt vor, obwohl sie sicher war, dass sie sich nie begegnet waren. »Er bellt eher, als dass er beißt«, sagte die Fee, »aber er kann auch zuschnappen.« Sie streckte eine schmale, warme Hand unter dem roten Regenschirm zur Begrüßung vor. »Ich bin Bianca.«

»Tess Hartsong.«

»Ihre Hände sind eiskalt«, sagte Bianca. »Das fühlt sich gut an. Mir ist so heiß.«

Tess’ professionelles Hebammenauge übernahm. Bianca war kurzatmig, wie viele Frauen im fortgeschrittenen Stadium einer Schwangerschaft. Sie war vermutlich im siebten Monat. Ihr Bauch saß hoch und wuchs nach vorne. Ihr Gesicht war blass, aber sie wirkte nicht so erschöpft, dass Anlass zur Sorge bestand.

»Ian, du hast genug Schaden angerichtet«, sagte sie. »Geh nach Hause.«

Er hielt Tess’ Bluetooth-Lautsprecher in der Hand, als hätte er die Absicht, mit ihm davonzumarschieren. Doch dann stieß er erneut ein Knurren aus und stellte die Box hart auf die Picknickbank. »Wehe, ich muss wiederkommen.«

»Ian!«

Er ignorierte die Waldfee und stolzierte davon, über die schmale Holzbrücke, deren nasse Planken von seinen Schritten so heftig erschüttert wurden, dass Tess damit rechnete, das ganze Ding würde gleich in den Poorhouse Creek krachen.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Bianca. »Er benimmt sich wie ein Arsch.«

Verglichen mit dem hitzigen Bergmenschen war die Elfe unter ihrem roten Schirm ein taufrischer Regenbogen, und Tess verriegelte ihre innere Büchse der Pandora, der Ort, wo sie ihre Emotionen verstaute, wenn sie durch den Tag kommen musste.

»Es war meine Schuld«, gab sie zu. »Ich wusste nicht, dass dort oben jemand wohnt.«

»Wir sind vor drei Tagen hier angekommen. Es war nicht meine Entscheidung, aber mein Mann fand, die Bergluft würde mir guttun. Zumindest hat er das gesagt.« Bianca gab Tess den Regenschirm und zog dann ihr dünnes Kleid über den Kopf. Darunter war sie nackt, bis auf einen knappen champagnerfarbenen Tangaslip. »O Gott, das wollte ich schon den ganzen Morgen tun. Es ist, als würde in mir ein Hochofen glühen.«

Der Regen hatte sich in ein leichtes Nieseln verwandelt, und Bianca schaute zu den tropfenden Bäumen. Sie war sehr schmal, mit schlanken Oberschenkeln und zartblauen Adern, die sich über ihre kleinen porzellanweißen Brüste zogen. Ungezwungen in ihrer Nacktheit, streckte sie sich, stellte sich in ihren Sandalen auf die Zehenspitzen und ließ ihre langen Haare wie einen seidenen Wasserfall über ihren Rücken fließen.

»Es ist so friedlich hier. Aber öde.« Sie richtete den Blick auf die Hütte. »Haben Sie Kaffee da? Ian flippt aus, wenn ich eine Kaffeetasse auch nur anschaue, und ich habe noch zwei weitere Monate.«

Tess war in die Berge von Tennessee ausgewandert, um vor den Menschen ihre Ruhe zu haben, aber das Novum, sich mit jemandem zu unterhalten, der sie nicht als eine tragische Witwe betrachtete, reizte sie. Außerdem hatte sie ohnehin nichts Besseres zu tun, als mit den Füßen zu stampfen oder aus dem Fenster zu starren. »Klar.« Sie sammelte den Schuh ein, den sie vorhin verloren hatte. »Aber ich muss Sie warnen. Drinnen sieht es noch immer chaotisch aus.«

Bianca zuckte mit den Achseln und schloss ihren Regenschirm. »Organisierte Menschen machen mich wahnsinnig.«

Tess brachte das Lächeln zustande, mit dem sie anderen vorspielte, es gehe ihr gut. »Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.«

Früher war das anders gewesen. Da war sie organisiert gewesen. Sie hatte an Struktur, Logik, Vorhersehbarkeit geglaubt. Sie hatte daran geglaubt, die Regeln zu befolgen. Wenn man seine Hausaufgaben machte, vor Stoppschildern anhielt, seine Steuern bezahlte, war alles gut.

Die groben Blockwände der Hütte waren stabil, aber hässlich. Das Dach war mit Moos bedeckt, und zwei schmale Baumstämme, deren Rinde sich schon vor langer Zeit abgeschält hatte, stützten das Vordach über der Hintertür. Die noch kahlen Äste und Zweige des Hickorybaums, des Ahorns und der Schwarznuss hingen über dem alten Blockhaus und kratzten am Dach wie Hexenkrallen.

Der Hauptraum beherbergte die Küche und den Wohnbereich, wo eine Holztreppe zu den zwei Schlafzimmern hinaufführte. Die Kiefernwände waren ursprünglich weiß gestrichen, aber mit der Zeit vergilbt. Die staubigen Vorhänge waren förmlich auseinandergefallen, als Tess sie abgenommen hatte, um sie zu waschen, also hatte sie sie durch schlichte weiße Gardinen ersetzt. Ein großes Panoramafenster bot eine fantastische Aussicht über das Tal und den kleinen Ort Tempest. Die Fenster auf der Rückseite gingen auf den Gebirgsbach hinaus.

Bianca drapierte ihr Kleid über dem Sessel und stützte sich mit einer Hand auf der Rückenlehne ab, um ihre Sandalen auszuziehen, die offenbar drückten. Als sie sich wieder aufrichtete, wanderte ihr Blick von dem rußgeschwärzten Steinkamin auf der einen Seite des Raums zu der altmodischen Küche auf der anderen Seite.

Das gusseiserne Spülbecken gehörte noch zur Originalausstattung, genau wie der Gasherd aus den Fünfzigerjahren. Offene Holzregale, mittlerweile entblößt von dem zerfallenden Papier, mit dem sie ausgelegt gewesen waren, bargen die spärliche Sammlung an Geschirr und Konserven, die Tess aus Milwaukee mitgebracht hatte. »Das hier ist ein Traum für jeden Heimwerker«, sagte Bianca.

Erst als ihre Zähne zu klappern begannen, wurde Tess bewusst, dass sie fror. Sie steckte ihre klammen Beine in die Jeans, die sie neben der Hintertür liegen gelassen hatte, und zog Travs alte »University of Wisconsin«-Sweatjacke über ihr nasses Trägerhemd. »Ich bin handwerklich nicht besonders begabt.«

Trav war es auch nicht gewesen. Er war derjenige gewesen, der die Taschenlampe gehalten hatte, während sie unter die Spüle gekrochen war, um ein undichtes Rohr zu flicken.

»Habe ich dir schon mal gesagt, wie heiß du mit einer Rohrzange aussiehst?«, hatte er gefragt.

»Sag es mir noch einmal.«

Tess rieb über ihren Finger, an dem sie früher ihren Ehering getragen hatte. Es hatte ihr das Herz zerrissen, ihn abzunehmen, aber wenn sie ihn hier anbehielt, würde sie zu viele Fragen erdulden müssen. Schlimmer noch, sie würde sich die Verlustgeschichten anderer anhören müssen.

»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe letztes Jahr meine Großmutter verloren.«

»… meinen Onkel verloren.«

»… meine Katze verloren.«

Nein, ihr wisst nicht, wie ich mich fühle!, hätte Tess am liebsten ihre wohlmeinenden Freunde und Arbeitskollegen angeschrien. Ihr wisst nur, wie ihr euch fühlt!

Sie ließ ihren Ringfinger los. »Das Beste, was ich sagen kann, ist, dass es hier sauber ist.«

Sie hatte die Küche von oben bis unten geschrubbt, hatte den Herd mit Stahlwolle bearbeitet und die Spüle mit Scheuermilch. Sie hatte den alten Holzboden gewischt und den fadenscheinigen türkischen Teppich nach draußen geschleift, um den Schmutz und Staub herauszuklopfen. Und sie hatte einen Niesanfall bekommen, als sie mit den Sofapolstern, die mit absolut unpassenden englischen Jagdszenen bezogen waren, genauso verfahren hatte. Ihre einzige bedeutsame Neuanschaffung war eine Matratze für das Doppelbett oben.

Bianca sah über ihre Schulter und rümpfte ihre kleine perfekte Nase. »Müssen Sie hier ein Plumpsklo benutzen?«

»Gott war gnädig. Oben gibt es ein Bad.« Tess zog den Reißverschluss von Travs Sweatjacke zu. Nach seinem Tod hatte sie sie monatelang nicht mehr ausgezogen, bis sie so sehr vor Dreck starrte, dass sie gewaschen werden musste. Nun haftete nicht länger sein vertrauter Geruch an ihr, diese Kombination aus warmer Haut, Seife und Right-Guard-Deodorant.

Was zum Teufel sollte das, Trav? Wie viele Menschen sterben heutzutage mit fünfunddreißig an einer Pneumokokken-Infektion?

Sie hob ihre langen, verknoteten Haare aus dem Kragen. »Ich habe die Hütte ungesehen gekauft. Der Preis war in Ordnung, aber die Bilder waren irreführend.«

Bianca watschelte zum Küchentisch. »Mit ein bisschen Farbe und ein paar neuen Möbeln kann es hier richtig hübsch werden.«

Früher hätte Tess diese Herausforderung angenommen, aber jetzt nicht. Nicht nur, dass sie sich keine neuen Möbel leisten konnte, es war ihr auch nicht wichtig genug. »Irgendwann.«

Während Tess den Kaffee zubereitete, plauderte Bianca über die Biografie einer Geliebten von Picasso, die sie gerade gelesen hatte, und über die thailändische Küche, die sie jetzt schon vermisste. Tess erfuhr, dass Bianca mit ihrem Mann in Manhattan lebte, wo sie als Visual Merchandiser in der Modebranche arbeitete. »Ich gestalte Schaufenster und Pop-up-Stores«, erklärte sie. »Das macht viel mehr Spaß als das Modeln früher, ist aber nicht so lukrativ.«

»Modeln?« Tess wandte sich vom Herd ab und starrte sie an, während endlich der Groschen fiel. »Darum kommst du mir so bekannt vor. Du bist Bianca Jensen! Wir wollten damals alle so sein wie du.« Sie hatte Biancas Namen zunächst nicht mit ihrer Studentenzeit in Verbindung gebracht, als deren Gesicht das Cover sämtlicher Modezeitschriften geziert hatte.

»Ich war eine Weile ganz gut im Geschäft«, sagte Bianca bescheiden.

»Mehr als nur gut. Du warst allgegenwärtig.« Während Tess zwei Tassen Kaffee eingoss und an den Tisch brachte, musste sie daran denken, wie sehr diese Titelseiten sie damals hadern ließen mit ihrer üppigen Oberweite, ihren widerspenstigen Haaren und ihrer olivfarbenen Haut.

Bianca nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und stieß einen langen, genüsslichen Seufzer aus. »Absolut köstlich. So wie Ian immer tut, könnte man denken, es wäre Heroin.«

Es war sicher nicht das erste Mal, dass Tess als Hebamme mit einer fast nackten Frau am Küchentisch saß, aber im Gegensatz zu Bianca hatten die anderen Frauen in den Wehen gelegen. Bianca griff mit ihrer freien Hand um ihren Bauch, auf die beschützende, selbstzufriedene Art von Schwangeren. »Wie lange lebst du schon in Tempest?«

»Genau vierundzwanzig Tage.« Ausweichende Antworten machten die Leute neugierig, und es war besser, ein paar Informationen preiszugeben, damit es nicht so aussah, als hätte sie etwas zu verbergen. Denn sobald die Leute erfuhren, dass sie eine Witwe war, würde sich alles ändern. »Ich hatte Milwaukee satt.«

»Aber warum hier?«

Weil sie auf einer Karte den Namen Runaway Mountain entdeckt hatte. »Ich war rastlos.«

Unwahr. Trav war der Rastlose. In den elf Jahren, die sie verheiratet gewesen waren, hatten sie in Kalifornien, Colorado und Arizona gelebt, bevor sie nach Milwaukee zurückgingen, wo sie aufgewachsen waren. Trav wollte wieder umziehen, als er unvermittelt krank geworden war. Sie strich mit dem Daumen über den Griff an ihrer Tasse. »Und du? Wie bist du hier in den Bergen gelandet?«

»Das war nicht meine Entscheidung. Es können nicht mehr als achthundert Menschen sein, die hier in diesem gottverlassenen Nest leben.«

Neunhundertachtundsechzig, laut dem Ortsschild.

»Das alles ist Ians Schuld«, fuhr Bianca fort. »In der Stadt gingen ihm die vielen Leute auf die Nerven – die Kunsthändler, die Presse, die Möchtegernkünstler –, darum hat er beschlossen, dass wir in die Provinz umziehen.«

»Kunsthändler? Presse?«

»Der Mann, der dich vorhin angebrüllt hat, ist Ian Hamilton North der Vierte. Der Street-Art-Künstler.«

Selbst wenn Tess keine Schwäche für Kunstmuseen gehabt hätte, sein Name wäre ihr auch so ein Begriff gewesen. Ian Hamilton North IV. war einer der berühmtesten Street-Art-Künstler der Welt, gleich nach dem mysteriösen Banksy. Wenn sie sich recht erinnerte, war er außerdem das schwarze Schaf der blaublütigen Familiendynastie North. Obwohl sie nicht viel über Graffitikunst – oder Wandschmierereien, wie Trav es genannt hatte – wusste, hatte sie Norths Arbeiten immer faszinierend gefunden.

»Gib mir eine Dose Farbspray, und ich kriege das auch hin«, hatte Trav gesagt. Aber die Kritiker teilten seine Meinung nicht.

Tess erinnerte sich, was sie über North gelesen hatte. Er hatte sich schon in jungen Jahren mit Tags an New Yorker Häuserecken und Stencils an Bushaltestellen und auf Verteilerkästen einen Namen gemacht. Danach hatte er angefangen, größere Graffitis zu gestalten, die auf Häuserfassaden in der ganzen Welt auftauchten – zuerst illegale Pieces und schließlich beauftragte Murals. Inzwischen wurden seine Graffitis und Gemälde in ausverkauften Ausstellungen in Galerien und Museen gezeigt, wie die eine, die sie gesehen hatte, und jedes seiner Werke trug die Signatur, die er sich als Junge zugelegt hatte: IHN4, Ian Hamilton North IV.

Street-Art-Künstler hatten naturgemäß wenig Respekt vor Gesetz und Ordnung, darum war es nicht verwunderlich, dass es speziell diesem hier, wie brillant er auch sein mochte, an Selbstlosigkeit mangelte. Der Beweis dafür war die Tatsache, dass er seine schwangere Frau zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin von ihrem Zuhause ans Ende der Welt verschleppt hatte.

»Ich habe die Ausstellung im MoMA gesehen.« Sie und Trav hatten, kurz bevor er krank geworden war, New York besucht. Damals war sie von den explosiven Bildern an den Wänden des Museums begeistert gewesen, aber nun, da sie den Künstler persönlich kennengelernt hatte, war ihre Begeisterung abgekühlt.

»Ich bin seine Muse.« Bianca berührte ihr Schlüsselbein. »Ich treibe ihn in den Wahnsinn, aber er braucht mich. Vor zwei Jahren haben wir uns getrennt. Er war fast drei Monate lang wie gelähmt. Konnte nicht mehr malen.« Sie lächelte und gab sich keine Mühe, ihre Genugtuung zu verbergen.

Tess war sich nicht sicher, wie ein derart ätherisches Wesen wie Bianca jemanden zu einem so wuchtigen Gesamtwerk inspirieren konnte. In der Ausstellung, die sie gesehen hatte, hatten sich die videospielähnlichen Figuren aus Norths Frühwerk in groteske fantastische Wesen verwandelt, die er in Alltagssituationen unterbrachte: am Frühstückstisch mit der Familie, im Garten beim Grillen, in einer Bürokabine. Auch war die Schrift in seinen Bildern immer komplexer geworden, bis die Buchstaben sich schließlich in abstrakten Formen verloren.

Biancas Lächeln nahm einen verträumten Ausdruck an, während sie die Hände auf ihren Bauch legte. »Ich werde jetzt von einem Arzt in Knoxville betreut, und zwei Wochen vor dem Geburtstermin ziehen wir in ein Hotel in der Nähe des Krankenhauses. Ich kann es kaum erwarten, dass es vorbei ist.«

Allerdings sah sie nicht so aus, als könnte sie es kaum erwarten. Vielmehr machte sie den Eindruck, als würde sie jeden Moment ihrer Schwangerschaft in vollen Zügen genießen. Ein Schmerz zerrte an Tess’ Herz. Du hättest mir ein Kind hinterlassen können, Trav. Wenigstens das hättest du tun können.

»Ich habe mir schon so lange ein Baby gewünscht, aber Ian …« Bianca stützte die Hände auf den Tisch und stemmte sich von ihrem Stuhl hoch. »Ich sollte besser zurückgehen, bevor er kommt und nach mir sucht. Er ist überfürsorglich.« Sie ging zum Sessel und zog ihr Kleid und ihre Sandalen wieder an. »Das Modeln hat mich in eine Nudistin verwandelt. Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.« Sie kämpfte mit den Schuhen. »Ich hätte die Sandalen nicht ausziehen sollen. Nun werde ich sie nie wieder über meine Füße bekommen.«

Ihre Wassereinlagerungen waren nicht alarmierend, aber schienen Beschwerden zu verursachen. »Versuch, mehr Wasser zu trinken«, sagte Tess. »Das erscheint zwar zunächst widersprüchlich, aber es wird deinem Körper helfen, weniger Flüssigkeit einzulagern. Und leg, so oft du kannst, die Beine hoch.«

»Das klingt, als würdest du aus Erfahrung sprechen. Wie viele Kinder hast du?«

»Keins. Ich habe früher auf einer Entbindungsstation gearbeitet.« Nur ein Teil der Wahrheit. Sie war eine staatlich geprüfte Hebamme und Krankenschwester, deren Freude daran, Babys auf die Welt zu helfen, aus ihr herausgesaugt worden war, zusammen mit allem anderen.

»Das ist ja großartig!«, rief Bianca. »Ich habe gehört, wie schwierig es ist, hier auf dem Land eine gute medizinische Versorgung zu bekommen.«

»Ich … nehme mir gerade eine Auszeit.« Wenn sie sich das Geld aus dem Verkauf ihrer Wohnung sorgfältig einteilte, würde sie noch ein paar weitere Monate über die Runden kommen, bevor sie sich zusammenreißen und eine Arbeit suchen musste.

»Schau doch morgen mal bei uns vorbei«, sagte Bianca. »Ian wird auf Wandertour sein oder sich in seinem Atelier vergraben – er hat gerade eine Schaffenskrise –, und ich kann dir das Haus zeigen. Ich sehne mich nach Gesellschaft, die mich nicht anknurrt.«

Und Tess konnte Gesellschaft gebrauchen, die nichts von Travs Tod wusste, die sie nicht als die gebrochene Frau betrachtete, die sie war.

Nachdem Bianca gegangen war, trug Tess die Kaffeetassen zu der Spüle mit ihrem altmodischen, eingebauten Abtropfbrett, der abgesplitterten Emailleschicht und den Rostflecken, die sich jedem Schrubben widersetzten. Als sie sich die Hände abtrocknete, nahm sie ihre eingerissene Nagelhaut und die abgebrochenen Fingernägel wahr. Im Gegensatz zu Bianca würde sie nie jemandes Muse sein, außer der Künstler hatte eine Schwäche für ungepflegte, mandeläugige Brünette mit einer wilden Lockenmähne und zwanzig Pfund Übergewicht.

Trav hatte immer gesagt, dass ihre blauen, leicht ins Violette driftenden Augen, ihr dunkler Teint und die fast schwarzen Haare ihr ein urtümliches und exotisches Aussehen verliehen, als stammte sie aus einem seiner heißgeliebten italienischen Filme aus den Sechzigern. Sie hatte ihn öfter daran erinnert, dass sie die dunklen Haare von irgendeiner griechischen Vorfahrin geerbt hatte, die nie wie Sophia Loren in einem engen Kleid durch die Straßen von Neapel stolziert war, verfolgt von Marcello Mastroianni, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie mit erfundenen italienischen Wörtern aufzuziehen.

Tess war früher selbst humorvoll gewesen. Sogar die nervöseste Schwangere hatte sie zum Lachen bringen können. Nun wusste sie nicht mehr, wie es sich anfühlte zu lachen.

Sie schlenderte zum Panoramafenster und überlegte, wie sie den restlichen Tag ausfüllen sollte. Eine serpentinenförmige Schotterpiste wand sich von der Ortschaft in die Berge hoch, schlängelte sich an ihrer Hütte vorbei, dann am Schulhaus und endete an den Ruinen einer alten Pfingstkirche. Auf dem klapprigen Tisch neben Tess lag ein Exemplar von Interviews mit Sterbenden von Elisabeth Kübler-Ross. Während Tess darauf starrte, überkam sie ein glühender Zorn. Sie schnappte sich das Buch und schleuderte es durch den Raum. Scheiß auf dich, Liz, und auf deine fünf Phasen der Trauer! Wie wäre es mit einhundertfünf Phasen? Eintausendfünf?

Andererseits hatte Elisabeth Kübler-Ross Travis Hartsong niemals kennengelernt mit seinen verstrubbelten kastanienbraunen Haaren und seinen lachenden Augen, seinen schönen Händen und seinem unendlichen Optimismus. Elisabeth Kübler-Ross hatte nie mit ihm im Bett Pizza gegessen oder wurde von ihm mit einer Chewbacca-Maske durchs Haus gejagt. Und nun wohnte Tess in einer heruntergekommenen Hütte auf einem treffend benannten Berg am Arsch der Welt. Aber statt in ihrem Leben den Reset-Knopf zu drücken, spürte sie nur Wut, Verzweiflung und Scham wegen ihrer Schwäche. Es waren fast zwei Jahre vergangen. Andere Leute erholten sich von Schicksalsschlägen. Warum schaffte sie das nicht?

Ian Hamilton North IV. hatte einen schlechten Tag. Einen besonders schlechten Tag nach einer ganzen Reihe von schlechten Tagen. Schlechten Wochen. Wem zum Teufel wollte er etwas vormachen? Es lief seit Monaten nicht richtig.

Er hatte ein Haus in Tempest gekauft, wegen seiner abgeschiedenen Lage. Das Ortszentrum lag direkt an einer gefährlichen Schnellstraße, mit einer Tankstelle, einer Kneipe namens The Rooster, einem Barbecue-Drive-in, einer Dollar-General-Filiale und einem roten Ziegelsteingebäude, in dem das Rathaus, die Polizeiwache und das Postamt untergebracht waren. Außerdem gab es im Ort drei Kirchen, ein verdächtiges Etablissement, das sich Coffeeshop nannte, und weitere Kirchen, die sich in den Hügeln versteckten.

Am Ortsausgang erklärte sich ein neueres einstöckiges Gebäude zum »Brad Winchester Freizeitcenter«. Ian hatte bereits mitbekommen, dass Landessenator Brad Winchester der reichste und mächtigste Bürger der Gemeinde war. In den alten Zeiten hätte Ian dieses Gebäude bei der erstbesten Gelegenheit getaggt – IHN4 in knalligem Gelb, mit einer seiner Wasserspeier-Figuren, die sich durch die Buchstaben schlängelte. Wahrscheinlich wäre er dafür verhaftet worden. Die Leute hatten einen eng begrenzten Geschmack, was öffentliche Kunst betraf, gerade auf dem Land. Sie wollten alle die Murals, aber sie hassten die Tags, ohne zu verstehen, dass man das eine nicht ohne das andere haben konnte. Doch die Grenze zwischen Vandalismus und Meisterwerk war frei interpretierbar, und er hatte vor langer Zeit die Rolle des missverstandenen Künstlers aufgegeben.

Die Stadt war zu klein, um die natürliche Schönheit der Umgebung zu beeinträchtigen: die Hügel und Berge, die aussahen, wie mit Aquarellfarben dahingeträufelt, der feine Morgennebel, die spektakulären Sonnenuntergänge und die saubere Luft. Leider gab es auch Menschen. Manche stammten aus Familien, die hier seit Generationen lebten, aber auch Ruheständler, Kunsthandwerker, Aussteiger und Überlebenskünstler hatten sich in den Bergen angesiedelt. Ian beabsichtigte, den Kontakt zu den anderen auf ein Minimum zu beschränken, und er war nur hinunter in die Stadt gefahren in der schwachen Hoffnung, dass der Supermarkt die englischen Muffins führte, nach denen es Bianca gelüstete. Die Muffins waren nicht in der Lieferung enthalten gewesen, für die er jede Woche ein Vermögen an den nächsten anständigen Vollsortimenter bezahlte, der zwanzig Meilen entfernt war. Aber englische Muffins waren zu exotisch für den Dollar General in Tempest, und er hatte keine Lust, so weit zu fahren, um welche zu besorgen.

Als er zu seinem Wagen zurückkehrte, blieb er abrupt stehen.

Der tanzende Derwisch.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Schaufenster des Broken Chimney, des sogenannten Coffeeshops der Stadt, der auch Eis, Bücher, Zigaretten und wer weiß was noch alles verkaufte. Schon seltsam. Obwohl er heute Morgen auf hundertachtzig gewesen war, hatte er wahrgenommen, dass ihrem Tanz jegliche Freude abgegangen war. Ihre wilden, schlagenden Bewegungen hatten Ähnlichkeit mit einem Stammesritual gehabt, mehr Kampf als Kunst. Aber nun stand sie still, auf einem sonnigen Fleck, und ganz plötzlich spürte er das Bedürfnis, sie zu malen.

Er sah es bereits vor sich. Eine Farbexplosion in jedem Pinselstrich, in jedem Druck auf den Sprühknopf. Kobaltblau in dieser wilden Zigeunermähne, ein Hauch Viridiangrün nahe den Schläfen. Kadmiumrot zu ihrer olivfarbenen Haut, das ihre Wangenknochen streifte, ein Tupfer Chromgelb auf deren höchstem Punkt. Ein Ockerstrich, um diese lange Nase zu schattieren. Alles in einer vollen Palette an Farben. Und ihre Augen. Die Farbe von reifen Augustpflaumen. Wie konnte er die Schwärze darin einfangen?

Wie konnte er gegenwärtig überhaupt etwas einfangen? Er saß in der Falle. Gefangen in seinem früheren Ruf, so sicher darin eingesperrt wie ein Fossil in Bernstein. Seinem Vater war es nicht gelungen, »den Künstler aus ihm herauszuprügeln«, und nun besorgte Ian das selbst. Ein Street-Art-Künstler wie Banksy konnte seine Karriere vielleicht bis ins mittlere Alter hinausziehen, aber nicht Ian. Street-Art war die Kunst der Rebellion, und nachdem sein Vater tot war und Ian mehr Geld auf dem Konto hatte, als er ausgeben konnte, wogegen sollte er verdammt noch mal rebellieren? Klar, er könnte mehr Schablonen zuschneiden, mehr Plakate machen, mehr Leinwände bemalen, aber es würde sich alles unecht anfühlen. Weil es unecht wäre.

Aber wenn nicht das, was dann?

Eine Frage, die er nicht beantworten konnte, also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Derwisch. Sie trug eine Nullachtfünfzehn-Jeans und ein übergroßes dunkelrotes Sweatshirt, aber er besaß ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis. Was er von ihrem Körper gesehen hatte, als sie ihren primitiven Tanz aufgeführt hatte, war zu dünn gewesen, aber mit ein paar Pfund mehr wäre sie großartig. Er dachte an Rembrandts üppige Bathseba im Bade, an Goyas nackte Maja, an Tizians sinnliche Venus von Urbino. Um an diese Unsterblichen heranzureichen, würde der Derwisch mehr essen müssen, aber Ian wollte sie trotzdem malen. Es war der erste kreative Impuls, den er seit Monaten spürte.

Er verdrängte den Gedanken aus seinem Kopf. Was er tun musste, war, sie loszuwerden. Und das schnell. Bevor sie für Bianca noch interessanter wurde, als sie es bereits war.

Er steuerte auf den Coffeeshop zu.

Kapitel 2

Tess wusste, dass er in der Nähe war, noch bevor sie ihn sah. Es war eine Bewegung in der Luft. Ein Geruch. Eine Schwingung. Und dann die knurrende Stimme, die ihr in Erinnerung geblieben war.

»Bianca hat mir gesagt, dass ich heute Morgen extrem unhöflich war.«

»Sie musste es Ihnen sagen?«

Tess hatte das Schild im Schaufenster des Coffeeshops gelesen, als er sich ihr näherte. Aus der Nähe war er sogar noch beeindruckender – das Gegenteil eines schwindsüchtigen, in einer Mansarde hausenden Klischees von einem Künstler mit struppigem Ziegenbart, nikotinverfärbten Fingern und eingefallenen Augen. Seine Schultern waren breit, sein Kiefer wirkte hart wie Stein. Eine lange Narbe verlief seitlich an seinem Hals, und kleine Löcher in den Ohrläppchen ließen darauf schließen, dass er früher Schmuck getragen hatte. Wahrscheinlich Totenköpfe mit gekreuzten Knochen. Er war ein Outlaw, die erwachsene Version des Punks, der eine Spraydose im Holster getragen hatte statt eine Waffe – der junge Serientäter, der über Jahre hinweg immer wieder ins Gefängnis wanderte wegen Hausfriedensbruch und schwerer Sachbeschädigung. Trotz seines zerknitterten Flanellhemds und den verschlissenen Jeans war dieser Mann hier in Bestform, und er war es gewohnt, dass jeder vor ihm katzbuckelte. Ja, sie war eingeschüchtert, sowohl von dem Mann selbst als auch von seinem Ruhm. Nein, sie würde es sich nicht anmerken lassen.

»Ich neige dazu, nur an mich selbst zu denken«, stellte er das Offensichtliche fest. Dann sprach er bedächtiger, betonte jedes einzelne Wort extra. »Außer, was Bianca betrifft.«

»Ach wirklich?« Es ging sie rein gar nichts an, aber von dem Moment an, als er in ihren Garten gestürmt war, hatte er sie rasend gemacht. Oder vielleicht genoss sie auch einfach nur die Freiheit, dass jemand sie wütend anstarrte, statt sie mitleidig zu betrachten. »Und dann schleppen Sie eine hochschwangere Frau von zu Hause fort in ein Kaff, in dem es nicht einmal einen Arzt gibt?«

Sein Ego war zu groß, um sich in die Defensive treiben zu lassen, und er wischte das Argument beiseite. »Bis zur Geburt sind es noch zwei Monate, und sie wird die beste Versorgung haben. Was sie nun am meisten braucht, sind Ruhe und Erholung.« Seine Augen, im unfreundlichen Grau eines Winterhimmels kurz vor einem Schneesturm, hefteten sich auf ihre. »Ich weiß, sie hat Sie in unser Haus eingeladen, aber ich ziehe die Einladung zurück.«

Statt Abstand zu nehmen, wie jeder normale Mensch es getan hätte, hakte sie nach. »Und warum?«

»Ich sagte es bereits. Sie braucht Ruhe.«

»Heutzutage wird gesunden Schwangeren empfohlen, aktiv zu bleiben. Hat ihr Arzt nicht dasselbe gesagt?«

Sein leichtes Zögern wäre einem ungeübten Beobachter wahrscheinlich entgangen, aber ihr nicht. »Biancas Arzt will das Beste für sie, und ich sorge dafür, dass sie es bekommt.« Er nickte ihr kurz zu und marschierte davon. Seine kräftige Muskulatur und der zielstrebige Gang verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der von Gott erschaffen worden war, um Stahlträger zu schweißen oder Öl aus der Erde hochzupumpen, statt ein paar der denkwürdigsten Kunstwerke des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu kreieren.

Bianca hatte gesagt, er sei »überfürsorglich«, aber das hier hatte eher etwas von Erdrücken. Irgendwas fühlte sich zwischen den beiden nicht richtig an.

Ein schlammbespritzter Pick-up raste vorbei und hinterließ eine Abgaswolke. Sie war in die Stadt gefahren, um Donuts zu kaufen, und nicht, um sich in das Leben anderer Leute zu verstricken. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schild im Schaufenster.

AUSHILFE GESUCHT.

Sie war eine Hebamme. Ihre Wut, ihre Verzweiflung würden nun bald zu Resignation verblassen. Sie mussten. Und sobald das eintrat, war sie bereit, sich nach einer Stelle in ihrem Beruf umzuschauen. Sie würde sich einen Job suchen, in dem sie wieder darin aufgehen konnte, verwundbaren Müttern zu helfen, ihre Kinder sicher zur Welt zu bringen.

AUSHILFE GESUCHT.

Sie war noch nicht gezwungen, wieder arbeiten zu gehen, warum starrte sie also auf das Schild, als wäre ihre ganze chaotische Welt auf diesen angestaubten Coffeeshop reduziert worden?

Weil sie Angst hatte. Die Einsamkeit auf dem Runaway Mountain, von der sie sich eine heilende Wirkung versprochen hatte, funktionierte nicht. Es war zu verlockend geworden, im Bett zu bleiben. Donuts zu futtern und im Regen zu tanzen. Letzte Woche war ihr erst nach vier Tagen eingefallen, dass sie duschen sollte.

Die bittere Woge von Selbstekel, die in ihr anschwoll, zwang sie in den Coffeeshop. Sie konnte sich entweder nach dem Job erkundigen, oder – eine bessere Idee – sie konnte sich ein paar Donuts kaufen und wieder gehen.

Auf der Theke rechts von ihr standen Cookies und Donuts, aber das hier war kein hippes urbanes Café. Eine kompakte Tiefkühltruhe präsentierte acht Sorten Eiscreme. Offene Regale boten Zigaretten, Süßigkeiten, Batterien und andere Artikel an, die man normalerweise weder in einem Donutladen noch in einer Eisdiele oder einem Café bekam. Zwei Drehständer für Taschenbücher waren in die Ecke gequetscht, und ein Folkrock-Song, den Tess vage wiedererkannte, ohne den Titel nennen zu können, lief im Hintergrund.

Eine Espressomaschine zischte. Tess’ Ebenbild starrte sie von der verspiegelten Wand hinter der Theke an. Verquollenes Gesicht, bläuliche Schatten unter den Augen, eine wilde Haarmähne, die keine Bürste mehr gesehen hatte seit … vielleicht seit gestern, vielleicht seit vorgestern, und Travs abgetragene Wisconsin-Sweatjacke.

Der Mann, der die Espressomaschine bediente, schob das fertige Getränk über die Theke zu einem älteren Gast mit einem Gehstock. Der alte Mann humpelte damit zu einem Tisch, und der Espressomacher richtete seine Aufmerksamkeit auf Tess. Ein dünner grauer Pferdeschwanz schlängelte sich über seinen Rücken. Er sah sie an mit kleinen Augen, die in der ledrigen Straßenkarte seines Gesichts eingebettet waren. »Donuts oder Kuchen?«

»Woher wissen Sie, dass ich eins von beiden möchte?«

Er hakte seine Daumen in den Stoffgürtel seiner roten Schürze, den er vorne gebunden hatte. »Es ist mein Geschäft, die Gedanken anderer Leute zu lesen. Sie sind neu hier. Ich bin Phish. Mit Ph.«

»Ich bin Tess. Sie müssen ein großer Fan sein.«

»Von der Band? Teufel, nein. Ich bin ein eingefleischter Deadhead. Die größte Band, die es je gegeben hat. Im Hintergrund läuft gerade ›Ripple‹ … Das ist der einzige Song von The Grateful Dead, den die meisten Leute kennen.« Seine Grimasse spiegelte seine Meinung über so viel unerklärliche menschliche Ignoranz wider. »Mein Familienname ist Phisher.«

»Und Ihr Vorname?«

»Elwood. Aber den vergessen Sie am besten.« Er deutete auf den dreistöckigen Tortenständer aus Acryl auf der Theke. Daneben stand auf einem kleinen abwischbaren Whiteboard »Empfehlung des Tages«.

»Dänischer Apfelkuchen«, sagte Phish. »Einer unserer Verkaufsschlager.«

»Ich stehe mehr auf Donuts.« Die Auswahl war bescheiden. Mit Zuckerguss oder mit Puderzucker, was ihrer Meinung nach keine echten Donuts waren, sondern ein Gebäck, das sich als Donut maskierte. Sie wies mit dem Kopf zur Tür. »Broken Chimney ist ein seltsamer Name.«

»Sie hätten den Laden mal sehen sollen, als ich ihn übernommen habe. Hat mich zwanzig Riesen gekostet, ihn auf Vordermann zu bringen.«

»Aber den kaputten Schornstein haben Sie nicht erneuert, ist mir aufgefallen.«

»Der Kamin ist zugemauert, wozu also die Mühe? Der kaputte Schornstein ist unser Wahrzeichen, damit die Leute uns finden.«

Sie kratzte mit dem Fingernagel an der Außennaht ihrer Jeans. »Ich … habe Ihr Schild im Schaufenster gesehen. Sie suchen eine Aushilfe?«

»Sie wollen den Job? Sie haben ihn.«

Sie blinzelte. »Einfach so? Ich könnte eine entflohene Schwerverbrecherin sein, nach allem, was Sie wissen.«

Phish rief zu dem alten Mann auf der anderen Seite des Raums hinüber: »Hey, Orland! Sieht Tess hier für dich aus wie eine entflohene Schwerverbrecherin?«

Der Alte blickte von seiner Zeitung auf. »Für mich sieht sie italienisch aus, man kann also nie wissen. Aber wenigstens hat sie ein bisschen Fleisch auf den Rippen. Das gefällt mir. Hätte nichts dagegen, sie anzusehen, wenn ich hier reinkomme.«

»Da hören Sie’s.« Phishs Grinsen enthüllte eine Reihe von schiefen Zähnen. »Wenn Orland Sie mag, reicht mir das.«

»Ich bin keine Italienerin.« Sie überging den »Fleisch auf den Rippen«-Kommentar.

»Solange Sie bereit sind, für den Mindestlohn zu arbeiten und die Schichten zu übernehmen, die keiner machen will – und außerdem meine Nichte und meine Schwägerin zu ertragen –, ist es mir ziemlich egal, was Sie sind.«

»Ich bin nur hier, um Donuts zu kaufen.«

»Warum haben Sie dann nach dem Job gefragt?«

»Weil …« Sie vergrub ihre Finger in den Haaren und blieb prompt hängen. »Keine Ahnung. Vergessen Sie’s.«

»Wissen Sie, wie man Espresso macht?«

»Nein.«

»Haben Sie schon mal eine Kasse bedient?«

»Nein.«

»Haben Sie gerade etwas Besseres zu tun?«

»Besser als?«

»Sich eine Schürze umzubinden.«

Sie überlegte. »Nicht wirklich.«

»Dann lassen Sie uns loslegen.«

In den nächsten zwei Stunden erklärte Phish ihr die Arbeitsabläufe, während er die Kunden bediente. Tess machte mit, nicht sicher, wie sie es hatte zulassen können, aber zu ziellos, um etwas dagegen zu unternehmen. Binnen kurzer Zeit hatte sie das Gefühl, als wäre ihr die halbe Stadt vorgestellt worden, darunter ein einheimischer Kleinbrauer, ein paar Ruheständler aus dem Norden, die Vorsitzende des lokalen Frauenverbands und zwei Mitglieder des Schulausschusses. Jeder war neugierig auf sie – genau das, wovor sie sich in Acht nahm –, aber es war die gewohnte Neugier von Menschen auf jemand Neues, und die ausweichenden Antworten, die sie auch Bianca gegeben hatte, schienen die Leute zufriedenzustellen.

Um sechzehn Uhr bediente sie ihren ersten Kunden. Zwei Kugeln Butter-Pecan-Eis und den National Enquirer. Um siebzehn Uhr, als The Grateful Dead den Schlussrefrain von »Bertha« beendeten, zog Phish seine Schürze aus und wandte sich in Richtung Ausgang. »Savannah kommt dich um sieben ablösen.«

»Warte! Ich kann nicht …«

»Wenn du Fragen hast, heb sie dir bis morgen auf. Oder bitte einen der Gäste um Hilfe. Hier verirrt sich selten ein Fremder rein.«

Und schon war sie auf sich allein gestellt. Als Barista, Eisportioniererin, Kuchenserviererin, Verkäuferin von Süßigkeiten und Tabakwaren …

Sie verkaufte zwei Stück Kuchen – eins davon mit einer Kugel Eis –, eine Packung AA-Batterien, eine heiße Schokolade und Minzpastillen. Sie bereitete ihren ersten Cappuccino zu, nur um ihn gleich noch einmal zu machen, weil sie sich beim Mengenverhältnis von Espresso und Milch vertan hatte. Im Laden war es gerade ruhig, als ein Kunde hereinkam, mit einer Truckermütze, die aus seinem Kopf wuchs, und einem rostroten Bart, der aus seinem Kinn wuchs. Er ließ sich Zeit, um die Rundungen ihrer Brüste unter dem Schürzenlatz in Augenschein zu nehmen. »Ein Päckchen Marlboro.«

Sie hätte es voraussehen müssen, aber heutzutage sah sie nicht mehr viel voraus, und sie spielte auf Zeit, indem sie die Bananen in ihrem Korb auf der Theke neu sortierte. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie Ihrem Körper damit antun?«

Er kratzte sich an der Brust. »Ist das dein Ernst?«

»Rauchen erhöht das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Lungenkrebs, Schlaganfälle. Außerdem macht es einen schlechten Atem.«

»Gib mir einfach die verdammten Kippen.«

»Ich … ich … kann das nicht machen.«

»Du kannst was nicht?«

»Ich bin eine Art … Dienstverweigerin aus Gewissensgründen.«

»Eine was?«

»Mein Gewissen hindert mich daran, etwas zu verkaufen, von dem ich weiß, dass es Gift für den Körper ist.«

»Bist du noch ganz echt?«

Eine hervorragende Frage. »Ich denke schon.«

»Ich ruf sofort Phish an!«

»Ich verstehe.« Es war nicht so, als wäre ihre neue Karriere ihr wichtig. Sie hatte kein Problem damit, gefeuert zu werden.

Er blieb direkt an der Theke stehen, während er die Nummer wählte, und starrte sie die ganze Zeit böse an. »Phish, hier ist Artie. Deine neue Aushilfe will mir keine Zigaretten verkaufen … Uh-huh. Uh-huh. Uh-huh. Okay.« Er streckte ihr sein Handy entgegen. »Phish will mit dir reden.«

Sein Handy stank nach Tabak. Sie hielt es ein Stück weg von ihrem Gesicht. »Hallo.«

»Was ist los, Tess?«, erwiderte Phish. »Artie sagt, du willst ihm seine Zigaretten nicht verkaufen.«

»Es … widerspricht meinem Glaubenssystem.«

»Es gehört zu deinem Job, verflucht.«

»Ich verstehe. Aber ich kann es nicht tun.«

»Es ist dein Job«, wiederholte er.

»Ja, ich weiß. Ich hätte vorher daran denken sollen, aber das habe ich nicht getan.«

Sein Grummeln grollte aus dem miefenden Handy. »Na schön, okay. Gib mir noch mal Artie.«

Benommen reichte sie das Handy über die Theke.

Artie riss es ihr aus der Hand. »Ja … Ja … Willst du mich verarschen, Alter? Der Laden hier geht langsam, aber sicher vor die Hunde.« Er legte auf, schob das Handy in seine Hosentasche und starrte sie wütend an. »Du bist genauso schlimm wie meine Freundin.«

»Du musst ihr wichtig sein.« Sie musterte sein T-Shirt. Darauf stand »Spendiere Drinks für« über einem Bild von mehreren Katzen. Tess brauchte ein paar Sekunden, um die Botschaft zu begreifen. »Was hält sie eigentlich von deinem T-Shirt?«

»Gefällt’s dir nicht?«

»Nicht besonders.«

»Das beweist, wie wenig Ahnung du hast. Das hat mir nämlich meine Freundin geschenkt.«

»Ich schätze, niemand ist perfekt.«

»Sie schon. Und ich werde keinen Fuß mehr in diesen Laden setzen, wenn du hinter der Theke stehst.«

»Ich verstehe.«

»Du hast echt einen an der Klatsche, Mädchen.« Und damit stapfte er zur Tür hinaus.

Tess hatte eine Art Sieg errungen, und sie musste daran denken, wie begeistert Trav von dieser Geschichte gewesen wäre. Aber es gab keinen Trav, der auf sie wartete. Keinen Trav, der den Kopf zurückwarf und dieses kräftige, laute Lachen ausstieß, das seinen ganzen Körper schüttelte und das sie so sehr geliebt hatte. Sie hatte einen neuen Wohnort, eine neue Unterkunft, ein neues Gebirge und einen neuen Job, aber nichts davon war von Bedeutung. Sie hatte die Liebe ihres Lebens verloren, und es würde niemals besser werden.

Schließlich erschien Savannah, Phishs Nichte, und begegnete Tess auf Anhieb mit Ablehnung. Savannah war eine streitlustige Neunzehnjährige mit einer magentaroten Igelfrisur, einer Cateye-Brille, Flesh Tunnels und einem volltätowierten Arm. Sie war außerdem schwanger, aber Tess kam nicht dazu, sie zu fragen, wie weit sie schon war, weil Savannah ihr sofort befahl, die Toilette zu putzen.

»Phish hat das vor ein paar Stunden erledigt«, sagte Tess, ohne hinzuzufügen, dass Savannah unpünktlich und ihre Schicht seit einer halben Stunde zu Ende war.

»Dann putz sie noch mal. Wenn Phish nicht da ist, habe ich das Sagen.«

Im Gegensatz zu den Zigaretten war dies kein Kampf, der sich lohnte, jedenfalls nicht an ihrem ersten Tag. Tess holte die Putzutensilien, wischte die Toilette kurz durch und verschwand dann durch die Hintertür, bevor ihre unfreundliche Kollegin sie aufhalten konnte.

Als sie zurück in der Hütte war, zog sie die Sweatjacke aus, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und ging hinaus, um zu tanzen. Sie tanzte sich durch einen verstauchten Zeh, durch die ersten Regentropfen, durch die Kühle des Abends. Sie tanzte und tanzte. Aber egal, wie schnell sie sich bewegte, wie hart sie mit den Füßen aufstampfte, sie konnte nicht auf die andere Seite durchtanzen.

Der Glockenturm auf dem Spitzdach des Schulhauses trug noch immer eine eiserne Glocke, aber der Eingang mit seinen drei Stufen und der glänzenden schwarzen Doppeltür war neu. Tess musste an Ian Norths Warnung gestern denken, aber sie klopfte trotzdem an. Die Tür wurde fast augenblicklich aufgerissen, und eine strahlende Bianca stand auf der anderen Seite der Schwelle, die blonden Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr vorn über die Schulter fiel, wie bei Elsa, der Eiskönigin.

»Ich wusste, dass du kommen würdest!« Sie packte Tess am Handgelenk und zog sie hinein in die Diele, wo vor langer Zeit wohl Schüler ihre Jacken und schmutzigen Schuhe abgestreift hatten. Bianca war barfuß und trug ein hauchdünnes, schulterfreies Sommerkleid, das ihren Bauch umarmte. »Warte erst, bis du das Haus siehst.« Sie hängte Tess’ Jacke an einen der alten Kleiderhaken aus Messing und führte sie dann in den Wohnbereich. »Ian hat es Freunden von mir abgekauft, Ben und Mark. Sie sind beide Innendesigner und haben das Haus umgebaut. Sie wollten es ursprünglich als Atelier und zur Erholung nutzen, aber nach einem Jahr wurde ihnen hier langweilig.«

Wässriges Morgenlicht strömte durch die großen Schulfenster mit ihren tiefen Fensterbänken. Die Decke war sehr hoch, wahrscheinlich mehr als fünf Meter, die Wände waren unten weiß getäfelt und oben in einem matten Kornblumenblau gestrichen. Klassische Kugelleuchten aus weißem Glas hingen von der Decke, und der originale Holzboden – Kratzer und Schrammen und alles inklusive – war dick versiegelt worden und glänzte dunkel.

Die Einrichtung in dem großen offenen Raum wirkte gemütlich: niedrige Polstermöbel mit weißem Leinenbezug, ein langer Esstisch im Industriedesign mit einer Holzoberfläche und Metallbeinen und ein großer Couchtisch im selben Stil, aber mit Rollen. Regale unterhalb der Fenster stellten Steine, Tierknochen, ein paar verbogene Baumwurzeln und eine großzügige Sammlung gebundener Bücher zur Schau. Auf dem alten Schulklavier stand ein Globus. Eine antike Pendeluhr hing neben einem vorsintflutlichen Kanonenofen, und aus einer rechteckigen Öffnung in der Decke baumelte ein Glockenseil.

Bianca deutete auf eine offene Treppe mit Holzstufen und einem Geländer aus massiven, grau gestrichenen Eisenrohren. »Ganz oben ist Ians Atelier, aber da können wir jetzt nicht rein. Obwohl es nicht den Anschein macht, als wäre er irgendwie produktiv. Er ist vollkommen blockiert. Das große Schlafzimmer ist im ersten Stock. Unten gibt es noch ein zweites. Ben und Mark sind leidenschaftliche Hobbyköche, darum ist die Küche super ausgestattet, aber von uns beiden kann keiner richtig kochen. Du?«

Tess hatte früher gerne gekocht, aber das war schon lange her. Geschmorte Schweinelenden, Spargel, Ricotta-Klöße mit Pancetta und knusprigen Salbeiblättern … Das war das letzte große Menü, das sie zubereitet hatte. Die Klöße waren perfekt geraten, aber Trav hatte nicht viel davon gegessen. »Tut mir leid, Babe. Ich hab keinen Appetit. Das liegt an dieser verdammten Erkältung. Irgendwie krieg ich die nicht los.«

Es war keine Erkältung gewesen. Es war eine Pneumokokken-Infektion, eine Erkrankung, die behandelbar war, aber die Medikamente hatten nicht angeschlagen. Zehn Tage später war er tot.

»Alles in Ordnung?« Bianca sah sie besorgt an.

Tess fiel ein zu lächeln. »Ja. Alles gut. Ich war … Ich koche gerne, aber ich bin in letzter Zeit nicht groß dazu gekommen.«

»Und ich esse gerne. Vielleicht kannst du mir ein paar Anregungen geben.«

Bianca zeigte ihr die schlauchförmige Küche: weiße U-Bahn-Fliesen hinter der Spüle, ein hohes Fenster am schmalen Ende, weiße Wandpaneele, Schränke in einem helleren Ton desselben matten Kornblumenblaus wie im Wohnbereich. Eine Außentür führte auf die Rückseite des Hauses. Eine Aubergine lag auf der Anrichte aus Speckstein neben zwei schrumpeligen Tomaten und einem halben Stangenbrot.

Bianca hockte sich auf die niedrige Fensterbank, legte beide Hände um ihren Bauch und zählte fröhlich ihre Leibspeisen auf, Restaurants, die sie liebte, Restaurants, die sie hasste, bestellte Produkte, die nicht mit der wöchentlichen Lebensmittellieferung gekommen waren, und ihre Gelüste während der Schwangerschaft. Ihre Gespräche neigten dazu, um ihre eigene Person zu kreisen, was Tess hervorragend in den Kram passte.

»Koch uns was!«, verlangte Bianca mit mädchenhafter Begeisterung. »Etwas Gesundes und Leckeres, das uns beiden schmeckt. Etwas, um mein Baby zu füttern.«

Tess hatte keinen Appetit, aber sie nahm ein angewelktes Bündel Mangold aus dem Kühlschrank, fand eine Knoblauchknolle und eine Flasche Balsamico für eine improvisierte Bruschetta.

Bianca war von allem hingerissen, was Tess tat, als hätte sie noch nie gesehen, wie eine Aubergine geschnitten oder eine Knoblauchzwiebel geschält wurde. »Es ist, als würde man der großen Mutter Erde bei der Arbeit zusehen.«

»Damit kenne ich mich nicht aus.«

»Sieh dich an. Deine Haare, dein Körper. Neben dir wirke ich blass und mickrig.«

»Die Schwangerschaftshormone haben bei dir ganze Arbeit geleistet. Du bist eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen habe.«

Bianca seufzte, als wäre ihr Aussehen eine Bürde. »Das sagt mir jeder.« Sie drehte sich zum Fenster und schaute hinaus auf die karge Winterwiese, die sich hinter dem Schulhaus erstreckte. »Ich will dieses Baby unbedingt. Etwas, das nur mir gehört.«

Tess fegte die Auberginenschalen in den Mülleimer. »Dein Mann könnte ein paar Anmerkungen dazu haben.«

Bianca fuhr fort, als hätte sie den Einwand nicht gehört. »Ich habe meine Eltern verloren, als ich sechs war. Meine Großmutter hat mich aufgezogen.«

Tess hatte ihre Mutter vor knapp zehn Jahren verloren. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie fünf war, und sie hatte nur wenige Erinnerungen an ihn.

»Ich habe mir lange Zeit keine Gedanken darüber gemacht, ob ich Kinder haben will«, erklärte Bianca. »Aber dann wurde ich richtig besessen davon, schwanger zu werden.«

Tess fragte sich, was Biancas Mann davon gehalten hatte. Obwohl Bianca die ganze Zeit plapperte, verlor sie kaum ein Wort über ihre Ehe.

Ein köstlicher Duft breitete sich in der Küche aus, als Tess den Knoblauch und die zerkleinerten Mangoldblätter in Olivenöl andünstete und etwas Butter hinzugab, um den bitteren Geschmack des Gemüses zu mindern. Sie toastete das Stangenbrot, schnitt die schrumpeligen Tomaten in Würfel und hackte ein paar Oliven klein. Nachdem sie alle Zutaten miteinander vermengt hatte, würzte sie die Mischung, kippte einen kleinen Schuss Olivenöl nach und belegte zum Schluss das geröstete Brot damit. Als die fertigen Häppchen auf zwei Steinguttellern angerichtet waren, setzten Bianca und sie sich an den langen Esstisch.

Die Bruschetta war perfekt, das Brot knusprig, der Belag nahrhaft und sehr schmackhaft.

Es hatte etwas Stärkendes, in diesem schönen, sonnendurchfluteten Raum zu sitzen mit einer Frau, die so vital und lebendig war. Tess stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass sie Hunger hatte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit konnte sie ihr Essen schmecken.

Die Vordertür schwang auf, und North kam herein, in einer schweren Jacke, einen Rucksack über die Schulter geschlungen. Er blieb im Eingang stehen und starrte Tess an, ohne etwas zu sagen, was auch nicht nötig war. Ich habe dir gesagt, du sollst dich fernhalten, und trotzdem bist du hier.

Ihr letzter Bissen Bruschetta verlor seinen Geschmack. »Ich wurde eingeladen«, sagte sie.

»Und wir haben eine Menge Spaß!« Biancas fröhliches Gezwitscher klang etwas flach.

»Freut mich zu hören.«

Er klang überhaupt nicht erfreut.

»Du musst unbedingt hiervon kosten«, sagte Bianca.

»Keinen Hunger.« Er ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und stellte ihn auf eine lange Holzbank.

»Sei nicht so griesgrämig. Seit wir hier sind, haben wir nichts gegessen, was so lecker ist.«

Er warf seine Jacke ab und stolzierte zu ihnen herüber. Je näher er kam, umso stärker wurde Tess’ Bedürfnis, Bianca zu beschützen.

»Ich hole dir einen Teller.« Bianca sprang auf – soweit sie in der Lage war aufzuspringen – und ging in die Küche.

North blieb am Kopfende des Tischs stehen, wo Bianca gesessen hatte, und starrte Tess an. Das Februarlicht, das durch die Fenster drang, fiel auf die lange Narbe an seinem Hals. »Das hier ist nicht gut für sie.«

Tess verstand seine Worte absichtlich falsch. »Gemüse und Oliven haben einen hohen Nährwert.«

Seine Frau kehrte mit einem Teller zurück. Er nahm ihn, setzte sich aber nicht. »Du musst dich ausruhen, Bianca.«

»Ich muss einen Spaziergang machen«, erwiderte sie und zeigte einen Trotz, den sie zuvor nicht hatte erkennen lassen. »Komm, Tess. Du hast versprochen, mit mir rauszugehen.«

Tess hatte nichts dergleichen versprochen, aber sie spielte gerne mit. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass Ian North darauf bestand, sie zu begleiten.

Bianca richtete ihre ganze Plauderei an Tess, ein umständlicher Vorgang, weil North sich auf dem schmalen Pfad neben seiner Frau hielt, was Tess zwang, hinter den beiden zu gehen. Bei jeder Bodenunebenheit stützte er Biancas Arm, nur um sie gleich wieder loszulassen, wenn der Untergrund sicher war. Tess verabschiedete sich unter einem Vorwand, sobald sie konnte.

Bianca blieb stehen. »Wir sehen uns morgen.«

»Daraus wird nichts«, sagte North. »Wir haben Pläne.«

»Wir können sie ändern.«

»Nein, können wir nicht.«

Bianca zuckte mit den Achseln, dann lehnte sie den Kopf an seinen Oberarm und lächelte Tess an. »Wir finden eine Lösung. Ich weiß, dass wir beide beste Freundinnen sein werden.«

Tess war sich dessen nicht so sicher. Das Letzte, was sie brauchte, war, in die seltsame Dynamik zwischen den beiden hineingezogen zu werden.

Eine Woche verging. Tess tanzte um Mitternacht, wenn sie nicht schlafen konnte, um drei Uhr morgens, wenn sie aus einem Albtraum hochschreckte. Sie tanzte bei Sonnenaufgang, bei Sonnenuntergang und wann immer es ihr schwerfiel, den nächsten Atemzug zu tun.

Bianca kam öfter unangemeldet vorbei – manchmal mehrmals am Tag. Meistens störten Tess die Besuche nicht, obwohl Biancas Gespräche sehr einseitig waren. Deutlich lästiger waren Ian Norths Einmischungen. Er tauchte unweigerlich unter dem einen oder anderen Vorwand auf, um seine Frau fortzuschleifen.

»Ich kann meine Brieftasche nicht finden … Wir müssen die Lebensmittelbestellung machen … Lass uns nach Knoxville fahren …«

Er verhielt sich, als stellte Tess eine Art von Bedrohung dar.

Eine weitere Woche verging. Dann noch eine. Tess meldete sich bei Travs Eltern, die sich von ihrem Verlust besser erholt hatten als sie. Sie simste ihren Freunden – fröhliche, unbeschwerte Lügen.

Es geht mir super. Die Berge sind wunderschön.