Under Your Rain - Jasmin Hoffmann - E-Book

Under Your Rain E-Book

Jasmin Hoffmann

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Beschreibung

»Wenn man einmal begriffen hat, dass es kein weiterer Tag, sondern bloß einer weniger ist, fällt es einem leichter, zu verstehen, was wirklich wichtig ist im Leben.« Noch in tiefer Trauer um ihren verstorbenen Mann versucht Adelaide Bell, für ihren Sohn und ihre Freunde stark zu sein. Denn für die unterkühlte Hotelinhaberin steht nicht nur ihre Existenz auf dem Spiel, sondern auch das Sorgerecht für ihren Sohn – ein Kampf, für den sie mental kaum gewappnet ist. Nicht nur ihr dickköpfiger Bad-Bitch-Charakter und ihr schlechter Ruf in Great Cambrae kommen ihr dabei in die Quere, sondern auch der attraktive neue Koch des Outsider’s, der nicht nur ein dunkles Geheimnis hütet.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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1 Adelaide
2 Eric
3 Adelaide
4 Eric
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27 Eric
28 Adelaide
29 Eric
30 Adelaide
31 Eric
32 Adelaide
Danksagung

Jasmin Hoffmann

 

Under Your Rain

(Band 2)

 

 

Under Your Rain

 

 

 

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

Lektorat: Madlen Müller

Korrektorat: Désirée Kläschen und Vera Schaub

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag unter Verwendung von Motiven von 123rf

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für all die, die auch noch auf ihr Happy End warten.

Seid geduldig – es wird kommen.

Hinweis

 

In Under your Rain werden Themen wie Trauer, Tod und Panikattacken sensibel behandelt.

1 Adelaide

 

Wenn man glaubt, es könnte nicht mehr beschissener werden, sollte man sich selbst eine runterhauen, bevor man Türen und Fenster verschließt, sich ins Bett verkriecht und die Decke über den Kopf zieht, nur um die Welt für einen kurzen Augenblick auszuschalten. Denn ganz ehrlich? Beschissener ging immer!

Obwohl heute kein besonders beschissener Tag war – nein. Es war eine beschissene Woche, eingebettet in einen beschissenen Monat, garniert mit einem beschissenen Jahr, als Beilage zu einem beschissenen Leben! Und was mich am meisten ankotzte, war meine beschissene Einstellung dazu, dass ich alles so beschissen fand. Obwohl ganz tief in meinem scheißdepressiven Monolog eine kleine, wirklich leise Stimme mir zuzurufen versuchte, dass das Leben, welches ich als ach so beschissen empfand, durchaus eine fette Spur Schönheit bereithielt.

Quasi eine beschissene Schönheit.

»Aufstehen, Addi. Es ist bereits Mittag und Hunter muss von der Schule abgeholt werden.« Quinns immerzu fröhliche, aber auch sehr beruhigende Stimme zog mich aus dem verworrenen Haufen Dunkelheit, in dem ich mich, wie ein Embryo eingekugelt, versteckte. Sie zupfte sanft an meiner Decke. Als ich mich nicht regte, schmiss sie sich neben mich und schob ihren Kopf zu mir in meine Höhle. »Hey.«

Ich blinzelte sie an, woraufhin wie von selbst ein kleines Lächeln an meinen Mundwinkeln zu zupfen begann. Schon vom ersten Augenblick an, seit diese Frau in das Outsider’s gekommen war, hatte ich befürchtet, dass sie Veränderung bedeuten würde. Und aus Gründen, die ich mir nicht erklären konnte, war ich dafür bereit gewesen. Bereit, sie in mein und Hunters Leben zu lassen. Bereit, ihr die Zügel zu überreichen und die Kontrolle abzugeben, zumindest einen großen Teil davon. Und ich hatte es bis heute nicht bereut.

Denn egal, wie dunkel es war, egal, wie sehr ich in düsteren Gedanken schwelgte – egal, wie selbstbezogen und ignorant ich mich aufführte –, ihre Anwesenheit erinnerte mich daran, dass es Hoffnung gab. Dass die Welt nicht verloren war. Dass es noch Menschen gab, die genug Leichtigkeit und Freude in sich trugen, um meine Wahrnehmung der Gesellschaft ein wenig zu erhellen.

Sie war meine rettende Taschenlampe in der Dunkelheit.

»Wie gehts dir?« Der blumige Duft ihres Shampoos schlug mir entgegen und erinnerte mich daran, dass für mich heute so was von ein Großaufgebot von Hygiene auf der Tagesordnung stand.

»Beschissen«, hauchte ich und versuchte, meine hart klingende Antwort mit einem kleinen Lächeln abzumildern.

»Okay«, antwortete sie und erwiderte mein Lächeln. Ein Ritual, welches sich in letzter Zeit eingeschlichen hatte. Jeden Tag fragte sie mich, wie es mir ging, und jedes Mal reagierte ich gleich. Und obwohl jeder andere mittlerweile genervt von meiner Negativität gewesen wäre, antwortete sie einfach mit ›Okay‹. Mehr nicht. Ihre Augen zeigten mir allerdings eindeutig, dass sie mich so lange nach meinem Befinden fragen würde, bis sich meine Antwort änderte.

»Und was machen wir heute an diesem beschissenen Tag?«

Aufstehen. Durchhalten. Weitermachen. Für Hunter da sein. Nicht zerbrechen.

Ich seufzte und schlug die Decke zurück, sodass die sanfte Herbstsonne auf unsere Gesichter fiel. »Wenn ich das nur wüsste, Schneewittchen. Vielleicht wäre der Tag dann weniger beschissen«, grummelte ich stattdessen und hoffte, dass die schwache und in letzter Zeit eher selten gesichtete Sonne meine Stimmung etwas hob.

»Addi …« Zum ersten Mal gelang es ihr nicht, ihren sorgenvollen Tonfall zu unterdrücken. Mit einem aufgesetzten Grinsen wandte ich mich ihr zu und zupfte an meinem silberblonden Haar, welches einen einzigen Knoten darstellte, da diese Nacht genauso hart wie die Nächte zuvor gewesen war. »Duschen. Ich muss auf jeden Fall duschen«, versuchte ich ihr eine alternative Antwort zu bieten – ein armseliger Versuch, ihre aufflammende Sorge abzumildern. Ich wusste, dass sie nicht so dämlich war, um darauf reinzufallen, und trotzdem hoffte ich, damit durchzukommen.

»Und dann hole ich meinen Sohn aus diesem Bunker von Schule.« Mit diesen Worten tapste ich die Wendeltreppe hinauf ins Bad und versuchte dabei nicht in das noch immer sorgenvoll verzogene Gesicht meiner Freundin zu blicken.

 

 

2 Eric

 

»Das Rauchen auf dem Schulgelände ist verboten!«, wies mich eine dunkelhaarige Mutti in einem beigen Cardigan freundlich bestimmend zurecht.

»Zum Glück, oder?« Ich lehnte am Maschendrahtzaun, der das graue Backsteingebäude umgab, stieß den Qualm meiner Zigarette aus und schenkte Mutti-Besserwisser ein schiefes Grinsen. »Stellen Sie sich mal vor, die ganzen Zweitklässler würden den schönen Schulhof vollaschen. Wo wäre da die Vorbildfunktion?«

Etwas verunsichert wickelte sie sich in ihre Strickjacke, bevor sie eingeschnappt wieder abdackelte. Erneut zog ich an meiner Kippe, ließ den Blick über den Hof gleiten und versuchte dabei, den neugierig und leicht empört verzogenen Gesichtern der Mütter-Mafia nicht zu viel Beachtung zu schenken. Die ersten verließen bereits den Schulhof, als jemand wie ein Blitz an mir vorbeisauste. Der Blitz steuerte auf eine Frau im Bleistiftrock zu, neben ihr ein kleiner Junge, der nervös an seinem Rucksack herumzupfte. Solange, bis der Blitz mit dem eisblonden Haar sich zu ihm herunterbeugte, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Der Junge wich dem Blitz mit gesenktem Kopf aus, woraufhin Ms. Bleistiftrock begann, auf eisblonder Blitz einzureden. Ich konnte nicht hören, was besprochen wurde, doch wirkten alle Beteiligten eher angespannt und eisblonder Blitz nickte durchgängig, während sie versuchte, den Ärmel des Jungen zu fassen zu bekommen, um ihn mit sich zu ziehen.

»Hoffentlich passiert endlich einmal etwas. Ich kann nicht glauben, dass so etwas geduldet wird.«

Mit gesenktem Kinn lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Dreier-Konstellation aus Müttern, die neugierig ihre Köpfe zusammensteckten und sich an dem offensichtlichen Krisengespräch zwischen Ms. Bleistiftrock und eisblonder Blitz zu ergötzen schienen.

»Letzte Woche hat Tyler mir ein Schimpfwort um die Ohren gepfeffert, und als ich ihn gefragt habe, wo er das herhabe, hat er gemeint, dass dieser Junge es gesagt hätte. Könnt ihr das glauben?«

»Er hat einen schlechten Einfluss auf unsere Kinder, das wird hoffentlich nicht länger geduldet.«

»Bei dieser Mutter ist das auch kein Wunder. Man muss sie nur ansehen und schon weiß man, wo der Junge dieses Verhalten herhat. Eine Psychopathin durch und durch.«

Mich von dem gehässigen Gelächter der Müttergruppe abwendend, bekam ich mit, wie eisblonder Blitz nach der Hand ihres Sohnes griff und sich von Ms. Bleistiftrock entfernte. Doch riss der Junge sich von ihr los und flitzte an mir vorbei durch das Tor. Anstatt ihm hinterherzueilen, ließ eisblonder Blitz ihre schmalen Schultern heruntersacken und setzte sich erst nach einem tiefen Atemzug langsam in Bewegung, um ebenfalls den Schulhof zu verlassen.

Tick, Trick und Track neben mir bot diese Situation natürlich die perfekte Vorlage, um ihrem frustrierten Dasein frischen Wind zu verschaffen. Wie in einer Sitcom drehten sie sich zeitgleich zu eisblonder Blitz herum und verschränkten demonstrativ ihre Arme vor ihren eng in den Cardigan gewickelten Brüsten.

Was hatten diese Mütter nur mit diesen Stickjacken?

»Wie fühlt es sich an, wenn sogar der eigene Sohn vor einem davonläuft?« Eisblonder Blitz verlangsamte ihren Schritt und beäugte das schnatternde Trio mit einem frostigen, kalten Blick, der sogar mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Ich könnte euch sagen, was für eine unglaubliche Befriedigung es für mich wäre, wenn ihr vor mir davonlaufen würdet.« Die beängstigende Härte in ihrem Ausdruck, an der selbst ein Eispickel zerbrochen wäre, verschlug dem gehässigen Gespann endgültig die Sprache. Mir ein Grinsen verkneifend, blies ich erneut den Qualm in die Luft, als eisblonder Blitz, kurz nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, direkt neben mir verharrte und ausdruckslos meine Zigarette beäugte. Wortlos zog ich die Schachtel aus meiner Jackentasche und hielt sie ihr entgegen. Ihr träger Blick heftete sich darauf, bevor sie danach griff. Doch anstatt sich eine Zigarette zu nehmen, entwendete sie mir die Schachtel und ließ sie mit unbewegter Miene zu Boden fallen, bevor sie diese unter ihrem Fuß zerquetschte.

Süffisant grinsend ließ ich meine Kippe in meinem Mundwinkel hüpfen. »Die darf ich aber behalten, oder?«

Ihre wolkengrauen Augen musterten mich kurz und ich wappnete mich für eine erneute unerwartete Reaktion ihrerseits. Allerdings blieb diese aus. Stattdessen vergrub sie ihre Hände in ihrer dunkelgrauen Jeansjacke und rauschte an mir vorbei. Der Duft von Mandelblüten vermischte sich mit dem in der Luft hängenden Nikotingeruch. Noch immer schmunzelnd sah ich ihr so lange hinterher, bis sie an der nächsten Ecke verschwand.

 

 

 

3 Adelaide

 

Es war nicht mal ein Uhr und schon jetzt kam mir der Tag so ermüdend vor, als wäre ich bereits zwölf Stunden auf den Beinen. Genervt rauschte ich an Quinn vorbei, deren Blick mir fragend folgte, während sie die Pflanzen im Foyer goss.

»Wo ist Hunter?« Sie tat so, als würde sie meine miese Laune nicht bemerken, dabei war sie nicht zu übersehen.

»Bei Hattie.« Ich versuchte, den ziehenden Schmerz in meiner Brust zu ignorieren. Versuchte, mir einzureden, dass die Ablehnung meines Sohnes nur eine Phase sei. Eine Phase, die vorübergehen würde.

Die Menschen in Millport waren, seit sie von dem Verfahren von Lukes Eltern gegen mich gehört hatten, noch grausamer geworden. Jeden Tag ließ ich ihre giftigen Blicke und einfallslosen Kommentare über mich ergehen. Gab mir Mühe, ihre Mutmaßungen, ihr Urteil und ihre Gehässigkeit in jedem gesprochenen Wort zu ignorieren. Aber auf einer kleinen Insel außerhalb der Urlaubssaison passierte nicht oft etwas Neues, weshalb sie sich auf die brisanten Neuigkeiten stürzten wie eine verfressene Möwe auf ein Stück Brot, um sich daran zu ergötzten, mich leiden zu sehen. Und das Schlimmste daran war, dass ich mich fühlte wie das verdammte Brot, welches sich langsam in ihren Eingeweiden zersetzte und dann als ein ekelhafter Haufen Scheiße auf der Promenade landete.

Ich versuchte es. Ich versuchte wirklich, jeden Tag den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren. Bemühte mich so sehr, vor allem für Hunter. Denn er war derjenige, der im Moment am meisten litt. Mein kleiner unschuldiger Sohn, der es von allen Seiten abbekam, nur weil ich mich nach dem Tod seines Vaters nicht hatte zusammenreißen können. Nur weil ich mich meiner Trauer hingegeben und dadurch offensichtlich versagt hatte.

Lukes Tod war auf der Insel aktueller denn je, seit meine Schwiegereltern beschlossen hatten, sich das Outsider’s und auch meinen Sohn zu krallen. Die Gerüchteküche brodelte, und das, obwohl die beiden die Insel nicht einmal betreten hatten. Die Kinder in der Schule bedrängten Hunter täglich mit Flöhen, die ihnen von ihren Eltern ins Ohr gesetzt worden waren. Zogen ihn auf. Hänselten ihn. Und dass alles wegen mir. Weil er der Sohn einer Psychopathen-Mutter war, die seinen Vater in den Tod getrieben hatte. Und obwohl seine Mitschüler so grausam zu ihm waren, dass er sich komplett von mir zurückzog, blieb trotzdem er der Schuldige.

Passte man nicht in die Masse, war man das Problem. Ganz einfach. Ganz simpel.

Und ich fühlte mich dabei so machtlos. Wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte, egal, was ich auch tat, es schien immer das Falsche zu sein. Denn er begann an mir zu zweifeln. Ich spürte, wie er langsam anfing, den gemeinen Sprüchen Glauben zu schenken. Und das führte dazu, dass in meinen gutherzigen, mitfühlenden Sohn die Wut Einzug hielt. Wut auf die anderen Kinder. Wut auf die Schule. Wut auf mich.

Er rebellierte, angestachelt von seiner Traurigkeit. Er wehrte sich. Beschimpfte die Kinder, verteidigte mich, obwohl er die ganze Situation selbst nicht wirklich verstand. Doch schlug diese Phase schnell um, in Ignoranz und Isolation. Er zog sich komplett zurück, in der Schule wie auch vor mir. Die Einzigen, mit den er noch redete, waren Hattie, Cole und Quinn, was mich einerseits beruhigte, aber anderseits auch unglaublich traurig stimmte. Denn keine Mutter wollte für ihren Sohn eine Enttäuschung sein. Auch heute hatte seine Lehrerin Ms. Pinch mit mir sprechen wollen. Mindestens zweimal die Woche wurde ich mittlerweile zu einem Gespräch zitiert. Diese Woche empfand Ms. Pinch es für notwendig, ein gemaltes Bild von Hunter genauer zu analysieren, welches sie für sehr ›besorgniserregend‹ hielt. Seltsame dunkle Wesen, die für mich wie die Dementoren aus Harry Potter aussahen, flogen um ein Bett herum, in dem ein kleiner Junge schlief. Ich musste keine verdammte Therapeutin sein, um die Message dahinter erkennen zu können.

Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob es sie wunderte, dass mein Sohn, der täglich Gerüchten und Mobbing ausgesetzt war, nachts von Albträumen heimgesucht wurde und das in Bildern zu verarbeiten versuchte. Doch stattdessen nickte ich ihren Vorschlag, Hunter dem Schulpsychologen vorzustellen, ab und schluckte meine verächtlichen Kommentare herunter. Vermutlich meinte sie das alles nur gut, aber an jedem einzelnen Tag, an dem sie mit meinem Sohn an ihrer Seite mitten auf dem Schulhof auf mich wartete, um mir erneut zu erklären, für wie ›besorgniserregend‹ sie Hunters Verhalten hielt, malte sie uns eine fette Zielscheibe direkt auf den Rücken. Gab dem Aas Futter für ihren Nachwuchs.

»Bringt Cole ihn später zurück?«, riss Quinns ruhige Stimme mich aus meinem Gedankenkreisel und ließ mich zusammenzucken. Ihre Miene verzog sich leicht besorgt, nahm mein Nicken aber hin, als wäre nichts gewesen. »Gut. Ähm, übrigens, es hat sich jemand auf die Stellenanzeige gemeldet.«

Überrascht hob ich den Blick. »Ehrlich?«

Sie nickte, jetzt etwas fröhlicher gestimmt, und kam zu mir an den Empfangstresen.

Vor etwa einem Monat setzten wir eine Anzeige ins Internet, in der wir einen mittelmäßig guten Koch suchten, um unsere Hotelgäste zukünftig mit mehr als nur Frühstück zu bewirten und uns gleichzeitig etwas Last von den Schultern zu nehmen. Oder besser gesagt, um Quinn zu entlasten. Ich hatte mich zunächst dagegen gewehrt, doch verdeutlichte Cole mir in einem sehr ernsten Gespräch, dass etwas passieren musste, wenn ich nicht wollte, dass Quinn irgendwann kraftlos zusammenbrach. Sie war immer stets mit Eifer dabei, um das Image des Outsider’s aufzupeppen, aber wie sie nun einmal war, steckte sie zu viel Energie in dieses Projekt. Zu viel Energie in Aufgaben, die ich hätte erledigen sollen.

Quinns Ehrgeiz sorgte schließlich dafür, dass sich tatsächlich hin und wieder Touristen in unser Hotel verirrten und für ein bis zwei Nächte ein Zimmer buchten. Es war ein Erfolg und ein kleiner Lichtblick für uns gewesen. Doch nach der langen Episode des Leerstandes wurde uns bewusst, dass wir einiges an unserer Struktur und Organisation verändern und im Idealfall verbessern mussten. Und um in Zukunft den Ansprüchen der Gäste gerecht werden zu können, benötigten wir, wohl oder übel, einen Koch.

»Ja, er hat sich heute Morgen gemeldet. Ich habe ihn für morgen eingeladen. Sein Lebenslauf klang nicht schlecht«, verkündetet sie mir mit heiterer Miene, offensichtlich mit der Erwartung, dass diese Info auch meine Laune heben würde.

»Ich habe morgen einen Termin mit Mr. Murray«, erklärte ich etwas abweisend, da sich mein Magen zu verknoten schien bei der Vorstellung, jemand Fremden in unser Zuhause zu lassen. In unsere kleine Blase von Leben.

»Oh, Mist. Ich könnte …«

»Nein, schon gut«, unterbrach ich sie. »Sprich du mit ihm, und wenn du ihn gut findest, dann stell ihn ein.«

Irritiert blinzelte sie mich an. »Aber …«

»Schneewittchen, ich bin aktuell wirklich nicht gut auf Menschen zu sprechen.« Ich klickte mich abwesend durch die Reservierungen der Woche, um sie in mein Handy zu übertragen, damit ich zumindest den Ansatz von Struktur wieder in mein Leben bekam. Da Quinn nichts erwiderte, hob ich meinen Blick und zu meinem bereits verknoteten Magen bohrte sich ein rostiges Messer in mein Herz, als ich in ihren großen karamellfarbenen Augen pure Enttäuschung erkannte. Ich seufzte, doch bevor ich etwas sagen konnte, ergriff sie das Wort. »Du darfst nicht aufgeben, Addi.« Kurz senkte sie den Kopf, um sich meinem scharfen Blick für ein paar Sekunden zu entziehen, ehe sie entschlossen ihr Kinn anhob. »Ich weiß, es ist alles im Moment etwas …«

»Scheiße?«, half ich ihr. Sie schluckte und nickte mit leicht gerunzelter Stirn. »Ja, genau … aber du bist nicht allein. Nicht jeder Mensch ist … scheiße. Es gibt da draußen auch noch die Guten.«

Ihr Versuch, mich aufzumuntern, erwärmte mein kaltes Herz ein klein wenig, weshalb ich mich bemühte, wenigstens einen zuckenden Mundwinkel hinzubekommen.

Ich versagte.

»Ich mache mir Sorgen um dich.« Diesmal bohrten sich ihre Augen tief und undurchdringlich in meine und ich wagte es nicht, den Kopf zu senken, egal wie sehr mein Körper gerade danach verlangte. Ein feuchter Schimmer benetzte ihre Augen, den sie auch nicht zu verstecken versuchte.

»Au Backe. Das musst du nicht. Ich bin schon ein großes Mädchen, so wie du, schon vergessen?« Diesmal zwang ich meine Mundwinkel, sich ohne Widerspruch zu heben, und griff über den Tresen nach der blassen Hand meiner Freundin. »Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir gut ginge, Schneewittchen. Aber es ist etwas übertrieben, dass ihr euch um mich sorgt. Ich habe alles im Griff. Außer all das, was ich offensichtlich nicht im Griff habe.« Ich zuckte mit den Schultern und verzog amüsiert mein Gesicht.

Quinn blinzelte und erwiderte halbherzig mein Lächeln. »Wirklich?«, hakte sie nach, obwohl ich sah, dass sie mir nicht glaubte, egal was ich jetzt antworten würde.

»Ja doch!« Die Augen verdrehend drückte ich ihre Hand. »Ich will, dass du das Bewerbungsgespräch führst, weil ich dir vertraue. Außerdem laufen wir dann nicht Gefahr, dass ich ihn sofort vergraule. Ist schließlich nicht jeder so hartnäckig wie du.« Sie erwiderte den Druck meiner Finger und endlich bekam ich ein ehrliches Lächeln von ihr geschenkt. Die Erinnerung daran, wie sie damals vor mir gestanden und eisern – verzweifelt – darauf gehofft hatte, einen wirklich beschissenen Job zu bekommen, sorgte für eine Spur angenehme Wärme in mir, während mein verknoteter Magen etwas lockerer wurde. »Wenn jemand eine gute Menschenkenntnis besitzt, dann ja wohl du.«

Verlegen senkte sie ihr Kinn, doch konnte ich erkennen, dass sie sich geehrt fühlte, bevor sie ihren Kopf hob und erneut nickte.

 

 

Mit einem schnaufenden Atemzug schob sich Keir Murray die kleine Lesebrille die knubbelige Nase hoch, bevor er mich unverwandt ansah. »Mrs. Bell, Sie müssen wirklich versuchen, Ihr Verhalten anzupassen.«

»Addi.«

Fragend zog er seine buschigen Augenbrauen in die Höhe.

»Du Keir. Ich Addi«, gab ich wie ein Mensch mit deutlich reduzierten Gehirnzellen von mir, während ich von ihm auf mich deutete. Seine Schultern sackten leicht herunter, als er sich zurücklehnte, die Brille abnahm und sich seufzend über die wässrigen Augen fuhr. »Gut, Addi. Sie müssen anfangen, den Prozess ernst zu nehmen«, begann er erneut seine irgendwie väterliche Ansage.

»Okay, gut.« Ich klang patzig. Benahm mich wie ein pubertäres Gör. Frei nach dem Motto, wenn ich mir die Augen zuhielt, dann geschah um mich herum auch nichts. Doch leider war das absolut nicht mehr der Fall. Die Welt drehte sich weiter, scheiß egal, was ich tat oder nicht tat.

»Wie geht es Ihnen … ähm, dir?«, versuchte er seine Taktik, leider viel zu offensichtlich, zu ändern.

»Top und selbst?«

Ein Brummen entschlüpfte seiner Brust, bevor er sich hochhievte und auf seinen Teekocher zuging, um sich eine Tasse einzuschenken. Dann kam er mit schwerfälligen Schritten wieder zurück, reichte mir das dampfende Getränk und setzte sich in seinen Sessel. Kurz beobachtete er mich, wie ich an der Tasse nippte, griff dann wieder nach seiner Brille und sah mich erneut eindringlich an. Diesmal mit einer Spur mehr Ernsthaftigkeit. »Ich bin ein verdammt guter Anwalt …«

»Deswegen bin ich hier«, unterbrach ich ihn, presste aber schnell die Lippen fest aufeinander, als sein Blick ernster wurde.

»Aber ich bin Anwalt und kein Zauberer, Addi. Ich brauche deine Mitarbeit, wenn du diesen Prozess gewinnen willst.«

Ich nickte nur.

Als sei mir das nicht bewusst.

Die Ellbogen auf die Knie gestützt, verschränkte er seine Finger ineinander. »Darf ich dich daran erinnern, um was es hier geht? Wir sprechen von deiner Existenz und deinem eigen Fleisch und Blut. Das Outsider’s, ein Etablissement, welches du und dein verstorbener Mann gemeinsam aufgebaut haben. Nicht nur ein Hotel, sondern auch ein Zuhause. Und Hunter. Willst du ihn verlieren? Willst du …«

»Es reicht!« Die Härte meiner Stimme durchbrach schneidend seine Ansprache. Seine wirklich schmerzhafte, ehrliche Ansprache.

Verdammte Scheiße.

»Es reicht«, kam es jetzt etwas gedämpfter und eindeutig geknickt über meine Lippen. »Ich hab’s kapiert.«

Ich hatte kapiert, was dieser Prozess bedeutete. Hatte kapiert, was man mir vorwarf und was mein Versagen für Konsequenzen haben würde. Für mich, aber auch für Hunter. Wir könnten alles verlieren. Unser Leben könnte von jetzt auf gleich vollständig auf den Kopf gestellt werden und trotzdem bockte ich noch immer rum wie ein stures Kind. Eine dämliche Reaktion, die daher rührte, dass mein Leben mich in regelmäßigen Abständen mit kleinen, aber oft auch großen Enttäuschungen überrascht hatte. Irgendwann resignierte man. Stumpfte ab.

Vor zwei Monaten aber war ich in einem Stadium meines Lebens angelangt, welchem ich den Titel ›euphorisch naiver Hoffnungsschub‹ verpasste. Ein Stadium, in dem ich kurz geglaubt hatte, dass sich der Witz von meinem Leben in eine andere Richtung gewendet hatte. In eine bessere. Nach Jahren in einem Heim und weiteren Jahren mit schlecht bezahlten Jobs und Einsamkeit in London. Nach dem Verlust von Luke, der ein enormes, aber viel zu kurzes Hoch in mein Leben gebracht hatte, nur um ein heftiges, verschlingendes Tief darauf folgen zu lassen, indem er einfach starb, hatte ich geglaubt, dass das Pensum an Scheiße endlich aufgebraucht war. Dann tauchte diese Frau auf, die wie ein verschissen heißes Schneewittchen um einen Job bettelte, der seit einem Jahr ausgeschrieben stand, in einem Hotel, welches keine Gäste bewirtete. Und mit ihr kehrte auch wieder ein Teil Leichtigkeit, Freude, aber auch Hoffnung in mein Leben zurück. Ein kleines Licht in der Dunkelheit, welches von Zeit zu Zeit etwas heller wurde.

Denn sie gab mir nicht nur den dringend benötigten Arschtritt, sondern es stellte sich auch heraus, dass sie meine verdammte mentale Stütze zu sein schien. Mein Halt in meinem wackeligen Konstrukt aus Scheiße.

Und ich war so dämlich gewesen zu glauben, dass derjenige, der unser aller Leben steuerte, vielleicht entschieden hatte, dass ich genug Leid erfahren und es mir verdient hatte, ab jetzt ein ruhigeres, ausgeglicheneres Dasein zu führen. Doch schien dieser Jemand sadistisch veranlagt zu sein oder hegte einfach einen enormen Groll gegen mich, denn er klatschte mir meine Hoffnung mit einem aufgerichteten Mittelfinger direkt ins Gesicht. Und nun saß ich hier, vor meinem Anwalt, dessen wässrige Augen mich energisch anblickten, um mir bewusst zu machen, dass ich mit Resignation überhaupt nichts erreichen würde.

»Was muss ich tun?«

Ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf seinem faltigen Gesicht aus, bevor er seine Papiere vor uns auf dem Tisch ausbreitete und mir seinen Plan zu erläutern begann.

4 Eric

 

Die Hände in den Hosentaschen vergraben, bog ich in die verwinkelte Gasse ein und staunte nicht schlecht. Die Bilder, die ich bisher vom Outsider’s gesehen hatte, wurden dem Original keineswegs gerecht. Es war nicht wie die typischen Hotels, die ich kannte, sondern wirkte eher wie ein kleines Bed & Breakfast. An der steinernen Fassade stach das schwarze Metall der Feuertreppe hervor und sorgte so für einen industriellen Flair, der mir gefiel. Überdacht wurde die Gasse von gespannten Solarlichterketten, die dieser vermutlich in der Dunkelheit eine nette Gemütlichkeit verliehen und die düstere Atmosphäre vertrieben.

Und auch das Innere des kleinen Hotels sorgte dafür, dass ich meinen Blick etwas zu lange durch den Raum schweifen ließ. Das Meer aus Grünzeug, das sich an fast jeder freien Stelle des Foyers befand, die eiserne Wendeltreppe, die den Industrieflair wieder aufgriff, die gemauerten, naturbelassenen Wände, die sich überlappenden Perserteppiche auf dem Boden, die kleinen Sitzgruppen aus alten gepolsterten Sesseln. All das warf in mir die Frage auf, wieso das Outsider’s nicht längst ein Geheimtipp unter Kurzurlaubern war. Schon beim Betreten des Eingangsbereiches brannte es in mir, herauszufinden, wie wohl die Zimmer ausgestattet sein würden.

»Hi. Wie kann ich dir helfen?«

Meine Augen lösten sich von den Wänden und wanderten zum Empfangstresen. Wenn man diesen so nennen konnte, da er aus mehreren alten aufeinandergestapelten Koffern bestand, auf die man eine dicke, unebene Holzplatte angebracht hatte. Mit langsamen Schritten ging ich darauf zu und nur das Räuspern der schönen dunkelhaarigen Frau ließ mich aufblicken. »Es verschlägt einem erst einmal die Sprache, nicht wahr? Ging mir ganz genauso, als ich das Outsider’s zum ersten Mal betreten habe.«

Mein charmantes Lächeln erschien, als sich unserer Blicke trafen, woraufhin ich sofort in einen anderen Modus schaltete. »Ja, es gefällt mir«, antwortete ich und ließ die Hand über die naturbelassene Holzplatte des Tresens fahren.

»Dann werden dir die Zimmer genauso gefallen.« Sie begann, etwas in den Computer einzugeben, bevor mir bewusst wurde, dass sie zu glauben schien, ich sei ein Gast, der einchecken wollte.

»Das mag sein, allerdings bin ich nicht hier, um Urlaub zu machen.«

Ganz im Gegenteil sogar.

Irritiert sah sie auf, die Stirn leicht gerunzelt. Sie war eine wirklich schöne Frau, mit ihrem blassen Teint und den dunklen Haaren.

»Ich bin Eric Lynch.«

Sofort flammte Erkenntnis in ihren Augen auf. »Oh! Ja … natürlich.« Ihre kurze Unsicherheit verschwand, bevor sie sich eine Mappe schnappte und um den Tresen herum auf mich zukam. »Hey, Eric, ich bin Quinn und führe heute das Gespräch mit dir.«

Ihr Blick glitt für einen kurzen Augenblick über meine Aufmachung, da sie vermutlich nicht damit gerechnet hatte, dass ihr zukünftiger Koch mit Basecap, schwarzem Pulli und zerrissener Jeans zu einem Bewerbungsgespräch auftauchen würde. Kurz überlegte ich, ob ich die Cap abnehmen sollte. Da meine Augen durch den nach hinten gedrehten Schirm nicht verborgen wurden, entschied ich mich schließlich doch dagegen. Ich folgte der auffälligen Schönheit zu einem der Tische, die um die Wendeltreppe herum platziert waren. »Möchtest du etwas trinken?« Ich bejahte ihre Frage, und nachdem sie mir einen Kaffee besorgt hatte, ließ sie sich vor mir in den Sessel nieder und schlug ihre Mappe auf. Sie wirkte nervöser als ich, obwohl ich doch derjenige war, der aufgeregt sein sollte.

»Bist du die Inhaberin?«, durchbrach ich die leicht angespannte Stille, um sie etwas aufzulockern und ihr einen Einstieg in unser Gespräch anzubieten. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf ihren vollen, rosigen Lippen, die besonders hervorstachen, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, ich bin nur eine Angestellte. Adelaide Bell ist die Inhaberin des Outsider’s. Sie ist allerdings verhindert, weshalb du heute mit mir vorliebnehmen musst.«

»Ich denke, damit komme ich gut klar.« Ich schenkte ihr mein schiefes Grinsen und lehnte mich locker in dem Sessel zurück. Ihre Wangen erröteten leicht, bevor sie den Blick auf die Papiere senkte und offensichtlich versuchte, den Faden in die richtige Richtung zu finden.

»Also, Eric. Ich kenne zwar deinen Lebenslauf, aber vielleicht kannst du mir trotzdem einfach kurz etwas über dich erzählen.« Man merkte ihr an, dass sie so etwas zum ersten Mal machte und überhaupt keine Ahnung hatte, was sie da tat. Trotzdem nickte ich und richtete mich etwas auf. »Ich komme ursprünglich aus London.«

»Oh, wirklich? Woher genau?«

»Brixton.«

»Oh …« Ihre Miene verzog sich mitleidig. Offensichtlich kam sie ebenfalls aus London und wusste, dass dieses Viertel nicht wirklich zu den Touristenspots gehörte. Mit den Schultern zuckend winkte ich ihre Reaktion ab. »Meine Mutter starb früh, und da mein Vater ein leidenschaftlicher Musiker war, der allerdings mehr Leidenschaft als Erfolg besaß, musste ich relativ früh ebenfalls Geld verdienen. Mit sechzehn begann ich meine Ausbildung zum Koch und jobbte dann in unterschiedlichen Restaurants, mal mehr und mal weniger anspruchsvoll.«

Sie nickte, doch schien ihr Lächeln jetzt etwas angespannter. »Ja, dein Lebenslauf ist lang, weshalb ich mich gefragt habe, wieso du so oft und auch in relativ kurzen Abständen den Job gewechselt hast.« Es fiel ihr nicht leicht, mich kritisch zu hinterfragen. Offensichtlich gefiel ihr die Rolle der lockeren Gesprächspartnerin besser, doch wollte sie vernünftigerweise auch nicht die Katze im Sack kaufen.

Sie war ein netter Mensch, aber keinesfalls naiv.

»Mein Vater wurde krank und ich musste mich um ihn kümmern. Die einen Arbeitgeber hatten mehr, andere weniger Verständnis dafür.« Ich zuckte mit den Schultern, um ihr zu zeigen, dass dieses Thema keine große Sache mehr für mich war, und hoffte, dass sie es einfach ruhen lassen würde. Denn ich hatte wirklich keine Lust, ihr hier und jetzt mein Herz auszuschütten.

Sie schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln und senkte kurz ihre Lider. »Verstehe. Es steht mir vielleicht nicht zu, dich das zu fragen, aber kommst du mit der Distanz zu deinem Vater klar? Versteh mich nicht falsch, aber falls wir dich einstellen sollten, sind wir auf dich angewiesen …« Sie brach ab, da sie offensichtlich nicht noch unsensibler werden wollte.

»Nope. Ist kein Thema mehr. Er ist tot.«

Ihre Augen weiteten sich geschockt, während sie sich gleichzeitig eine Hand auf den Mund presste. Erschüttert schüttelte sie ihren Kopf und rang um Worte. Um dieser trübsinnigen Situation die Absurdität zu nehmen, zog ich einen meiner Mundwinkel in die Höhe. »Mieser Stimmungskiller, ich weiß.«

»Um mein unsensibles Verhalten zu überspielen, würde ich vielleicht einfach vorschlagen, dass wir in die Küche gehen und du mich mit deinem Essen überzeugst?«, fragte sie zerknirscht, bevor sie sich schnell aufrichtete und die ganzen Papiere auf dem Tisch zusammenklaubte. Eilig wandte sie sich der Wendeltreppe zu und bedeutete mir, ihr zu folgen.

Die Küche war nicht besonders groß, aber auch nicht so klein wie erwartet. Sie wirkte eher wie die Küche eines normalen Wohnhauses mit ihren petrolfarbenen Holzfronten und der großen Kochinsel in der Mitte.

»Ja, das wäre dann dein Arbeitsbereich. Aktuell bieten wir unseren Gästen nur Frühstück an, doch wir wollen unser Angebot erweitern und ihnen zusätzlich ein Abendessen ermöglichen. Allerdings ist Addi eine wirklich miese Köchin und außerdem haben wir nicht genug Zeit, es allein zu schaffen. Also, Eric Lynch – überzeug mich.« Mit ausgestreckten Armen deutete sie auf den großen Kühlschrank und ließ sich dann breit grinsend auf einen der Hochstühle an der Kochinsel sinken.

Im Nu zauberte ich ihr eine Gemüselasagne, und als sie sich die Gabel in den Mund schob und genüsslich die Augen schloss, wusste ich, dass ich gewonnen hatte.

»Wow, die ist köstlich!«

»Schneewittchen?«, unterbrach sie die Mezzosopran-Stimme, die sich bereits fest in mir verankert hatte, bevor Quinn ihre Gabel erneut in der Lasagne versenken konnte.

»Küche«, rief sie der Treppe entgegen und steckte sich die Gabel in den Mund.

Adelaide Bell, der eisblonde Blitz mit dem frostigen Blick und der ausdruckslosen Miene, kam die Wendeltreppe herunter und ließ sich nur kurz anmerken, nicht damit gerechnet zu haben, jemand weiteren hier anzutreffen.

»Addi, das ist …«, begann Quinn mit vollem Mund und kicherte entschuldigend mit einem Blick in meine Richtung.

»Eric Lynch. Hey«, übernahm ich Quinns Versuch, mich vorzustellen, und ging selbstbewusst mit einem lässigen Grinsen auf Adelaide zu, um ihr die Hand zu reichen. Doch anstatt sie, wie ein Mensch mit Anstand, zu ergreifen und mich willkommen zu heißen, musterte sie mich bloß mit trägen Lidern aus ihren mandelförmigen Augen. Meine Hand ignorierend ging sie einfach an mir vorbei, um sich ebenfalls eine Gabel aus der Schublade zu nehmen.

»Okay«, hauchte ich etwas überfordert und wandte mich langsam den beiden Frauen zu, gerade in dem Moment, in dem Adelaide von der Lasagne kostete. Quinn nickte ihr gespannt grinsend zu, als führten die beiden eine wortlose Konversation miteinander, die ich nicht wirklich verstand.

»Au Backe.«

War ›Au Backe‹ gut oder schlecht?

Ich war ein selbstbewusster, oft überheblicher Kerl, doch diese Frau schaffte es gerade, in dieser Sekunde, Zweifel an mir und meinen Fähigkeiten zu wecken. Mein Blick wanderte zwischen Quinn und Adelaide hin und her, um deren stummer Konversation zu folgen und herauszufinden, wo genau ich stand.

Quinns Grinsen wurde breiter, als Adelaide genervt ausatmete, die Gabel in die Spüle feuerte und Anstalten machte, an mir vorbeizurauschen. Direkt neben mir hielt sie kurz inne und der Duft von Mandelblüten kroch mir erneut in die Nase. Ein dezenter, nicht aufdringlicher Geruch, der mir irgendwie gefiel.

Ihre wolkengrauen Augen fixierten die meinen, nachdem sie sich argwöhnisch auf mein Basecap geheftet hatten. »Geraucht wird nur in der Pause, kapiert?«, machte sie mir zu verständlich und ich konnte nicht widerstehen, ihr mein schelmisches, schiefes Grinsen zu schenken, während ich nur nickte, da sie keine Freundin großer Worte zu sein schien. Dann rauschte sie davon und mein leicht verunsicherter Blick richtete sich auf Quinn, die sich noch immer über die Lasagne hermachte. Als sie es bemerkte, schluckte sie schnell herunter und schenkte mir ein breites Lächeln. »Oh, sie wollte eigentlich sagen: Herzlich willkommen im Outsider’s. Auf gute Zusammenarbeit, Eric Lynch!«

 

 

Beim Verlassen des Outsider’s zündete ich mir eine Kippe an und zog zeitgleich mein Handy aus der Hosentasche. Ein sanfter Nieselregen setzte ein, der mich aber nicht störte, während ich am Hafen entlangschlenderte und beobachtete, wie das Meer leicht aufbrauste. Es war ein seltsames Bewerbungsgespräch gewesen. Einfach, aber auch anders als erwartet. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Adelaide das Gespräch mit mir führen würde, da sie die Inhaberin des Hotels war. Allerdings glaubte ich, dass es ohne Quinn Bird wesentlich schwieriger gewesen wäre, diesen Job zu bekommen, da es nicht so einfach zu sein schien, Adelaide Bell hinters Licht zu führen.

Und trotzdem hatte ich es geschafft – fürs Erste.

»Ich bin drin«, informierte ich die Person am anderen Ende der Leitung und beendete das Gespräch, ohne auf eine Antwort zu warten.

 

 

 

5 Adelaide

 

Nachdem wir uns den Rest der Gemüselasagne einverleibt hatten, die wirklich unfassbar gut schmeckte, brachte Quinn Hunter ins Bett, während Cole und ich uns vollgegessen auf mein Sofa schmissen.

»Wie ist der Stand der Dinge?« Eine Frage, deren Antwort so ausschweifend und frustrierend sein konnte, dass ich schon jetzt zu müde war, sie ihm zu geben. Weshalb ich nur mit den Schultern zuckte und den Fernseher anschaltete, da ich die angespannte, mitleidsgetränkte Stille nicht länger ertrug. Doch Cole zog die Fernbedienung genervt aus meinen Händen und drehte sich demonstrativ in meine Richtung. »Addi, das gefällt mir nicht.«

»Ach ja? Ich find’s wirklich super!«, warf ich ihm bissig entgegen und funkelte ihn wütend an.

»Hunter ist nicht mehr er selbst. Er spricht kaum noch, und wenn nur mit Quinn oder Hattie. Er sieht dich nicht einmal mehr an. Er leidet und du – verdammt noch mal – tust das auch. Es muss etwas passieren!«

Dachte er, ich wüsste das nicht? Glaubte er, mir wäre das alles nicht bewusst?

»Und was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?« Herausfordernd blickte ich in seine hellblauen Augen, aus denen langsam die Wut wich. Stattdessen machte sich verzweifelte Ahnungslosigkeit darin breit. »Dann bist du genauso weit wie ich.« Zufrieden über seine stumme Einsicht ließ ich mich in die Polster sinken und streckte ihm meine geöffnete Handfläche entgegen. Irritiert griff er nach meiner Hand, bevor ich sie angewidert wegwedelte. »Die Fernbedienung, du Depp!«

Ein Kichern ließ uns aufsehen, und als Quinn die Treppe herunterkam und sich zwischen uns in die Polster sinken ließ, schien sich der Knoten in meinem Magen leicht zu lockern. Cole legte einen Arm um sie, zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Mein Herz zog sich etwas schmerzhaft zusammen, trotzdem schenkte ich meiner Freundin ein Lächeln, da sie mich nicht aus den Augen ließ und ich den beiden kein schlechtes Gefühl in meiner Nähe vermitteln wollte. Ich wollte, dass es möglichst entspannt zwischen uns blieb, vollkommen egal, wie ich mich fühlte oder was um uns herum passierte. Ich versuchte es zumindest.

»Addi, ich muss dich noch etwas fragen.« Entschuldigend verzog Quinn ihre Lippen und kniff fest die Augen zu. »Eric brauchte noch eine Unterkunft, also habe ich ihm ein Zimmer zugesagt, dessen Miete, mit einem winzigen Mitarbeiterrabatt, von seinem Gehalt abgezogen wird.«

Ausdruckslos blickte ich sie an, als sie vorsichtig eines ihrer Augen öffnete, um meine Reaktion sehen zu können. »Sein Vater ist gestorben und er hat kaum Geld, weil er so viele Schulden angehäuft hat für die Behandlungskosten, und er kennt hier noch niemanden und es wäre auch nur vorübergehend, bis er etwas Bezahlbares gefunden hat. Und außerdem wäre das auch eine Unterstützung für dich, falls Gäste in der Nacht noch etwas benötigen oder einchecken wollen, man könnte es in Schichten verteilen, quasi als Bereitschaftsdienst, und falls es nicht funktioniert, übernehme ich auch die volle Verantwortung, aber ich glaube, er passt ganz gut hier rein und …« Ihre Worte überschlugen sich fast, so schnell redete sie auf mich ein, bis sie verstummte. »Du bist sauer. Ich dumme Nuss. Ich hätte dich vorher fragen sollen, es tut mir leid. Du bist die Chefin und es ist dein Zuhause. Ich …« »Quinn.« Cole ergriff ihre Hand, da sie wieder begann, an ihrer Nagelhaut herumzuknibbeln, eine schmerzhafte Angewohnheit von ihr, wenn sie nervös wurde. Sie atmete tief durch, bevor sie ihren Blick wieder auf mich richtete. »Er wirkte irgendwie verzweifelt und hat es gleichzeitig heruntergespielt. Er hat sich nicht aufgedrängt oder so, was ihn aber irgendwie noch verzweifelter hat wirken lassen.«

Mein gutherziges, viel zu umsichtiges Schneewittchen.

Ich war nicht wirklich begeistert von dieser Neuigkeit und zunächst verspürte ich auch widerständige Wut in mir, welche allerdings sofort abflaute, als ich Quinns sanftmütige Mühe erkannte. Wie sie sich für einen vollkommen Fremden einsetzte, von dem sie glaubte, dass dieser Hilfe benötigte, ohne dass er darum gebeten hatte. Genauso wie noch vor Kurzem für mich. Ihre Argumente zerschlugen meine Zweifel und ließen mich resignierend mit den Schultern zucken. »Was soll’s.«

Erstaunt entglitten Quinn sämtliche Gesichtszüge, während Cole leicht den Kopf schüttelte und sich ein kleines Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.

»Also … darf er bleiben?«, fragte sie vorsichtig und blinzelte mich an, als würde sie darauf warten, dass ich mich in einen feuerspeienden Drachen verwandelte, der in ein paar Sekunden alles in Schutt und Asche legte.

»Ja. Wieso nicht? Wenn du glaubst, dass es das Richtige ist, dann soll es so sein«, erwiderte ich, anstatt alles abzufackeln, und zuckte erneut gleichgültig mit den Schultern.

»Das ist der Quinn-Effekt«, raunte Cole ihr mit gedämpfter Stimme ins Ohr, während er mich über ihre Schulter hinweg dankbar anlächelte.

Ich war müde. Zu müde, um mir ständig über alles Gedanken zu machen. Mich zu ärgern und aufzuregen. Misstrauen und Veränderung hin oder her. Es reichte mir, von den Leuten außerhalb dieser vier Wände argwöhnisch und mit Vorsicht betrachtet zu werden, das wollte ich nicht auch noch von den Menschen, die mir so am Herzen lagen. Von den Menschen, die mein Zuhause waren. Meine Familie. Was bedeutete, dass ich mich zusammenreißen musste. Für sie.

»Auch wenn ich jetzt Gefahr laufe, den Quinn-Effekt zu sehr auszureizen, wie war der Termin bei Keir?«, tastete Quinn sich vorsichtig heran. Ich atmete tief durch und spürte sofort, wie sie sich neben mir anspannte. Doch bevor sie wieder taumelnd drauflos plapperte, drehte ich ihr langsam mein Gesicht zu und schenkte ihr das beste unbesorgte Lächeln, was ich aktuell hinbekam, bevor ich nach ihrer Hand griff, an der sie bereits wieder zu knibbeln begann.

»Er hat gesagt, ich muss in nächster Zeit das brave Mädchen spielen.«

»Wir sind verloren«, stieß Cole verächtlich aus und kassierte von Quinn einen Stoß mit den Ellbogen in die Rippen.

»Klingt doch einfach«, antwortete sie mit ihrem unverhohlen lebhaften Gemüt.

»Für dich vielleicht«, grummelte Cole und zuckte erneut zusammen, als Quinn ihren Ellbogen abermals in seine Seite rammte. »Ja, klingt supereinfach!«

»Er hat recht, wir sind verloren«, stimmte ich Cole zu und nach fünf Sekunden angespannter Stille prustete Quinn drauflos und steckte uns an. Und für einen kurzen Moment genoss ich die Leichtigkeit, die uns umgab.

 

 

Ich wollte diese verdammte Ausgeburt des Teufels gegen die Wand schleudern und dabei zusehen, wie es in duzende kleine Stücke zersprang, während ich mich wieder herumdrehte, die Decke über den Kopf zog und sein Leiden ignorierte. Stattdessen schaltete ich den Wecker aus und schloss für einen kurzen Moment die Augen, erleichtert darüber, dass der schrille Ton des Teufelsteils nicht länger durch den Raum hallte. Es kam mir so vor, als wäre ich erst vor fünf Minuten eingeschlafen, was gar nicht so unrealistisch zu sein schien.

Und obwohl ich mich wie ein Haufen Matsche fühlte, nur mit noch weniger Konsistenz, zog ich mich an, fixierte mein Haar auf meinem Kopf, bis es mir gefiel, und überschminkte die dicken Augenringe. Dann schlich ich in Hunters Zimmer, kniete mich vor sein kleines Bett und nahm, für einen Augenblick, das Bild meines friedlich schlafenden Sohnes in mich auf. Stellte mir für diesen kurzen Moment vor, alles sei in bester Ordnung. Wünschte mir so sehr, dass er mich mit einem fröhlichen, verschlafenen Lächeln anblinzelte, während seine goldenen Locken wirr vom Kopf abstanden, nachdem ich ihn sanft geweckt hatte. Eine einzelne Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, die ich schnell wegwischte, bevor ich Hunter zaghaft das Haar aus dem Gesicht strich, um ihn zu wecken. Er regte sich leicht, kniff die Augen zusammen und blinzelte orientierungslos, bis er mich erkannte.

»Mummy?«, krächzte er heiser. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und erneut kullerte eine dämliche Träne über meine Wange. Ich nickte, wandte mein Gesicht ab und wischte schnell die lästige Flüssigkeit fort. Ich musste stark bleiben. Musste stark sein – für ihn.

Ich hörte das Kissen rascheln, als Hunter sich aufrichtete. Jedoch konnte ich nichts erkennen, da sich ein verschwommener Schleier über meine Augen gelegt hatte, der, egal, wie oft ich auch blinzelte, einfach nicht verschwinden wollte.

»Warum weinst du?«, fragte er leise und klang dabei etwas verunsichert.

Weil ich dich liebe. Weil ich Angst habe. Weil ich es nicht länger ertrage, eine Enttäuschung für dich zu sein. Weil ich müde bin.

Doch ich schüttelte bloß den Kopf und zwang mich zu einem zaghaften Lächeln.

»Ich will nicht in die Schule gehen«, gestand er mir, während er den Kopf senkte und niedergeschlagen an seiner Decke nestelte. Meine Kehle schnürte sich zu und ich schluckte krampfhaft. Ich wollte ihn in meine Arme ziehen und ihm versprechen, dass er nie wieder zur Schule musste. Dass er nie wieder irgendetwas tun musste, was ihm Unbehagen, Angst oder Sorge bereitete. Dass ich ihn beschützen und dafür sorgen würde, dass ihm niemand jemals mehr Leid antat. Aber wir befanden uns nicht in einem beschissenen Märchen und diese ermüdende Welt hatte mich zu einer eiskalten Realistin gemacht. Ich konnte ihm das alles versprechen und das Verlangen danach war wirklich groß, aber es wäre eine große Lüge. Denn niemand war vor dem Leid des Lebens sicher. Niemand würde es schaffen, für immer glücklich und zufrieden zu sein, und jeder würde Zeiten durchstehen müssen, die einem weder gefielen noch sich besonders angenehm anfühlten.

Das Einzige, was ich tun konnte, war, für ihn zu kämpfen. Für meinen Sohn da zu sein. Bis zum letzten Augenblick. Außerdem hatte Keir mir deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es war, ein besonders verantwortungsvolles Verhalten an den Tag zu legen, um niemandem einen Grund oder ein Argument zu geben, an meinen Fähigkeiten als gute Mutter zu zweifeln. Es ging mir zwar spürbar gegen den Strich, aber es war notwendig, um Hunter nicht zu verlieren.

Also atmete ich tief durch, presste meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und griff nach der kleinen Hand meines Sohnes. »Ich weiß.« Ich räusperte mich und mein Herz entspannte sich etwas, da Hunter sich mir nicht, wie erwartet, entzog. »Ich wollte auch nie in die Schule gehen, weißt du.«

»Waren die Kinder auch scheiße zu dir?«

Ich verkniff mir ein Grinsen und wusste, dass ich ihn eigentlich für seine Wortwahl tadeln sollte, aber ich tat es nicht. »Ja. Und ich war auch scheiße zu ihnen.«

»Es finden dich noch immer alle scheiße.« Eine Antwort, die mein Grinsen sofort gefrieren ließ und wie ein schwerer Stein in meinen Magen sackte. »Sie reden über dich. Sagen schlimme Dinge. Du wärst böse zu den Menschen gewesen. Mummy, warum bist du böse zu ihnen?« Meine Hände begannen leicht zu zittern und Hunter schien das zu bemerken, weshalb er sie kurz drückte. Er hatte die Einfühlsamkeit seines Vaters geerbt. Das war sein Glück.

»Wenn du nicht mehr böse zu ihnen wärst, vielleicht wären sie dann auch netter. Vielleicht würden dann die anderen Kinder mit mir spielen.«

Erneut rollten mir verzweifelte Tränen über die Wangen, bevor ich meinen Kopf ergeben in den Schoß meines Sohnes bettete und nickte. »Du hast recht. Es tut mir leid.« Ich wollte nicht länger der Grund dafür sein, dass mein Sohn litt. Wollte nicht länger von ihm ignoriert und enttäuscht angesehen werden. Konnte es nicht länger ertragen, dass er sich immer weiter von mir abwandte. Und wenn das bedeutete, dass ich die Rolle der verrückt gewordenen Witwe akzeptieren musste, dann würde ich das tun.

Seine warme Hand legte sich an meine Wange und wischte mir eine Träne weg.

»Ich werde netter sein, okay? Versprochen. Ich verspreche es.« Ich gab auf. Für ihn. Ich würde alles für ihn tun, und wenn das hieße, dass ich die nette, hinterlistige Vorzeige-Mutter spielen musste, würde ich das tun. Nur für ihn.

Vorsichtig legte er seinen Kopf auf meinen, Wange an Wange. »Danke, Mummy«, flüsterte er und mein Herz brach und wurde zugleich von seiner Nähe geheilt.

Während Hunter sich schließlich anzog, flitzte ich hinunter in die Küche, um ihm Frühstück zuzubereiten, da wir Zeit verloren hatten. Und eine Vorzeige-Mutti war schließlich immer pünktlich. Doch kaum hatte ich die Wendeltreppe verlassen, erstarrte ich.

»Guten Morgen, Sunshine.« Mit einem schelmischen Grinsen, von dem Eric Lynch anscheinend zu glauben schien, dass es sofort jedes weibliche Geschöpf feucht werden ließ, sah er von seinem Handy auf. Allerdings geriet es etwas ins Schwanken, als ich näherkam und sein Blick sich auf mein Gesicht heftete. Schnell wandte ich mich von ihm ab und steckte meinen Kopf in den Kühlschrank, um die Spuren meines kleinen Anfalls von Gefühlen, den ich noch vor wenigen Minuten gehabt hatte, vor ihm zu verbergen.

Verdammter Mist!

Ich hatte vollkommen vergessen, dass er heute seinen ersten Arbeitstag hatte und dementsprechend schon früh hier sein würde, um das Frühstück für unsere Gäste vorzubereiten.

»Suchst du etwas?«, unterbrach er meine schamerfüllte, nur ein wenig demütigende Reaktion mit einem deutlich belustigten Unterton. Da ich sowieso schon viel zu lange in den geöffneten Kühlschrank starrte, griff ich schnell nach den benötigten Zutaten für ein Sandwich und warf die Kühlschranktür zu, ohne dabei Erics Blick zu begegnen.

»Du bist kein Morgenmensch, was?« Lässig lehnte er sich neben mich gegen die Anrichte und erst glaubte ich, er wolle mich provozieren, doch schien er mehr Interesse daran zu haben, was ich da mit dem Toastbrot, dem Käse und dem Salat fabrizierte.

Da mich seine Anwesenheit nervös machte, weil sich mein mentales Selbst einfach noch ziemlich wund und sensibel anfühlte nach diesem emotionalen Morgen, holte ich schließlich tief Luft, bevor ich aufsah. Ich legte meinen besten Mittelfingerblick auf und funkelte Eric durchdringend an. Ich wollte, dass er zusammenschrumpfte wie eine verdammte Tomate, die man so lange in der Sonne hatte reifen lassen, bis sie ganz schrumpelig und trocken war. Allerdings prallte mein legendärer Blick anscheinend vollständig von ihm ab, da er nur fragend seine dunklen Augenbrauen in die Höhe zog und leicht den Kopf schüttelte. Als ich mich jedoch nicht regte, nicht einmal mit der Wimper zuckte, geriet sein Übermut ins Schwanken. Ergeben strich er sich über seinen Sieben-Tage-Bart, bevor er mit einem amüsiert wirkenden Ausdruck den Blick abwandte.

»Und ein Mensch großer Worte offensichtlich auch nicht.«

Machte er sich etwa über mich lustig? Benahm er sich so, weil er meine geröteten und geschwollenen Augen richtig interpretiert hatte und nun glaubte, ich wäre das schwache, heulende Frauchen, das man leicht aufziehen konnte? Es ging mir sowieso schon gegen den Strich, dass ich mich so unbedacht so angreifbar gemacht hatte, indem ich ihm aus Versehen eine Seite an mir gezeigt hatte, die sogar meine engsten Vertrauten nur selten zu Gesicht bekamen.

Gereizt und angestachelt von mir selbst, stieß ich den Atem aus und gleichzeitig das Messer in das Holzbrett, auf dem ich das Sandwich zubereitete. Dann wandte ich mich ihm betont langsam zu, neigte den Kopf leicht zur Seite und blickte ihm in seine tiefgrünen Augen, die von dem Messer, das im Brett steckte, zu meinem Gesicht huschten.

»Möchtest du herausfinden, was für ein Mensch ich bin?«, stieß ich schneidend aus und ließ ihn meine ganze angestaute Wut spüren. Ich würde ihm schon zeigen, wer von uns beiden das emotionale, verweichlichte Frauchen war! Außerdem nutzte ich diese Situation definitiv dazu, um all meine biestigen Emotionen an ihm auslassen, damit ich gleich in der Schule die falsch-fröhlichste Mutter sein konnte, die niemand mir zutraute.

Doch anstatt verängstigt oder verunsichert zu wirken, lehnte er sich ein wenig zu mir vor und verkleinerte damit den Abstand zwischen unseren Gesichtern.

»Wenn du mich so fragst«, antwortete er hauchend und ich spürte, wie mir meine harte Miene kurz entglitt, als sein warmer Atem gegen meine Lippen prallte. Sein dreckiges, schiefes Grinsen machte deutlich, dass auch er es bemerkt hatte. Doch anstatt sich triumphierend aufzurichten und über mich zu spotten, stieß er sich von der Anrichte ab und beugte sich noch näher zu mir herunter. So nah, dass ich das Bedürfnis verspürte, zurückzutreten, allerdings wollte ich aus diesem seltsamen Duell verdammt noch mal als Siegerin hervorgehen. Und Sieger wichen nicht zurück!

»Zeig mir, was für ein Mensch du bist, Adelaide«, raunte er, hielt dabei allerdings durchgehend meinem herausfordernden Blick stand. Auch wenn mich ein seltsamer Schauer durchfuhr, der mich leicht überforderte, und mein Magen sich fest zusammenzog, blieb ich standhaft. Eiskalt, frostig und undurchdringlich würde ich seine ungehobelte, arrogante Art unter mir zermalmen. Ich würde ihm nicht zeigen, dass mich sein Auftreten durchaus verunsicherte, würde ihm das Gefühl geben, bloß ein lächerlicher, mickriger Wurm zu sein, der sich selbst für eine gottgleiche Kobra hielt.

Weshalb ich das Verlangen, einen Schritt zurückzuweichen, verdrängte und mich stattdessen aufrichtete und damit seinem Gesicht und vor allem seinen Lippen gefährlich nahekam. »Du solltest aufpassen, was du dir wünscht«, wisperte ich mit warnendem Unterton in der Stimme und senkte meinen Blick kurz auf seinen Mund, der sich daraufhin leicht öffnete. Ein sanfter Atemzug entwich daraus, bevor er ihn wieder schloss und schluckte. Kurz wartete ich und machte mich auf einen weiteren abfälligen Kommentar von ihm gefasst. Jedoch blieb dieser aus.

Ich hatte gewonnen. Das konnte ich in seinen Augen sehen, die noch immer auf meinem Gesicht verweilten. Wie Sand in meinen Händen wartete er darauf, dass ich ihn entweder fest darin verschlossen hielt oder einfach achtlos durch meine Finger auf den Boden rinnen ließ.

Schließlich wandte ich mich mit ausdrucksloser Miene dem halb fertigen Sandwich zu und versuchte, weder dem aufgeregten Wirbeln in meinem Bauch noch dem verdattert starrenden Koch neben mir Beachtung zu schenken.

 

 

 

6 Eric

 

Shit!

Das war verdammt heiß und gleichzeitig unglaublich seltsam und beängstigend gewesen. Wer hätte gedacht, dass Adelaide Bell eine Badass-Bitch war? Und was für eine!

Ich hatte geglaubt, leichtes Spiel zu haben, als sie mit verweintem Gesicht in die Küche gerauscht kam. Wollte sie provozieren und so ihre frostige Ignoranz und kühle Fassade durchbrechen. Normalerweise hatte ich ein gutes Händchen bei so was. Ich war jemand, der anderen Menschen gute Laune bereitete. Der ihnen ein Schmunzeln entlockte, auch wenn ihnen nicht danach war. Ich besaß das Talent, anderen ein gutes Gefühl zu vermitteln, ihnen einen Hauch Leichtigkeit vorzugaukeln und sie so dazu zu bringen, mich auf kurz oder lang einfach mögen zu müssen. Ich war brillant darin, das Vertrauen anderer zu gewinnen. Etwas, das die meisten hinterher bereuten. Etwas, das auch Adelaide Bell bereuen würde, wenn ich erst einmal mit ihr fertig war.

Doch offensichtlich entsprang sie einer seltenen, für mich noch unbekannten Spezies. Einer, die immun gegen meinen unverwechselbaren Charme zu sein schien. Einer, die schwerer zu knacken war als die anderen.

Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, nicht ein einziges Mal durchblicken lassen, dass sie diese plötzliche Nähe und geladene Spannung zwischen uns auch nur im Geringsten verunsichert hätte. Ihr Ausdruck war gleichbleibend kalt und abfällig gewesen. Wohingegen in mir ein Regenschauer der Klasse drei geherrscht hatte. Ein verdammt heißer, wohltuender und gleichzeitig aufregender Schauer, der mich anregte, mehr zu wollen. Tiefer zu gehen. Waghalsiger zu werden.

Doch aktuell stand ich noch immer neben ihr und starrte sie wie ein Trottel an, während sie ihr Sandwich halbierte und in eine Dose legte. Ihr eisblondes Haar hatte sie auf ihrem Kopf mit einer Spange fixiert, sodass ihr Nacken frei lag. Sie trug ein helles, grob gestricktes, lockeres Oberteil, durch das ihre Haut schimmerte und ein Tattoo auf ihrem linken Arm erahnen ließ. In ihrer schwarzen, ausgewaschenen Jeans kam ihr Hintern hervorragend zur Geltung und ich ließ es mir nicht nehmen, ihn eingehend zu mustern. Sie war eine schlanke, zarte Person, mit Kurven an den richtigen Stellen. Man konnte nicht leugnen, dass sie eine frostige Schönheit war. Eine verdammte Eiskönigin!

»Mummy?« Ich riss mich von Adelaides Hintern los und sah zur Wendeltreppe, durch dessen Geländer der kleine Junge vom Schulhof seinen Kopf schob und mich irritiert anblickte. »Wer bist du?«, fragte er geradeheraus.

Offensichtlich schien er nicht die abweisende Mentalität seiner Mutter geerbt zu haben.

»Niemand«, antwortete Adelaide für mich und verstaute die restlichen Zutaten im Kühlschrank. Doch als sie die Tür zuknallte, hielt sie abrupt inne, als sei ihr gerade etwas eingefallen. Genervt schloss sie die Augen und atmete tief durch.

»Das ist Eric. Er ist der neue Koch des Outsider’s«, erklärte sie, mit überraschender Weichheit in ihrer Stimme. Ihr plötzlicher Stimmungswechsel irritierte mich zwar, doch versuchte ich, mich nicht davon aus dem Konzept bringen und mir etwas anmerken zu lassen. Stattdessen ließ ich meinen Blick zu Hunter wandern, auf dessen Gesicht ein kleines Lächeln erschienen war. »Hi«, begrüßte er mich fröhlich und brachte meine Mundwinkel damit zum Zucken. »Hi.« Ich hob eine Hand zur Begrüßung, bevor Adelaide auf die Treppe zusteuerte und Hunter erklärte, dass sie zu spät kämen, wenn sie jetzt nicht gehen würden.

Kurz darauf tauchte Quinn in der Küche auf. Gut gelaunt und aufgeweckt, also quasi das komplette Gegenteil von der mürrischen, wortkargen Adelaide. Nach diesem Morgen schmiss ich meinen eigentlichen Plan vollständig über Bord, und anstatt mich auf Adelaide zu fokussieren, beschloss ich, mich fürs Erste auf Quinn zu konzentrieren. Die hübsche Brünette war zwar auch kein offenes Buch, aber wesentlich kommunikativer als der Eisblock Adelaide. Nach meiner Prognose sollte Quinn in ein paar Tagen so viel Vertrauen in mich haben, dass wir ein angemessenes, vielleicht etwas privateres Gespräch führen könnten. Also ließ ich meinen ganzen Charme spielen, während sie mir zeigte, was sie alles zum Frühstück anboten, mir aber zusicherte, in der Gestaltung und Variation in Zukunft vollkommenen Freiraum zu haben. Sie erklärte mir, dass die Gäste aus den Angeboten des Tages wählen konnten und ich es ihnen dann frisch zubereiten würde. Und während sie mit mir Punkt für Punkt meinen Arbeitstag durchging, bläute sie mir immer wieder ein, wie wichtig es sei, bei allem, was ich tat, den Gästen stets freundlich und zuvorkommend gegenüberzutreten. Mit dem Ziel, dass sie das Outsider’s mit einem Lächeln, guten Gefühl und möglichst einer positiven Bewertung im Internet verließen.

Nachdem das Frühstück beendet war – an dem bloß ein Pärchen teilgenommen und ich mich deswegen jetzt nicht wirklich überarbeitet hatte –, versuchte ich, mehr über das Outsider’s und dessen wenige Kundschaft herauszufinden. Denn obwohl ich bereits wusste, dass das Geschäft nicht gut lief, kapierte ich nicht, woran das lag. Quinns Schultern versteiften sich kurzzeitig und mir entging nicht, dass sie es vermied, mir ins Gesicht zu sehen, während sie um eine angemessene Antwort rang. Gerade als sie sich das dritte Mal räusperte, richtete sie sich langsam auf und zauberte sich ein etwas steif wirkendes Lächeln auf ihre Lippen. »Also …«

»Das geht dich einen Scheiß an und jetzt weniger reden und mehr arbeiten«, bekam ich zur Antwort, allerdings nicht aus Quinns schönem Mund. Sie und ich wandten uns gleichzeitig der Tür zu, in der Adelaide stand, in den Händen jeweils zwei volle Einkaufstüten.

»Addi!« Quinn blickte ihre Chefin tadelnd an, kassierte dafür allerdings nur ein genervtes Augenrollen. Unbeirrt ging ich schließlich einfach auf Adelaide zu und wollte – ganz der Gentleman – nach den schweren Einkaufstaschen greifen.

»Ich helfe dir«, erklärte ich ihr mein Näherkommen, und als meine Finger dabei ihre streiften, wich sie schnell einen Schritt zurück. Ich wagte kaum, mich zu bewegen, und sah mit noch immer gesenktem Kopf langsam zu ihr auf. Irritation und Entsetzen umspielten ihr sonst so ausdrucksloses Gesicht, was mich innerlich grinsen ließ.

Anscheinend konnte ich sie doch aus dem Konzept bringen.

Als sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte, rauschte sie kommentarlos an uns vorbei die Wendeltreppe herunter.

---ENDE DER LESEPROBE---