Unkaputtbar - Frank Schmidt - E-Book

Unkaputtbar E-Book

Frank Schmidt

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Beschreibung

In Heidenheim an der Brenz geboren, die erste Freundin geheiratet, als Fußballer in alle Abgründe geblickt, dann als Spieler und Trainer wieder zurück in die Heimat und mittlerweile der dienstälteste Übungsleiter im deutschen Profifußball. Länger als jeder andere ist Frank Schmidt Profi-Fußballtrainer. Sein Vertrag läuft bis 2027. Seine Spielphilosophie: »Geht raus, lasst dem Gegner keine Luft und gebt nie auf. Keine Sekunde.« Klingt altmodisch in Zeiten von digitalen Datenanalysen, medizinischer Belastungssteuerung und fixen Taktikschablonen. Basiert aber auf Erkenntnissen moderner Resilienzforschung, Sportpsychologie und Managementmethodik, die Frank Schmidt in diesem Buch ebenso ausführlich erläutert. Mannschaft, Verein und Region leben das Prinzip: Gemeinschaft schlägt Egoismus. Wichtig ist das unbedingte Miteinander – vom Kioskbetreiber Sever auf der Gegentribüne bis hin zu den vielen Sponsoren aus der Region und Zigtausenden von Fans. Im Heidenheimer Kosmos zählen Nahbarkeit, Authentizität und Fleiß. In seinem »Life-Ticker« nimmt er die Leser/innen mit in eine Fußballwelt, die jeder echte Fan mittlerweile vermisst. Wo Bratwurstgeruch über den Rängen hängt, jeder Gegner unbändig angelaufen wird, gelungene Grätschen frenetisch bejubelt werden und das in Flutlicht gleißende Stadion einer Trutzburg gleicht. Der Gegenentwurf zur großen Fußball-Glitzerwelt!

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Frank Schmidt

Unkaputtbar

Mein Leben Mein Fußball Mein Verein

Inhaltsverzeichnis

Prolog

I. Mein Life-Ticker

II. Live-Ticker

Prolog

 

»Unkaputtbar«. Das hat Lukas Kwasniok, Trainer vom SC Paderborn, über uns gesagt. Der 1. FC Heidenheim 1846 e. V. sei »unkaputtbar«. Oder im O-Ton: »Wenn du ein Synonym für Heidenheim suchst, dann ist es ›unkaputtbar‹.«

Das hat mir sehr gefallen, diese Anerkennung und diese Erkenntnis, dass wir nicht kaputtgehen. Es fasst unser Spiel, unsere Leidenschaft, unsere Einstellung, unsere Strategie, unser Selbstverständnis, ja unseren Weg am besten zusammen. Unkaputtbar – das entspricht vor allem dem, was wir als Verein bisher erreicht und geleistet haben, und dass uns nichts aus der Bahn wirft, kein Gegner, keine Umstände, kein gar nix.

»Unkaputtbar« ist auch deshalb so treffend, weil der Begriff nach bald 30 Jahren im bezahlten Fußball auch meinen Weg am besten charakterisiert. Ich hätte mich zurückziehen, ein ruhiges Leben führen können, ich war sogar kurz davor – stattdessen bin ich nahezu komplett, von morgens bis abends, erfasst von einem Gedanken: Wie kann meine Mannschaft das Spiel am Wochenende gewinnen? Und das Spiel danach? Und das danach? Das klingt simpel, ist aber enorm komplex und die Antwort kostet fast alle meine Energiereserven.

Diese Energie kannst du nur aufbringen, wenn du unkaputtbar bist, wenn du Stärke zeigst. Sollte man meinen. Tatsächlich geht es jedoch nur so lange gut, bis die Oberärztin auf der Intensivstation vor einem steht und sagt: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie, welche wollen sie zuerst hören?«

Passiert war Folgendes: Im Training haben wir »5 gegen 2« gespielt, eine der beliebtesten Aufwärmübungen im Fußball. »5 gegen 2« heißt, je nach Region, auch »Ecke«, »Rondo« oder »Schweinchen«, zwei Leute sind in der Mitte und versuchen den Ball zu bekommen. Es ist superbeliebt, aber ein bisschen riskant, weil man oft noch nicht richtig aufgewärmt ist. Wenn man es zu engagiert spielt und anfängt zu grätschen, können Muskeln zerren und reißen. Aber um im Training in Schwung zu kommen, ist das Spiel optimal. Auch für das Trainerteam.

Ich habe also beim »5 gegen 2« mitgemacht, die Saison 2017/2018 war fast vorbei. Unser Reservetorwart spielt den Ball etwas zu lang, ich versuche den Ball zu bekommen, trete auf ihn, rutsche ab und komme in eine Art Spagat. Dabei reißt mir ein Muskel im Oberschenkel, es sind wahnsinnige Schmerzen. Fast 20 Minuten bleibe ich auf dem Rasen liegen, es tut höllisch weh, ich bin nicht in der Lage aufzustehen. Die Spieler stehen betroffen um mich herum, ihr Trainer liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und keiner weiß so genau, was zu tun ist.

Und das ist erst der Anfang.

Mit Tränen in den Augen

Mithilfe der Co-Trainer gelingt es mir aufzustehen, sie bringen mich zum Orthopäden, der schickt mich in die Röhre und im MRT ist zu sehen, wie der Muskel gerissen ist und herunterhängt. Der Semimembranosus, der kräftigste der medizinisch genannten ischiocruralen Muskeln, ist abgerissen und hängt jetzt oberhalb vom Knie, eine Kugel so groß wie ein Tennisball. Eine Operation scheint wohl nicht notwendig. Das werde schon wieder, brauche halt etwas Ruhe. Und überhaupt: Wir sind Heidenheim, wir sind unkaputtbar. Ich bin unkaputtbar. In meiner Zeit bei Alemannia Aachen bin ich einmal als Spieler sieben Monate nach einem doppelten Knöchelbruch viel zu früh wieder in einem Zweitligaspiel auf dem Platz gestanden, vor Schmerzen hatte ich Tränen in den Augen. Es war ein wichtiges Spiel damals, als Kapitän musste ich auflaufen und der Mannschaft helfen, auch weil der Trainer mich brauchte. Kaum wurde das Spiel angepfiffen, war der Schmerz weg und ich spielte durch. Natürlich half das Adrenalin – und auch meine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstmanipulation: »So schlimm ist es doch gar nicht.«

Also wird mich ein Muskelabriss in der Oberschenkelmuskulatur auch nicht umhauen. Zudem begann ein paar Tage später unser Familienurlaub, dort würde ich mich schon erholen, Beine hoch und gut. Wir sind mit dem Campingwagen zum Gardasee gefahren. Ich mit dem kaputten Muskel, aber eben nicht unterzukriegen, saß meistens am Steuer. »Das wird schon wieder«, beruhigte ich meine Frau Nadine.

Und ehrlich, ich bin überzeugt gewesen, es wird schon, wenn ich aktiv bleibe. Es ist mir fast ein wenig peinlich, die Geschichte weiterzuerzählen, aber was soll’s? Anstatt Ruhe zu geben, spiele ich mit meinem Freund Ralf eine Runde Tennis, ein Match, das erst im letzten Satz im Tie-Break entschieden wird, bei 30 Grad im Schatten natürlich. Als ich ihm hinterher sage, dass meine Wade immer noch höllisch schmerzt, antwortet er nur: »Das liegt daran, dass ich dich so viel habe laufen lassen.« Klingt einleuchtend – vor allem, wenn man dazu neigt, sich selbst zu manipulieren: »Klar tut die Wade weh, aber das Tennismatch war ja auch ziemlich anstrengend.«

Auf dem Campingplatz kann ich mich fast nicht bewegen, ich habe ständig das Gefühl, mein Wadenmuskel explodiere. Dabei müsste ich eigentlich im Oberschenkel Schmerzen haben. Über den Campingplatz schleppe ich mich mit meinen Crocs, mir gelingt es fast nicht, mich normal zu bewegen, trotzdem stehe ich hinterm Grill. Und wie alle vermeintlich Unkaputtbaren neige ich zur gewagten Selbsttherapie. Vom Gardasee fahren wir weiter nach Meran in Südtirol, dort setze ich mich aufs Mountainbike und fahre einen der schönsten MTB-Trails, hoch auf Meran 2000, ein wunderschönes Sonnenplateau – oder, wie ich es nennen würde: »Die Verletzung rausradeln.« Die Muskelverhärtung einfach herausradeln, wie ich das oft in meiner Karriere als Fußballprofi gemacht habe. In bester Absicht setze ich mich aufs Bike. So ganz klappt es nicht, der Schmerz will nicht weichen. Das Gehen fällt mir ebenso schwer, aber wie heißt es so schön: »Das wird schon.«

Schweißausbrüche und Atemnot

Kurz den Film vorspulen: Wieder zurück aus dem Urlaub, gehe ich am Mittag mit meiner Frau spazieren, plötzlich wird mir schwindelig, ich weiß kaum noch, wo oben und unten ist, schaffe es aber noch bis nach Hause. »Es lag wahrscheinlich an der Hitze«, sagt meine Frau. »Mir ging es hier auch schon mal so«, schob sie hinterher. Und der Selbstmanipulator in mir meldet sich umgehend zu Wort: »Klar, klingt logisch!« Über 30 Grad im Schatten, wem wird da nicht schwindelig? Und überhaupt: »Ich habe viel zu wenig getrunken, klar, dass es einem da schwindelig wird.«

Auf meinen Selbstmanipulator ist Verlass.

Also trinke ich ordentlich, ein paar Tage später stehen die ersten Trainingseinheiten für die neue Saison an, wir befinden uns in der ersten Phase der Vorbereitung. Außerdem soll am Anfang der Vorbereitung eine Vorstands- und Aufsichtsratssitzung stattfinden, bei der ich meine Einschätzung über die neue Saison und den Kader geben soll. Vorher muss ich aber noch etwas erledigen.

Denn damit mir keiner den Vorwurf machen kann, ich würde immer alles auf den letzten Moment schieben, immer bis zum Schluss warten, schreibe ich unserem damaligen Mannschaftsarzt eine WhatsApp-Nachricht. Ich will kurz fragen, ob ich mit ihm telefonieren könne, ich hätte da eine Frage. Von den Schmerzen in der Wade erwähne ich nichts.

Er ist unterwegs, auf einem Kongress, sagt aber, ich solle einfach am nächsten Abend anrufen. Das ist beruhigend. Ich habe quasi einen Arzttermin, morgen wird alles gut. Am Nachmittag gehe ich mit ein paar Spielern von unserem Stadion hoch auf das Trainingsgelände, da muss man einen leichten Hügel hochlaufen, mir fällt jeder Schritt schwer, es wird mir heiß, ich kriege kaum Luft, will mir aber nichts anmerken lassen, also sage ich den Spielern: »Geht schon mal vor, ich muss noch kurz etwas erledigen.« Sie gehen, ich schleppe mich hinterher, habe die ganze Zeit Atemnot und Herzrasen, stehe das Training aber irgendwie durch. Wir sind die Unkaputtbaren.

Es ist dramatisch

Am frühen Abend findet die Aufsichtsratssitzung statt, unten am Eingang treffe ich ein Aufsichtsratsmitglied, will mit ihm die Treppe hinauf zum Saal, bekomme Schweißausbrüche und Atemnot, mein Herz rast wie verrückt. Damit ihm nicht auffällt, dass der Trainer kaum die Treppe hochkommt, rufe ich ihm zu, ich hätte unten etwas vergessen, ich käme gleich nach. Die Lage ist dramatisch. Ich bekomme kaum noch Luft, habe richtig Atemnot, ständig Schweißausbrüche und so langsam fällt auch meinem Selbstmanipulator nichts mehr ein, woran es liegen könnte.

Auch die Aufsichtsratssitzung überstehe ich, fahre danach mit dem Mountainbike nach Hause, klar. Ich kann es nicht mehr leugnen, aber ich scheine wirklich ernsthafte Probleme zu haben. Gott sei Dank, am nächsten Abend werde ich mit Mathias Frey, unserem Mannschaftsarzt, telefonieren, dann sehen wir weiter.

»Nein, die Zeit haben wir jetzt nicht mehr«

Ich stehe die Nacht durch und gehe ganz normal ins Training und meiner Arbeit nach. Ja, man muss das dramatisch sagen: Ich habe die Nacht überlebt. Am Abend schildere ich Mathias Frey meine Symptome.

Er unterbricht mich: »Du musst sofort ins Krankenhaus!«

Ich erwidere: »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Er: »Nein, die Zeit haben wir nicht mehr, sag deiner Frau, dass sie dich sofort fahren soll! Jetzt! Und nimm noch ein paar Aspirin!«

Leider haben wir kein Aspirin zu Hause. Doch das ist jetzt mein geringstes Problem.

Meine Frau fährt mich sofort, und schlagartig ist klar: Bedingt durch den Muskelabriss im Oberschenkel und eine Einblutung ist es zu einer tiefen Beinvenenthrombose in der Wade gekommen. Die Schmerzen waren deshalb in der Wade, nicht im Oberschenkel.

Doch das ist zweitrangig. Nun ist das ganze System in Gefahr.

Ich bin in Lebensgefahr!

Mein Selbstmanipulator ist ratlos. Offenbar lag er mit seinen ganzen Beschwichtigungen in den letzten Tagen komplett daneben.

Mir bleibt noch die Zeit, den Ärzten alles zu schildern: Schmerzen in der Wade, Schweiß, Herzrasen, Atemnot. Allein diese Schilderung löst Hektik aus. Sie schieben mich in den CT und ich komme sofort auf die Intensivstation. Von der Idee, eine Verletzung »herauszuradeln«, habe ich mich endgültig verabschiedet.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagt die Oberärztin auf der Intensivstation zu mir. »Was wollen Sie zuerst hören?«

Ich entscheide mich für die schlechte Nachricht. Sie runzelt die Stirn: »Sie sind in Lebensgefahr. Sie haben eine beidseitige Lungenembolie.« Offenbar hat sich ein Blutgerinnsel von meiner – von mir missachteten – Thrombose in der Wade gelöst und wurde in die Lunge geschwemmt, extrem lebensbedrohlich.

Eigentlich stehen die Überlebenschancen bei einer Lungenembolie recht gut, bei 92 Prozent, allerdings nur bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung. Wird sie verschleppt, führt das bei 30 Prozent der Patienten zum Tod, jährlich sterben 40 000 Menschen an den Folgen einer Embolie.

»Und die gute?«

»Sie sind bei uns in den besten Händen!«

Die gute Nachricht war jedoch: Ich habe das überlebt. Infolge eines banalen Rettungsversuchs beim Warmmachspiel »5 gegen 2« und wegen einer anhaltenden Selbstbeschwichtigung hätte ich sterben können. Nach sechs Tagen im Krankenhaus und zwei weiteren Tagen Erholung zu Hause geht es mir besser. Ab aufs Trainingsgelände. Unkaputtbar eben. Die richtig gute Nachricht: Die Lungenembolie ist ausgeheilt.

Für mich ist diese Episode eine schmerzhafte Erfahrung, auf welchem schmalen Grat ich mich bewege. Im Sport geht es ständig darum, keine Schwäche zu zeigen, stark, voller Energie und eben unkaputtbar zum nächsten Sieg zu jagen. Denn gefeiert wird, wer »ein Held« ist und oben steht. Dabei ist die Gefahr allgegenwärtig, alles, wirklich alles zu riskieren, weil man glaubt, nicht anfällig oder gar zerstörbar zu sein. Ein Zwiespalt, mit dem ich fertigwerden muss. Aber es hat mich bestärkt, die wichtigsten Momente meines Lebens und die wichtigsten Momente dieses dahinrasenden Fußballgeschäfts einzufangen. Vor allem jetzt, wo wir aufsteigen. In die Bundesliga. Wir, das kleine Heidenheim. Ich, der kleine Trainer im kleinen Heidenheim. Plötzlich oben. Auch diese Geschichte muss erzählt werden.

Ich bin Frank Schmidt, ich bin Trainer des 1. FC Heidenheim 1846 e. V. Das bin ich seit 2007. Ich habe als Notlösung angefangen und sitze immer noch auf der Bank. Und ja, ich bin kein großer Freund von Büchern, die wenigsten Bücher habe ich zu Ende gelesen. Ich ziehe das Wissen aus dem Leben, aus der Natur, aus der Beziehung zu meiner Frau und meinen beiden Töchtern. Ich lerne aus der Beobachtung, aus dem Nachdenken. Ich setze auf den gesunden Menschenverstand, weniger auf den Verstand aus Büchern. Damit dennoch nichts verloren geht, was mich und meine Arbeit ausmacht, was meinen Verein zu dem gemacht hat, was er heute ist, habe ich alles in einem Ticker zusammengefasst. In einem Lifeticker. Das Leben als Ticker ist leicht zu lesen. Und einen Live-Aufstiegsticker liefere ich Ihnen auch gleich mit. Die entscheidenden Spieltage. Was hat mich, was hat die Mannschaft bewegt? Wie sind wir unseren Gegnern gegenübergetreten? Hat die Taktik funktioniert? Wo sind wir überrascht worden?

Life-Ticker und Live-Ticker. Das ist das Buch. Viel Spaß beim Lesen!

I. Mein Life-Ticker

 

Aber wo fängt man an? Das kleine »gallische« Dorf auf der Ostalb. Was bisher geschah:

1846

Niemand denkt an Fußball. Es gibt keine Regeln, keine Vereine. Nicht mal in England, dem Mutterland des Fußballs, wird nach Regeln gekickt. Dennoch gründen ein paar Pioniere 1846 auf der Schwäbischen Alb einen Sportverein, der bis ins Heute reicht. Das Jahr 1846 trägt der 1. FC Heidenheim noch immer im Vereinsnamen. Doch Fußball wird damals im 19. Jahrhundert nicht wirklich gespielt. Erst als sich im Jahr 1910 ein paar fußballbegeisterte Ingenieure der Firma Voith zum VfB Heidenheim zusammenschließen, werden erstmals Strukturen für den Fußball in Heidenheim geschaffen, wie an vielen anderen Orten auch zu dieser Zeit. 97 Jahre später wird der 1. FC Heidenheim 1846 in Folge der Abspaltung der Fußballabteilung vom Heidenheimer SB aus der Taufe gehoben – und seit 2007 sitze ich, Frank Schmidt, dort auf der Bank.

Das war so nicht abzusehen …

3. Januar 1974

Meine Eltern leben in Giengen an der Brenz, elf Kilometer von Heidenheim entfernt. Giengen ist berühmt für was? Genau: Steiff-Tiere. Teddys mit Knopf im Ohr, Puppen und Plüschtiere. Meine Mutter arbeitet als Näherin bei Steiff, mein Vater ist im Reifenhandel tätig. Nachts engagiert er sich bei der Pannenhilfe auf der Autobahn. Die Eltern arbeiten beide hart und viel. Wir sind schließlich Schwaben. Mein Vater hat außerdem eine kleine Band, eine Stimmungsband, das »Duo Schmidt«, gemeinsam mit meinem Onkel spielt er auf Hochzeiten, auf Geburtstagen und beim Fasching. Ich werde als zweites Kind geboren, mein älterer Bruder ist bei meiner Geburt bereits sieben Jahre alt – und noch bevor ich laufen kann, hat es mir ein kleiner Ball angetan. Meine Eltern sagen, rollende Bälle hätten mich von Anfang an fasziniert, ich hätte gegen alles und mit allem gekickt, was rollt.

Sommer 1979

In der Giengener Südstadt im Lehenweg 21 gibt es den »Blauen Hund«. Eine Institution, eine Gastwirtschaft aus einer anderen Zeit und doch zeitlos schön. Die Wand hinter der Theke besteht aus gemusterten braunen Kacheln, im Schankraum hellbraune Wirtshausstühle, der Boden gefliest, die Decke mit Holz verkleidet. Ein Sehnsuchtsort seit Jahrzehnten. »Die besten Göckele weit und breit«, die »leckersten Pommes«, das sagen alle. Die Karte liest sich wie ein Traum: Schnitzel, Kartoffelsalat, Schaschlik, stabil. Vor allem ist der »Blaue Hund« unser Ziel nach dem Bolzen.

Ich bin noch nicht einmal sieben Jahre alt. Das Einzige, was ich im Kopf habe, ist: Kicken. Zwischen den Garagen bei uns in der Straße kicken wir, auf Asphalt, immer zwei Mannschaften: Die einen sind der VfB Stuttgart, die anderen der FC Bayern. Wie so oft. Wir spielen Bayern gegen VfB. Man ist auf der Schwäbischen Alb entweder für Bayern oder für den VfB, beide Städte sind in etwa gleich weit weg von Giengen, das Bundesland Bayern nur wenige Kilometer entfernt. Manche von uns sind auch für Gladbach. Die meisten von uns entscheiden sich für einen Verein, weil der Vater sie mit zu den Spielen genommen hat, und dann bleibt man Fan, lebenslang. Für Giengen oder gar Heidenheim ist damals kaum einer. Da spielen auch keine Förster-Brüder, kein Rummenigge.

Ich bin der Jüngste, werde immer als Letzter gewählt – und muss dann auch noch ins Tor. Das ist der erste Ort, an dem ich mir meine Sporen verdienen muss. Die anderen sind alle vier, fünf Jahre älter, keiner ist so jung wie ich. Wir spielen auf Asphalt, wenn du hinfällst, scheuerst du dir die Knie auf. Heulen geht nicht, auch wenn es blutet, die Älteren würden mich auslachen. Ich muss mich durchbeißen. Die anderen sind größer, kräftiger, checken mich weg. Ich halte dagegen, irgendwie. Sich durchzusetzen, nicht klein beizugeben, das habe ich zwischen den Garagen gelernt, es hat mich tief geprägt.

Nach dem Kicken gehen wir alle zum »Blauen Hund«, die anderen haben Geld dabei, eine Mark, zwei Mark, können sich Pommes kaufen. Ich habe nichts, keinen Pfennig, muss hoffen, dass sie mir ein paar Pommes abgeben. Nicht immer bekomme ich was. Aber ich gehöre dazu. Doch ich will mehr. Im Herbst 1979 haben meine Eltern keine Wahl, sie müssen mich beim SC Giengen anmelden. Meinen Spielerpass kann ich nicht unterschreiben, kann ja noch weder lesen noch schreiben. Meine Mutter unterschreibt den Spielerpass. Seitdem bin ich in einem Fußballverein. Am Anfang stehe ich im Tor des SC Giengen, F-Jugend.

1981

Fan bin ich von Bayern München. Das ergibt sich so in diesem Jahr. Meine Mutter fährt mit mir ins Münchner Olympiastadion. Sie gibt meinem Drängen nach, endlich Paul Breitner und Calle Del’Haye live zu sehen. Der Verein hat mich gefunden, wie man so schön sagt. Dann werde ich richtiger Fan, das ganze Drum und Dran: Bayern-München-Bettwäsche, Poster an der Wand, Aufkleber und samstags um 15.30 Uhr mit dem Ohr am Radio. Überhaupt ist meine Mutter diejenige, die meine Fußballerkarriere begleitet, immer. Sie ist bei jedem Spiel dabei, kennt die Ergebnisse, fiebert mit. Mein Vater kann dem Fußball nicht so viel abgewinnen, er sieht sich als Musiker. Er ist zwar auch bei den Spielen dabei, unterhält sich aber lieber mit anderen Menschen. Nicht immer weiß er am Ende, wie unser Spiel ausgegangen ist, dafür hat er wieder neue Leute kennengelernt und sich gut unterhalten.

Unterstützt haben mich aber immer beide, sie wussten, dass ich spielen muss und dass das nicht aufhören wird. Mein Vater ist 2020 gestorben.

Meine Mutter sitzt heute noch bei jedem Heimspiel auf der Tribüne, als Schlaganfallpatientin fällt es ihr allerdings schwer, immer dabei zu sein. Aber sie muss sehen, wenn ihr Sohn an der Seitenlinie tobt und schreit. Sie ist mein treuester Fan.

DIE TREUEN FANS

Wir sind beim 1. FC Heidenheim 1846 dabei, eine Fan-Base aufzubauen, Schritt für Schritt. Viele werfen uns vor, wir hätten kaum Fans, keine Fankultur, und bei Auswärtsspielen sind manchmal nur 200 Anhänger dabei. O. k., aber wir bauen hier etwas auf. Und wir hatten auch schon Riesenresonanz, etwa, als wir im DFB-Pokal bei Bayern München 10 000 Fans dabeihatten. Deshalb ist klar: Mit jedem Erfolg steigert sich die Begeisterung in der Stadt – und in der Region, in der es Tausende potenzielle Fans gibt.

Ich freue mich über jeden Achtjährigen und jede Achtjährige, die ein FCH-Trikot tragen. Damit es mehr werden, müssen sie gute, prägende Erlebnisse in der Voith-Arena haben, sie müssen Spektakel erleben, leidenschaftliche Siege, schmerzvolle Niederlagen, unglaubliche Aufholjagden und Erfolge über vermeintlich stärkere Mannschaften. Sie müssen sehen, dass sich unser Team voll reinhaut, dass es etwas bringt, an etwas zu glauben, und am Ende ein Sieg oder sogar der Aufstieg stehen kann – und dass die Fans ein wichtiger Teil von uns sind. Wir müssen Geduld haben: Diejenigen, die als Kind 2014 den Aufstieg in die 2. Liga erlebt haben, sind heute 16 oder junge Erwachsene, und wenn sie den FCH im Herzen bewahrt haben, werden sie ihn weiter in ihren Herzen tragen. Wir glauben daran.

1985

Das kann nicht wahr sein. Unsere Schule, die Robert-Bosch-Realschule in Giengen, ist nicht bei den Oberschulamtsmeisterschaften in Weikersheim gemeldet. Unglaublich! Das große Fußballereignis für Schulen in der Region. Das Highlight des Jahres! Ich fasse es nicht.

Ich bin elf Jahre alt, komplett fußballverrückt und auf dieses Ereignis habe ich quasi hingearbeitet. Meine Freunde und ich können es nicht verstehen. Offenbar ist es aber so, dass die Lehrer keine Lust haben, sich für dieses außerschulische Ereignis zu engagieren. Sie müssten ein Team zusammenstellen, die Fahrt organisieren, müssten vor Ort die Mannschaft betreuen. Das scheint ihnen zu viel zu sein. Wir haben zwar eine Fußball-AG in der Schule, aber auch unseren Sportlehrer, Heinz Jakob, können wir nicht überzeugen.

Ich bin richtig sauer. Fußball ist mein Leben. In meinem Kopf geht es ums Kicken, ums Kicken und noch mal ums Kicken. Ich überlege, wie man es machen kann. Statt Hausaufgaben zu machen, tüftle ich an meinem Weikersheim-Plan, den ich am nächsten Tag umsetzen will.

Es beginnt damit, dass Herr Jakob zum Rektor gerufen wird. »Was ist mit Weikersheim, ich dachte, da fahren wir nicht hin?«, fragt der Rektor. »Da fahren wir auch nicht hin«, erwidert Jakob.

»Das ist aber komisch, offenbar liegt doch eine Meldung vor.«

»Eine Meldung?« Jakob ist irritiert.

Nun, die Erklärung ist recht einfach: Ich habe unsere Schule angemeldet.

Ich lasse mir doch die Chance auf ein Schulturnier nicht nehmen. Also melde ich den Schülerjahrgang 1973/1974 der Robert-Bosch-Realschule zum Oberschulamtsfinale an – ohne auf das O. k. der Lehrer zu warten.

Es gibt ein bisschen Ärger. Aber sie lenken ein und es findet sich auch einer, der uns nach Weikersheim begleitet. Allerdings sagt Sportlehrer Jakob zu mir:

»Frankie« – er war und ist der Einzige, der mich bis heute »Frankie« nennt –, »Frankie, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Du übernimmst das Kommando.«

Na logo.

Ich bin elf Jahre alt und organisiere nun das Team für Weikersheim, suche die besten Kicker fürs Turnier zusammen. Insgesamt fahren wir mit 30 Leuten nach Weikersheim. Ich mache die Aufstellung, entscheide, wer vorne, wer hinten spielt. Ich selbst spiele überall, hinten, vorne, Mitte.

Da ich wegen meines frühen Wachstums die anderen um ein, zwei Köpfe überrage, gibt es zwar ein bisschen Stress. Die anderen Schulen meinen, ich sei nicht mehr im Jahrgang, ich sei ein älterer Schüler, das würde man doch sehen. Aber das kann widerlegt werden.

Es ist ein Hammerturnier, wir gewinnen ein Spiel nach dem anderen, immer wieder baue ich die Mannschaft um – und am Ende gewinnen wir auch noch das Turnier. Wir sind Sieger im Oberschulamtsfinale! Was für ein Erfolg.

Kurz nach der Siegerehrung sagt Sportlehrer Jakob einen denkwürdigen Satz zu mir: »Du wirst als Trainer mal mehr Erfolg haben als als Spieler.«

Keine Ahnung, was er sich dabei dachte. Ich war elf Jahre, ein ganzes Fußballerleben lag noch vor mir. Trotzdem sagte er: Du wirst mal ein guter Trainer.

Heinz Jakob ist inzwischen 83 Jahre alt und schaut jedes unserer Spiele an, wenn sie auf Sky oder Sport1 übertragen werden. Weil meine Mountainbike-Strecke an seinem Haus vorbeiführt, halte ich manchmal an, dann frotzelt er:

»Ich weiß nicht, warum ihr Erfolg habt, du erreichst doch die Mannschaft seit fünf Jahren nicht mehr.«

Dann antworte ich:

»Meine Aufgabe ist es, den Erfolg nicht zu verhindern.«

1987/1

In meinem Diktat stimmt gar nichts. Die Seite ist nahezu komplett rot eingefärbt. Meine Deutschlehrerin sagt: »Frank, für dich gibt es nur noch eine Chance, geh zum Goethe-Institut, da gibt es Kurse ›Deutsch für Ausländer‹, das wäre was für dich.« Für sie der letzte Ausweg, wie ich meinen anhaltenden Kampf gegen Grammatik und Rechtschreibung irgendwie noch gewinnen kann. Schule ist ein schwieriges Kapitel. Aber sie ist nur die eine Welt.

1987/2

Inzwischen spiele ich bei der TSG Giengen, dem »größeren« Verein in Giengen. Vor allem bin ich Stürmer. Ich bin der, der die Tore macht. Immer. In meinem Ehrgeiz setze ich mir maximale Ziele. Ein Ziel ist zum Beispiel, dass ich bei jedem Jugend-Hallenturnier mindestens ein Tor per Fallrückzieher mache. Jedes Mal ein Fallrückzieher-Tor. Das ist komplett verrückt, vor allem, weil ich alles daransetze, dass es funktioniert. Ich bringe meine Mitspieler dazu, mir den Ball immer so aufzulegen, dass es mit dem Fallrückzieher klappt. Es wird zu meinem Markenzeichen. Das ist der, der in jedem Spiel einen Fallrückzieher machen will. Außerdem bin ich, wie gesagt, schneller gewachsen als die anderen in meinem Alter. Die Größe, die körperliche Präsenz helfen mir, wuchtig ein Tor nach dem anderen zu machen. Dann beginnt das große Spiel.

1988

Unser Trainer geht aufs Ganze. Es ist Winter, Hallenzeit, ich bin in der C-Jugend bei der TSG Giengen – und unser Trainer hat sich in den Kopf gesetzt, das Team bei zwei gleichzeitig stattfindenden Hallenturnieren spielen zu lassen. In den Tagen zuvor ist er die Strecke abgefahren, um zu testen, ob wir es zeitlich hinbekommen, sowohl beim Bezirkshallenturnier in Bettringen als auch bei einem C-Jugend-Turnier in Königsbronn anzutreten.

Vor den beiden Turnieren hat er die Zeitpläne nebeneinandergelegt, abgeglichen und geschaut, dass die Stammelf zwei Spiele macht, die am besten gewinnt, damit das Reserveteam das dritte Turnierspiel absolvieren könne, während die Stammelf sich ins Auto setzt und in Bettringen drei Spiele spielt, wir gewinnen alle und fahren danach wieder zurück nach Königsbronn für die Zwischenrunde, um das Freundschaftsturnier zu Ende zu spielen.

Ein Irrsinn ganz nach meinem Geschmack.

Erdacht von einem gleichermaßen Fußballverrückten, unterstützt von ein paar Spielervätern, die sich bereit erklären, die Fahrdienste zu übernehmen. Es ist ein enormer Organisationsaufwand für einen Samstag im Winter, aber Christof, so der Name meines Trainers, ist sich seiner Sache ziemlich sicher.

Damit er bei beiden Turnieren antreten kann, muss er mit kopierten Spielerpässen operieren, muss sich bei der einen Turnierleitung etwas einfallen lassen, warum er die Originalpässe der Spieler nicht dabeihat. Auch das gelingt, überhaupt lässt er sich durch nichts und niemanden von seinem Vorhaben abbringen.

Mir sind zu dem Zeitpunkt ohnehin die Hände gebunden. Christof war damals nicht nur mein Trainer in der C-Jugend bei der TSG Gingen, er ist vor allem auch der Vater von Nadine, meiner Ehefrau. Es war damals die erste Zeit des Anbandelns, da konnte ich nicht riskieren, ihn gegen mich aufzubringen.

Ich tat, was Christof sagte.

Jedenfalls klappt das Hin und Her super, wir sind bei beiden Turnieren vertreten, der jeweilige Transport mit den Autos läuft einwandfrei – und das Beste: Wir gewinnen tatsächlich beide Turniere. Ein Triumph für die TSG Giengen.

Christof hat danach zwar noch ordentlich Ärger vom Verband bekommen, das aber war die Sache wert. Ein paar Jahre später hat er mich übrigens nach Nürnberg gefahren, es sollte mein erstes Training beim 1. FC Nürnberg werden. Trainer Willi Entenmann und Co-Trainer Dieter Renner wollten mich kennenlernen. Ich war gerade 16 Jahre alt, Christof fuhr mich mit seinem Wagen. Aber wir waren spät dran, standen noch im Stau, ich rutschte auf dem Sitz herum, war nervös ohne Ende, es gab keine Handys, dass wir Bescheid geben konnten. Die Uhr tickte. Es war eine Riesenchance in Nürnberg und ich stand im Stau!

Christof sagte zu mir: »Frank, du musst dir eins merken, es gibt Dinge, die wir nicht ändern können, verschwende nicht so viel Energie, wenn du es nicht ändern kannst.« Später hat er mich an meinen Spielerberater Hans Adolf Pieper vermittelt, auch ein sehr wichtiger Mensch für mich. Ein paar Jahre danach habe ich dann Christofs Tochter geheiratet.

WAS SAGT EIGENTLICH FRAU SCHMIDT?

Wir waren ganz jung, ich war 13, er 14 Jahre alt, mein Vater war sein Trainer in der C-Jugend bei der TSG Giengen. Im Winter saß ich am Wochenende bei den Hallenturnieren, mein Papa hat mich mitgenommen, und da spielte dieser große Junge, viel größer als die anderen – und was den Fußball angeht, mindestens so verrückt wie mein Papa. In den kurzen Phasen, wenn es mal nicht um das Ergebnis, den Freistoß, den Fallrückzieher ging, lernten wir uns kennen. Die erste Liebe, die Liebe für immer.

Ich habe Franks Weg von den absoluten Anfängen begleitet, die ersten Erfolge, die Spiele in der Jugendnationalmannschaft, als klar wurde, dass er Profi wird, die Jahre in Wien, Aachen und Nürnberg – und dann natürlich die vielen Jahre als Trainer. Ja, wir sind ein bisschen herumgekommen, und bei den nicht immer einfachen Stationen als Profi habe ich gelernt: Dieses Leben ist anders – denn mein Mann lebt mit jeder einzelnen Faser für den Fußball. Als unsere erste Tochter in Aachen auf die Welt kam, musste Frank am nächsten Tag zum Auswärtsspiel und ich musste schauen, wie ich aus der Klinik nach Hause kam.

Inzwischen nenne ich ihn Teilchenbeschleuniger. Denn Frank ist einer, der unwahrscheinlich viel Energie in seinem Umfeld freisetzen kann. Ich kenne tatsächlich keinen Menschen, der von seinem Beruf so motiviert ist und so diszipliniert seinen Weg geht. Ich sehe, wie hart er jeden Tag arbeitet, wie viel er und die anderen in den Sport investieren.

Es gibt das Beispiel mit dem Eisberg, man sieht nur die Spitze, aber was alles drunter ist, wie viel Arbeit drinsteckt, was man täglich dafür machen muss, ist nicht zu sehen. Keiner weiß, dass er an seinem freien Tag Spielnachbereitungen und Spielvorbereitungen macht, keiner weiß, wie viele Stunden er jeden Tag weg ist, ja dass er praktisch jedes Wochenende weg ist. Im Grunde geht es bei Frank die ganze Zeit um Fußball – aber mir ist gleichzeitig klar: So ist der Profisport. Da brauche ich mir nichts anderes einbilden.

Das Gute ist: Wir haben uns. Wir kennen uns sehr lange. Wir wissen, dass wir alles gemeinsam durchstehen. Als ihn schwere Verletzungen zurückwarfen, als er mit Mannheim abgestiegen ist, als er nicht aufgestellt und sogar aussortiert wurde, haderten wir nicht. So sind wir nicht. Wir jammern nicht, wir stehen das durch und verzweifeln nicht. Wie mein Mann ziehe ich Kraft aus der Natur, aus dem Umgang mit Tieren, auch aus unserer Heimat. Wir leben hier sehr gerne. Ich war nie diese Art von Spielerfrau, die sich über die Leistung des Mannes definiert, deren Wohlbefinden von Sieg oder Niederlage abhängt.

Geholfen hat mir, dass ich immer gearbeitet habe, als Krankenschwester, anderen Menschen helfen; ich arbeite heute noch in der ambulanten Pflege, es macht etwas mit einem, wenn man anderen hilft, wenn man nicht nur auf sich selbst schaut. Das hilft mir auch, diese sehr unberechenbare Welt des Fußballs besser auszuhalten. Für mich gab und gibt es einige Dinge, die schöner sind als Fußball, trotzdem unterstütze ich meinen Mann komplett. Dann verkraftet er auch, dass ich nicht immer konzentriert bei der Sache bin. Früher, im alten Albstadion, da haben wir mit den Kindern auf der Tartanbahn gespielt, sind zu den Tieren, während Frank mit seinem Team auf dem Platz stand. Er hat mich dann hinterher gefragt, ob ich dies oder jenes gesehen hätte, meist wusste ich aber nicht einmal, wie das Spiel ausgegangen war. Heute schaue ich mir die meisten Spiele zu Hause an, mit Kaffee und Kuchen, meine Mutter schaut mit. Nicht immer gehe ich ins Stadion.

Natürlich fiebere ich mit, natürlich haben es Frank, der Verein, die Spieler, die ganze Region verdient, dass sie jetzt aufgestiegen sind. Aber ich fürchte mich ein wenig davor, wenn sie nächste Saison in der Bundesliga spielen, dann droht vielleicht jede Woche eine Niederlage und sie stehen mit wenigen Punkten hinten in der Tabelle, das würde ich ihnen nicht wünschen. Zumal ich weiß, wie Niederlagen Frank mitnehmen, da muss man ihm erst recht den Rücken freihalten. Tatsächlich weiß ich nicht, was stressiger ist: ob sie nun um den Aufstieg mitspielen oder gegen den Abstieg. Er stünde wahrscheinlich genauso unter Stress. Das fängt zwei Tage vor dem Spieltag an, ganz schwierig.

Wir sind in vielen Dingen auch unterschiedlich, er liebt beispielsweise Urlaube, ich bleibe lieber zu Hause. Und während er sehr genau über die Entwicklung im Verein Bescheid weiß, bekomme ich vieles gar nicht mit. Dann sprechen mich Leute an, ob ich schon gehört habe, wer geht, wer kommt, und ich weiß nichts, das lese ich oft auch erst in der Zeitung. Vielleicht ist die Perspektive einfach eine andere, wenn man seit langer Zeit in der Pflege arbeitet. Was mich freut: dass unsere beiden Töchter ebenfalls eine Pflegeausbildung gemacht haben, das erdet. Die Töchter, die heute 21 und 25 Jahre alt sind, haben Frank vielleicht nicht so oft gesehen, dafür haben sie mitbekommen, wie es ist, für eine Sache zu brennen, etwas durchzuhalten, an sich zu glauben, etwas mit Leidenschaft zu tun – und gleichzeitig auf dem Boden zu bleiben.

1988

Ein erster Höhepunkt meines jungen Fußballerlebens: Ich werde erst in die Bezirksauswahl eingeladen – später noch in die württembergische U15-Auswahl. Der Wahnsinn! Die anderen Auswahlspieler kommen entweder vom VfB Stuttgart oder von den Stuttgarter Kickers, damals auch ein großer Verein in Württemberg. Ich aber bin immer noch bei der TSG Giengen, im Vergleich zu den württembergischen Giganten ein Miniverein. Der Junge von der Alb lässt sich davon nicht beeindrucken, ich mache auch in der Auswahl meine Buden.

1989

In Duisburg-Wedau spielen traditionell die Auswahlmannschaften bei einem Sichtungslehrgang des DFB gegeneinander. Aus allen Teilen Deutschlands reisen die Teams an, ich bin das erste Mal dabei – und es läuft sehr gut. Wir, die Württemberger, kommen ins Finale und spielen im Endspiel gegen die Auswahl von Westfalen. Wir verlieren zwar 0 : 1, mir gelingt kein Tor, aber ich falle auf und bin plötzlich auf dem Radar der Auswahltrainer.

Bernd Stöber, damals Bundestrainer der Jugendmannschaften, beruft mich kurz nach dem Lehrgang in die U15-Nationalmannschaft.

Nationalmannschaft! Gerade noch Garagenkick und Pommes im »Blauen Hund« in Giengen und jetzt Nationalmannschaft. Das geht so rasend schnell. Plötzlich bin ich Jugendnationalspieler, werde zu Länderspielen eingeladen.

Der absolute Höhepunkt ist ein Länderspiel im Wembley-Stadion.

1989

Wembley-Stadion! London! Länderspiel gegen England!

Ein Klassiker! Mit der U15-Nationalmannschaft darf ich ein Jahr nach meinem Debüt in der Jugendnationalmannschaft mit nach London reisen.

In meinem Team sind ausschließlich Spieler aus den großen Vereinen, Bayer Leverkusen, Bayern München, VfB Stuttgart – und ich, aus der Jugend der TSG Giengen. Ich werde respektiert: Erstens bin ich geschätzt zwei Köpfe größer als die anderen und zweitens mache ich ständig Tore, ich bin ein »richtiger Neuner«, der von Flanken lebt und Bälle versenkt.

Beim Länderpokal habe ich in jedem Spiel getroffen, auch deshalb hat mich Bundestrainer Bernd Stöber in die Jugendnationalmannschaft berufen. Auch dort hat »der Lange« (ich) gleich getroffen. Bei meinem ersten Länderspiel gegen die U15 von Frankreich habe ich aus 30 Metern ein Kopfballtor gemacht: Weiter Abschlag unseres Torwarts Uwe Gospodarek (später Profi bei Bayern und Bochum), der französische Torwart läuft mir entgegen, ich erwische den Ball mit dem Kopf und der fliegt fast durch die komplette gegnerische Hälfte ins Tor. »Der Lange« hat wieder zugeschlagen. Mit 1 : 0 gewinnen wir gegen Frankreich.

Wembley sollte das nächste Highlight werden. Es ist noch das alte Stadion, in dem das legendäre Nichttor gegen Deutschland fiel. Die Umkleidekabinen sind groß wie Sporthallen, überall stehen Schilder mit besonderen Regeln:

»No warming-up on the pitch«.

Also kein Warmmachen auf dem heiligen Rasen. Sehr ehrfürchtig gehen wir vor dem Spiel am Rasenrand entlang. Das Stadion ist voll, Zehntausende Schülerinnen und Schüler haben freibekommen und dürfen kostenlos zuschauen. Eine tolle Stimmung, »Gänsehaut« würde man sagen, ein Fußballfest für Jugendnationalspieler – und als Pointe ein typisches Frank-Schmidt-Ende.

Bei einem Kopfball rassle ich mit einem englischen Verteidiger zusammen, es rumpelt fürchterlich, unsere Köpfe prallen direkt gegeneinander. Ein deutscher Dickschädel gegen einen englischen Dickschädel. Ich bleibe zunächst benommen liegen, versuche weiterzuspielen, bin aber völlig neben der Spur, torkle ein bisschen über den Platz, dann nimmt mich der Trainer runter.

Ich muss wirres Zeug erzählt haben, weit wirrer als das, was ich sonst erzähle. Jedenfalls packen sie mich in einen Rollstuhl und fahren mich aus dem Stadion Richtung Krankenhaus.