Unperfekt, aber echt - Daniela Albert - E-Book

Unperfekt, aber echt E-Book

Daniela Albert

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Beschreibung

Eltern sein ist eine große Verantwortung. Kein Wunder, dass man sich als Vater oder Mutter bei der Erziehung oft unter Druck setzt, perfekt zu sein - und manchmal sogar die eigenen Kinder gleich mit. Dabei wissen wir als Christen doch besonders gut, dass vor allem Liebe das Geheimrezept im Umgang mit unseren Nächsten ist. Daniela Albert möchte Eltern Mut machen, auch mal unperfekt zu sein, dafür mit ganzem Herzen bei der Sache. Als Erziehungswissenschaftlerin und Familienberaterin bringt sie viel Hintergrundwissen und Tipps aus dem Bereich der Bedürfnisorientierten Erziehung mit. Ihr Buch ist allerdings alles andere als ein klassischer Erziehungsratgeber: Stattdessen steckt es voller liebevoller Erzählungen - von Mutter zu Mutter, von Familie zu Familie. Die kleinen Geschichten fesseln und vermitteln ihre Botschaften charmant und lebensnah: Was sind Glaubenssätze, die uns tragen? Welche Erziehungsmuster haben wir selbst erfahren und wie können wir uns davon lösen, um den eigenen Weg zu finden? Was macht uns als Familie stark? Dabei geht es nicht nur um die Bedürfnisse der Kinder, sondern auch um die Selbstfürsorge der Eltern für sich und ihre Beziehung. Ein Buch für alle, die auf der Suche nach Ermutigung im Familienalltag und einer christlichen Perspektive auf die Erziehung ihrer Kinder sind!

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Miriam Gamper-Brühl, 3Kreativ, Essen

unter Verwendung eines Bildes von © shutterstock/Eugenio Marongiu

Lektorat: Anja Lerz, Moers

DTP: Breklumer Print-Service, breklumer-print-service.com

Verwendete Schriften: Scala Sans, FF Scala, Summer Festival

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln

ISBN 978-3-7615-6791-3 (eBook)

www.neukirchener-verlage.de

Inhalt

Geleitwort 7

Teil I

Der lange Weg zur friedvollen Elternschaft 9

1. Bunte Steine 10

2. Oma Lisbeth– Liebe, die die Welt verändert 18

3. Der Blick aufs Kind– was sah Jesus, was siehst du? 34

4. Töchter wie Maria, Söhne wie Johannes– welche Kinder braucht die Welt? 46

5. Es gibt keine Verwöhnfalle– warum befriedigte Bedürfnisse stark machen 59

Teil II

Der neue Kompass– was uns trägt,

wenn alte Glaubenssätze wegfallen 69

6. Die Welt gesund lieben– wie wir Jesus in liebevoller Erziehung begegnen können 70

7. Bedürfnisorientierung– was ist das eigentlich? 78

8. Bauchfleisch mit Curryketchup 91

9. Keine Angst vor Fehlern 104

Teil III

Mal ganz praktisch– was Familien stark macht 115

10. Durch graue Herbst- und heiße Sommertage– Beziehungen im Alltag leben 116

11. Regeln, Grenzen, Strafen, Beziehung– wie finden wir im Alltag zusammen? 121

12. Rituale und Traditionen – Geborgenheit leben und Glaube vermitteln 137

13. Auch Eltern haben Bedürfnisse – Warum wir nur gut sein können, wenn wir gut zu uns sind 148

14. Das Beziehungskind darf nicht hungern – über die Bedürfnisse als Paar 157

15. Die Lauten, die Leisen, die Wilden, die Besonnenen – Gemeinde hat Platz für alle 163

16. Schlusswort 170

Quellen 177

Ein paar Worte über ein paar wichtige Menschen 183

Geleitwort

„Sei gnädig mit dir–Gott ist es auch!“ Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Gedanken aufgeschnappt habe. Aber er begleitet mich schon eine Weile und ist mir zu einem wichtigen Anker geworden. Und ich habe ihn für mich erweitert: „Sei gnädig mit dir und anderen–Gott ist es auch!“

Genau diesen Gedanken finde ich nun in Daniela Alberts Buch wieder: „Sei gnädig mit dir und deinen Kindern–Gott ist es auch!“ Dieser Grundgedanke zieht sich durch das ganze Buch. Er entlastet und entspannt: Wir dürfen Fehler machen. Wir müssen nicht perfekt sein. Und dieser Gedanke macht auch deutlich, wo wir Eltern unser Vorbild und unsere Kraft finden können: bei Gott, bei Jesus.

Wie Jesus mit Menschen umgeht, nimmt Daniela Albert als Schablone für unseren Umgang mit den Menschen, die uns am Herzen liegen: unsere Kinder. Sie sollen sich bedingungslos geliebt und angenommen fühlen. Sie sollen wissen, dass sie Fehler machen dürfen und dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden. So werden sie zu starken und liebesfähigen Menschen.

Diese Grundhaltung prägt das Erziehungskonzept, das Daniela Albert uns Eltern empfiehlt: eine bedürfnisorientierte Erziehung, die dem Kind Nestwärme und Geborgenheit schenkt und es stark macht für die Welt, in der sie klarkommen müssen. Dabei geht es aber nicht nur um die Bedürfnisse der Kinder. Auch wir Eltern werden in den Blick genommen: Selbstfürsorge ist ebenso essenziell wie die Sorge um die Partnerschaft, wenn wir als Eltern zu zweit unterwegs sind.

Und immer wieder macht Daniela Albert uns Eltern bewusst: Das, was wir an und mit unseren Kindern tun, ist unfassbar wertvoll. Sie lädt uns ein, „den Segen zu sehen, den du in die Welt trägst, wenn du scheinbar ‚nichts‘ tust.“ Wir Eltern bauen mit am Reich Gottes, wenn wir Zeit in unsere Familie investieren. Wenn wir am Küchentisch sitzen und zuhören. Wenn wir die siebte Runde Memory spielen. Wenn wir Lego bauen, vorlesen, Schlitten fahren oder Pizza backen…

Ich wünsche mir, dass viele Eltern–inspiriert von diesem Buch–eine gnädige Grundhaltung entwickeln können. Sich selbst und ihren Kindern gegenüber!

 

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Bochum.

Teil I

Der lange Weg zur friedvollen Elternschaft

 

1. Bunte Steine

Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik, zu nah beschaut verwirrt es nur den Blick; willst du des Ganzen Art und Sinn verstehn, so mußt du‘s, Freund, aus rechter Ferne sehn.

Emanuel Geibel

Während ich an einem Märztag 2020 am späten Nachmittag anfing, den Hefeteig für unsere traditionelle Freitagspizza zu kneten, lief auf meinem Handy ein Livestream aus Wiesbaden. Eine Menge Journalisten wartete gespannt auf den hessischen Ministerpräsidenten. Und ich wartete auch, und das mit wachsender Unruhe. Meine beiden Schulkinder waren mittags schwer bepackt nach Hause gekommen. Ihre Schulranzen waren randvoll, und weil nicht alles hineingepasst hatte, hing an jedem Arm noch ein Beutel voller Hefte, Mappen und Zeichenblöcke. „Wir mussten alles mitnehmen“, erklärten sie mir, „falls wir am Montag nicht mehr wiederkommen dürfen.“ Ich hatte mit so etwas schon gerechnet. Und doch lief mir ein Schauer den Rücken hinunter, als ich sie so vor mir sah. Meine beiden kleinen Menschen. Voll bepackt und mit ernster Miene. Nicht ängstlich und doch gespannt. Der Wahnsinn namens Corona, den wir lange Zeit für ein Problem anderer Länder gehalten hatten, war mitten in unser aller Leben angekommen.

Ich hatte den Teig gerade zu einer Kugel geformt und in eine Schüssel gelegt, als sich auf meinem Handybildschirm etwas tat. Der Ministerpräsident und zwei seiner Minister betraten den Saal. Das leise Tuscheln wich dem Geräusch von Blitzlichtern. Dann erklärte der Ministerpräsident, was längst alle vermutet hatten: Die hessischen Schülerinnen und Schüler würden mindestens in den nächsten fünf Wochen nicht zur Schule gehen, und auch die Kindergartenkinder müssten zu Hause bleiben. Die Großeltern, fuhr er weiter aus, sollten erst einmal nicht die Betreuung der Kinder übernehmen. Sie zählten schließlich zu den Menschen, für die das neue Corona-Virus besonders gefährlich sei. Ich seufzte. Die Omas und der Opa sind eine wichtige Stütze unserer Familie. Dass unsere Kinder nicht nur die Schule, sondern auch sie lange nicht sehen sollten, stellte uns vor Herausforderungen.

Doch glücklicherweise bin ich geradezu zwanghaft hoffnungsvoll. Verzweifeln kam für mich bis jetzt noch nie infrage– zumindest nicht über kurze innere Drama-Queen-Momente hinaus. Ich habe einen starken Antrieb, aus jeder Situation das Beste zu machen. Manchmal stürzt mich dieser Antrieb in blinden Aktionismus, daher ersann ich beim Rühren der Tomatensoße einen neuen Alltagsplan. Mein Mann und ich würden in Schichten arbeiten und unsere Kinder betreuen. Die Schulkinder hätten ihre festen Zeiten, in denen sie ihre Schulaufgaben machen würden, und für das Kindergartenkind würde ich ganz viele Ausmalbilder und Bastelideen besorgen. Nachmittags würden wir uns dann endlich den Dingen widmen, die wir schon immer mal machen wollten: etwas über Japan lernen und Sushi selbst rollen. Pflanzen für den Garten auf der Fensterbank vorziehen. Und den großen Jungen ins Star-Trek-Universum einführen. Während ich Knoblauch zerhackte und Käse rieb, kritzelte ich meine Ideen auf ein Schmierblatt.

Als die Pizza im Ofen buk, tippte ich meinen fertigen Corona-Plan in den Computer, druckte ihn aus und legte ihn neben Chiliöl und Basilikum zur Pizza auf den Abendbrottisch. Meine Familie nahm die Pizza mit hoher, den Plan mit mäßiger Begeisterung auf.

Wie war ich doch glücklich unwissend an diesem Abend. Ich wusste noch nicht, dass mir dieser Plan innerhalb kürzester Zeit um die Ohren fliegen würde. Er weichte auf unter den Tränen frustrierter Kinder, die von den ständigen Wiederholungsaufgaben aus der Schule gelangweilt waren. Er wurde in Fetzen gerissen von wütenden kleinen Menschen, die sich in ihren Bedürfnissen nicht mehr gesehen fühlten. Er verschwamm vor meinen eigenen müden Augen. Kurzum– er bedurfte einer Überarbeitung. Wir mussten ihn gesundschrumpfen. Und mit ihm mussten dies meine eigenen Ansprüche tun.

Ohne dass ich es damals schon geahnt hätte, führte der Lockdown uns alle tief in die Thematik dieses Buchprojektes, über das ich schon so lange nachdachte.

Ein Brennglas für Stärken und Schwächen

Es lag mir auf dem Herz zu beschreiben, dass wir die Welt an unserem Küchentisch gesund lieben können, und dass unsere gewöhnlichen Alltagstätigkeiten einen Unterschied machen.

In der großen, weltweiten Krise wurde dieser Unterschied auf einmal greifbar. Denn für viele Wochen waren unsere Liebe, unser Einsatz und die Atmosphäre an unseren Tischen die einzigen Konstanten, die den Kindern blieben. Mehr denn je kam es darauf an, dass wir verlässlich bei ihnen waren. Dass wir ihnen einen Rahmen schafften, in dem sie wachsen und lernen konnten, und ihnen Halt gaben. Mehr denn je waren es die kleinen Dinge, die auf einmal zählten: Wir kommen an unserem Tisch zusammen und essen gemeinsam. Wir hören zu und nehmen einander ernst. Liebevoll begleiten wir die Gefühle unserer Kinder– die manchmal so heftig sind. Mehr denn je traten unsere Stärken im Familienleben zutage.

Doch auch der andere Teil, über den ich schreiben wollte, wurde in diesen herausfordernden Wochen greifbarer denn je: Nicht nur unsere Stärken traten besonders hervor, sondern auch die Dinge, die wir nicht so gut können, und mit ihnen die uns allen innewohnende Überforderung. Die Tatsache, dass unsere Herzensanliegen, unsere Prinzipien manchmal schier unmöglich umsetzbar sind.

Wenn wir ehrlich sind, braucht es doch oft genug nicht einmal eine weltweite Krise, damit wir an unseren eigenen ambitionierten Vorstellungen von unserer Rolle als Eltern kläglich scheitern. Wir möchten unseren Kindern wertschätzend begegnen– und wenn es anstrengend wird, brüllen wir sie doch manchmal an. Wir möchten mit ihnen zusammen und auf Augenhöhe Lösungen finden, wenn es Probleme gibt. Und manchmal verstecken wir stattdessen wütend ihre Handys im Schrank und erteilen Internetverbot. Wir wissen, dass Schläge nicht nur verboten sind, sondern auch extrem schmerzhaft für Körper und Seele, ein großer Vertrauensbruch und eine Demütigung, die ihre Spuren hinterlässt, und wollen unsere Kinder gewaltfrei ins Leben begleiten. Und doch– wenn wir ganz ehrlich sind, hatten viele von uns schon einmal eine Situation in ihrem Elternleben, in der die eigene Überforderung so groß war, dass es beinah passiert wäre– oder tatsächlich geschehen ist. Momente wie diese gehören zu den dunkelsten Stunden in unserem Dasein als Mütter oder Väter. Wir schieben sie weit weg und trauen uns kaum, darüber zu reden. Wir schämen uns, wenn wir entdecken, dass wir neben ganz viel Liebe auch unendlich viel Wut in uns tragen. Vielleicht gepaart mit Impulsen, wirklich grässliche Dinge zu sagen oder zu tun.

Doch auch von dieser Wahrheit möchte ich in diesem Buch erzählen. Es ist wichtig, dass wir diese dunklen Seiten des Elternseins akzeptieren und offen damit umgehen. Denn wenn wir nicht verstehen, dass Wut, Trauer, Überforderung, Scham und gewalttätige Impulse zu uns gehören und Teil unseres Seelenmosaiks sind, sind wir ihnen hilfloser ausgeliefert, als wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Deshalb werde ich gleich zu Beginn eine kleine Geschichte darüber erzählen, wie Gewalt sich vererbt und in uns weiterlebt, auch wenn wir sie nicht haben wollen.

Druck von allen Seiten

Eltern werden heute von zwei Seiten in die Mangel genommen. Autoritäre Kräfte werfen ihnen vor, zu weich zu sein und mit ihrer Art des Umgangs mit Kindern eine verwöhnte, verweichlichte, vielleicht sogar lebensuntaugliche Generation zu erziehen. Doch die Gegenbewegung– Befürworter eines bedürfnisorientierten Familienlebens, die sich für Bindung und Beziehung auf Augenhöhe einsetzen, fallen manchmal von der anderen Seite vom Pferd. Schaut man sich manches Profil in den sozialen Medien an, kommt man sich schnell ungenügend vor. Legt man die dort präsentierten Idealbilder an sein eigenes Familienleben an, kann man eigentlich nur verlieren.

Ich hege große Sympathie für alle, die sich für die Bedürfnisse von Kindern einsetzen und sich für einen bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern starkmachen. Ich fühle mich ihnen zugehörig. Und gleichzeitig wünschte ich, meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wären ehrlicher. Ehrlicher damit, dass theoretisches Ideal und praktische Umsetzung oft weiter auseinandergehen als man es gern hätte. Und ehrlicher damit, dass sichere Bindung und eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern viel buntere Gesichter haben als man meint. Ich werde daher versuchen, in diesem Buch ehrlich zu sein.

Zuwendung als lebendige Nachfolge

In diesem Buch geht es um die Kraft unvollkommener, lebendiger Zuwendung. Es geht um einen Umgang mit Kindern, der diese stark und liebesfähig macht. Ein Umgang, der Empathie fördert und gleichzeitig nachsichtig gegenüber Fehlern ist; denen der Kinder und vor allem den eigenen. Es geht um Zuwendung, die die Welt verändern kann.

Das ist jedoch noch nicht alles, denn ich glaube, dass diese unperfekte Zuwendung lebendige Nachfolge ist. Jesus kam auf die Welt, um diese zu verändern. Er kam, um unseren Blick auf den Nächsten und uns selbst klarer werden zu lassen. Und er kam, um diese Welt gesund zu lieben. Wir können ihm dabei dienen, indem wir unsere Kinder liebevoll ins Leben begleiten. Wir dürfen ihm hinterherstolpern, indem wir unsere alltäglichen Kleinigkeiten tun. Die Dinge, die uns oft so wenig besonders erscheinen. Bei ihm sind sie es. Die Gute-Nacht-Geschichten und gemeinsamen Mahlzeiten, die Pizza am Freitag (oder Mittwoch oder Samstag), das Pflaster auf dem aufgeschlagenen Knie, die kühle Hand auf der vom Fieber heißen Stirn und das warme Elternbett nach dem nächtlichen Albtraum. Der Familienausflug ins Grüne und der Duft von Weihnachtsplätzchen. Der Wäscheberg, der niemals schrumpft. All das sind bunte Steine, die wir, wie Reinhard Mey es in seinem wunderschönen Lied „Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit“ besingt, in das Seelenmosaik unserer Kinder legen. Und so wird manches, dem wir kaum Beachtung schenken prägen für ein ganzes Leben, weil es „... seinen bunten Stein als ein Andenken ins Mosaik unserer Seele trägt.“ Bei Jesus hat das alles seinen Wert. Es ist Teil seines Plans und ein Ausdruck seiner Liebe.

Doch bei ihm dürfen wir auch ehrlich werden. Er sieht unsere Fehler, unsere Verzweiflung. Unser Bemühen und unser Scheitern. Er kennt deine Wut und meine Ungeduld, hat dich weinend auf den kalten Badfliesen sitzen sehen und meinen viel zu lauten Schrei gehört. Er verurteilt uns dafür nicht, sondern spricht uns frei. Mit ihm können wir uns zu den Eltern entwickeln, die wir gern wären.

Und deshalb möchte ich dich ermutigen, gemeinsam mit Jesus und mir die Welt ein bisschen gesünder zu lieben.

Ein Buch für dich und mich

Ich habe das Buch für dich geschrieben, die du so gern zugewandt und wertschätzend bist– und manchmal ganz schön kratzbürstig und ungerecht.

Ich habe es für dich geschrieben, weil ich weiß, dass du letztens geweint hast, als du gemerkt hast, dass du dein Kind gerade vor lauter Wut schlagen wolltest.

Ich habe es für dich geschrieben, die du seit Jahren zu Hause sitzt und glaubst, dein Beitrag sei nichts wert, weil du „nur“ Familienarbeit machst– oder die du arbeitest und dafür verurteilt wirst.

Ich habe es für dich geschrieben, die du dir so viele Gedanken darüber machst, wie du dein Kind gut begleiten kannst und manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr siehst.

Ich habe es für dich geschrieben, die du auf der Suche nach Rat oft im Internet suchst und dich danach einfach nur ungenügend fühlst, zwischen all den perfekten Supereltern, die es scheinbar so viel besser können als du.

Ich habe es für dich geschrieben, die du oft glaubst, alles falsch zu machen.

Und natürlich habe ich es für dich geschrieben, wenn du nicht die bist, die das alles so empfindet, sondern der.

Und ich habe dieses Buch für mich geschrieben– denn ich bin eine von euch.

2. Oma Lisbeth– Liebe, die die Welt verändert

Dass es sich lohnt, seine Kinder liebevoll zu betrachten und wertschätzend ins Leben zu begleiten, dafür gibt es mittlerweile viele Belege. Der Sozialwissenschafter Lloyd de Mause schrieb einmal:

„Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“1

Damit beschrieb er die Tatsache, dass es Kindern historisch gesehen, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, immer schlechter ging.

Umgekehrt bedeutet das, dass es Kindern von Generation zu Generation ein Stück besser geht. Diese Entwicklung verändert die Welt. Wir wissen heute, dass sich Gewaltbereitschaft auf Gewalterfahrungen gründet. Und zwar besonders auf die, die Menschen in ihrer Kindheit gemacht haben. So ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen stetig abnimmt. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht hier einen direkten Zusammenhang zum Wandel in der Erziehung.2 Kinder müssen heute in ihren Familien weniger Gewalterfahrungen machen und erfahren mehr Zuwendung. Diese ist ein Geschenk– für die Kinder, aber auch für uns als gesamte Gesellschaft.

Was Oma nie vergessen konnte

Meine Oma Lisbeth wurde 1911 geboren. Ihre Mutter starb nur wenige Jahre später bei der Geburt ihrer jüngsten Schwester, und auch ihr Vater konnte sie nicht ins Erwachsenenleben begleiten. Sie war ein Waisenkind, und wie ihre fünf anderen Geschwister unter der Obhut des ältesten Bruders, bis sie alt genug war, sich eine Stellung zu suchen und ihr eigenes Leben zu beginnen.

In den letzten Jahren dieses Lebens litt sie unter Demenz. Sie vergaß viel von dem, was ihre zweite Lebenshälfte ausgemacht hatte. Sie vergaß die Namen ihrer Nachbarn. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie wir Enkel hießen. Irgendwann wusste sie nicht einmal mehr, dass sie überhaupt Enkelkinder hatte. Stattdessen suchte sie an manchem Abend verzweifelt nach ihren eigenen kleinen Jungs, die ihrer Wahrnehmung nach doch schon längst hätten nach Hause kommen müssen. Sie hatte vergessen, dass ihr Mann schon vor Jahren gestorben war, und auch die vielen Geschichten, die sie früher zu erzählen wusste, kannte sie nicht mehr. Nur eine verfolgte sie bis an ihr Lebensende. Sie erzählte sie mir immer wieder. Fast jeden Mittag, wenn ich sie in ihrem Haus, in dem sie trotz zunehmender Verwirrtheit blieb, besuchte und darauf achtete, dass sie ihr Mittagessen nicht vergaß, erinnerte sie sich an dieselbe Szene aus ihrer Kindheit:

Ihr Vater, ein Bauer, dessen Leben aus harter Arbeit und viel Sorge um seine große Kinderschar bestand, lebte damals noch. Als sie eines Abends zu Tisch saßen, kam ein Mann aus der Nachbarschaft vorbei. Der Vater bat ihn dazu und lud ihn ein, einen Teller mitzuessen. Doch der Gast lehnte dankend ab. Der Vater bedachte seine Kinder vorsichtshalber mit strengen Blicken, denn der Nachbar hatte in der Vergangenheit schon oft Anlass für unerwünschte, kindliche Lachkrämpfe gegeben. Irgendetwas an ihm muss ziemlich schrullig gewesen sein. Eine ganz schön große Herausforderung für eine so große Schar kleiner Menschen. Doch vielleicht wäre es gut gegangen, vielleicht hätten die Kinder tatsächlich das an den Tag gelegt, was damals als gutes Benehmen galt, hätte der Nachbar an diesem Abend nicht in seiner Schrulligkeit eins draufgesetzt. Denn nachdem er zehn Minuten über dies und das mit dem Vater geredet hatte, sah er über den gedeckten Tisch und rief offensichtlich total erstaunt aus: „Oh, ihr esst gerade? Kann ich dann einen Teller mitessen?“

Das war zu viel für die sieben kleinen Menschen, die wahrscheinlich schon minutenlang um Contenance gekämpft hatten. Das erste Kind versuchte noch mühsam, sein Lachen zu unterdrücken, doch dann stimmten die anderen ein, und schon konnte sich keins der sieben Kinder mehr halten. Da kam jedes Machtwort zu spät. Peinlich berührt schmiss mein Urgroßvater sie aus dem Raum. Er rief sie erst wieder zurück, als der Besucher gegangen war. Was die Kinder dann über sich ergehen lassen mussten, würden wir heute als schwere Kindesmisshandlung bezeichnen. Doch damals war es ein normaler, akzeptierter und sogar gewünschter Teil der Erziehung. Denn wer die Rute schonte, so hatte es mein Urgroßvater gelernt und verinnerlicht, der hasste seine Kinder.3

Ich erzähle diese Geschichte nicht nur, weil sie meine Oma zeit ihres Lebens nie losgelassen hat. Ich erzähle sie auch, weil die Kindheit meiner Oma bis in mein Leben und das meiner Kinder fortwirkt. Genau wie die Kindheit deiner Großeltern in deinem Leben eine Rolle spielt. Kindheit ist nichts, was ein Mensch auszieht wie die alte Flickenhose, aus der er irgendwann rausgewachsen ist. Was wir in jungen Jahren erlebt haben, begleitet uns auch weiter. Besonders, wenn wir selbst Eltern werden, kommt vieles wieder zum Vorschein. Wir erinnern uns auf einmal daran, was uns Geborgenheit und Wärme gegeben hat. Wir greifen Rituale wieder auf, die uns in unserer Kindheit wichtig waren. Andere schmeißen wir über Bord.

 

Kindheit ist nichts, was ein Mensch auszieht wie die alte Flickenhose, aus der er irgendwann rausgewachsen ist.

Alte Muster prägen sich ein

Wir erinnern uns aber auch an Dinge, die weniger schön waren und die wir auf jeden Fall anders machen wollen. Nicht immer gelingt uns das. Denn diese alten Muster sind stärker und prägender als wir glauben. Wenn die natürliche Reaktion von Erwachsenen bei Konflikten mit uns Gewalt war, ist diese Erfahrung in uns Menschen abgespeichert. Kinder, deren Eltern aus Wut und Überforderung Ohrfeigen verteilt haben, tragen diese Reaktion wie einen Reflex in sich. Oft sind sie, sobald sie selbst Eltern sind, sehr verzweifelt darüber, wenn sie zum ersten Mal den Impuls verspüren, ihre Kinder zu schlagen. Dazu kommt, dass es eine enorme Kraftanstrengung bedeutet, dem nicht nachzugeben. Oft entlädt sich diese gewaltige Energie dann anders: durch Brüllen, Beleidigungen, Aggressionen gegen Dinge– oder sich selbst.

Der lange Weg zu mehr Liebe

Doch wie kommt es dann, dass wir heute trotzdem in der Masse sehr viel liebevollere Eltern sind als noch ein paar Generationen vorher? Das liegt zum einen an Gesetzen, die Kindern heute ein gewaltfreies Aufwachsen sichern sollen. Sicher hat auch die 68er-Bewegung ihren Teil dazu beigetragen, die allgemeinen Ansichten über Erziehung zu hinterfragen. Diese Nachkriegskinder, von denen selbst viele den Kochlöffel oder den Teppichklopfer als normalen Teil der Erziehung kannten, rüttelten die pädagogische Landschaft in Deutschland ordentlich durch. Dass dies aber tatsächlich funktioniert hat, liegt auch noch an etwas anderem: Nämlich daran, dass sich schon lange vorher viele Eltern auf den Weg machten, um Kindheit zu verändern. Manche gingen nur kleine Tippelschritte. Andere taten riesige Sprünge.

Meine Oma erlebte zwei Weltkriege. Den ersten als Kind. Und den zweiten als junge Mutter– allein mit ihren drei Söhnen, während ihr Mann im Krieg war. Die Erziehungsansichten der 1930er- und 1940er-Jahre unterschieden sich wenig von denen, die sie selbst erlebt hatte, waren aber zusätzlich von der Ideologie des Nationalsozialismus eingefärbt. Es wäre meiner Oma ein Leichtes gewesen, auch ihre Söhne so zu erziehen, wie sie es erlebt hatte. Und doch machte sie sich in kleinen Schritten auf den Weg. Das Kind, das selbst wenig Geborgenheit und Wärme erfahren hatte, entschied sich, ihren Söhnen ein Zuhause zu schaffen, in dem warmer Brei gegessen und Lieder gesungen wurden. Inmitten des Wahnsinns ihrer Zeit legte sie kleine bunte Steinchen in das Seelenmosaik ihrer Jungs, wenn sie diese entgegen der damaligen Empfehlungen in den Schlaf sang, in all der Hungersnot für meinen Vater– den Kleinsten und Dünnsten ihrer Kinder– eine Extraportion Haferbrei aufhob oder sich später, als er als Erster in der Familie eine höhere Schule besuchte, bis spät in der Nacht zu ihm setzte, wenn er lernen musste.

Ich möchte meine Großmutter nicht glorifizieren. Sie war keine Heilige, genauso wenig wie ich oder meine Eltern. Sie war ein Kind ihrer Zeit. Eine Frau, die in der größten Zerbrochenheit lebte, die unser Land je gesehen hat. Eine Frau, die einen schweren Rucksack mit ins Leben trug. Und ganz sicher eine Frau, die bei der Erziehung ihrer Jungs Fehler machte und zu den bunten Steinchen einige pechschwarze legte. Aber sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass jede Generation aufs Neue bewusst entscheiden kann, ein kleines Stückchen über das hinauszugehen, was sie selbst gekannt und erlebt hatte.

Dunkle Steine im Seelenmosaik

Irgendwann sind wir dann dort angekommen, wo wir heute stehen. Im Gepäck haben wir all die Momente, die unsere Vorfahren für uns mit Liebe gefüllt haben– und natürlich auch die anderen. Ihre dunklen Stunden haben ebenfalls ihre Spuren in unserem Leben hinterlassen. Sie haben die Atmosphäre in unseren Herkunftsfamilien genauso geprägt wie die schönen Erinnerungen. Es gibt Stellen in unserer Biografie, in denen wir die Zerbrochenheit unserer Eltern gespürt haben und in denen ihre Narben zu unseren wurden. Bei dem einen war das mehr, bei dem anderen weniger ausgeprägt der Fall. Manches verstehen wir heute besser, weil unsere Eltern es uns erklären konnten. Doch vieles lief auf tieferen Ebenen ab und ist nur schwer zu greifen. Einiges erscheint uns irgendwann plötzlich in einem neuen Licht, anderes bleibt für immer dunkel und unverständlich. Und manchmal ist man überrascht, welche Dinge sich übertragen– im Guten wie im Schlechten. So habe ich mich bei den Planungen für dieses Buch daran erinnert, dass das Thema Lachanfälle am Esstisch in meiner Kindheit ziemlich viel Konfliktpotenzial in sich trug. Und um ehrlich zu sein, finde ich meine Kinder, wenn sie sich beim Abendessen vor Lachen nicht mehr einkriegen, auch nicht immer nur süß.

Wir können die dunklen Steine nicht aus unserem Seelenmosaik entfernen. Sie sind da, genau wie die bunten. Und leider können wir wohl auch nicht ganz verhindern, dass wir selbst dunkle Steine an unsere Kinder weitergeben, auch wenn wir uns das alle noch so sehr wünschen.

Ich kenne sie, diese Momente, in denen man am liebsten die Zeit zurückdrehen würde. Diese Augenblicke, in denen man alles dafür geben würde, die Uhr nur um ein paar Sekunden zu verstellen, damit wir etwas ungeschehen machen könnten. Das bitterböse Wort. Den Schrei, der viel zu laut und viel zu aggressiv war und dafür gesorgt hat, dass unser Kind nun weinend vor uns steht. Den zornigen und viel zu festen Griff unserer Hand, der mit Sicherheit wehgetan hat. Oder vielleicht doch die Ohrfeige? Wenn Eltern zu mir in die Praxis kommen und von solchen Erfahrungen erzählen, sind sie meistens verzweifelt. Und natürlich schämen sie sich in Grund und Boden.

Gewalt lebt weiter– besonders im Affekt

Die Zahl der Eltern, die psychische oder körperliche Gewalt anwendet, weil sie es für eine angebrachte Form der Erziehung hält, ist in Deutschland zwischen 2000 und 2016 deutlich gesunken, die Zustimmung zu Gewaltverzicht in der Erziehung dementsprechend gestiegen. Dies ist erst einmal eine gute Nachricht. Doch gleichzeitig zeigen neuere Studien, dass die Einstellungen in der gesamten Bevölkerung hier in den letzten Jahren stagnieren. Dazu kommt, dass es noch immer nicht genügend Aufklärung darüber gibt, was körperliche Gewalt eigentlich ist. So hielten es auch 2020 noch knapp die Hälfte aller Befragten in Deutschland für angebracht, Kindern „einen Klaps auf den Hintern“ zu geben.4 Dass auch dieser jedoch unter körperliche Gewalt fällt– und darüber hinaus für Kinder extrem demütigend und psychisch belastend ist, ist noch nicht in allen Köpfen angekommen. Hier braucht es weiterhin viel Aufklärung.