Was trägt? Was zählt? Was bleibt? - Daniela Albert - E-Book

Was trägt? Was zählt? Was bleibt? E-Book

Daniela Albert

0,0

Beschreibung

Was trägt uns als Familien, wenn die Sicherheiten, mit denen wir selbst aufgewachsen sind, ins Wanken geraten? Was hilft uns, wenn das Motto "Höher, schneller, weiter" für uns kein Aufstiegsversprechen mehr ist, sondern für die Spirale aus überhöhten Erwartungen, Stress und Leistungsdruck steht, in der sich viele Familien heute wiederfinden? Wie finden wir neue Wege, wenn wir feststellen, dass es so nicht weitergehen kann? Wie finden wir den Mut zum nachhaltigen Handeln und die Kraft, eine Zukunft zu gestalten, die unsicherer geworden ist und uns manchmal sogar Angst macht? All diesen Fragen hat sich Pädagogin und Dreifach-Mama Daniela Albert gestellt. Herausgekommen ist ein starkes Plädoyer, alte Glaubenssätze in der Erziehung, im Familienleben und auch in der Lebensplanung zu hinterfragen und diesen ein neues Bild vom gelungenen Familienleben entgegenzusetzen. Wie bei ihren ersten beiden Büchern gibt es auch hier wieder praktische Tipps, hilfreiche pädagogische und christliche Impulse sowie Beispiele mitten aus dem Leben, in denen sich viele Eltern wiederfinden. Ein Elternratgeber für die bedürfnisorientierte Slow-Family und alle, die es werden wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG zu gewinnen, ist untersagt.

 

© 2024 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kristina Dittert, unter Verwendung eines Bildes von [email protected]

Lektorat: Anja Lerz, Moers

DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Verwendete Schrift: Scala Pro, Scala Sans, Summer Festival

eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu

ISBN 978-3-7615-6972-6 (Buch)

ISBN 978-3-7615-6973-3 (E-Book)

 

www.neukirchener-verlage.de

 

Bedürfnisorientiert leben – neue Werte für andere Zeiten!

 

 

 

 

Ich hatte mich an jenem Februarmorgen noch einmal umgedreht, als der Wecker meines Mannes uns unbarmherzig aus dem Schlaf riss. Die Nacht war zu kurz gewesen. Der wenige Schlaf war der Preis für einen wundervollen Abend: Ein Freundinnen-Abend, wie ich ihn lange nicht gehabt hatte. Nach Jahren der Pandemie, mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Masken und Abstandsregeln hatten wir es gewagt, uns zu treffen. Es war einer dieser Spätwinterabende gewesen, an denen man einfach zusammensitzt, gemeinsam betet, sich den jahreszeitlichen Blues ein bisschen vertreibt, Wein trinkt, Datteln im Speckmantel in Raclette-Pfännchen brät und gar nicht mehr aufhören kann, zu reden. Und weil wir alle so sehr nach Gemeinschaft gehungert hatten, wurde es weit nach Mitternacht, als wir uns voneinander verabschiedeten. Zu spät für einen Mittwochabend – besonders, wenn am nächsten Morgen um sechs alle wieder rausmüssen.

Entsprechend verschlafen drehte ich mich an jenem Morgen einige Minuten später zu meinem Mann und seinem unheilvollen Wecker um. Ich sah, dass er im Unterschied zu mir bereits hellwach war. Er saß im Bett und starrte auf sein Handy. Und dann sagte er die Worte, die all die Wärme und Leichtigkeit des vorherigen Abends davon spülten: „Russland hat die Ukraine angegriffen.“

Die meisten von uns haben diesen Morgen des 24. Februars 2022 als Zensur empfunden. Als einen Moment, in dem alle weiteren Prioritäten an diesem Tag genauso unwichtig wurden wie Schlafmangel oder die kleinen Alltagssorgen, die am Vorabend noch groß erschienen waren. Natürlich: Wir waren nicht direkt betroffen von diesem Angriffskrieg. Unsere Häuser waren weiter sicher, auf unseren Straßen mussten wir uns nicht fürchten, wir konnten nachts ohne Angst schlafen und mussten nicht über eine Flucht aus unserem Land nachdenken. Ganz anders als die Frauen, Männer und Kinder in der Ukraine. Trotzdem hat dieser Krieg mitten in Europa vielen von uns emotional den Boden unter den Füßen weggezogen. Sicherheiten, an die wir, die Kinder der 1980er- und 1990er-Jahre, unser Leben lang geglaubt hatten, waren auf einmal wie weggeblasen. Selbstverständlichkeiten lösten sich an diesem Februarmorgen in Luft auf. Schlagartig schien es keine Garantie mehr auf ein Leben in Frieden und in Wohlstand für uns und unsere Kinder zu geben.

Worte wie „Zeitenwende“, „tiefe Einschnitte“ und „größte Anstrengung der Nachkriegszeit“ machten die Runde und es war die Rede von spürbarem Wohlstandsverlust. Die Politik begann, uns auf Verzicht und Einschränkungen einzuschwören. Mittlerweile ist der Krieg in unserer europäischen Nachbarschaft für uns alltäglich geworden, tobt er doch jetzt, wo ich das schreibe, schon seit über anderthalb Jahren. Die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen sind, zumindest für die meisten von uns, erst einmal abgefangen worden. Lebensmittel und Energie sind teurer geworden, aber wir können es bewältigen. Wir spüren die wirtschaftlichen Folgen, aber sie sind zurzeit nicht so katastrophal wie anfangs befürchtet. Und doch haben wir durch dieses Ereignis gespürt, was uns eigentlich schon längst hätte klar sein sollen: Wir leben in einer Welt, in der Sicherheiten stark ins Wanken gekommen sind.

Sich sicher fühlen – das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Auf der bekannten Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow kommt es gleich nach den körperlichen Grundbedürfnissen nach Nahrung, Schlaf oder Sex. Zu wissen, dass man ein sicheres Dach über dem Kopf hat, ein regelmäßiges Einkommen und Schutz vor Gewalt und anderen Gefahren, ist für uns Menschen wichtig. Es ist eine Voraussetzung für gesundes Wachstum und Entwicklung.

Unser Gefühl der Sicherheit hat der Ukraine-Krieg auf zwei Arten ins Wanken gebracht: Zum einen war gerade in den ersten Kriegswochen oft von möglichen weiteren Eskalationen die Rede und die Angst einer Ausweitung des Konflikts, die möglicherweise auch uns unmittelbar betreffen könnte, steckte vielen von uns in den Knochen. Sie ist heute bei den meisten Menschen nicht mehr so präsent. Es ist ein natürlicher (und sinnvoller!) psychologischer Vorgang, sich an Gegebenheiten – auch die schwierigsten – zu gewöhnen. Unser Körper ist nicht auf einen dauerhaften Angst- und Panikmodus ausgelegt. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl der Unsicherheit, das sich aus der Erkenntnis speist, dass dieser Konflikt (zusammen mit vielen anderen globalen Krisen, allen voran dem Klimawandel) unser Leben bereits verändert hat und noch sehr viel drastischer verändern wird.

Unser mangelndes Gefühl von Sicherheit entspringt nicht der Furcht, grundsätzliche Dinge wie Nahrung, ein Dach über dem Kopf oder Schutz vor Gefahren zu verlieren, sondern das Leben, so wie wir es kennen, nicht mehr weiterleben zu können.

Der Blick in eine ungewisse Zukunft aktiviert unser inneres Alarmsystem. Er erzeugt Angst und konfrontiert uns mit vielen Fragen: Wer bin ich, wenn mir das, worauf ich mein Leben bisher gebaut habe, abhandenkommt? Wie sehr definiere ich mich durch meinen Job, mein Haus oder meinen Stadtteil? Wie sehr hängt mein persönliches Sicherheitsgefühl nicht nur davon ab, dass ich ein Dach überm Kopf und Essen auf dem Teller habe? Die Antwort auf die letzte Frage dürfte für uns alle gleich sein: Unser Sicherheitsgefühl ist sehr abhängig davon, dass wir mehr haben als eine Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf.

Wenn wir uns über die Folgen der derzeitigen Krisen Gedanken machen, fürchten wir vor allen Dingen den Verlust des Gewohnten – und dabei geht es um weit mehr als ums Geld. Es geht uns auch um Ansehen und um Zugehörigkeit. Beides verbinden wir sehr stark mit dem, was wir haben und uns leisten können. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung unter Leitung von Bettina Kohlrausch hat einen interessanten Aspekt zum Vorschein gebracht: Etwa ein Drittel der Befragten gaben an, Angst vor dem Verlust ihres Lebensstandards zu haben. Gleichzeitig hatten die Befragten jedoch keine Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Vielmehr spielen hier Anerkennung und Prestige eine Rolle, die in unserer Gesellschaft stark mit sozialem Status, Bildungsgrad und auch dem ausgeübten Beruf zusammenhängen. Die Angst vor einem Verlust des derzeitigen Lebensstandards scheint zudem umso stärker zu sein, je mehr die Personen das Gefühl haben, dass ihre Zukunft in der Hand von „fremden Mächten“ liegt, also beispielsweise von Politik und Weltgeschehen abhängig ist, während der eigene Gestaltungsspielraum gering ist.1

Wenn Sorgen und Ängste um den eigenen sozialen Status oder Lebensstandard Eltern betreffen, schließen sie auch immer die Frage ein, ob sie ihren Kindern dann noch genug werden bieten können. Die Vorstellungen davon, was unsere Kinder brauchen, sind dann oft auch von unserem derzeitigen Status und dem sozialen Umfeld geprägt. Sie umfasst neben materiellen Ansprüchen auch bestimmte Vorstellungen von Bildungszielen für unsere Kinder, genauso wie Hobbys und Freizeitbeschäftigungen.

Nun lässt sich nicht wegdiskutieren, dass wir unseren bisher gewohnten Lebensstandard aus vielerlei Gründen in Zukunft hinterfragen müssen. Vielleicht, weil wir aus wirtschaftlichen Aspekten dazu gezwungen werden, vielleicht aber auch, weil sich mehr und mehr ein Bewusstsein dafür breitmacht, dass wir gerade im Bereich von materiellen Ansprüchen und Konsum zukünftig Abstriche machen müssen, wenn wir diesen Planeten als lebenswerten Ort erhalten wollen. Dazu kommt, dass viele Familien heute unter sich immer mehrendem Stress und Zeitdruck leiden. Dieses Phänomen werden wir uns im Verlauf des Buches noch genauer ansehen. Hier sei aber schon einmal vorweggenommen, dass auch die Art und Weise, wie wir heute Familie leben, nicht unbedingt die gesündeste ist. Auch hier müssen wir uns neu fragen, wo wir zukünftig Energie investieren wollen und an welchen Stellen wir Abstriche zugunsten von Ruhe und Müßiggang machen sollten.

Wenn wir uns also ohnehin schon damit auseinandersetzen müssen, dass einiges von dem, was uns bisher lieb und teuer war, oder von dem wir das zumindest glaubten, zukünftig nicht mehr zu unserem Leben gehört, dann können wir uns auch gleich die Frage stellen, wie wir stattdessen leben wollen. Was macht uns glücklich? Was benötigen kleine und große Menschen wirklich, um gut durchs Leben zu kommen? Und: Wie können wir in Zeiten wie diesen wieder festen Boden unter die Füße bekommen? Wie können wir uns sicher fühlen, wenn bisherige Sicherheiten wanken?

Dass viele von uns sich seit einigen Jahren weniger sicher fühlen als ihn ihrer Kindheit und Jugend, liegt angesichts der weltpolitischen Lage auf der Hand. Wir sind nicht in der Lage, diese kurzfristig und allein aus eigener Initiative zu verändern. Den Blickwinkel auf unsere derzeitige Situation, den können wir aber durchaus verändern. Denn gerade in einer Welt, in der medial meistens nur die größtmögliche Skandalisierung und Katastrophisierung unsere Aufmerksamkeit finden, kann unser persönliches Sicherheitsempfinden noch schneller erschüttert werden. Ein erster Schritt ist es hier daher gar nicht, sich zwanghaft scheinbare neue Sicherheiten zu schaffen, sondern erst einmal der gefühlten Bedrohungslage etwas entgegenzusetzen.

Gut gegen Unsicherheit und schwankende Fundamente sind meiner Erfahrung nach: Versachlichung, Umdeutung und Hoffnung. Versachlichung deshalb, weil wir uns klarmachen müssen, dass gerade in unserer medialen Welt viele Informationen gar nicht mehr ihren Weg zu uns finden. Nachrichten, gerade wenn sie über Social Media verbreitet werden, sollen oft auch die Emotionen der Konsumenten ansprechen. Und das klappt bestens, wenn sie negative Impulse wie Angst, Wut oder Entsetzen setzen. Gerade zu Beginn des Ukraine-Krieges, aber auch bei anderen Krisenthemen, hat es sich für mich bewährt, bewusst Menschen zuzuhören, die die Lage relativ nüchtern und sachlich erklärt haben. Die Langweiligsten sind in solchen Situationen nämlich oft die Besten. Starken Emotionen Wissen gegenüberzustellen, ist immer hilfreich. Selbst dann, wenn dieses Wissen nicht sofort alle Ängste aus dem Weg räumen kann, verschafft es uns Klarheit und auch einen nötigen inneren Abstand zur Situation. Gerade, wenn wir Kinder ins Leben begleiten, ist das besonders wertvoll – denn dann ist es in Krisenzeiten ja nicht nur wichtig, wie wir uns fühlen, sondern auch, wie wir ihnen weiterhin das Gefühl von Sicherheit geben können. Und das gelingt am besten, wenn wir Themen für uns versachlicht haben.

Umdeutung, meine nächste Strategie für mehr Sicherheitsgefühl, ist im Kontext von Therapie und Beratung auch als Reframing bekannt. Dabei geht es darum, gerade Situationen, die wir erst einmal nicht verändern können, anders anzuschauen. Das ist nicht zu verwechseln mit dem neu aufgekommen Schlagwort des „positiven Mindsets“, bei dem man häufig versucht, negative Sachverhalte komplett auszublenden. Es geht vielmehr darum, im vollen Bewusstsein der Schwierigkeiten einen neuen Blick auf eine Situation zu entwickeln, um so beispielsweise auch Chancen zu erkennen, neue Perspektiven zu finden, Gutes im Schwierigen zu entdecken und neue Handlungsspielräume zu erkennen.

Nehmen wir zum Beispiel das Thema der großen globalen Umbrüche, die uns die aktuellen Konflikte bescheren: Niemand hat sich diese Veränderungen gewünscht. Die meisten von uns haben es sich in ihrem bisherigen Leben und dem, was wir an Wohlstand und Sicherheit kennengelernt haben, bequem eingerichtet. Doch Veränderungen bieten uns auch Chancen. Wir dürfen uns in Zeiten wie diesen auch neu fragen, wie wir leben möchten, und uns vielleicht von Zwängen und Ballast befreien, die uns unser bisheriges Leben und seine Leistungsansprüche aufgebürdet haben. Wenn es zum Beispiel um die Erziehung unserer Kinder geht, kann die Erkenntnis, dass wir nicht wissen, welche Welt morgen auf sie wartet, auch befreiend sein. Wenn wir unsere Kinder in ein Leben begleiten, über das wir nicht viel sagen können, bedeutet das nämlich auch, dass wir den Gedanken, sie in eine bestimmte Richtung prägen zu müssen oder dass sie für ein gelingendes Leben einen bestimmten Schulabschluss, Frühförderung, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten oder Hobbys brauchen, loslassen dürfen. Und das kann befreien, entlasten und den Familienalltag entschlacken.

Der dritte Punkt, der dir helfen kann, dich in einer wankenden und sich schnell wandelnden Welt wieder sicherer zu fühlen, ist Hoffnung. So einfach, so gut und – seien wir ehrlich, manchmal so schwer. Denn wie oben bereits beschrieben, kann der Zustand dieser Welt einen schon ziemlich erdrücken. Gerade dann, wenn wir uns von den reißerischen, den schwierigen Nachrichten mitreißen lassen, wenn wir zu tief eintauchen in düstere Prognosen, verlieren wir allzu schnell aus den Augen, dass es viele stichhaltige Gründe gibt, weiterhin an diese Welt und ihre Menschen zu glauben.

Die Menschheit steht nicht zum ersten Mal schweren Krisen gegenüber; unsere Großeltern und Urgroßeltern und auch keine Generation davor kannten gar kein dauerhaftes Leben in Frieden und Sicherheit, wie unsere Generation es bisher erleben durfte. Und doch hat die Menschheit immer wieder Wege gefunden, zu überleben, sich weiterzuentwickeln, aus Zerbrochenheit und tiefsten Abgründen Neues und Gutes wachsen zu lassen oder Frieden zu schließen, wo es kaum möglich erschien. Menschen haben sich an Herausforderungen aller Art angepasst, auch unter widrigsten Umständen etwas Lebenswertes gemacht und karges Land bestellt.

Jede große Geschichte handelt von Hoffnung und wir Christen glauben an einen Gott, der uns Hoffnung darauf macht, dass all das hier, was wir auf dieser Erde erleben, nur ein Teil unserer eigenen großen Geschichte ist und dass nicht einmal so etwas Endgültiges und Entsetzliches wie der Tod das letzte Wort hat. Wieso sollten es dann all die Schrecken und Katastrophenszenarien dieser Welt haben?

In den auf jenen Februarmorgen folgenden Tagen waren es meine Mitmenschen, die mir ebendiese Hoffnung gegeben haben. Da war zuerst meine Freundin, die den wunderschönen Abend ausgerichtet hatte – und mit der ich am nächsten Vormittag schweigend im Vorgarten stehen konnte, weil uns die Worte fehlten. Mit ihr stand das Wissen vor meiner Haustür, dass ich von Menschen umgeben bin, die da sind, wenn etwas Schlimmes passiert. Dass wir einander schon mehr als einmal bewiesen hatten, dass wir nicht wegrennen, wenn das Schicksal zuschlägt und die Zerbrochenheit dieser Welt sich in unseren Leben manifestiert. Zu wissen, dass man auch in Krisenzeiten nicht allein ist, ist ungeheuer hilfreich und stärkend.

Doch es war nicht nur der engste Kreis meiner Familie und Freunde, der mich hoffen ließen, sondern auch das, was ich überall um mich herum gesehen habe: Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Pragmatismus und zupackende Hände. Ich habe in den Wochen, die auf diesen düsteren Tag folgten, gespürt, dass es genügend Menschen da draußen gibt, denen es nicht egal ist, was aus anderen wird – und das nicht zum ersten Mal. Bei jeder großen Katastrophe, die auf dieser Welt passiert, kann man neben all dem Schrecklichen, all den Abgründen auch immer das beobachten: Es sind immer Menschen da, die helfen. Menschen, die teilen, was sie haben. Menschen, die Platz machen in ihren Häusern und Herzen. Menschen, die Geld an Unbekannte in einem anderen Teil der Welt überweisen oder sich gar selbst in Gefahr bringen, um fremde Leben zu retten. Menschen, die für andere Menschen da sind, weil Helfen für sie selbstverständlich ist. Weil sie verstanden haben, dass Menschen für andere Menschen da sein müssen. Nur so können wir gemeinsam auf diesem Planeten leben.

Wir brauchen einander. In einer Gesellschaft, in der im Durchschnitt nur noch zwei Personen gemeinsam in einem Haushalt leben, neigen wir dazu, zu vergessen, dass wir soziale Wesen sind. Die Geschichte der Menschheit ist zur Erfolgsgeschichte geworden, weil die Menschen die allerlängste Zeit in großen Gruppen miteinander gelebt haben. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft war die größte Sicherheit, die ein menschliches Wesen über Jahrzehntausende haben konnte, der Verlust ebendieser Gemeinschaft hingegen bedeutete das sichere Todesurteil. Die nächste Stufe auf Maslows Bedürfnispyramide trägt dem bis heute Rechnung, sie fasst die sozialen Bedürfnisse von Menschen zusammen: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Freundschaft, nach engen Beziehungen und sozialen Kontakten.

Eine Krise kann auch hier ein guter Anlass zu sein, die eigenen sozialen Beziehungen zu prüfen: Welche Menschen möchte ich an meiner Seite haben, wenn meine Welt ins Wanken kommt? Wer war da, als es mir zuletzt schlecht ging? Wer hört mir zu, wer hilft mir, wer hält zu mir und hält mit mir aus? Worauf fußen die Gemeinschaften, denen ich mich zugehörig fühle? Wo fühle ich mich bedingungslos angenommen und wo habe ich das Gefühl, jemand sein oder etwas leisten zu müssen, um dazuzugehören?

Stabile soziale Beziehungen, die sich nicht nur auf gemeinsame Hobbys, die derzeitige Lebensphase oder ein ähnliches Freizeit- und Konsumverhalten gründen, können ein neuer Sicherheitsfaktor sein, wenn bisherige Sicherheiten nicht mehr tragen. Es lohnt sich also, in Zukunft genau da hinein zu investieren. Einander durchs Leben zu begleiten und beizustehen und zu unterstützen, das ist nicht nur wichtig für diejenigen, die dieser Unterstützung gerade bedürfen. Für andere wertvoll zu sein und seinen Beitrag zum Gelingen einer Gemeinschaft zu leisten gehört zu der nächsten Ebene der bereits angesprochenen Bedürfnispyramide.

Wir alle tragen das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung in uns. Interessant ist es, diesen Aspekt noch einmal mit dem Wissen zu betrachten, dass viele Menschen unserer Generation sich davor fürchten, ihren bisherigen Lebensstandard, sozialen Status und ihr Prestige zu verlieren. Denn oft ziehen wir Wertschätzung und Anerkennung zu einem großen Teil aus unserem Berufsleben, der Position, die wir innehaben, und auch unserem Gehalt, aber auch aus dem, was wir besitzen oder nach außen darstellen. Gerade in der aktiven Familienphase beziehen wir sie vielleicht auch daraus, was unsere Kinder leisten, auf welche Schulen sie gehen, ob sie im Fußball oder beim Musizieren erfolgreich sind und das an den Tag legen, was man derzeit unter „gutem Benehmen“ versteht.

Doch gerade in Zeiten rasanter Veränderungen ist es auch an diesem Punkt gut, einmal innezuhalten und zu überlegen, was uns eigentlich für andere Menschen wertvoll macht und wofür wir anderen Menschen unsere Anerkennung zollen. Umgeben wir uns wirklich mit Menschen, weil sie einen tollen Job haben, diese beeindruckenden Urlaubsbilder im WhatsApp-Status zeigen oder der neuste heiße Scheiß bereits in ihrem Haushalt eingezogen ist, bevor wir überhaupt davon gehört haben? Sind unsere Freunde unsere Freunde, weil ihre Kinder auf dem besten Gymnasium der Stadt sind? Mag sein, dass all das eine Weile interessant ist und guten Gesprächsstoff für einen unterhaltsamen Abend bietet. Wir neigen in unserer Gesellschaft auch mehr und mehr dazu, uns nur noch mit Menschen zu umgeben, die uns sehr ähnlich sind, in einer ähnlichen Lebensphase, von ähnlichem sozialem Status, mit ähnlichen Werten und Einstellungen. Das mag auf den ersten Blick gut erscheinen – wir werden aber noch sehen, dass diese Homogenisierung durchaus ihre kritischen Seiten hat.

Es ist doch so: Wertvoll sind Menschen nicht für uns, weil sie uns ähnlich sind oder weil sie uns mit Äußerlichkeiten beeindrucken. Wenn ich an meine Lieblingsmenschen denke, dann denke ich daran, dass sie immer ein offenes Ohr haben, wenn ich sie brauche, oder daran, dass es diese Handvoll Menschen in meinem Leben gibt, die alles stehen und liegen lassen würde, wenn bei mir wirklich Not wäre. Ich denke an die, deren Lachen so unfassbar ansteckend ist, dass selbst die schlechteste Laune irgendwann davonfliegt, und ich denke an die Freundin, mit der ich schweigen und weinen kann. Ich denke an tolle Gespräche und unkomplizierte gemeinsame Aktivitäten, an das befreiende Gefühl, für jemanden nicht extra aufräumen zu müssen, und an warme Wohnzimmer, die für mich geöffnet werden.

Was wir brauchen, ist ein soziales Umfeld, in dem wir uns sicher und gesehen fühlen, und zwar jenseits dessen, was uns diese Welt als anerkennenswert suggeriert. Menschen, die sich in so einem Umfeld geborgen wissen, sind leichter in der Lage, Krisen zu meistern und sich auf neue Situationen einzustellen. Dieses soziale Sicherheitsnetz gibt ihnen eine Grundlage für Wachstum und Entfaltung. Sie finden so Mut, das Leben zu meistern und für sich einzustehen. Außerdem bereitet ein sicheres soziales Umfeld, das einem Anerkennung und Wertschätzung schenkt, auch einen Rahmen, in dem wir unser Leben und unsere Umwelt selbst gestalten können. Selbstwirksamkeit ist die letzte Stufe der Bedürfnispyramide. Die Erfahrung zu machen, dass man Dinge selbst in der Hand hat – und eben nicht nur scheinbar höheren Mächten ausgeliefert ist –, ist zudem ein großer Resilienzfaktor. Sie hilft uns, Krisen zu meistern. Deshalb wird es in diesem Buch auch immer wieder um die Dinge gehen, die wir sehr wohl noch selbst in der Hand haben.

Im ersten Teil schauen wir uns einmal an, welche Glaubenssätze uns heute prägen. Wir reisen ein Stück in die Vergangenheit, in die Zeit unserer Großeltern und Urgroßeltern, denn bei ihnen hat einiges, was wir heute wichtig finden, seinen Ursprung. Manches, was sie uns mit ins Leben gegeben haben, trägt uns bis heute. Anderes war einmal sinnvoll, wirkt aber heute eher wie ein Klotz am Bein. Die Strategien, mit denen sie ihre Krisen bewältigt haben, taugen nicht für die unseren. Wir machen sichtbar, wo schwierige Wertvorstellungen uns noch immer prägen, und ich zeige dir, was Omas gepflegter Vorgarten aus den 1950ern mit deinen Geburtstagstorten zu tun hat. Im zweiten Teil schauen wir uns dann an, was das Festhalten an alten Glaubenssätzen mit unserem heutigen Familienleben macht und welche Freiheit wir durch Loslassen gewinnen können. Im dritten Teil geht es um den für mich wichtigsten Faktor, wenn es darum geht, neue Herausforderungen zu meistern – um Gemeinschaft! Wir betrachten auch, warum wir, ursprünglich Herdentiere, heute oft so vereinzelt unterwegs sind und welche Veränderungen wir für unser Wohl und das der Welt um uns vornehmen müssen. Am Ende geht es um deinen und meinen Alltag – denn wenn wir etwas verändern wollen, muss das dort anfangen, wo wir unsere ganz normalen Kleinigkeiten verrichten. Ich zeige dir, wieso wir gar keine großen Würfe und einschneidenden Veränderungen anstreben müssen, sondern es ausreicht, das anzunehmen, was Gott längst für uns bereitet hat. Sein Rhythmus von Arbeit und Ruhen, von Leben, Feiern, Trauern und Sterben enthält alles, was wir Menschen brauchen. Ein christlicher Lebensrhythmus und unser Kirchenjahr mögen auf manche verstaubt wirken. In unserer Zeit, in der wir den Anspruch haben, dass alles jederzeit möglich und verfügbar sein muss, ist ein Leben danach jedoch schon wieder progressiv.

1 Luerweg, Frank: „Die Angst vor dem Fall“, spektrum.de, 09.01.2023. https://www.spektrum.de/news/abstiegsangst-sorge-um-den-eigenen-status/2093880, zuletzt abgerufen am 13.11.2013.

 

Teil I

 

1. Oma und das Wirtschaftswunder

Die fetten Jahre sind vorbei, hätte meine Uroma vielleicht gesagt, wenn sie die letzten Jahre noch miterlebt hätte, mit sich mehrenden Umweltkatastrophen, einer Pandemie und dem schrecklichen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Sie sagte das öfter, schon bei früheren Einschnitten. Wann immer die Welt für sie ein wenig unsicherer wurde und die Nachrichten in der Tagesschau frühere, unheilvollere Erfahrungen triggerten, prophezeite sie uns harte Zeiten. Meistens blieb danach alles ziemlich genauso, wie es vorher war. Meine Uroma saß am nächsten Vormittag wie jeden Tag auf der Bank vor ihrem alten Fachwerkhaus in einem nordhessischen Dorf, häkelte und redete mit ihren Nachbarinnen. Wenn sie genug über ihre Alterszipperlein und die Welt gestöhnt hatte, die vielleicht ja doch wieder schlechter werden könnte, lächelte sie gutmütig, holte Kräuter für ihre berühmte Schmandsoße aus ihrem kleinen Gärtchen und steckte meiner Cousine und mir ein paar Mark zu, mit denen wir uns im Supermarkt am Ende der Straße ein Eis kaufen – und ihr auch eins mitbringen sollten. Nein, die fetten Jahre waren nicht vorüber. Meine Uroma durfte ihren Lebensabend mittendrin verbringen. Doch würde sie ihren Satz heute noch einmal sagen, so hätte sie vielleicht recht damit!

Wenn meine Uroma von den fetten Jahren redete, meinte sie das Wunder, das sie selbst erlebt hatte. Nach zwei verheerenden, selbst verschuldeten Kriegen lag unser Land am Boden. Meine Uroma gehörte zu der Generation Frauen und Männer, die mitgeholfen haben, aus Trümmern, Hunger, Not, Elend und Schuld etwas Neues entstehen zu lassen – in jeglicher Hinsicht. Die „fetten Jahre“, bestehend aus Frieden, Freiheit, Entwicklungsmöglichkeiten und relativem Wohlstand, die die meisten von uns in unserer Kindheit und Jugend erleben durften, sind auf dem Boden ihrer Anstrengung gewachsen. All diese Menschen standen morgens auf und stellten sich einer für mich unvorstellbaren Realität. Angetrieben von der Hoffnung auf bessere Zeiten rafften sie zusammen, was sie noch hatten, und beschlossen, das Leben zu meistern.

Natürlich war es nicht nur dem Fleiß und dem eisernen Willen der einzelnen Menschen zu verdanken, dass Deutschland sein Wirtschaftswunder erleben durfte, auch politische Weichenstellungen wie der Marshallplan und die Währungsreform legten Grundsteine. Auf einmal konnten Lebensmittel wieder im Supermarkt erschwinglich gekauft werden, Unternehmen stellten wieder ein und ein wirtschaftlicher Aufschwung begann. Doch dazu brauchte es eben auch diese Menschen, die bereit waren, ihre verbliebene Kraft in den Aufbau des neuen Landes zu stecken. Und sie merkten bald, dass die Anstrengung sich lohnte: Einkommen stiegen, die Arbeitslosigkeit sank bis hin zur Vollbeschäftigung in den 1950er-Jahren, immer mehr Menschen fanden lukrative Jobs in der Industrie statt wie bisher in der Landwirtschaft und neuer Wohlstand wurde nach außen sichtbar. Und die eigenen Kinder, da war man sich gesellschaftlich einig, sollten es noch einmal viel besser haben. Es entwickelte sich der Leitgedanke Höher-schneller-weiter, der in unserem Land über Generationen quasi in den Genen zu liegen schien.

Der als Vater des deutschen Wirtschaftswunders bezeichnete Ludwig Erhard (auch wenn er selbst den Begriff „Wirtschaftswunder“ gar nicht mochte) prägte den Gedanken des Wohlstandes für alle. Wenn immer mehr Menschen produktiv arbeiteten, so seine Auffassung, würden sie sich auch immer größere Stücke eines konstant wachsenden Kuchens nehmen können. Seine Rechnung ging für sehr viele Menschen auf, auch wenn es bis heute nicht für alle gilt. Aber die Aussicht darauf, dass es klappen könnte, und die Erfolgsgeschichten, die erzählt wurden, pflanzten den Gedanken in Köpfe, dass es bergauf gehen kann, wenn man sich nur genügend anstrengt.

Lernen, Fleiß und harte Arbeit konnten sich in jedem Fall auszahlen, zum Beispiel dadurch, dass die eigenen Kinder eine höhere Bildungskarriere machten als man selbst. Und sei es nicht durch eine höhere Bildungskarriere, dann doch zumindest über mehr Einkommen und größeren Wohlstand, der auch durch Statussymbole äußerlich sichtbar wurde.

In der Zeit seiner Glanzstunden ergab dieser Leitgedanke des Höher-schneller-weiter auch Sinn. Denn ohne die Vision einer besseren Zukunft und der berechtigten Hoffnung, sich diese auch durch Anstrengung erarbeiten zu können, würde es viel nicht geben, das wir heute für selbstverständlich halten. Und so sehr ich gleich auch auf seine Schattenseiten eingehen werde, die damit verbunden sind, sei einmal gesagt, dass es auch heute noch Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die genau die Hoffnung, dass es für sie durch Anstrengung besser werden und sozialer Aufstieg möglich werden kann, weiterhin brauchen!

Der Glaube an Anstrengung, harte Arbeit und Aufstieg ist nicht per se schlecht. Problematisch sind jedoch die Ansprüche an ungebremstes Wachstum um jeden Preis und die Erwartung, dass es auch für all diejenigen immer weiter nach oben gehen muss, die im Hier und Jetzt bereits ausgezeichnet leben. Heute ist zudem längst nicht mehr gesetzt, dass es für alle immer nur weiter nach oben geht. Wachstum, so wie wir es kennen, kommt aus ganz verschiedenen Gründen an seine Grenzen: Die 50- bis 60-Stunden-Wochen, die für die Generationen vor uns entweder unhinterfragte Notwendigkeit oder gern in Kauf genommenes Mittel zum Erfolg war, stellt für immer weniger Menschen ein attraktives Lebensmodell dar. Denn heute kennen wir auch die Schattenseiten eines Lebens, in dem die Balance zwischen Arbeit und Freizeit allzu stark aus den Fugen geraten ist. Psychische und körperliche Erkrankungen aufgrund von Stress, Druck und Überlastung sind sichtbarer als früher (gegeben hat es sie immer, allein, man hat nicht darüber geredet oder sie nicht als das erkannt, was sie waren). Selbst Ludwig Erhard hatte diese Entwicklung bereits erkannt, schrieb er doch in seinem Bestseller Wohlstand für alle:

„Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen ‚Fortschritt‘ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“

Es ist wie mit jedem Leitgedanken, der einmal Sinn ergeben hat: Er taugt am besten für seine Zeit und seine Lebenswirklichkeit und kann zu anderen Zeiten auch zur Bürde werden.

Auch das Bewusstsein dafür, was unser Wohlstand in anderen Teilen der Welt für Schäden anrichtet, steigt. Da sind zum einen die Menschen, die hinschauen wollen und sich langsam und aus freien Stücken mit den Missständen auseinandersetzen und überlegen, wie sie einen kleinen Teil dazu beitragen können, ein bisschen Veränderung in Gang zu bringen. Doch auch diejenigen, die diese Bewusstwerdung der Auswirkungen unseres Lebensstandards auf Ungleichheiten in der Welt und das Klima kritisch beäugen und den Begriff „woke“ abwertend für diejenigen benutzen, die für ihren Geschmack allzu laut und reißerisch nach zu extremen Veränderungen schreien, können heute immer schwerer ignorieren, dass unser Wohlstand teils verheerende Folgen für den Rest der Welt – aber eben auch uns selbst hat. Die Einbrüche in die Realität nehmen zu. Eine in Bangladesch eingestürzte Fabrik, in der unter unwürdigsten Bedingungen unsere Kleidung genäht wurde, kann man vielleicht noch ignorieren. Ereignisse wie die Flut im Ahrtal schon schwieriger.

Wenn wir die aus dieser Erkenntnis resultierende Verantwortung ernst nehmen, bedeutet das auch, dass wir unsere bisherigen Konsumgewohnheiten überdenken müssen. Diese Einsicht ist unbequem und löst bei vielen Menschen Ängste und Ärger aus. Ein Verdienst des Wirtschaftswunders war es schließlich, dass es eine Art Speckgürtel um uns gezogen und damit einen gewissen Abstand zum Rest der Welt geschaffen hat. Armut wurde zur Vergangenheit oder zu einem Problem der anderen. Verzichten, das mussten die, die sich irgendwie nicht genug angestrengt hatten. Wer hingegen hart gearbeitet hat, der durfte sich auch etwas gönnen. Was man bisher unter „Gönnen“ verstanden hat, nun hinterfragen zu müssen, löst eine entsprechende Abwehrhaltung aus.

Doch das ist nicht der einzige Grund, warum sich Menschen schwertun zu akzeptieren, dass sich etwas ändern muss, und warum selbst die, die das akzeptiert haben, oft wenig konsequent sind, wenn es darum geht, Veränderung auch wirklich in das eigene Leben zu integrieren. Um dies zu verstehen, lohnt sich noch einmal ein anderer Blick auf das Wirtschaftswunder.

Die Generation, die es erarbeitet hat, war zutiefst traumatisiert. Sie hat Schrecken erlebt, die wir uns heute kaum mehr vorstellen können. Wenn ich als Kind den Geschichten meiner Groß- und Urgroßeltern lauschte, begriff ich die Tragweite nicht – heute sehe ich, was sie alles erlitten haben. Unaussprechliche Verluste: Der Mann, der Bruder, der Sohn, die nicht mehr aus dem Krieg heimkehrten. Die beste Freundin, die in einer Bombennacht starb, und die Schwester, die vor Hunger sterbenskrank wurde. Das kleine Mädchen, das an der Hand seiner Mama durch die Trümmer einer zerstörten Stadt lief und über Körper stieg, nicht wissend, ob diese tot oder lebendig waren. Und das waren nur die Dinge, über die sie sprachen. Viele andere Geschichten, über Zerstörung und Verlust, Vergewaltigung und Vertreibung, Gefangenschaft und Verstümmelung – und über das eigene Töten und die eigene Schuld –, blieben für immer unerzählt. Und mit ihnen ihre versteckten Gefühle: tiefe Trauer, Scham, Demütigung, Angst und Schmerz. Weiterleben war nur durch eine Kultur der Verdrängung möglich. Konsum und die Vermehrung des Wohlstandes waren auch eine Flucht vor dem, mit dem man sich am liebsten nie mehr auseinandersetzen wollte. Sie nahmen einen Schutzmechanismus für die Erwachsenen ein.

Doch wer solche Verdrängungsprozesse leben muss, der verliert den Zugang zu seinem Emotionserleben. Er stumpft ab. Das wirkt sich auch auf die Beziehungen aus – und natürlich hat es einen enormen Einfluss auf den Umgang mit den eigenen Kindern. Diese Elterngeneration, die es selbst von Kindheit an gewöhnt war, hart zu sein und Gefühlen keinen Raum zu geben, hatte keine Worte für den unfassbaren Schmerz, den sie mit sich herumtrugen. Und sie verfügte über nur wenige emotionale Ressourcen für ihre eigenen Kinder. Sie konnte ihnen oft nicht die emotionale Sicherheit geben, die kleine Menschen brauchen. Natürlich haben auch die Angehörigen dieser Generation ihre Kinder geliebt, nur übertrug sich diese Liebe oft nicht in liebevolle Verhaltensweisen, in emotionale Nähe, in eine Form von Fürsorge, wie wir sie heute für als so wichtig für Kinder erkannt haben.

Eine Form der Fürsorge, die sie dagegen problemlos geben konnten, wurde mit den Jahren die materielle. Der in den 1950er- und 1960er-Jahren aufkommende Konsum wurde nicht nur Statussymbol und Schutzmantel, sondern auch ein Ersatz für emotionale Zuwendung. Er wurde ein Ausdruck der Liebe, die anders oft nicht gezeigt werden konnte. Leistung erbringen und somit die Chance auf Besserung, die die eigenen Eltern einem boten, auch zu ergreifen, wurde im Gegenzug vonseiten der Kinder zur Möglichkeit, sich Liebe zu verdienen und ihrerseits die Liebe ihrer Eltern auch zu erwidern. Konsum und Leistung wurden zum Ausdruck von Liebe, Fürsorge und Dankbarkeit innerhalb von Familien! Das prägt uns, wie wir noch sehen werden, bis heute.

Und nein, natürlich nicht nur und selbstverständlich gab es auch unter den Kriegskindern und Kriegsenkeln Familien, die in gesunden emotionalen Beziehungen miteinander gelebt haben, die andere Werte hochhielten, in denen sich Mütter und Väter ein Stück weit öffnen können. Und auch in den tief traumatisierten Familien war mehr Ausdruck von Liebe möglich als der, den ich oben beschrieben habe. Doch wir müssen verstehen, dass dieser Punkt von Verdrängung und Leistungsdenken, von emotionaler Kälte und Aufstiegsmöglichkeiten als Fürsorgeform einen sehr wesentlichen Teil dessen ausmachen, wie diese Generationen miteinander gelebt und wie sich in der BRD der Nachkriegsjahre Normen und Werte, Leitgedanken und Zukunftswünsche entwickelt haben.

In meinem Buch „Unperfekt, aber echt“ habe ich viel über die Auswirkungen dieser Faktoren auf heutige Erziehungsvorstellungen und den Blick auf Kinder geschrieben. Diesmal möchte ich mich damit beschäftigen, wie sie sich auf unser Konsumverhalten, auf Leistungsdenken und Vorstellungen von Familienleben ausgewirkt haben. Werte, mit denen Menschen aufgewachsen sind, verschwinden nicht einfach. Kinder, die erlebt haben, wie ihre Eltern für eine bessere Welt schufteten, wie sich Leistung für sie lohnte und welche Befriedigung davon ausgeht, die eigenen, sonst emotional eher kalten Eltern stolz auf einen zu erleben, nehmen ein ganzes Stück davon mit ins eigene Erwachsenenleben.

Wer verinnerlicht hat, dass sich Liebe und Zuwendung durch Leistung verdienen lassen, wird immer danach streben, diese Erfahrung zu wiederholen, es weiter nach oben zu schaffen, sich Erfolge zu erarbeiten. Dieses Denken bleibt der Motor für das eigene Tun. Und natürlich werden diese Ideale auch wieder an die eigenen Kinder weitergegeben. Nur, weil das eigene Gefühlsleben etwas heiler geworden sein mag, die Zuneigungsbekundungen leichter von den Lippen kommen, körperliche Liebesbeweise durch Umarmungen, Kuscheln und Nähe spürbarer werden, heißt das nicht, dass wir das, was wir einmal für „Liebe“ gehalten haben, nicht auch weiterhin in unsere Erziehung integrieren.

Auch unsere Eltern wollten uns ihre Liebe zeigen, indem sie uns Dinge schenkten, Bildung ermöglichen, dafür arbeiteten, dass wir es einmal besser haben durften. Auch wir haben erfahren, dass Leistung sich auszahlt, dass der Stolz der Eltern eine Form ist, sich ihre Zuwendung zu sichern. Auch, dass harte Arbeit am besten durch Konsum belohnt wird – und man sich durch ein schönes Kleidungsstück, ein leckeres Essen, ein gutes Buch oder eine Reise von schmerzhaften Dingen ablenken kann, mit denen wir uns nicht so gern auseinandersetzen wollten, haben wir gelernt und verinnerlicht. Im Gegenzug fehlt es uns häufig am Bewusstsein dafür, dass wir geliebt und der Liebe wert sind, ganz ohne, dass wir Leistung erbringen müssen. Wir haben einen Teil der Bewältigungsstrategien unserer Großeltern und Eltern in unser Leben integriert. Deshalb löst der Gedanke an Wohlstandsverlust, Einschränkungen und Verzicht bei uns auch negative Gefühle aus. Daher kommen die Gefühle, sich das neue Kleidungsstück jetzt eben verdient zu haben, den Last-Minute-Urlaub buchen zu müssen, keine Zeit zu haben, zu Fuß zu gehen, weil das Auto uns doch so viel effektiver macht, und all die unnützen Dinge, die wir so anhäufen, auch zu benötigen.

In den nächsten Kapiteln werde ich an einigen Beispielen sichtbar machen, wie dies auch unser Elternsein und unser Familienleben prägt. In all den Debatten um Zukunftsgestaltung kommen mir Fragen nach dem Familienleben nämlich zu kurz und es wird meiner Ansicht nach übersehen, wie groß der Einfluss ist, den Erziehung auf die Frage hat, wie wir kommenden Herausforderungen begegnen. Selten bis nie sprechen wir über ihren Einfluss auf nachhaltiges Handeln, auf Konsum, auf Liebe zur Schöpfung und zu den Mitmenschen und auf für die Zukunft so wichtige Fähigkeiten wie Ambiguitätstoleranz, Empathie und Resilienz. Dabei hat uns die Erziehungsarbeit unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern dahin gebracht, wo wir heute stehen – im Guten wie im Schlechten. Manches von dem, was sie uns mitgegeben haben, werden wir über Bord werfen müssen, anderes vielleicht ganz neu entdecken.

Meine Uroma hat mir unfassbar viele gute Dinge mit ins Leben gegeben. Ihrer Liebe, ihrer Fürsorge und ihrem besonderen Blick auf diese Welt verdanke ich viel. Und doch – oder vielleicht gerade deshalb möchte ich sie ein letztes Mal Lügen strafen. Ich möchte zeigen, dass die fetten Jahre auch für uns nicht vorüber sein müssen. Im Gegenteil, ich möchte euch in den folgenden Kapiteln einladen, neue fette Jahre zu schaffen. Die fetten Jahre des bewussten Konsums. Die fetten Jahre der realistischen Erwartungen. Die fetten Jahre der freien Entfaltung von Gaben und Talenten. Die fetten Jahre einer gesunden Mischung aus Anstrengung und Entschleunigung. Die fetten Jahre von gegenseitiger Fürsorge, Gemeinschaft und emotionaler Gesundheit. Die fetten Jahre der Krisenbewältigung, die in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, beginnt. Lasst uns unser ganz eigenes Wunder schaffen!

 

2. Neue Familienbilder und alte Zwänge

H