Und, wie lange habt ihr Zeit? - Corinna Wegscheider - E-Book

Und, wie lange habt ihr Zeit? E-Book

Corinna Wegscheider

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Beschreibung

Zwei Frauen, zwei Fahrräder, ein Zelt und ein wenig sonstiges Gepäck - vom Weinviertel bis zum Ende der Welt.

Das E-Book Und, wie lange habt ihr Zeit? wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Bikepacking, Frankreich, Bretagne, Ouessant, Finistére

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Seitenzahl: 168

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Danke

Prolog

Aufbruch

Klöster, Metzgereien und Wildgänse

Westwärts nach den Flüssen

Schäfchen zählen

Reisefieber

Paris

Auf grünen Spuren

Noch mehr Schäfchen zählen

Meer und Smaragd

Armorica

Blumeninsel

Artischocken, Brokkoli und Onion Johnnies

Am Ende der Welt

Ziel erreicht

Kig ha Farz

Salz auf der Haut

Zwei Tage in Quiberon

Impresssionen

Fleurs Du Sel

La Loire

Jeanne d’Arc

Ostwärts nach den Flüssen

Der Jurahut

Au revoir und Grüezi mitenand

Epilog

Danke

Ohne Unterstützung wäre unser Abenteuer nicht so sorglos möglich gewesen.

Ein großes Dankeschön an die verlässlichen Feen, Nicole und Sissy, die sich um Haus und Hof, um die Post und unsere Schildkröten gekümmert haben!

Danke an die liebe Nachbarschaft, die stets ein waches Auge auf ihre Umgebung hat. Noch nie wussten wir diese Eigenschaft so zu schätzen wie während unserer längeren Abwesenheit.

Danke an Arwed Höchsmann und sein Team der Radschmiede in Hollabrunn für Rat, Tat und unbezahlbare Tipps und Tricks.

Und danke an den wohlmeinenden Support via Social Media und per Telefon. Die Bedeutung dessen war und ist unerwartet groß.

Prolog

Herbst 2021.

Traumlose Nächte, unruhiger Schlaf, Weckerläuten zu Unzeiten und triste Morgen, die alle Klischees von Novembertagen erfüllen. Dabei ist es erst Mitte Oktober. Im nebeligen Halbdunkel pendle ich eineinhalb Stunden nach Wien, wenn Bus, Zug und U-Bahn pannenfrei verkehren, um acht Stunden in einem Büro zu verbringen, wo ich meine Existenz in einem sinnentleerten Job einfach absitze, denn Arbeit ist es die meiste Zeit nicht. Trotzdem pendle ich abends erschöpft und müde eineinhalb Stunden retour. Beim Heimkommen ist es finster.

Das Naheliegende, mich längst anderswo zu bewerben, ist nur theoretisch umsetzbar. In der Praxis bin ich zu ausgehöhlt vom Nichts, dass ich nicht den Funken einer Chance sehe, ein Vorstellungsgespräch ansatzweise überzeugend zu absolvieren. Selbst für ein simples Anschreiben fehlt mir die Motivation. Außerdem bin ich 45 Jahre alt und weiß nicht, ob ich die Mitte meines Lebens schon überschritten habe. Und eigentlich sehe ich keinen Grund, überhaupt meinen Pensionsantritt zu erleben, wenn mein Dasein bis dahin so ist.

Doch ich habe Glück! Ich habe mit Zdeňka eine Partnerin an meiner Seite, die mich mit konsequentem Drängen zur Kündigung so lange zermürbt, bis meine gesellschaftskonforme Angepasstheit zu bröckeln beginnt. Der sichere Posten heißt neben regelmäßigem, bis ans durchschnittliche Lebensende kalkulierbarem Einkommen halt auch stete seelische Abnützung. Das weiß ich. Die Entscheidung zu handeln oder eben nicht liegt nur bei mir. Das weiß ich auch.

Aber was glaubst du überhaupt? In deinem Alter…!? Dir fehlen für die Pension dann doch Monate, wenn nicht Jahre…!

Die Vorwürfe echoen so laut in meinem Kopf, dass sie das zaghafte Sprießen alternativer Ideen gnadenlos unter dem Deckmantel einer notwendigen Planungssicherheit ersticken.

Doch ich habe doppelt Glück! Zdeňka ist eine Abenteurerin und freigeistige Träumerin, geht obendrein Anfang des Jahres 2022 selbst schon in Pension, motiviert mich mit der Aussicht meines vorzeitigen Ablebens aus Frust und Depression, wenn ich nichts ändere und schlägt vor, endlich und tatsächlich jene Fahrradtour zu machen, von der wir immer nur reden und träumen. Eine Reise ohne Zeitdruck, ohne Termin. Einfach solange es uns Spaß macht.

… aber ich kann wirklich nicht! Warum kannst du nicht? Irgendwann fällt mir keine plausible Antwort mehr ein. Also gut! Gut. In Ordnung. Und wohin fahren wir?

Wir blättern durch meinen alten Schulatlas, surfen durch Google Maps, diskutieren und sondieren. Ein Flug kommt nicht in Frage. Wir werden versuchen, uns - sollte es Strecken zu überbrücken geben, die wir nicht per Fahrrad zurücklegen können oder wollen - so klimaverträglich, so CO2-ausstoßschonend wie möglich fortbewegen. Einmal im Leben per Fahrrad nach Moskau oder die Wolga entlang, wäre schon was. Russland ist ein so großes Land mit viel Platz und Vielfalt. Oder die Slowakei queren und die ganze Ukraine bis ans Schwarze Meer in die eurasischen Steppen, wo einst die Skythen, ein Volk von Amazonen und Reiternomaden umherzogen. Uns reizen auch Skandinavien und die baltischen Länder gleichermaßen wie der Balkan mit Albanien auf dem Weg nach Griechenland. Italien von Venedig bis zu den Trulli in Apulien zieht uns an, wie Frankreich sowieso, die Grande Nation aus unserer Sicht zumindest. Die Iberische Halbinsel gäbe es auch zu entdecken! Ach, in jeder Himmelsrichtung warten verlockende Ziele.

Unter Einbeziehung von Sicherheitsbedenken und Vernunft, der Unvorhersehbarkeit der Corona-Pandemie und der kritischen Entwicklung nach der völkerrechtswidrigen Übernahme der Krim und der steigenden Aggression seitens des russischen Präsidenten und seiner Gefolgsleute entscheiden wir uns für ein äußerst westlich gelegenes Ziel. Für die Île d’Ouessant. Eine, dem Ende der Welt vorgelagerte Insel im Département Finistère, Bretagne, Frankreich.

Ab diesem Moment summe ich die Marseillaise, höre stundenlang Chansons und rezitiere innerlich Simone de Beauvoir. Ich fühle mich jung und frankophil wie seit meinen Zwanzigern nicht mehr - und formuliere das Kündigungsschreiben.

Ça suffit. C’est fini. Es reicht.

Von zentnerschwerer Last befreit stürze ich mich ins Abenteuer Routenplanung. Zdeňka würde einfach drauflosradeln, ich detailverliebt strukturieren. Dieser Gegensatz wird vielleicht die größte Herausforderung oder das größte Glück. Das haben unsere bisherigen gemeinsamen Jahre schon hinlänglich bewiesen und genossen. Also einigen wir uns vorab auf eine nur grobe, aber strategische Vorausschau möglichst fernab von Autostraßen. Wunderbarerweise gibt es tatsächlich unzählige Optionen, alleine die EuroVelo-Fernradwege spannen sich als Netz über ganz Europa. Bis auf unser festgelegtes Ziel haben wir vier weitere Fixpunkte, die wir zu passieren wünschen. Natürlich Paris! Davor oder danach dann Strasbourg, Le Mont Saint-Michel und St. Gallen in der Schweiz. Wenn wir es hinkriegen, dass Strasbourg und St. Gallen quasi am Weg liegen, wäre es eine ziemlich originelle Gelegenheit für ein Wiedersehen mit Freundinnen.

Während mich ab nun Distanzen, Größe und Weite Europas in wechselnder Abfolge faszinieren, überfordern und wundern, kümmert sich Zdeňka hingebungsvoll und in intensiven Recherchemarathons um die Optimierung unserer Ausrüstung. Zu diesem Zweck klappert sie sämtliche Outdoorgeschäfte in Österreich und Tschechien ab. Sowohl virtuell als auch vor Ort. In kalten Winternächten testen wir unser Equipment im Garten, sind mit dem Zelt ganz zufrieden, frieren aber ein bisschen und erstehen lieber neue, mit Daunen gefüllte Schlafsäcke, Merino-Unterwäsche und warme Socken!

Wann fahren wir eigentlich los? Na, wenn es Frühling wird.

Wir satteln unsere Fahrräder mehrmals wöchentlich auf, satteln sie wieder ab, justieren die Gepäckträger neu, kaufen noch die eine oder andere Schelle und Schraube und feilen an bestmöglicher Fixierbarkeit der Taschen. In tageweisen Probefahrten überprüfen wir Fahrtauglichkeit und Stabilität. Bikepacking-Foren, einschlägige Websites und YouTube-Videos liefern uns jede Menge Inputs, Gedankenanstöße und geniale Tricks, die uns nie einfallen würden. Und dann ist es schon echt.

Nimmst du wirklich noch ein T-Shirt? Ja, ein langärmliges vielleicht, oder? Kannst du das bitte für mich nehmen, dafür nehme ich… aber brauchen wir DAS wirklich?

Maximales Gesamtgewicht und begrenztes Packvolumen lachen herzlich über unsere Überlegungen für den Fall und zur Sicherheit. Wir lassen etwa ein Drittel von dem, was wir als notwendig erachtet haben, weg. Und nehmen anderes hinzu. Kochutensilien und Geschirr. Zwei Campingkocher! Salz, Pfeffer und Gewürze in ganz kleinen Döschen für den Anfang. Ein paar Konserven, Vorfreude und Zweifel – und ja, ein bisschen Panik.

Haben wir etwa zu viel geplant und zu wenig gepackt? Vielleicht ist es ganz umgekehrt? Auf einmal ist alles zu schwer und zu leicht zugleich. Was ist, wenn wir scheitern? Schon in Tulln, weil wir streiten? Wo ist der Punkt, bis zu dem wir bei einer Panne zurückfahren? Wann ist der Punkt, an dem wir abbrechen?

Denk nicht so viel! Wann fahren wir endlich? Jetzt. Wir können es sowieso nicht mehr erwarten.

Aufbruch

Der Himmel über dem Weinviertel ist wolkenlos und die Luft so frisch, wie es sich für acht Uhr morgens Anfang April gehört. Wir versperren unser trautes Heim, platzieren die Schlüssel für die lieben Feen und gute Geister im vereinbarten Versteck, verweilen wenige Augenblicke für einen kurzen Abschied am Ende der Straße und fahren los.

Bis in ein oder zwei Monaten… oder so. Gute Reise – und passt auf euch auf!

Ein verschlafenes Dorf nach dem anderen lassen wir hinter uns und bald auch die Hänge des Wagrams. Es ist kaum vorstellbar, dass die reihenweis kahlen Weinreben in einem halben Jahr Gläser und Fässer füllen werden. Das Tal der Donau liegt weit und breit vor uns und lässt eiskalte Luftmassen aus nordwestlicher Richtung ungehindert fließen. Unsere schwerbeladenen Fahrräder tanzen ungelenk zwischen Windböen und sandigen Banketten hin und her. Zum Glück sind die Landstraßen wochenends kaum von Autos frequentiert. Wir balancieren und parieren und halten uns an unsere Aufbruchsstimmung. Sie wankt kein bisschen.

Vor Krems erst zwingen uns heftige Graupelschauer zum Anhalten. Wir pausieren direkt am Donauradweg und finden Schutz unter photovoltaikbedeckten Vordächern kleiner Hüttchen. Sie sind Teil einer riesigen Baustelle zur Umsetzung des Projekts Europaschutzgebiet Tullnerfelder Donau-Auen.

Mit viel Geld wird da versucht, einst zum wirtschaftlichen Vorteil der Region Reguliertes in etwas seiner ursprünglichen Form Ähnlichem zurückzubauen. Seitenärmchen werden ausgebaggert, wieder miteinander verbunden und mit unterschiedlichem Kiesel, Steinen, Sand und was auch immer schon einmal da war, ausgekleidet. Auf Schautafeln wird das Projekt ambitioniert und erfolgsversprechend präsentiert. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.

Die Schauer ziehen vorbei und wir weiter stromaufwärts durch die Wachau. Zartrosa Knospen an endlosen Spalieren links und rechts der Straßen künden von der bevorstehenden Marillenblüte rund um Dürnstein und Spitz, touristisch so erfolgreich vermarktete Orte, dass wir die jeweiligen Zentren freiwillig meiden. Wenig später ist Willendorf für den Fund einer kleinen altsteinzeitlichen Figurine bekannt. Die Original-Venus wohnt heute im Naturhistorischen Museum in Wien, aber die ihr nachemp-fundenen Plastiken verzücken mit ihrer Üppigkeit aus diversen Materialien und mehrerlei Größen direkt vor Ort.

Die erste Nacht bricht herein und ist wie befürchtet frostig. Wir hoffen, dass die tiefen Temperaturen den ungeborenen Früchten keine allzu großen Schäden zufügen und schlafen selbst unerwartet gut. Daune und Merino ist eine unbezahlbare Kombination! Krähenschreie wecken uns, während die Morgensonne schon den Reif von unserem Zelt leckt. Wir kochen Kaffee und frühstücken auf einem menschenleeren Campingplatz in Emmersdorf an der Donau mit Blick auf das Stift Melk am gegenüberliegenden Ufer. Weder News noch Schlagzeilen über Pandemie, Krise oder den schrecklichen Krieg, der tatsächlich vor zwei Monaten mit dem Überfall auf die Ukraine begonnen hat, finden uns. Ungewohnt friedlich und ruhig scheint so die Welt.

Umso beklemmender rückt uns später die Vorüberfahrt an Erinnerungsstätten bei Gusen und Mauthausen ins Bewusstsein, das selbst in Österreich nie aufgehört, was da vor 100 Jahren mit verheißungsvoller Verblendung begonnen hat. Längst vor dem 11. März 1938 und nicht nur in Linz. Mahnmale erzählen vom Größenwahn eines Einzelnen und von unsäglichem Leid, das seine Günstlinge und Heerscharen an Mitläufern erst möglich gemacht, weil sie seinen ideologischen Irrsinn in Taten umgesetzt, gequält und gemordet haben. Den Horror jener Zeit zum Trotz hat der Hass überlebt. Willfährige Gruppierungen formieren sich wieder und wieder. Seit Kurzem sprießen sie wieder sichtbar über die Hemmschwellen der Menschlichkeit. Ganz ohne Not. Aus mit Besorgtheit getarnter Dummheit nur.

Dabei belegen gerade hier entlang des Limes, des römischen Reiches nördlichen Grenzwalls zum Barbaricum, jahrtausendealte Überbleibsel, was dereinst von Großreichen bleibt. Bröckelnde Steine als erodierte verwaschene Zeugen sogenannter zivilisatorischer Errungenschaft.

Wozu also diese Gier nach Macht? Wozu die Vergeudung von Energie an Gewalt und Missgunst?

Die Natur um uns herum interessiert sich nicht für das Streben nach Einträgen in Geschichtsbücher oder zweifelhafte Orden. Die Natur tut, was jedes Jahr um diese Zeit sinnvollerweise zu tun ist. Sie schickt frische Säfte in Geäste und befiehlt den ersten Blümchen bunt zu blühen. Auf ihr Geheiß sind schon fast alle Vöglein da und singen inbrünstig und in höchsten Tönen und fantastischsten Melodien um die jeweils Liebste. Wenn es sich fügt, werden sie erhört. Nur darum geht es. Und inmitten dieser Geschäftigkeit des unaufhaltsamen Erwachens schlingt die Donau durch ihr Bett, unbeirrt und stet – und präsentiert sich uns dabei so, als wäre sie bloß ein großer stiller See.

Doch trügt der Eindruck nicht? Ist es nicht dort unter dem Spiegel der Oberfläche, wo Geister, Nixen und unklare Wesen hausen?

Ach wüsstest du, wie’s Fischlein ist, so wohlig auf dem Grund… Der Fischer in Goethes Ballade ward nie mehr gesehen. Fahr’ bitte nicht so nah ans Wasser! Es zieht mich halb… Ich geb’ schon Acht!

Nach dreieinhalb Tagen und 377 Kilometern stehen wir bei Engelhartszell vor der ersten Grenze. Es gibt vorerst kein Weiterkommen per Fahrrad. Doch lockt weder das Donauweibchen unwiderstehlich, noch bewahrheiten sich die Legenden, die sich um den Jochenstein inmitten des Flusses beim Kraftwerk ranken – nein, es sind profane Renovierungsarbeiten auf Straßen und Radwegen, die vor Beginn der Urlaubssaison notwendig sind und für größere Sperren sorgen. Sie lassen für uns nur einen einzigen Übergang nach Deutschland zu. Nämlich den übers Kraftwerk.

Auf Höhe der Mitte des Flusses verläuft die Staatsgrenze. Von einem Betonpfeiler herab beäugt uns der schwarze Adler auf dem deutschen Bundeswappen skeptisch, die goldenen Löwen auf jenem des Freistaates Bayern gleich darunter scheinen ihre roten Krallen frisch geschärft zu haben. Ihre Mienen sind ähnlich grimmig, wie jene der mäßig gelaunten Gruppe Menschen auf Elektrofahrrädern, für die es, wie für uns, 90 Stufen über steile schmale Treppen zu überwinden gilt. Es gibt keinen Aufzug. Es gibt nur eine, für Fahrräder wie unsere mit Gepäck oder klobige E-Bikes völlig unbrauchbare, direkt an der Wand montierte Schiebehilfschiene aus Aluminiumblech. Barrierefreiheit? Ja, mei! Ja, mei?

Wir sind dankbar, dass uns unsere Beine tragen und denken an Personen, für die diese Hürde tatsächlich nicht zu überwinden ist, und absolvieren die Stufen mit leisem Murren nur, dafür drei Mal pro Person, bis wir Vorderrad-, Hinterradtaschen, die Packtaschen mit Zelt und Schlafmatte – und natürlich unsere Fahrräder nach Deutschland verfrachtet haben. Pfiat’di, Österreich!

Klöster, Metzgereien und Wildgänse

Servus, Bayern! Gleich in Obernzell, knapp hinter der Grenze zum Freistaat, winkt uns eine kleine Wirtschaft mit sonnigem Gastgarten. Wir freuen uns auf eine Hoibe Helles. Kaum nehmen wir den ersten Schluck, gesellt sich ungefragt ein Kerl zu uns, der zum einen seine Anziehungskraft auf andere Menschen heillos überschätzt und zum anderen genauso ungefragt seine negative Meinung über Personen aus dem ehemaligen Ostblock im Allgemeinen, aber aus Tschechien im Besonderen kundtut. Mehrmalige Hinweise darauf, dass Zdeňka geborene Tschechoslowakin sei und wir eigentlich nur in Ruhe ein Bier trinken wollen, ignoriert er. Seine widerlichen Auswürfe verleihen dem wahrscheinlich süffigen Gebräu einen unverdient unangenehmen Beigeschmack. Sehr schade!

Rasch fort von diesem Ort führen uns aber perfekt beschilderte Fahrradwege. Selbst weitläufige Umleitungen großangelegter Hochwasserschutzbauprojekte wegen sind lückenlos gekennzeichnet. Durch Ostbayern ist es fast unmöglich sich zu verirren. Außer in Passau. In Passau verheddern wir uns im dichten Radwegenetz und strampeln Extrakilometer um Extrakilometer in jede Sackgasse sämtlicher Vororte und zurück, bis uns ortskundige Alltagsradler behutsam und charmant hinauslotsen. Sie versöhnen uns mit dem ungustiösen Auftakt. Das tun hernach auch aufgeräumte, erdig ruhende malerische Dörfer. Bunte, aufwändig geschmückte Osterbrunnen zieren die Ortskerne. Sie sind von jeweils zwei Metzgereien flankiert. Klöster scheinen ebenso omnipräsent. Fromme Andacht, wohin wir schauen. Und doch fürchten wir, von Gottseligkeit allein nicht satt zu werden und wollen für genügend Proviant fürs lange Osterwochenende sorgen. Zu viel mögen wir nicht tragen, das haben wir in den paar Tagen schon gelernt, aber zu wenig soll es um des Friedens willen auf keinen Fall sein. So tappen wir tollkühn ins Fettnäpfchen und fragen ernsthaft, wie lang denn der Lebensmittelhandel am Karfreitag offen habe.

Goa nia ned, des is jo a religiöser Feiertog!Nicht einmal bis Mittag – wie in Österreich? Naa!!!

Verschämt senken wir fortan den Blick vor jeder Kirche, bekreuzigen uns vor jeder Abtei und lassen uns doch nicht die grünsprießenden Wiesen und Felder dazwischen entgehen, auf denen sich zahllose Wildgänse in grauen Gefiedern niederlassen, schnattern und alles speisen, was grad schon wächst. Offenbar werden die Eigenarten dieser Schöpfung von den Landwirten und Bauern geduldet, ob freiwillig oder nicht. Gott muss in irgendeiner Form tatsächlich groß sein. Wenn nicht hier, wo denn?

Weiter flussaufwärts werfen bald andere weithin sichtbare Bauten, wie die Walhalla in Donaustauf oder die Befreiungshalle in Kelheim, erneut die Frage nach Stein und Sein auf. Bayerns König, Ludwig I., hat sich davon dereinst Unsterblichkeit erhofft. Den Preis für die Imposanz werden vermutlich andere bezahlt haben.

Gleich in der Nähe, in den Weltenburger Wäldern um den Donaudurchbruch, wo Benediktinermönche seit fast 1000 Jahren bestes Klosterbier brauen, tragen die grünen, quadratischen Radwegmarkierungsschilder mit einem Mal die Notrufnummer des Bayrischen Roten Kreuzes aufgeklebt. Wir wundern uns. Nach endlosem Bergauf auf losem Untergrund wundern wir uns nicht mehr. Es geht immer weiter bergauf - auf noch loserem Untergrund. Und noch weiter. Die Reifen rutschen durch, obwohl wir längst abgestiegen sind. Unsere Schuhe finden kaum Halt, das Gewicht der Beladung erklärt uns die Gesetze der Schwerkraft. Wir stemmen uns dagegen. Schritt für Schritt. Irgendwann geht es auf losem, rutschigem Untergrund abenteuerlich bergab. Den Notruf brauchen wir nicht.

Auch sonst sind wir seit über 600 Kilometern pannenfrei. Unsere Körper haben sich an die ganztägig frische Luft gewöhnt. Das Wetter kann uns nichts, nur starker Gegenwind am späten Nachmittag in Kombination mit Regen kratzt ein wenig an der Laune. Die Menschen sind bis auf ganz wenige Ausnahmen freundlich, manche zaghaft interessiert, andere ganz offen neugierig.

Wo soll’s denn hingehen? Bis ans Ende der Welt. Und, wie lange habt ihr Zeit? Bis wir wieder zu Hause sind. Naja, wenn man sich das leisten kann…

Wir rechtfertigen uns, dass Zdeňka schon in Pension sei und ich einen ohnehin befristeten Job nur vorzeitig gekündigt habe. Das sei aber nur vorübergehend, eine kleine Auszeit. Hm.

Dabei zählt für uns derzeit nur, dass unser Zelt dicht ist, die Doppelschlafmatte gut isoliert und die Schlafsäcke kuschelig warm sind. Außerdem, dass wir die Campingplätze halbwegs glücklich wählen, was uns bislang gelungen ist, wie zum Beispiel den überraschend günstigen im Yachtklub von Vilshofen, jenen zäh erklimmbaren am Kapfelberg mit herrlichem Ausblick auf den Bayrischen Wald, die sympathische Felbermühle bei Neustadt an der Donau, wo der Rezeptionist ob der zu erwartenden Minusgrade über Nacht sogar über eine Bodenheizung scherzt, und den idyllischen Zeltplatz des Kanu-Clubs Donauwörth. Eine absolute Ausnahme ist der Campingplatz in Regensburg. Neben dem völlig überteuerten Stellplatztarif und vernachlässigten sanitären Anlagen sorgt eine ganznächtige Rave-Party gleich nebenan dafür, dass wir kein Auge zu tun. Nicht erholt fällt die anschließende Stadtbesichtigung auch noch kalt und nass aus. In verschiedenen Sportgeschäften, sowohl im Gewerbeviertel wie auch im Zentrum suchen wir vergebens nach Beinlingen für Zdeňka, am besten mit Fleeceinnenvlies, die bei den von uns ein wenig unterschätzt oft wechselnden Frühlingstemperaturen leicht an- und ausziehbar sind. Die Wintersaison sei längst vorbei, sagt man uns, das Sortiment gilt nur mehr für warme Tage. Uns fröstelt. Ach, Regensburg ist gar nicht gut zu uns. Wir fahren rasch weiter.

Westwärts nach den Flüssen

Nach acht Tagen unterwegs verabschieden wir uns von der Donau, unserem bisherigen Leitstrom sozusagen, und folgen dem Lauf der Wörnitz. Ist es der eine Tag Ausruhen in Ingolstadt gewesen, das wolkenlose Wetter oder ist es wirklich so, dass Landschaft und Flüsschen mit einem Mal lieblicher sind? Bezaubernde Städtchen und Städte wie Harburg, Nördlingen, Schwäbisch Gmünd, Schorndorf - alle paar zig Kilometer verlieben wir uns neu. Fachwerkhäuser, noch aufwändiger dekorierte Osterbrunnen, alles ist so herausgeputzt, selbst das knospende Grün der Laubbäume wirkt wie frisch abgestaubt. Romantische Straße heißt es hier, ist aber teilweise sehr stark und schnell befahren, dass uns die deutsche Romantik als ein sehr dehnbarer Begriff erscheint. Dafür queren wir auf dieser Route einen Einschlagkrater mit über 20 Kilometern Durchmesser, den vor 15 Millionen Jahren ein Asteroid geformt hat. Das Steinheimer Becken südlich davon hat sein kleiner Trabant verursacht. Diese Tatsache ist ziemlich aufregend für mich, sind doch die Ränder aus ganz sonderbarem Gestein noch immer deutlich sichtbar. Binnen Millisekunden wurde es nicht nur geschmolzenen, sondern auch ein guter Teil davon weit weg geschleudert. Der sogenannte Moldavit aus der Familie der Tektite wird immer noch in Böhmen gefunden. Ich bin aber offenbar nicht die einzige, die dieser Faszination erlegen ist. Zahlreiche Spuren früher Siedlungen im Nördlinger Ries beweisen das. Möglicherweise hat für die Menschen damals auch der fruchtbare Boden eine wesentliche Rolle für die Wahl, sich gerade da niederzulassen, gespielt. Aber, wer weiß das heute noch?

Die Schwäbische Alb ist später eine unterschätzt hügelige Angelegenheit. Davon überrascht sitzen wir erschöpft auf einem Bänkle