Unheilige Allianz - Thomas Schüller - E-Book

Unheilige Allianz E-Book

Thomas Schüller

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Beschreibung

Ein prominenter Kirchenrechtler ruft auf: schafft die Privilegien der Kirche ab!

Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden Kirchen an, die aber verfügen weiterhin über enorme Privilegien. Dem Staat kommt es gelegen, wenn Diakonie und Caritas soziale Aufgaben übernehmen, und sei es auf Kosten des Arbeitsrechts. Sexuellen Missbrauch verfolgt die kirchliche Justiz genauso halbherzig wie Veruntreuung – und die weltliche Justiz schaut zu. Dabei kassieren die Kirchen jedes Jahr eine halbe Milliarde Euro staatlicher Steuergelder, weil vor 200 Jahren ihre Klöster enteignet wurden. Für Thomas Schüller, führender Kirchenrechtler und streitbarer Kopf, profitieren beide Seiten von dieser Komplizenschaft. Aber die Gesellschaft hat sich verändert: höchste Zeit, dass dieser unheiligen Allianz ein Ende gemacht wird.

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Das ist das Cover des Buches »Unheilige Allianz« von Thomas Schüller

Über das Buch

Ein prominenter Kirchenrechtler ruft auf: schafft die Privilegien der Kirche ab!Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden Kirchen an, die aber verfügen weiterhin über enorme Privilegien. Dem Staat kommt es gelegen, wenn Diakonie und Caritas soziale Aufgaben übernehmen, und sei es auf Kosten des Arbeitsrechts. Sexuellen Missbrauch verfolgt die kirchliche Justiz genauso halbherzig wie Veruntreuung — und die weltliche Justiz schaut zu. Dabei kassieren die Kirchen jedes Jahr eine halbe Milliarde Euro staatlicher Steuergelder, weil vor 200 Jahren ihre Klöster enteignet wurden. Für Thomas Schüller, führender Kirchenrechtler und streitbarer Kopf, profitieren beide Seiten von dieser Komplizenschaft. Aber die Gesellschaft hat sich verändert: höchste Zeit, dass dieser unheiligen Allianz ein Ende gemacht wird.

Thomas Schüller

Unheilige Allianz

Warum sich Staat und Kirche trennen müssen

Hanser

Statt eines Vorworts: Die Lage ist ernst oder schon hoffnungslos?

Es steht nicht gut um die beiden ehemals großen Kirchen. Nur noch knapp unter 50 Prozent der Bevölkerung gehören ihnen an, Tendenz stark abnehmend. Immer weniger Kinder werden getauft, immer mehr Kirchenmitglieder treten aus, und die älteren Gläubigen sterben. Und dann auch noch das: Missbrauchsskandale und finanzielle Vetternwirtschaft, wie von Bischof Tebartz-van Elst in Limburg oder Bischof Hanke in Eichstätt praktiziert, führen zumindest für die katholische Kirche zu einem Vertrauensverlust nicht geahnten Ausmaßes. Im Ansehen der Bevölkerung rangiert sie inzwischen hinter der schon unbeliebten Versicherungsbranche. Auch der charismatisch gestartete und zunächst medial gehypte Papst Franziskus musste Federn lassen und führt sein Amt inzwischen nicht mehr unangefochten. Der mit viel Hoffnung gestartete Reformprozess des »Synodalen Weges«, eine Antwort auf die erkannten systemischen Ursachen für den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, endet vor den römischen Mauern, obwohl seine zarten Reformversuche im Bereich der Sexualmoral oder die Forderung nach einer auch nur symbolischen Beteiligung von Gläubigen an kirchlichen Leitungsentscheidungen wenig spektakulär erscheinen. Aber selbst kleinste Reformschritte werden sofort zurückgepfiffen. Für viele Beobachter der katholischen Kirche wirkt sie mit ihrem Mindset wie aus der Zeit gefallen. Die innerkirchlichen Polarisierungen zwischen den verschiedenen Blasen vom ganz rechten Rand — und dies darf durchaus auch allgemeinpolitisch verstanden werden — bis zu den Reformern lähmt die katholische Kirche, lässt sie wie in einem Stellungskrieg erstarrt und tot erscheinen.

Doch Totgesagte leben länger. Politische Entscheidungsträger lassen es sich weiterhin nicht nehmen, die Sternsinger Anfang des Jahres zu empfangen, um mit anrührenden Bildern der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass die Kirchen doch Gutes für die Gesellschaft und für die Kinder dieser Welt bewirken. Und selbst wenn sich Politiker:innen nicht mehr mit dem in die Kritik geratenen Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki ablichten lassen, fehlt doch bei keiner Eröffnung einer neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestags die ökumenische Andacht, bei der Vertreter:innen der beiden Kirchen die Abgeordneten und die Regierungsmitglieder geistlich auf eine dem Gemeinwohl verpflichtete Politik einschwören. Beide Büros der Kirchen in Berlin leisten bis heute eine diskrete, in Teilen immer noch wirkmächtige Lobbyarbeit für die kirchlichen Interessen. Doch halt: Kommen da nicht von der aktuellen Regierung unmissverständliche Signale der deutlichen Distanz zu den Kirchen? Während der langen Regierungszeit Angela Merkels gehörte es zum guten Ton der Berliner Politik, dass die Spitzen der Regierung und Opposition zum Michaelsempfang der katholischen Kirche kamen, um den Worten des weltgewandten Mainzer Kardinals Karl Lehmann zu lauschen. Diese Zeiten scheinen unwiderruflich vorbei: Beim letzten Empfang sah man zwar den Katholiken und Oppositionsführer Friedrich Merz, ansonsten aber nur die dritte und vierte Garnitur der Parteien, jedoch nicht den Kanzler oder ein Kabinettsmitglied, um dem gutmütigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing aus Limburg zuzuhören. Zeigt sich hier eine Entfremdung der herrschenden politischen Klasse von den beiden Kirchen, die man nicht mehr für gesellschaftlich relevant betrachtet? Ein Indiz könnte auch der aktuelle Koalitionsvertrag sein, der den Kirchen nur wenige Zeilen widmet, um anzukündigen, kirchliche Sonderrechte im Arbeitsrecht zu streichen. In der Tat: Konnte es sich ein Kanzler Kohl in Zeiten von Kardinal Höffner und Kanzlerin Merkel in Zeiten von Kardinal Lehmann einfach nicht leisten, sich in grundlegenden Fragen wie dem Schutz des ungeborenen Lebens oder der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gegen die katholische Kirche zu stellen, wollte man nicht erhebliche Wählerschichten verlieren, so wird diese gesellschaftspolitische Kraft der beiden Kirchen aktuell nicht mehr so ernst genommen, dass man auf sie irgendwie Rücksicht nehmen müsste. Beispielhaft steht hierfür der Plan der Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), den § 218STGB zu streichen. Dieses Ansinnen wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, zum einen, um nicht den gesellschaftlichen Frieden durch den gewonnenen Kompromiss der straffreien Abtreibung nach Beratung zu gefährden, und andererseits nicht in Konflikt mit der katholischen Kirche zu geraten. Es überrascht daher nicht, dass die reflexhafte Kritik von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an dieser Ankündigung ohne erkennbare Resonanz in der Berliner Politik verhallte.

Wie unübersichtlich die Lage augenblicklich allerdings noch zu sein scheint, wird an einem katholischen Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) in Baden-Württemberg deutlich. Er glaubt nicht nur, dass die katholische Kirche weiter ein wichtiger gesellschaftlicher Player sein wird, signalisiert bei der Ablösung von Staatsleistungen noch viel Geduld und die Bereitschaft, die bisher bewährte Praxis jährlicher Zahlungen noch länger fortzuführen, bürstet seinen Landesschülerrat ab, der statt Religionsunterricht mehr politische Bildung fordert, und attestiert den deutschen Bischöfen bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gute Fortschritte. Einen besseren Anwalt für ihre Interessen könnte sich die katholische Kirche in Deutschland nicht wünschen. Die meisten Themen, die zwischen Kirche und Staat ausgehandelt werden müssen, wie Religionsunterricht, theologische Fakultäten, kirchliche Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, zählen zu den Angelegenheiten der Länder. Dort spielt die Musik der Religionspolitik, nicht in Berlin. Und hier gehören die meisten politischen Eliten, geboren in den fünfziger bis siebziger Jahren der alten Bundesrepublik, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, einer der beiden Kirchen an. Katholisch sind Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz, SPD), Daniel Günther (Schleswig-Holstein, CDU), Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen), Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt, CDU), Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen, CDU), Anke Rehlinger (Saarland, SPD), Boris Rhein (Hessen, CDU); evangelisch sind Michael Kretschmer (Sachsen, CDU), Markus Söder (Bayern, CSU), Bodo Ramelow (Thüringen, Die Linke), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern, SPD) und Kai Wegner (Berlin, CDU). Peter Tschentscher (Hamburg, SPD) ist aus der katholischen Kirche ausgetreten, der er sich aber nach eigener Aussage weiterhin verbunden fühlt, ebenso Stephan Weil (Niedersachsen, SPD). Nur Andreas Bovenschulte (Bremen, SPD) scheint keiner Kirche anzugehören oder nahezustehen. Die meisten der Ministerpräsident:innen gehören also einer der beiden ehemals großen Volkskirchen an, und auch Finanzminister Christian Lindner, der aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, war es offenbar wichtig, auf Sylt vor einer evangelischen Pastorin zu heiraten — ein Umstand, der in beiden Kirchen zu hitzigen Diskussionen geführt hat, weil auch seine Braut, die Journalistin Franca Lehfeldt, aus der evangelischen Kirche ausgetreten war.

Wie steht es also um das Verhältnis der Kirchen zur Politik? Sind die goldenen Zeiten der politischen Wertschätzung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig vorbei, die geprägt waren von einem betont religionsfreundlichen Grundgesetz, das den Kirchen breite Handlungsspielräume im Bildungs- und Sozialbereich öffnete? Es geht in diesem Buch um eine Bestandsaufnahme einer Allianz, die schon lange nicht mehr heilig ist, weil Politik und Kirchen immer weiter auseinanderdriften, gleichzeitig aber durch vielfältige institutionelle Verflechtungen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Ich schreibe aus der Perspektive eines Theologen und Kirchenrechtlers, der aus Überzeugung der katholischen Kirche angehört und auch nicht vorhat, seiner Kirche den Rücken zu kehren. Das mag erklären, dass ich stärker auf die katholische Kirche eingehe, ohne dabei die evangelische Kirche zu vergessen. Zu meinen Erfahrungen zählen aber auch sechzehn Jahre in verantwortlicher Position in der bischöflichen Verwaltung im Bistum Limburg und als Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus, der durch sein Einstehen für den Verbleib der katholischen Kirche in der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung weit über die Grenzen seines Bistums hinaus bekannt geworden ist und heute hochbetagt in einer großen Behinderteneinrichtung im Rheingau als Seelsorger für diese Menschen lebt und arbeitet. In der Zusammenarbeit mit den beiden katholischen Büros in Mainz bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung und in Wiesbaden bei der Hessischen Landesregierung sind mir das politische Geschäft der katholischen Büros und ihre Themen auch praktisch gut vertraut. Dies ist also nicht das Buch eines Aussteigers, der über dunkle Machenschaften seines ehemaligen Dienstgebers plaudert, auch nicht ein Buch in der Machart weltanschaulicher Pressure-Groups wie der Humanistischen Union oder der Giordano-Bruno-Gesellschaft, deren erklärtes Ziel die Abschaffung aller Privilegien der beiden Kirchen ist. Auch wenn es um das Thema Kirchenfinanzen und Kirchenvermögen gehen soll, ist es kein »Violettbuch Kirchenfinanzen«1, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme noch immer fehlender Check-and-Balance-Standards bei der transparenten Verwaltung kirchlicher Finanzen, vor allem der mangelnden staatlichen Strafverfolgung von Bischöfen und ihren engsten Mitarbeiter:innen, die mit Vermögen untreu umgehen, das nicht ihnen, sondern den Gläubigen gehört. Ein aktueller Fall aus dem krisengeschüttelten Bistum Eichstätt zeigt, wie unzureichend noch immer die Vermögenskontrolle der Kirchen funktioniert.2 Es geht also einerseits um das Zusammenspiel von Politik und Kirchen in jüngster Vergangenheit, in Fragen der Kirchenfinanzierung, im Umgang mit kirchlichem Vermögen, bei der Aufarbeitung und strafrechtlichen Ahndung von sexualisierter Gewalt in den Kirchen, es geht um die Ablösung von Staatsleistungen, die Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechts an die Standards des staatlichen Arbeitsrechts und die oft schwierige Zusammenarbeit von Staat und Kirchen bei theologischen Fakultäten und Instituten an staatlichen Universitäten. Andererseits wird auch die Frage zu erörtern sein, inwiefern sich der Staat auf seinen verschiedenen Ebenen, vor allem der Länder und Kommunen, mit den einst großen Volkskirchen arrangiert hat und warum beide Institutionen augenscheinlich nicht voneinander lassen können. Die Ausgangsthese lautet daher und wird an den genannten Themenfeldern zu überprüfen sein:

Trotz des augenscheinlichen Bedeutungs- und Vertrauensverlustes der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland wird ihnen vom Staat — Bund, Ländern und Kommunen — noch ein (zu) großer Spielraum bei der Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten eingeräumt, insbesondere was die Themenbereiche Arbeitsrecht und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch angeht. In den Bereichen Bildung (Schulen, Kitas), Krankenhäuser und Pflege (Altenheime und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung), um nur die relevanten Sektoren zu nennen, können die Kirchen in der Bildungs- und Sozialpolitik immer noch erheblichen Einfluss auf die politischen Entscheidungen ausüben. Aber auch die Politik fürchtet parteienübergreifend den Tag, an dem sich die Kirchen auch wegen sinkender Kirchensteuereinnahmen aus diesen Bereichen zurückziehen, da dann die öffentliche Hand diese Staatsaufgaben übernehmen müsste, wenn nicht andere freie Träger zum Beispiel im Bereich der Wohlfahrtspflege einspringen können.

Dabei geht es nicht um eine Infragestellung der religionsfreundlichen Verfassung, die allen Religionsgemeinschaften in Art. 4GG, der das Menschenrecht der Religionsfreiheit normiert, individuell und gemeinschaftlich nach innen und außen eine große Freiheit gewährt, ihre religiösen Überzeugungen zu artikulieren und um Zustimmung zu bitten. Anders als in den ursprünglich streng laizistischen Staaten wie Frankreich oder den USA eröffnet das Grundgesetz allen religiös musikalischen Bürgerinnen und Bürgern einen breiten Gestaltungsfreiraum, nicht nur im eigenen Kämmerlein oder in den vier Wänden der eigenen Religionsgemeinschaft undercover den Glauben zu leben und zu feiern, sondern auch öffentlich auf den modernen Marktplätzen real und digital im Modus der Missionierung von den eigenen religiösen Überzeugungen Zeugnis zu geben. Gerade die sogenannten abrahamitischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams sehen sich zur Missionierung verpflichtet. Verwerfungen und Fremdheitserfahrungen sind damit in einer weithin säkularen Gesellschaft vorprogrammiert. Ist es Schülerinnen und Schülern zumutbar, unter dem Kreuz bayerischer Schulen zu lernen, obwohl ihre Eltern als überzeugte Atheisten bewusst auf eine religiöse Erziehung und Prägung verzichtet haben? 1995 brach im Freistaat Bayern beinahe ein Volksaufstand der Christ:innen aus, als das Bundesverfassungsgericht im berühmten Kruzifixurteil eine Vorschrift der bayerischen Schulordnung, nach der in jeder Volksschule ein Kreuz im Klassenzimmer aufzuhängen sei, für verfassungswidrig erklärte. Immer wieder entzündet sich diese Frage auch bei Kreuzen, die in staatlichen Gerichtssälen hängen oder, wie 2016 am Amtsgericht Saarbrücken oder 2018 in einem Einzelfall am Amtsgericht Miesbach, aus diesen entfernt werden. Ähnliches ist in Österreich zu beobachten, wo die Leitung der Universität Wien 2018 alle Kreuze aus Räumen der Universität entfernen ließ, auch in der Katholisch-Theologischen Fakultät.3 Die Proteste gegen solche Aktionen aus den Reihen der Kirchen werden immer schwächer, und es entsteht der begründete Eindruck, dass solche Entscheidungen auch in weiten Kreisen der Gesellschaft immer mehr Zustimmung finden. In gleicher Weise wird aktuell mit wechselvoller Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichtes und der höchsten europäischen Gerichte, deren Entscheide immer stärker in die nationale Rechtsprechung einwirken, die strittige Thematik diskutiert, inwiefern Lehrkräfte an staatlichen Schulen oder im Justizwesen mit religiöser Kopfbedeckung — Habit, Kippa und Kopftuch — ihre Arbeit verrichten dürfen. Wie viel sichtbare Religion verträgt eine säkulare Öffentlichkeit? Welcher Form der Religionsfreiheit, ihrer positiven Inanspruchnahme oder mehr ihrer negativen Form, nicht glauben und religiös aktiv sein zu müssen, ist im konkreten Streitfall der Vorrang zu geben? In einer bisher, vor allem im Westen der Bundesrepublik Deutschland, bis heute noch knapp mehrheitlich christlich geprägten Bevölkerung werden christliche Feiertage wie christliche Symbole in der Öffentlichkeit, etwa Kreuze an Straßen und Wegrändern, klaglos akzeptiert und dankbar als freie Zeit angenommen. Konservative Parteien und Gruppen beschwören dieses abendländisch jüdisch-christliche Kulturerbe und warnen vor einer Egalisierung religiöser Symbole beziehungsweise deren Ausgrenzung in den klandestinen Eigenbereich der Religionsgemeinschaften. Dagegen wehren sich Weltanschauungsgemeinschaften, die in der bis heute offenkundigen Bevorzugung der beiden christlichen Kirchen durch staatliche Autoritäten und Gesetze eine Privilegierung zu erkennen glauben und deren Abschaffung fordern. Ein Beispiel wäre die Besetzung der Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Sender, in denen bis heute Vertreter:innen beider Kirchen sitzen und nicht selten auch durch den Vorsitz maßgeblich die Senderpolitik beeinflussen können. Wie schwer es ihnen fällt, aus diesen Gremien auszuscheiden, zeigt das Beispiel des Münchener Domdekans und Obersten Richters am Kirchlichen Gericht der Erzdiözese München-Freising. Prälat Lorenz Wolf, der durch seine Versäumnisse bei der kirchengerichtlichen Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch ein entsprechendes Gutachten nicht nur in die innerkirchliche Kritik geriet, konnte erst durch öffentlichen Protest verschiedener Parteien dazu bewogen werden, vom Vorsitz und der Mitgliedschaft im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks zurückzutreten.

Diese Beispiele zeigen, dass religionspolitische und religionsrechtliche Fragen das Potenzial zur Skandalisierung und auch zu neuen Kulturkämpfen aufweisen. Ob man dabei wie aktuell der ehemalige Vorsitzende des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken Thomas Sternberg beim Thema Staatsleistungen und Kirchensteuer von »Verhetzungspotential«4 für die Kirchen sprechen sollte, mag man kritisch sehen. Aber offene Fragen bleiben: Wie viel Toleranz bringt eine ehemals christlich geprägte Mehrheitsbevölkerung auf, wenn durch Migration neue Religionen heimisch werden, die in Kleidung, ihren Riten, ihrem Rollenverständnis von Frauen und Männern fremd wirken und scheinbar nicht mit einer freiheitlich-demokratischen, vom Gedanken der Gleichberechtigung geprägten Verfassung zu harmonisieren sind? Dabei können solche Fragen nicht nur von der migrantischen Bevölkerung durchaus auch an die römisch-katholische Kirche gestellt werden, die in ihrer kirchenrechtlichen Programmierung eine absolutistische Wahlmonarchie ist, bei der nur Männer das Sagen haben, wenn sie als Bischöfe und Priester für ein sexuell enthaltsames Leben mit Macht belohnt werden. Frauen wird, weil sie Frauen sind, die Möglichkeit zur Weihe aus allein auf Autorität beruhenden Argumenten, die keinen theologisch überzeugenden Kern enthalten, verwehrt und damit der Zugang zur Macht abgeschnitten.

Und trotzdem sind beide christliche Kirchen weiterhin die bevorzugten Partner des Staates, wenn es um die Übernahme neuer Schulen, Kindertagesstätten, Pflegeheime und Krankenhäuser geht, um nur einige Beispiele aufzulisten. Zwei Gründe faktischer und rechtlicher Art spielen dabei eine Rolle: Zum einen setzt das Grundgesetz nicht allein auf den Staat, sondern auch auf gesellschaftliche Kräfte, denen unter Berufung auf das (katholisch inspirierte!) Subsidiaritätsprinzip auf der unteren Ebene Staatsaufgaben übertragen werden. Dabei schreiben die entsprechenden Gesetze, zum Beispiel bei der gesetzlichen Schwangerenkonfliktberatung, eine Diversität der freien Träger vor. In der Bandbreite der freien Träger, von der Arbeiterwohlfahrt über den Paritätischen Wohlfahrtsverband bis hin zu den großen Playern Diakonie und Caritas, soll sich zum einen die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden und zum anderen wirklich eine Wahlmöglichkeit für die Hilfesuchenden bestehen. Tatsächlich, so wird beispielsweise für den Krankenhaus- und Kindergartenbereich aufzuzeigen sein, finden wir in Deutschland in Teilen kirchliche Monostrukturen in der Trägerlandschaft. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die rheinland-pfälzische Bischofsstadt Trier, die zugleich die Heimat von Manu Dreyer als Ministerpräsidentin ist, in der es ausschließlich katholische Krankenhäuser und fast nur katholische Kindertagesstätten gibt. Natürlich lässt sich diese Konzentration katholischer Träger aus der früheren konfessionellen Struktur dieser Regionen erklären. Außerdem sind beide Kirchen durch die seit 1945 üppig sprudelnden Kirchensteuereinnahmen ein auch aus fiskalischer Sicht verlässlicher Partner der Länder und Kommunen, weil sie neben dem fachlichen und personellen Know-how auch über die entsprechenden Mittel verfügen, um die nicht staatlich refinanzierten Anteile, etwa den Bauerhalt von Kindertagesstätten und Krankenhäusern, selbst tragen zu können. Und natürlich genießen konfessionell getragene Schulen einen so guten Ruf, dass auch kirchenkritische Eltern ihre Kinder dorthin schicken. Schließlich wechseln die Kommunen ungern die Pferde, wenn sie wie bei den Kirchen verlässliche Partner seit langer Zeit kennen und schätzen. Auch die administrative Professionalität der Kirchen ist für kommunale Verwaltungen gut zu begreifen und zu bespielen.

So scheinen Staat und Kirchen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen zu sein. Der Staat weiß die Verlässlichkeit seiner kirchlichen Partner zu schätzen, profitiert auch von finanziellen Benefits, weil, entgegen oft verbreiteter Behauptungen, Teile kirchlicher Bildungs- und Sozialarbeit direkt aus Kirchensteuermitteln beglichen werden. Vor allem das ehrenamtliche Engagement vieler evangelischer und katholischer Christ:innen in den Kirchengemeinden und Kirchenvorständen bei der Verwaltung dieser Einrichtungen ist in Geld für die Kommunen und Länder gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die Kirchen können über diese Trägerschaften wiederum gesellschaftlichen Einfluss ausüben, wie es ihnen über ihren originären Auftrag, das Evangelium zu verkünden, kaum noch möglich ist.

So geben die Kirchen in der Öffentlichkeit ein ausgesprochen widersprüchliches Bild ab. Als religiöse Institutionen gehören sie ohnehin zu den Verlierern einer zunehmend säkularen Gesellschaft, dazu kommt ein Vertrauensverlust ungeahnten Ausmaßes bis in die Kreise der engagierten Kirchenmitglieder, die inzwischen auch in Teilen austreten. Man traut den Kirchen nichts mehr zu, nicht einmal in ihrem seelsorgerlichen Kerngeschäft. Wenn es aber um Schulen und Kindertagesstätten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen geht, agieren die Kirchen weiterhin als einflussreiche Player. Um diese Spannung zu veranschaulichen, benutze ich ein literarisches Bild. Michael Ende beschreibt in »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« eine Begegnung der beiden Protagonisten mit dem Scheinriesen Turtur. Dieser Riese wirkt in der Wüste aus der Ferne furchteinflößend riesengroß. Doch ihre Neugierde, wer dieser Riese sei, ist am Ende stärker als ihre Angst, und so lassen sie ihn näher kommen. Und je mehr er auf sie zugeht, desto kleiner wird er und begegnet ihnen schließlich auf Augenhöhe. Aus der Ferne wirken die Kirchen mit ihren mächtigen Institutionen, Einrichtungen und Trägerschaften auf den naiven Betrachter wohl noch immer wie riesengroße bedeutende zivile Akteure in der Gesellschaft. Bei näherem Hinschauen aber wird deutlich, dass sie inzwischen auf Normalmaß gestutzt sind. »Unheilige Allianz« steht im Titel, man könnte auch von Komplizenschaft im Sinne von Michel Foucault sprechen, der bereits 1973 in seiner historischen Rekonstruktion des Zusammenspiels von Staat und Kirchen in den sozialen Feldern der Bildungs-, Gesundheits- und Pflegepolitik seit dem 16. Jahrhundert von Komplizenschaft der Staaten und den Kirchen als entscheidende Größen der Wohlfahrtspflege spricht, die bis heute andauere.5

Die nächsten Kapitel werden zeigen, in welchen Bereichen die Zusammenarbeit von Staat und Kirche besonders ausgeprägt ist, wo sich Risse auftun und wo es besser wäre, jede der beiden Seiten würde ihre originäre Aufgabe entschiedener wahrnehmen. Dass ich nur einzelne Beispiele herausgreifen kann, versteht sich von selbst, juristische Kenntnisse sind nicht nötig, um sie zu verstehen. Auch verzichte ich weitgehend auf Fußnoten mit Belegen, habe aber für jedes Thema eine kurze Literaturliste zusammengestellt, damit sich die Leser:innen noch vertiefter in die Materie einarbeiten können.

Was die Verfassung will und was daraus geworden ist — Staat und Kirchen in starker Partnerschaft

Was den einen beim Blick in die Verfassung als Privilegierung der beiden großen christlichen Kirchen erscheint, die, erst recht nach den Missbrauchsskandalen, abzuschaffen sei, bedeutet anderen die Bewahrung einer Verfassungstradition, in der sich der politische Wille der Väter und Mütter des Grundgesetzes ausdrückt: nach dem moralischen Kollaps des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, den beiden Kirchen, die vermeintlich unbeschädigt durch diese Zeit gekommen waren, als moralischen Autoritäten eine herausgehobene Stellung zu gewähren. Bei den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat zur Abfassung des Grundgesetzes bestand nahezu unter allen Parteien bald Konsens, die sogenannten Kirchenartikel der Weimarer Verfassung durch Verweisung in Art. 140GG in das Grundgesetz zu übernehmen. Er lautet lapidar: »Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.« Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand die erste deutsche Demokratie vor der Herausforderung, einerseits das landesherrliche Kirchenregiment preußischer Provenienz abzuschaffen und damit beide Kirchen in die Freiheit zu entlassen, ihnen aber trotzdem eine rechtliche Stellung zu geben, die ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung entsprach: Immerhin gehörten 90 Prozent der Gesamtbevölkerung einer der beiden großen Kirchen an. Gleichzeitig wurde allen Bürger:innen das Menschenrecht der Religionsfreiheit zugestanden, das ja auch einschließt, nicht zu glauben und sich zu keiner Religion bekennen zu müssen (sogenannte negative Religionsfreiheit). Um die Balance zwischen individueller und korporativer Religionsfreiheit zu wahren, blieben die Religionsgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie sie es zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Weimarer Reichsverfassung schon waren, gleichzeitig wurde anderen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit eingeräumt, diesen Status beim Staat zu beantragen. Dieser Kompromiss, einerseits den dominierenden Kirchen ihren Rechtsstatus zu erhalten, andererseits auch anderen Religionsgemeinschaften diese Möglichkeit zu eröffnen, führt bis in die Gegenwart zu Diskussionen, ob man beispielsweise islamischen Organisationen in Deutschland diesen Status zuerkennen kann oder nicht. Dieser Kompromiss ist bleibender Stein des Anstoßes der Kritiker:innen einer aus ihrer Sicht zu kirchenfreundlichen Verfassung. Sie stören sich am Recht der Kirchen, nach den landesrechtlichen Steuerlisten Kirchensteuer erheben zu können, und außerdem an ihrem Recht, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbstständig zu ordnen und zu verwalten (Art. 140GG iVm Art. 137 Abs. 3WRV).

Nur wenige wissen, dass die Kirchensteuer im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (einseitig durch die deutschen Staaten) zunächst gegen den ausdrücklichen Willen der Kirchen eingeführt wurde. Dafür mussten Körperschaften mit Vertretungsorganen in den Kirchengemeinden geschaffen werden, die demokratisch gewählt wurden und entsprechend demokratisch entschieden. Die katholische Kirche wehrte sich dagegen, weil sie das hierarchische Amt des Pfarrers in Gefahr sah, der allein über die Gelder einer Kirchengemeinde entscheiden sollte. Mit der Einführung der Kirchensteuer befreiten sich die Staaten zum Teil von den Verpflichtungen des Reichsdeputationshauptschlusses 1803, in dem sie sich verpflichtet hatten, als Entschädigung für die enteigneten Kirchengüter die Kirchen direkt aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Allmählich wurde diese Pflicht zur Last, und man wälzte sie in der Form der Kirchensteuer auf die steuerpflichtigen Kirchenmitglieder ab. Schon 1919, mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, hatten sich die Kirchen mit diesem System der Kirchensteuer arrangiert, weil es finanzielle Planungssicherheit versprach. Bis 1945 flossen die Kirchensteuern direkt an die Kirchengemeinden, wie es noch heute in der Schweiz in einigen Kantonen der Fall ist. Ab 1945 wurden die katholischen Bistümer und evangelischen Landeskirchen zu Gläubigern der Kirchensteuer, was gewaltige Veränderungen in der Architektur der Kirchenstrukturen und -finanzen zur Folge hatte. Auf sie wird im Kapitel über das Kirchenvermögen noch näher einzugehen sein.

Erfolglos wurde in den letzten Jahren immer wieder der Versuch unternommen, beim Bundesverfassungsgericht gegen die Zusammenarbeit der staatlichen Finanzbehörden mit den Kirchen vorzugehen, weil die Kläger:innen damit die Neutralitätsverpflichtung des Staates verletzt sahen. Alle Klagen blieben erfolglos, der Staat zieht weiterhin die Kirchensteuer ein und erhält dafür eine üppige Entschädigung, die deutlich über dem Aufwand liegt, den er dafür einsetzen muss: für beide Seiten eine klassische Win-win-Situation. Auch die sogenannte Dienstherrenfähigkeit geriet in die Kritik, nämlich das Recht der Kirchen, eigene Beamtenverhältnisse zu begründen, die der Staat anerkennt. Die Institution der Körperschaft des öffentlichen Rechts wird daher gelegentlich auch als Klammer für ein ganzes Bündel von Rechten der Kirchen gesehen. Selbst Religionsverfassungsrechtler:innen, die von Haus aus das religionsrechtliche System in Deutschland mit Wohlwollen betrachten, fällt es mittlerweile schwer, diesen besonderen Status der Körperschaft plausibel zu erklären.

Die Zuerkennung des Körperschaftsstatus zunächst an beide großen christlichen Kirchen war in der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz mit der Erwartung verbunden, dass die Kirchen gemeinwohlorientiert einen Beitrag zur Kultur und zu einer sozial orientierten Gesellschaft leisten. Für Paul Kirchhof, einst Richter am Bundesverfassungsgericht, wächst den christlichen Kirchen mit diesem Rechtsstatus die Aufgabe zu, das Gewissen des Einzelnen und seine Normkonzeption zu prägen, »damit die Fähigkeit zur Freiheit gebildet wird, der Zusammenhalt der Rechtsgemeinschaft in ihren Grundwerten gefestigt«1 werde. Die starke Rechtsfigur der Körperschaft des öffentlichen Rechts sei gerechtfertigt, weil die Kirchen Demokratie und Gesellschaftsordnung mitgestalten und damit dem Gemeinwohl dienen würden. Kirchhof geht sogar so weit, diesen besonderen Rechtsstatus mit dem moralisch-ethischen Mandat zu begründen, das von Staat und Zivilgesellschaft an die Kirchen als öffentliche Erwartung herangetragen werde. Aus säkularer Perspektive drängt sich die Frage auf, in welchem Maße solche Erwartungen überhaupt noch an die Kirchen herangetragen werden. Wenn dies nur noch für eine Minderheit gilt — was spricht dann noch dafür, den beiden sterbenden ehemaligen Volkskirchen auf unbestimmte Zeit diese starke öffentliche Rechtsstellung zu garantieren? In jüngeren Beiträgen wird diese lang postulierte These der Gemeinwohldienlichkeit zwar noch vertreten, aber sofort angemerkt, daraus erwüchsen keine Handlungspflichten an die Kirchen. Der Fokus wandert dann weiter auf die Religionsfreiheit als Anker für den Körperschaftsstatus. Letztlich läuft die aktuelle Argumentation darauf hinaus, grundrechtlich von der Religionsfreiheit her den Körperschaftsstatus zu begründen, und zwar in seiner »Funktion, objektiv-rechtliche Gehalte der Religionsfreiheit in einer der Eigenart von Religion angemessenen Weise umzusetzen«.2 Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass individuelle religiöse Betätigung immer auch eine gesellschaftliche Dimension aufweise, die zu den Merkmalen einer Religionsgemeinschaft zähle und sie rechtlich absichere. Diese Argumentation überzeugt, weil sie die Religionsfreiheit in den Mittelpunkt stellt, allerdings sind ihre rechtlichen Schlussfolgerungen vielleicht plausibel, aber nicht zwingend. Angesichts der Tatsache, dass schon in naher Zukunft beide christlichen Kirchen nur noch religiöse Minderheiten in Deutschland vertreten werden, lässt sich schon kritisch fragen, inwiefern die Privilegien einer Körperschaft noch angemessen sind. Sie mögen 1919 und auch 1949 noch angemessen gewesen sein, als beide Kirchen staatsähnliche Großinstitutionen waren, die von der Wiege bis zur Bahre das Leben der meisten Bürgerinnen und Bürger maßgeblich bestimmten. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Von daher kann durchaus offen und kritisch über die Sinnhaftigkeit des Körperschaftsstatus weiter nachgedacht werden.

Daneben wurde die Formel »vom Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten« zu einem Freifahrtschein für beide Kirchen, sich beispielsweise beim Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch oder kriminellem Umgang mit kirchlichem Vermögen nicht an die existierenden staatlichen Gesetze halten zu müssen. Sexualstraftaten sind Offizialdelikte, müssen also von staatlicher Seite verfolgt und geahndet werden, wenn sie ihr bekannt gemacht werden. Und auch kirchliches Vermögen, das allen Gläubigen und nicht allein den Bischöfen oder evangelischen Kirchenleitungen gehört, unterliegt als öffentliches Vermögen nicht nur dem kirchlichen Vermögensrecht, sondern auch dem staatlichen Wirtschaftsstrafrecht. Untreue muss auch bei kirchlichen Entscheidungsträgern vom Staat verfolgt werden und nicht nur in den vier Wänden der Kirchen kleinlaut abmoderiert werden. Augenscheinlich wurde der Passus vom Ordnen und Verwalten nicht bis zu Ende gelesen, denn der Gestaltungsfreiraum der Kirchen hat seine Grenze bei den für alle Bürger:innen geltenden staatlichen Gesetzen. Die gelten auch im Arbeitsrecht — trotz eines eigenen kirchlichen Arbeitsrechts, das im Blick auf den besonderen Charakter des Tendenzbetriebes Kirche besondere Verpflichtungen für kirchliche Mitarbeiter:innen kennt. Und doch beschleichen manchen Zeitgenossen ungute Gefühle, wenn eine katholische Klinik eine Hebamme kündigt, weil sie aus der Kirche ausgetreten ist, oder noch bis Ende 2022