Und wieder war ich gerettet - Christoph Wilker - E-Book

Und wieder war ich gerettet E-Book

Christoph Wilker

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Eine spannende Lektüre eines bemerkenswerten Einzelschicksals, das der Autor unaufdringlich auch als Beispiel für generelles Nachdenken aufbereitet hat.“ Prof. Dr. Hans Simon-Pelanda, Historiker Die jüdische Familie Ebstein wurde Opfer des Holocaust. Eltern und Tochter starben, der Sohn Alex überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Sachsenhausen und Flossenbürg. Durch Hilfestellungen, kluge Entscheidungen und Glück konnte er wiederholt feststellen: Und wieder war ich gerettet. Der Autor Christoph Wilker traf sich fünf Jahre lang zweimal im Monat mit dem Zeitzeugen, der im Konzentrationslager die Zeugen Jehovas kennenlernte, sich diesen 1945 anschloss und zu einem erfüllten Leben fand. Nach „Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte – Die Geschichte von Rita Glasner, einem Bibelforscherkind im 'Dritten Reich'“ die zweite Biografie des Autors zur NS-Zeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 213

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHRISTOPH WILKER

Und wieder war ich gerettet

CHRISTOPH WILKER

Und wiederwar ich gerettet

Wie Alex Ebsteindie Konzentrationslager Auschwitz,Sachsenhausen und Flossenbürg überlebteund zu einem erfüllten Leben fand

Volk Verlag München

Website zum Buch: www.alex-ebstein.de

Abb. 1: Alex Ebstein in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2012

Umschlag vorne: Privatbesitz Werner Ebstein, USA

Umschlag hinten: Foto Christoph Wilker, 2012

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailierte bibliografische Daten sind im Internet über www.ddb.de abrufbar.

© 2019 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23, 81673 München

Tel. 089 / 420796980, Fax 089 / 420796986

www.volkverlag.de

Layout und Satz:

Autrado Matthias Mielchen, Brecherspitzstraße 8, 81541 München

TypoMedia, Tannermühlstraße 21, 83735 Bayrischzell, www.typomedia.de

Druck: Print Consult GmbH

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-315-2

INHALT

▪ Vorwort

1 Jüdische Kindheit in Breslau

2 Ermordung der Familie – Leiden in Auschwitz

3 Hoffnung in Flossenbürg

4 Neuanfang als Zeuge Jehovas in München

5 Zeuge und Zeitzeuge

6 Alex handgeschriebener Lebenslauf

7 Alex letzter Lebenstag

8 Rückblick

▪ Anhang

Biografischer Anhang

Anmerkungen

Materialien

Dank

„Erst wenn man sich auf diese Einzelschicksale einlässt, wie hier Christoph Wilker sein zweites nach dem von Rita Glasner schildert, begreift man die persönlichen und humanen Katastrophen über das hinaus, was man historisch vom Nationalsozialismus weiß. Die Vielzahl persönlicher, scheinbar bloß alltäglicher Zeugnisse, die berührenden Fotos und die kluge Ergänzung durch historische Dokumente und Erläuterungen lassen erahnen, wie ein ungebrochener Wille, begünstigende Umstände und ein unbeirrbarer Mut zum Leben Alex Ebstein seinen eigenen Weg vom jüdischen Glauben zum Zeugen Jehovas finden ließen. Textauswahl und Gestaltung des Buches spiegeln die vielen Gespräche und Begegnungen des Autors mit dem Zeitzeugen – in ihrer Fülle und Intensität schwer darzustellen – adäquat und für den Leser nachvollziehbar wider.

Eine spannende, immer wieder neu motivierende Lektüre eines bemerkenswerten Einzelschicksals, das der Autor unaufdringlich auch als Beispiel für generelles Nachdenken aufbereitet hat.“

Prof. Dr. Hans Simon-Pelanda

Historiker

VORWORT

Über die Kunst, nicht aufzugeben

„Fange niemals an aufzuhören, und höre niemals auf anzufangen“

Marcus Tullius Cicero[1]

Alexander Ebsteins Kräfte ließen stark nach, nachdem seine Frau Luise 2006 verstorben war. Sein Herz war gebrochen. Ich befürchtete, dass er diesen schmerzlichen Verlust nicht überstehen würde. Doch es hätte seiner starken Persönlichkeit widersprochen, sich schließlich nicht doch wieder zu erholen. Schon in seiner Jugend hatte er als verfolgter jüdischer Deutscher wiederholt schwerste Verluste erduldet und überwunden. Auch jetzt, nach dem Tod seiner Frau, begann sich sein Zustand nach ein bis zwei Jahren wieder langsam zu stabilisieren.

Über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren, beginnend Anfang 2010, traf ich mich zweimal im Monat mit Alexander Ebstein oder Alex, wie er von seinen Freunden liebevoll genannt wurde. Ich holte Alex jeweils mit meinem Wagen von seiner Wohnung am Groschenweg 57 im Münchner Ortsteil Trudering ab. Das tat ich mit Rücksicht auf sein Alter. Der damals 84-Jährige wäre auch bereit und in der Lage gewesen, selbst zu fahren, denn er besaß und fuhr bis kurz vor seinem Tod ein Auto. Wir trafen uns immer in seinem Lieblingslokal, dem italienischen Restaurant „La Villetta“ in Trudering.

Abb. 2: Alex mit Gerardo Carlucci (rechts im Bild) und einem weiteren Mitarbeiter des Restaurants „La Villetta“, 2010

Abb. 3: Alex im Restaurant „La Villetta“, 2010

Motivation der regelmäßigen Treffen war mein Interesse an Alex und seinem Leben, verbunden mit dem Bewusstsein, einem alten Mann damit auch etwas Gutes tun zu können. Alex war der einzige Auschwitz-Überlebende, den ich in meinem Leben näher kennenlernen durfte. Mir war bewusst, dass mich ein enger Kontakt mit diesem wandelnden Geschichtsbuch und Bibelkenner sowie seiner enormen Lebenserfahrung in meiner Entwicklung weiterbringen würde. Andererseits schätzte auch Alex die regelmäßigen Treffen und die sich daraus langsam entwickelnde Freundschaft, lebte er doch seit dem Tod seiner Frau Luise, dem wichtigsten Menschen in seinem Leben, allein in seinem Haus am Groschenweg. Alex war ein weltoffener, gesprächs- und kontaktfreudiger Mann. Deshalb kannten ihn auch viele Gäste im „La Villetta“. Denn meistens ging er allein in das Lokal und suchte dabei auch den Kontakt zu anderen Gästen. Als Sohn der „alten Schule“ kochte er nicht selbst.

Im Laufe dieser fünf Jahre mit insgesamt mehr als einhundert Treffen entwickelten sich natürlicherweise viele Gespräche mit einer bis zum Schluss außerordentlich wachen, gebildeten und allgemein gut informierten Persönlichkeit. In den Jahren zuvor hatte ich Alex als jemanden kennengelernt, der nicht gern über den Holocaust und die Verfolgungsgeschichte seiner jüdischen Familie sprach. Doch infolge des engen Kontakts öffnete er sich immer mehr und erzählte bereitwillig über seine Erfahrungen in der NS-Zeit, die sein Leben nachhaltig geprägt hatten. Und er hatte viele Geschichten zu erzählen. Im Laufe der Zeit kam mir der Gedanke, ein Buch über das Leben von Alex zu schreiben. Als ich ihm davon erzählte, reagierte er zunächst reserviert, gab aber schließlich seine Zustimmung.

Mit der vorliegenden Biografie versuche ich, die zahlreichen bewegenden Berichte und Eindrücke, die ich von Alex im Laufe der Jahre erhalten und während oder nach unseren Treffen jeweils festgehalten hatte, chronologisch zusammenzufassen und zu kontextualisieren. Dabei lasse ich auch andere Quellen einfließen, um das Bild zu vervollständigen. Denn über manches Detail äußerte sich Alex nur sehr zurückhaltend, zum Beispiel über die miserablen Verhältnisse in den Konzentrationslagern. Bereichernd an zusätzlichen Informationen war beispielsweise die Autobiografie von Imo Moszkowicz, dessen Verfolgungsgeschichte einige Parallelen zu der von Alex aufweist. Imos Geschichte war für Alex von großer Bedeutung. Alex besaß dessen Buch und hatte es mit vielen persönlichen Anmerkungen versehen. Es enthält wertvolle Bestätigungen und Ergänzungen zu den Erzählungen von Alex. Daher sind verschiedene Aussagen von Imo in das vorliegende Buch eingeflossen und entsprechend kenntlich gemacht. Doch persönlich kennengelernt hatte Alex Imo, den bekannten Regisseur, erst nach dem Krieg.[2]

Alex lernte schon früh in seinem Leben, nicht aufzugeben. Er musste das lernen, sonst wäre er verloren gewesen. Selbst im Konzentrationslager Auschwitz war er immer davon überzeugt, die Hitlerzeit zu überleben. Im Konzentrationslager Flossenbürg befürchtete er, den Steinbruch nicht zu überleben; doch er gab sein Leben nicht aus der Hand. Alex war ein guter Beobachter und traf weiter wohl überlegte Entscheidungen. Begünstigt durch Hilfestellungen und glückliche Umstände konnte er immer wieder feststellen:

„Das war meine Rettung.“ [3]

Dieser Satz, den Alex wiederholt in Verbindung mit verschiedenen, ihn betreffenden Ereignissen der NS-Zeit äußerte, lieferte die Idee zum Titel dieses Buchs „Und wieder war ich gerettet“. Alex überlebte drei Konzentrationslager und zwei Todesmärsche.

Das Leben von Alex war nachhaltig durch die Zeit seiner Verfolgung als Jude und die Ermordung seiner jüdischen Familie geprägt. Er beschäftigte sich bis ins hohe Alter mit dem aktuellen Zeitgeschehen und ging offen, positiv und interessiert auf die Menschen zu, denen er begegnete. Das änderte sich selbst dann nicht, als er seinem Wunsch Ausdruck verlieh, eines morgens nicht mehr aufzuwachen, weil er alt sei und „mit Tagen gesättigt“, womit er ein Bibelwort auf sich anwendete.[4]

Alex Ebstein verfügte über eine Reihe starker Charakterzüge. Der Auschwitz-Überlebende konnte anderen Menschen Orientierung geben. Und er fing niemals an, aufzuhören, und hörte niemals auf, anzufangen – buchstäblich bis zu seinem letzten Lebenstag.

Christoph Wilker, Sommer 2019

KAPITEL 1

Jüdische Kindheit in Breslau

„Uns kann nichts passieren. Ich habe doch Deutschland im Weltkrieg gedient.“

Adolf Ebstein, Vater von Alex Ebstein, Soldat im Ersten Weltkrieg, 1930er Jahre

Im Jahr 1892 verließen Wolf und Eva Gotthilf, Alex’ Großeltern mütterlicherseits, ihre schlesische Heimat Oppeln[1] und wanderten in die USA aus. Sie reisten mit dem Schiff über Antwerpen nach Philadelphia. Zunächst fuhr der damals 32-jährige Wolf Gotthilf zu Verwandten in die USA, um erste Vorbereitungen zu treffen. Anschließend ließ er seine Frau mit den vier Kindern nach New York nachkommen.

Rachel Gotthilf, die spätere Ehefrau von Adolf Ebstein und Mutter von Alex, wurde während des mehrjährigen USA-Aufenthalts ihrer Familie am 26. März 1894 in Manhattan (New York) geboren und hatte die amerikanische Staatsangehörigkeit. Nach etwa zehn Jahren entschieden sich Wolf und Eva Gotthilf, mit ihren fünf Kindern nach Deutschland zurückzukehren.

Die Großeltern von Alex konnten nicht wissen, was auf Rachel und die künftige Familie ihrer Tochter zukommen würde. Sie selbst starben, bevor das NS-Regime an die Macht kam.[2]

„Es war eine schlechte Entscheidung, wieder nach Deutschland zurückzukehren.“

Abb. 4: Schiffsregistrierung von Wolf Gotthilf, 8. August 1892 (Hervorhebung nicht im Original). An diesem Tag erreichte er Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Abb. 5: Geburtsurkunde Nr. 14434 von Rachel Gotthilf, geboren am 26. März 1894 in New York, ausgestellt am 8. April 1894 vom Staat New York

Also ging es Anfang des neuen Jahrhunderts zurück nach Deutschland. Rachel war etwa zehn Jahre alt.[3] Als sie in die deutsche Schule wechselte, änderte ihr Schullehrer ihren Namen in Margarethe, weil, so meinte er, der (jüdische) Name Rachel nicht zu Deutschland passe.[4] Daraufhin wurde sie von vielen Gretel genannt.

Rachel wurde in Schlesien erwachsen und lernte Adolf Ebstein kennen und lieben, den sie dann 1919 heiratete. 1920 wurde eine Tochter geboren. Sie erhielt, der jüdischen Tradition folgend, den Namen ihrer Großmutter mütterlicherseits, Eva. 1926 kam Alexander, kurz Alex,[5] zur Welt, genannt nach dem Großvater väterlicherseits. Die Familie lebte in Breslau, einhundert Kilometer von Oppeln entfernt. Die geschichtlich, kulturell und wirtschaftlich bedeutende Metropole Niederschlesiens zählte damals mit mehr als 400.000 Einwohnern zu den größten Städten Deutschlands.[6]

Alex erinnerte sich gern an seine schönen und friedlichen Kindertage in seiner Heimatstadt Breslau. Doch erwachsen werden sollte er dort nicht.

Jüdisches Leben in Alex’ Heimatstadt Breslau

Jüdisches Leben hatte sich in Breslau bereits im Mittelalter entwickelt. 1933 besaß die schlesische Stadt mit 24.433 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands. Vier Prozent der Einwohner Breslaus bekannten sich zum Judentum.[7] Im gesamten Deutschen Reich waren es dagegen nur 0,8 Prozent, das waren 520.000.[8] Das 1854 in Breslau gegründete Jüdisch-Theologische Seminar war die erste akademische Rabbinerausbildung und jüdische Religionslehrer-Ausbildung in Deutschland. Das Judentum war also in Breslau im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen überdurchschnittlich vertreten. Jüdische Deutsche gehörten zum Bild der Stadt und waren Normalität.

Das war möglicherweise der Grund, warum Alex aus dieser Zeit keine antisemitischen Tendenzen bekannt waren. Bis zu seinen ersten Schuljahren konnte er auf eine normale und fröhliche Kindheit zurückblicken.

Elternhaus und Erziehung

Alex wurde 1932 im Alter von sechs Jahren eingeschult. Er kam in eine Gemeinschaftsschule für Kinder aus Familien, die anderen Konfessionen als der evangelischen oder der katholischen, den beiden in Breslau dominanten Religionsgemeinschaften, angehörten.

„In der Schule verspürte ich keinen Hass. Wir Juden wurden normal behandelt. Das änderte sich auch nicht, als Hitler 1933 an die Macht kam.“

Alex erinnerte sich gern an seine Kindheit.

„Ich wuchs in einem sehr liebevollen Elternhaus auf. Fast jeden Abend, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, hat er uns etwas mitgebracht, meistens Süßigkeiten. Am Wochenende gingen wir meistens ins Grüne hinaus.“

Alex bezeichnete sein Elternhaus als jüdisch-liberal. Seine Eltern waren gläubige Juden, wobei sein Vater religiöser war als seine Mutter. Doch wurde nur selten über Religion gesprochen. Über seinen Religionsunterricht äußerte er sich mit den Worten:

„Im jüdischen Religionsunterricht haben wir nur Hebräisch lesen und schreiben gelernt, nichts darüber hinaus.“

Infolgedessen erzogen die Ebsteins ihre beiden Kinder kaum religiös. Die Familie ging nur hin und wieder am Sabbat[9] und anlässlich hoher Feiertage in die Synagoge. Dort wurde hebräisch gesprochen und Alex verstand nur wenig, wie er sich später erinnerte.

Ein Bild und seine Geschichte

Die Aufnahme der Familie Ebstein (Abbildung 6)[10] stammt vom 8. November 1936 und hat ihre eigene Geschichte. Es ist ein familienhistorisch sehr bedeutendes Bild. Das Foto ist eine Zusammenstellung mehrerer Ausschnitte einer Aufnahme, die auf der Hochzeit von Sigismund Ebstein, einem Onkel von Alex, im ersten Stock eines Lokals gemacht wurde.[11] Daher ist auch das genaue Datum noch bekannt. Sigismund Ebstein heiratete in Breslau Charlotte Schrent. Die Trauung war zuvor in der jüdischen Synagoge von Breslau vorgenommen worden, als diese noch genutzt werden konnte.

Der in Südamerika lebende Bruder seiner Frau vermittelte den beiden ein Visum zur Auswanderung nach Paraguay. So konnten Sigismund und seine Frau noch vor dem Brand der Synagoge, zu einer Zeit als Juden die Auswanderung noch möglich war, Deutschland verlassen. Sie nahmen das Familienfoto mit.

Da es ihnen in Paraguay nicht gefiel, zogen sie nach kurzer Zeit nach Uruguay. Nach dem Krieg ließen sie sich dann in den USA nieder. Das Familienfoto reiste mit und zählte weiter zu ihren ganz besonderen Wertgegenständen. Jahre später fand das Foto seinen Weg zurück nach Deutschland. Sigismund schenkte es seinem Neffen Alex, als er ihn 1967 in Deutschland besuchte. Er war sich darüber im Klaren, welchen Wert das Foto für Alex haben würde, der nichts aus seinem Elternhaus hatte retten können.[12]

Alex wird von der öffentlichen Schule verwiesen

Ab etwa 1936 wurden auch Alex und seine Familie mit der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung konfrontiert, die sich nun auch in Breslau langsam bemerkbar machte.

„Die Diskriminierung der Juden begann langsam und in kleinen Schritten.“

Abb. 6: Das Familienfoto: Eva, Alex, Adolf und Rachel Ebstein (von links nach rechts), 8. November 1936

1936, Alex war zehn Jahre alt, beauftragte ihn sein Vater, einen goldenen Familienring zu verkaufen, um dessen Wert vor den Nationalsozialisten zu schützen. Den Ring hatte schon der Großvater von Alex getragen. Die Familie trennte sich schweren Herzens von dem Erbstück und erhielt dafür den Goldpreis.

Im selben Jahr wurden alle jüdischen Schüler und Lehrer[13] von den Breslauer Schulen verwiesen, auch Alex war davon betroffen. Die Juden Breslaus richteten daraufhin eigene Schulen ein. Breslau lag in Preußen und war der preußischen Hauptstadt Berlin unterstellt. Eigene Schulen waren noch bis zum Polenfeldzug 1939 möglich, erinnerte sich Alex.[14]

Alex begegnet Adolf Hitler

1938 besuchte Adolf Hitler Breslau. Viele Menschen versammelten sich auf den Straßen, um den „Führer“ zu sehen und zu bejubeln. Es hieß: „Kinder gehören nach vorne“, weshalb auch der zwölfjährige Alex in die erste Reihe gestellt wurde. Aber er jubelte Hitler nicht zu.[15] Wegen seines familiären Umfeldes sah er in Hitler keine Glanzgestalt. Die Familie von Alex stand Hitler äußerst kritisch gegenüber. Obwohl Adolf Ebstein, der 1933 als jüdischer Deutscher noch wählen durfte, national eingestellt war, hatte er sein Kreuz bei der SPD gesetzt. Wie damals bei vielen Deutschen hing auch im Hause Ebstein ein Porträt des 1925 zum deutschen Reichspräsidenten gewählten Paul von Hindenburg, der allgemeine Sympathie und Anerkennung genoss.[16]

Verlust von Arbeit und Wohnung, Einführung des „Judenstempels“

1938, das Jahr, in dem die Breslauer Bevölkerung Adolf Hitler zujubelte, verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bevölkerung weiter. So untersagte die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 jüdischen Bewohnern unter anderem die selbstständige Führung von Betrieben.

Alex’ Vater führte als gelernter Textilkaufmann einen erfolgreichen Betrieb, in dem Arbeitskleidung hergestellt wurde.[17] 1938 enteigneten die Nationalsozialisten den Betrieb, wodurch die Familie ihre wirtschaftliche Existenz verlor. Adolf Ebstein musste nun Schwerstarbeit bei der Firma Koschnik im Gleisbau leisten, um weiter für seine Familie sorgen zu können. Die Familie konnte die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen und zog in eine günstigere Unterkunft. Fortan lebten sie in einer Zweizimmerwohnung in Breslau, Zimmerstraße 6.[18]

Alex erlebte, wie er, seine Familie und andere jüdische Bürgerinnen und Bürger zunehmend diskriminiert wurden: das Verbot, auf „Arierbänken“ im Park zu sitzen, ins Schwimmbad oder Kino zu gehen, Fahrrad zu fahren oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, die öffentliche Verunglimpfung als Mörder und Kinderschänder oder die Plünderung einer jüdischen Drogerie in seiner Nachbarschaft. Die Nationalsozialisten nahmen Juden wie auch Andersdenkenden die Würde.

„Das Ganze war unglaublich. Du darfst in kein Lokal mehr gehen, in keine Trambahn mehr einsteigen, kein Tier mehr halten. Man wurde völlig entwürdigt, war nichts mehr wert. Das Ganze lief ab wie eine vom Staat in Gang gesetzte, unaufhaltsame Maschinerie.“

Alex war es auch verboten, schwimmen zu lernen, weil er als Jude keinen Zugang zu den Schwimmbädern mehr hatte. Deshalb machte er erst viele Jahre später, nach seiner Pensionierung, einen Schwimmkurs.

Auch wenn Alex nicht aus einem streng religiösen Elternhaus kam, war er gläubig und betrachtete das Judentum als seine geistige Heimat. Der zunehmende Antisemitismus[19] löste bei ihm keinen religiösen Konflikt aus. Viele streng gläubige jüdische Deutsche dagegen waren innerlich zerrissen; einige verloren sogar ihren Glauben an Gott. Alex stellte die Existenz Gottes nicht infrage.

Alex betrachtete es als Vorteil, den Diskriminierungen in einer Großstadt wie Breslau ausgesetzt gewesen zu sein. Er verglich sein damaliges Umfeld mit dem von Imo Moszkowicz[20], der in einer Kleinstadt gelebt hatte, und konnte so in der ihm eigenen Art seiner Situation etwas Positives abgewinnen. Alex’ Blick war selbst in für ihn diskriminierenden Situationen auf positive oder entlastende Aspekte gerichtet.

Abb. 7: Juden wurden im Deutschen Reich immer mehr entrechtet. Zum Beispiel wurde ihnen mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 die selbstständige Führung eines Handwerksbetriebs mit Wirkung zum Jahresende 1938 untersagt. Die Abbildung zeigt an einer Wand im NS-Dokumentationszentrum München angebrachte Texte.

„Ich habe das selbst ebenfalls durchgemacht. Nur waren die Eindrücke für Imo härter als für mich, weil er sie in einer Kleinstadt erlebte.Ich habe sie dagegen in Breslau, einer Großstadt erlebt, also in einer gewissen Anonymität.“

Ab 1938 versahen die deutschen Behörden alle Reisepässe von Juden mit einem roten „J“ [Jude], um die Einführung der vom Schweizer Bundesrat verlangten Visumspflicht für deutsche Staatsangehörige zu verhindern.[21] Grundlage der Regelung war die „Verordnung über Reisepässe von Juden“ vom 5. Oktober 1938.

Durch den „Judenstempel“ war es möglich, jüdische Deutsche an den Grenzübergängen als solche zu identifizieren. Dies konnte je nach den Bestimmungen des Ziellandes bedeuten, dass den betroffenen Juden die Einreise verweigert wurde und sie damit weiter der Verfolgung in Deutschland ausgesetzt waren.

Alex über die weitreichende diskriminierende Wirkung des Stempelaufdrucks:

„Hitler hatte allen Juden die Staatsangehörigkeit genommen und diese durch das ‚J‘ im Pass ersetzt.“

Von der Bar-Mizwa bis zur ersten KZ-Erfahrung

Als aufmerksamem Zeitungsleser entging Alex der Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Mai 2010 nicht, in dem über die Einweihung einer Synagoge in Breslau berichtet wurde. Alex berührte der Bericht besonders, erinnerte er ihn doch an seine Kindheit. In der Breslauer Synagoge hatte Alex im April 1938 im Alter von zwölf Jahren[22] das erste Mal aus einer jüdischen Schriftrolle vorgelesen.

Anlass war die Bar-Mizwa, die Anerkennung als vollwertiges Glied der jüdischen Gemeinde, vergleichbar mit der Konfirmation in der evangelischen Kirche. Als Bar-Mizwa wird sowohl der Tag, an dem ein jüdischer Junge[23] die religiöse Mündigkeit erreicht, als auch der Status der religiösen Volljährigkeit bezeichnet. Alex erhielt an diesem Tag seinen weiteren, jüdischen Namen „Zwi“ für die Gottesdienste in der Synagoge. Der Name bedeutet „Gazelle“ und sollte ihn mit Gott verbinden.

Alex erinnerte sich noch gut an den besonderen Tag. Die Thora[24] war so gerollt, dass die zu lesende Stelle sichtbar war. Mit einem Stab, an dessen Ende sich eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger befand, wurde Alex angezeigt, was zu lesen war.[25]

Unter den Augen der Öffentlichkeit setzten die Nationalsozialisten noch im selben Jahr (1938) die Innenräume der Synagoge in Brand. Die Beobachter machten keine gehässigen Bemerkungen. Ihnen war die Rechtswidrigkeit des Geschehens offenbar klar. Auch fünf Jahre nach dem Machtantritt Hitlers hatten sich in Breslau Teile der Bevölkerung nicht oder noch nicht vom Geist des Antisemitismus und der Intoleranz anstecken lassen.

„Als die Synagoge in Breslau in Brand gesetzt wurde, schauten Hunderte von Beobachtern schockiert zu.“

Anfang November 1938 wurden alle jüdischen Männer aus Breslau, darunter auch Alex’ Vater, in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Viele Juden wurden wieder entlassen; Adolf Ebstein ließ man nach etwa zwei Monaten, Weihnachten 1938, wieder frei.

Adolf Ebstein hatte wie viele andere jüdische Männer, darunter auch sein Bruder Sigismund, Deutschland im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front „gedient“. Er konnte sich deshalb nicht vorstellen, dass der deutsche Staat jüdische Deutsche wie ihn vernichten würde. Lange war er fest davon überzeugt, ihm könne nichts passieren. „Ich habe doch Deutschland im Weltkrieg gedient.“ Dass er aus dem KZ Buchenwald wieder freigelassen wurde, schien seine Sichtweise zu bestätigen.

Die zwischenzeitlichen Entwicklungen sprachen jedoch eine andere Sprache. Am 9. November 1938 hatte die Verfolgung der Juden mit der Reichspogromnacht einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. In Paris hatte Herschel Grynszpan, ein jüdischer Jugendlicher, den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath ermordet. Die deutschen Nationalsozialisten missbrauchten das Attentat auf den Botschaftssekretär als Vorwand für Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland und Österreich, das im März 1938 in das Deutsche Reich eingegliedert worden war.

„In dieser Nacht brannten überall in Deutschland die Synagogen. Nationalsozialisten demütigten und misshandelten jüdische Bürger und verwüsteten ihre Wohnungen und Geschäfte. Die Polizei griff nicht ein. Etwa 400 Juden wurden in dieser Nacht ermordet […]. Über 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet, davon 25.000 in Konzentrationslager verschleppt.“[26]

Die Breslauer Synagoge „Zum Weißen Storch“

Die Synagoge an der Wallstraße wurde im Volksmund „Zum Weißen Storch“ oder kurz „Storch“ genannt, nach dem Gasthaus, das zuvor auf dem Grundstück nahe der Breslauer Altstadt gestanden hatte. Die zentrale Synagoge war 1829 eingeweiht worden, um die zuvor meist privaten Bethäuser zu ersetzen. Nach dem Bau einer neuen Synagoge in den Jahren 1866 bis 1871 wurde sie auch Alte Synagoge genannt. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden die Neue Synagoge und alle noch bestehenden jüdischen Bethäuser Breslaus zerstört. Nur der „Storch“ blieb verschont und überstand die NS-Zeit. Die schon damals historische Synagoge war umgeben von bedeutenden alten Gebäuden, die in Mitleidenschaft gezogen worden wären, wenn man die Synagoge abgebrannt hätte. Allerdings wurden die Innenräume ausgebrannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verwahrloste die Synagoge mehr und mehr. Nach umfassender Sanierung wurde die Storch-Synagoge im Jahr 2010 erneut eingeweiht.

Abb. 8: Die Breslauer Synagoge „Zum Weißen Storch“, 2010

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 radikalisierten die Nationalsozialisten ihre Judenpolitik. Den offiziell als „Reichsfeinde“ bezeichneten jüdischen Bürgern war es nicht mehr erlaubt, während der Sperrstunden[27] ihre Wohnung zu verlassen. Sie durften kein Radio und kein Telefon mehr besitzen und erst nach 15.30 Uhr einkaufen.

„Die Graupe“

Die Familie von Alex wohnte in Breslau zuletzt in der Innenstadt. Auf seinem Weg zur Schule ging Alex jeden Tag am Gefängnis vorbei. Es wurde „Die Graupe“ genannt, weil es sich an einer Straße befand, die „An der Graupe“ hieß. Ab März 1938 war Gertrud Pötzinger als verfolgte Zeugin Jehovas im Breslauer Gefängnis inhaftiert. Sie verbrachte dort dreieinhalb Jahre in Einzelhaft und danach mehrere Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück. Nach dem Krieg lernte Alex Gertrud Pötzinger und ihren Mann, den Münchner Martin Pötzinger, persönlich kennen.[28] Es folgten zahlreiche Begegnungen der Ebsteins mit dem Ehepaar Pötzinger. Alex erwähnte wiederholt, dass er als Kind täglich an dem Gefängnis vorbeigegangen sei, in dem Gertrud Pötzinger zur selben Zeit inhaftiert war, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Im Rückblick hatte „Die Graupe“ für ihn eine andere Bedeutung erhalten. Gertrud und ihr Mann Martin, der sich damals, ab Juli 1938, im KZ Dachau und ab September 1939 im KZ Mauthausen befand, sollten nach der Befreiung eine große Rolle im Leben von Alex spielen.

Alex’ Mutter nimmt die vorbereitete Ausreise in die USA nicht wahr

Als gebürtige New Yorkerin mit amerikanischer Staatsangehörigkeit hätte Rachel Ebstein, die Mutter von Alex, in die USA auswandern können. Die dafür vom NS-Staat geforderten 10.000 USD – damals ein Vermögen – waren 1941 bereits zu diesem Zweck hinterlegt. Wie Alex weiter erzählte, durfte seine Mutter nach Aussage der Berliner US-Botschaft als US-Amerikanerin ausreisen. Rachels Ehemann und den Kindern, die nicht US-Amerikaner waren, war das jedoch vonseiten der Vereinigten Staaten nicht erlaubt. Doch ohne Ehemann und Kinder wollte Alex’ Mutter nicht ausreisen. Hätte die US-amerikanische Botschaft die Ausreise der ganzen Familie genehmigt, so hätte sich diese der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entziehen können.

Abb. 9: Alex im Alter von zehn Jahren, 1936

„Meine Mutter hätte allein ausreisen sollen. Sie hätte dann von den USA aus die Ausreise der Familie organisieren können. Das wäre gut möglich gewesen.“

Alex Ebstein

KAPITEL 2

Ermordung der Familie – Leiden in Auschwitz

„Wer Auschwitz überlebte, hat es nur durch Wunder überlebt.“[1]

Noah Klieger, jüdischer Auschwitz-Überlebender

Kriegsausbruch und Schließung der jüdischen Schule

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 nahm Alex die gegen Juden gerichteten Repressalien immer deutlicher wahr. Alex erzählte, wie 1941[2] auch die jüdische Schule in Breslau, in der er unterrichtet worden war, geschlossen wurde. Die Schließung wurde damit begründet, dass das Gebäude als Lazarett für verwundete Soldaten benötigt würde.[3] Alex konnte sich noch daran erinnern, wie sich die Rektorin seiner jüdischen Schule in einer Ansprache mit bewegenden Worten von den Schülern verabschiedete.

Obwohl erst 15 Jahre alt, wurde Alex dienstverpflichtet und fortan in einer Schreinerei eingesetzt, einem Betrieb mittlerer Größe mit etwa zwanzig bis dreißig Mitarbeitern. Die Tätigkeit war ihm vom Arbeitsamt zugeteilt worden; jeder Jude musste arbeiten, berichtete Alex.

Im Erlass des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Friedrich Syrup, vom 20. Dezember 1938 hieß es: „Der Staat hat kein Interesse daran, die Einsatzkraft der einsatzfähigen arbeitslosen Juden unausgenutzt zu lassen und diese unter Umständen aus öffentlichen Mitteln ohne Gegenleistung zu unterstützen.“ Der Erlass bildete für etwa drei Jahre die Basis für den Arbeitszwang deutscher Juden. Die Reichsarbeitsverwaltung verfügte über die alleinige Autorität der Planung und Durchführung der antijüdischen Maßnahmen. Zur Umsetzung des Programms benötigten die Arbeitsämter die Unterstützung von öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen.[4]