Kleine Kinder, starke Wurzeln - bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre - Daniela Albert - E-Book

Kleine Kinder, starke Wurzeln - bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre E-Book

Daniela Albert

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Beschreibung

Wurzeln halten uns nicht nur fest am Boden, wenn die Welt um uns schwankt. Sie machen uns auch mutig und unabhängig. Einem neuen Familienmitglied dieses Gefühl zu vermitteln und zuzusichern, kann eine beängstigende Mammutaufgabe sein. Dieser Ratgeber gibt Eltern Sicherheit und einen authentischen Leitfaden, von den ersten Schritten des Kindes, über die Kita-Jahre, bis zur Wackelzahnphase, sodass Kinder ganz einfach ihre Flügel ausbreiten können, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Junge Eltern von 0- bis 6-jährigen Kindern finden hier einen hervorragenden Ratgeber, der auch auf ihre Bedürfnisse eingeht und dabei pädagogische und christliche Impulse weitergibt. Themen, u.a.: Auf den Spuren der eigenen Wurzeln, Kuschel- und Kennenlernzeit, Rituale mit Krabbelkindern, Typisch Mädchen - typisch Jungs, Glauben entdecken im Kindergartenalter, Abschied und Übergänge

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kristina Dittert, FreiSinn, Essen

unter Verwendung eines Bildes © Jonas Mohamadi

Lektorat: Anja Lerz, Moers

DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Verwendete Schrift: Scala Pro, Scala Sans, Summer Festival

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln

ISBN 978-3-7615-6899-6 (Buch)

ISBN 978-3-7615-6900-9 (E-Book)

www.neukirchener-verlage.de

Vorwort

Das erste, was mir in den Sinn kam als ich das vorliegende Buch von Daniela Albert gelesen habe, war: Warum gab es dieses Buch nicht als meine Kinder klein waren? Es hätte mir und uns als Ehepaar und junge Familie sehr geholfen. So anschaulich, liebevoll und doch klar und hilfreich schreibt Daniela Albert über Kinder, ihre Entwicklung, Eltern und die ganze Sache, die wir Erziehung nennen, so gut, dass ich fast Lust hätte, es nochmal zu erleben. Nur jetzt mit dieser wunderbaren Hilfestellung. Der zweite Gedanke war das alte Goethezitat von den „Wurzeln und Flügeln“. Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen, hat Johann Wolfgang von Goethe einst gesagt: Wurzeln, solange sie klein sind, und Flügel, wenn sie größer werden.Und in der Kindheit wachsen eben genau diese Wurzeln, die dem Leben später den Halt geben, aus dem die Flügel der Freiheit erwachsen.Dies beschreibt in der Tat wunderbar den Inhalt und das Anliegen dieses Buches. Man spürt bei jeder Zeile, dass da jemand schreibt, der Kinder liebt und das Beste für sie will.

Was dieses Buch so besonders macht

In den ersten Zeilen wird schon deutlich: Ich mag dieses Buch und wie es sich gehört, möchte ich noch erläutern, warum. Mindestens drei Dinge macht dieses Buch so besonders zu lesen:

1. Biographisch und authentisch: Kindererziehung ist ein sehr sensibles Thema, Eltern lieben ihr Kind und Ratschläge kommen oftmals nicht gut an. Daniela Albert ist selbst ihre erste Adressatin, sie bringt sich selbst ein, beschreibt wo sie scheitert, wo Dinge gelingen und nimmt die Lesenden mit in ihr Erleben und ihre Gedanken. Das hilft und so kann ich mich öffnen, identifizieren und manchmal sogar zustimmend schmunzeln, weil ich es ganz ähnlich erlebe. Diese ehrliche und frische Art macht es einem als Lesenden besonders leicht, sich mit einem nicht einfachen Thema zu beschäftigen.

2. Fundiert und aktuell: Aber das Buch geht weit über das Biographische hinaus, immer wieder streut Daniela Albert aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse ein, begründet so fundiert ihre Argumente und hilft mir als Leser:in diese nachzuvollziehen. Dabei übt sie auch vorsichtig und respektvoll Kritik an manchen christlichen Erziehungspraktiken der Vergangenheit, was wichtig und notwendig ist. Das hat auch die Familienstudie zur christlichen Erziehung „Zwischen Furcht & Freiheit“ zu Tage gefördert, die sich intensiv mit Fragen der christlichen Erziehung auseinandergesetzt hat, wie zum Beispiel (körperliche) Strafe, Sexualerziehung, Geschlechterrollen und vielem mehr. Und gerade diesen zentralen Themen spielen in diesem Buch eine Rolle und sind beim Wurzelwachstum der Kinder enorm wichtig.

3. Praxisnah und Alltagsrelevant: Und all das ist so geschrieben, dass es gut verständlich und sofort anwendbar ist. Diese Praxisnähe ist ermutigend und wichtig, denn viele Eltern kommen gerade in der Kleinkindphase an ihre Grenzen und manchmal auch darüber hinaus. Da braucht es keine „Besserwisserei“, sondern einfühlsame konkrete Hilfestellungen für den Alltag und genau diese gibt Daniela Albert in ihrem Buch. Dabei hilft auch der klare Kapitelaufbau, der die wichtigsten Informationen gut zusammenfasst.

Ermutigend und leicht lesbar – auch zu zweit

Ein Tipp zum Schuss: Ich glaube, dass dieses Buch besonders gut in einer Partnerschaft zu lesen ist. Darüber zu reden, sich austauschen und vielleicht sogar gemeinsam überlegen, ob und wie man die praktischen Tipps gemeinsam umsetzen möchte.

Ich wünsche diesem Buch auf alle Fälle viele Leser:innen. Warum? Weil es uns unsere Kinder wert sein sollten.

Tobias Faix Marburg, im Herbst 2022

Einleitung

Jedes Jahr, wenn der Schnee langsam schmilzt und die wieder heller werdenden Tage uns eine Vorahnung davon schenken, dass auch der längste Winter irgendwann zu Ende gehen wird, lege ich kleine Samen in jedes geeignete oder eigentlich ungeeignete Gefäß, was sich finden lässt. Natürlich habe ich sie alle vorher mit guter Anzuchterde gefüllt. Dann stelle ich all die kleinen Töpfchen, Gläser und leeren Klorollen auf die sonnigsten Fensterbänke in unserer Wohnung und warte. Jeden Morgen, sobald alle aus dem Haus sind, gehe ich sie besuchen. Ich gieße vorsichtig ein wenig Wasser auf die Gefäße und halte sehnsüchtig Ausschau nach dem ersten Grün. Je nach Pflanze dauert es einige Wochen, bis endlich der erste Stängel aus der Erde lugt. Es ist jedes Mal ein kleines Wunder, wenn neues Leben sichtbar wird.

In den darauffolgenden Wochen halten mich diese kleinen Wunder auf Trab. Sie wachsen nämlich schnell. Sie schießen in die Höhe, bilden zarte Wurzeln aus und bald sind die ersten Gefäße zu klein. Ich muss sie umtopfen. Letztes Jahr ist mir dabei eine Tomatenpflanze in der Mitte zerbrochen. Eigentlich wollte ich sie einfach wegwerfen. Aber dann entschied ich mich dafür, den oberen Teil in ein Glas mit warmem Wasser zu stellen – und siehe da – nach wenige Tagen sah man an der Unterseite dieser Pflanze kleine neue Wurzelstränge. Ich pflanzte sie wieder ein, und sie wurde in einem eher schlechten Tomatenjahr die, die mir am meisten Früchte schenkte.

Das Thema „neue Wurzeln schlagen“ schien mich im letzten Jahr zu verfolgen. Am Wochenende nach meiner erfolgreichen Tomatenrettung habe ich bei einer Freundin unter einem Haselnussbaum gesessen, den es nur gibt, weil ein anderer Baum stark beschnitten werden musste und die Besitzerin die abgeschnittenen Triebe neu wurzeln ließ.

Auch in meiner Familie war das Thema Wurzeln in dieser Zeit sehr präsent. Ein Mensch mit Wurzeln hat Halt zum Wachsen, so steht es auf der Homepage der weiterführenden Schule, auf die wir unsere mittlere Tochter letzten Herbst geschickt haben. Doch nicht nur für sie standen große Veränderungen an. Unsere Kleine wurde eingeschult, und auch unser großer Sohn beschritt neue schulische Wege in der nächstgrößeren Stadt.

Für meinen Mann und mich weitete sich die Welt ebenfalls wieder. Nach vielen Monaten Corona bedingtem Homeoffice wurde wieder die eine oder andere Dienstreise möglich, und auch in meiner Beratungspraxis durfte ich unter strengen Auflagen Familien empfangen. Wir spannten also unsere Flügel auf und verließen das Nest, das uns in dieser Pandemie einen sicheren Zufluchtsort geboten hatte, wieder für einige Zeit. Immer mit dem Wissen, dass wir dort auch weiterhin Halt finden würden.

Doch wie entstehen Wurzeln eigentlich? Was gibt uns den Halt zum Wachsen und was macht uns stark und mutig genug, um unsere Flügel auszubreiten? Wie können wir unseren Kindern in den ersten Jahren ihres Lebens Halt geben? Wann brauchen sie Autonomie? Und ist das alles nicht ungeheuer kompliziert?

Diese Wurzeln entstehen zu lassen, das merke ich immer mehr, ist ein dynamischer Prozess. Er erfolgt nicht geradlinig und nach Schema F. Es gibt dafür kein Patentrezept, das man nur umsetzen muss, und schon haben wir Kinder, die stabil und gut gehalten im Leben stehen. Es ist eher wie mit einer Pflanze, die wir immer mal wieder umtopfen oder umsetzen, weil das Gefäß nicht mehr passt oder der Standort ihren Bedürfnissen nicht mehr Rechnung trägt. Das klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Denn gleichzeitig sind unsere Kinder auch äußerst flexibel. Nur wenige Grundzutaten sind nötig, damit sie beginnen, ihre Wurzeln zu schlagen und zu wachsen. Sie gewöhnen sich schnell an neue Böden, Gefäße oder andere Umstände. Sie verzeihen, wenn wir sie dem einen oder anderen Ungleichgewicht ausgesetzt haben, und gehen nicht ein, sondern entfalten sich neu, wenn wir ihnen wieder eine passendere Umgebung bieten.

Um diese passende Umgebung und die Grundzutaten zum Wurzeln soll es in diesem Buch gehen. Ich möchte dich mitnehmen auf eine Reise durch die „kleinen Jahre“ der Kindheit, die Zeit zwischen 0 und 6, die irgendwann mit einem winzigen, runzeligen und schreienden Bündel Mensch in deinen Armen beginnt und mit dem Abschied aus dem Kindergarten endet. Ich möchte mit dir sprechen, über Babyglück und durchwachte Nächte. Über Ängste und große Glücksmomente, über den ersten Tag in der Kita und die aufregende Vorschulphase. Denn alles, was in dieser Zeit passiert, trägt zum Wachstum der Wurzeln bei. Mit jedem neuen Tag bilden sich kleine neue Stränge aus. Andere werden dicker und fester – und alle krallen sie sich ganz fest in die Erde, in die du sie gesetzt hast. Während du deine alltäglichen Kleinigkeiten tust und dich womöglich fragst, ob sie genügen, entsteht verborgen und unsichtbar ein Geflecht aus Erinnerungen und Möglichkeiten, aus Chancen und Grenzen, aus Trost und Halt.

Als Mutter, die die „kleinen Jahre“ nun endgültig hinter sich gelassen hat, schaue ich mit dir zurück. Als Familienberaterin, die oft Eltern durch diese „kleinen Jahre“ ihrer Kinder begleitet, mit all ihren Herausforderungen und stärkenden Momenten, weiß ich, wo es schwierig werden kann, und zeige dir Wege auf, mit Stolpersteinen umzugehen. Als Erziehungswissenschaftlerin gebe ich dir an den Stellen Fachwissen mit auf den Weg, an denen es wichtig ist zu verstehen, was in kleinen Menschen vorgeht. Ich räume mit Ammenmärchen auf, die uns als Eltern seit jeher das Leben schwermachen, weil sie von einer falschen Sicht auf Kinder ausgehen. Aber auch einige moderne Entwicklungen im Bereich der Erziehung und damit einhergehende Unsicherheiten und Überforderungen möchte ich mit dir kritisch betrachten. Statt uns im Kleinklein von Erziehungsansätzen zu verlieren, möchte ich immer wieder fragen: Was brauchen wir als Familie wirklich, um gut durch die kleinen Jahre zu kommen und tief zu wurzeln?

Ich habe dieses Buch in fünf Teile gegliedert, die sich jeweils mit einer Entwicklungsphase und ihren Herausforderungen und Freuden beschäftigen. In jedem Teil schauen wir auf die schönen Bereiche der jeweiligen Phasen und auf die anstrengenden. Da ich ein Fan von Ritualen bin, die uns im Alltag helfen, habe ich in jedem Teil ein paar Gedanken und Ideen für dich, die du in euren Alltag einfließen lassen kannst, wenn du sie als hilfreich empfindest. Und weil ich dieses ganze Mama-Ding nicht gern allein mache, sondern am liebsten mit Jesus an meiner Seite, habe ich auch immer einen kleinen Impuls zum Glaubens(er)leben in der Familie am Ende eines jeden Teils. Den Kapiteln, in denen ich dir viel Fachwissen gebe, habe ich immer einen kurzen Spoiler vorangestellt. Der soll dir helfen, wenn du gerade nicht viel lesen und aufnehmen kannst und nicht an meinen manchmal etwas ausschweifenden Erzählungen interessiert bist, sondern nur an schnellem Input zum Thema. Infokästen liefern kurze Erklärungen zu wichtigen Themen. Ich hoffe, dass dir dieses Buch die Reise durch die kleinen Jahre ein bisschen verschönert und sei es nur, dass du dich nicht ganz so allein fühlst mit all den Windeln und Fragezeichen, den Wutanfällen und Freudentränen, den langen Nächten und den ersten Wackelzähnen.

Unsere gemeinsame Reise durch die Kinderjahre beginnt allerdings nicht beim ersten runzeligen Schrei eines neugeborenen Erdenbewohners. Wir fangen viel früher an. Bei dir. Und bei mir. Kommst du mit?

Teil I

Auf den Spuren der eigenen Wurzeln

Das Wichtigste in Kürze:

Um unseren Platz im Leben zu finden, brauchen wir Nestwärme. Diese entsteht immer da, wo wir Verbundenheit und Freiheit zu gleichen Teilen erleben dürfen. Kinder ins Leben zu begleiten ist immer ein Zusammenspiel aus Halt geben und loslassen. Wie gut dir das gelingt, hängt auch immer mit den Mustern zusammen, die du selbst erlebt und dir angeeignet hast. Es ist gut, wenn du dir dessen bewusst bist, weil du dann vermeidest, aufgrund deiner eigenen Erfahrungen bestimmte Muster zu wiederholen oder ins extreme Gegenteil zu verfallen. Fragen, die du dir stellen kannst: Hattest du genug Halt in deiner Kindheit? Hattest du auch die Freiheit, eigene Erfahrungen zu machen und eigene Entscheidungen zu treffen? Fühlst du dich manchmal allein gelassen oder zu eng verbunden?

Mama, die Hubbel kitzeln im Bauch.“ Meine kleine Tochter lacht sich auf dem Rücksitz fast kaputt, als wir die alte, kurvige und hubbelige Waldstraße hinunterfahren, die ich seit meiner Kindheit so gut kenne. In meinem Bauch kribbelt es auch – aber nicht wegen des springenden Wagens auf der holprigen Landstraße, sondern weil mich diese Autofahrt mitten in eine meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen hinein katapultiert. Wie oft habe ich selbst auf dem Rücksitz gesessen und bin diese Straße hinuntergefahren worden – von meiner Mutter oder meinem Vater. Wie meine Tochter heute hatte auch ich damals oft noch leicht nasse Haare, Chlorgeruch in der Nase und war auf eine unglaublich zufriedene Art müde. Beim Fahren über die Hubbel wanderten meine Erinnerungen meist noch einmal zurück zu der großen Röhrenrutsche im Hallenbad, die ich kurz vorher sicher zwanzig Mal gerutscht war – auch sie hatte Hubbel, die wunderbar kribbelten.

Heute fahre ich die Straße seltener hinunter. Ich wohne nicht mehr in meinem Heimatort. Es hat mich nicht weit weggetrieben, aber weit genug, um nicht mehr in dieses Schwimmbad zu fahren, und wenn doch, eine andere Straße zu benutzen. Doch an diesem Vormittag war einiges zusammengekommen. Es war zu kalt fürs Freibad, und die Hallenbäder in der Nähe hatten keine Onlinetickets mehr frei (für alle, die sich irgendwann einmal darüber wundern: Dieses Buch ist mitten in der Corona-Pandemie entstanden. In einer Zeit, in der etwas vorher Selbstverständliches wie ein Besuch im Hallenbad nur möglich war, wenn du schnell genug auf ein freies Zeitfenster geklickt hast). Da meine kleine Tochter aber gerade schwimmen lernte, wollte ich diesen Morgen unbedingt zum Üben nutzen, und so fuhr ich mit ihr in das Hallenbad meiner Kindheit. Normalerweise hätten wir die Autobahn genommen. Doch wegen einer Baustelle musste ich eine andere Route über meinen Heimatort planen. Und da fuhren wir – auf einer engen kurvigen Straße zwischen zwei kleinen Orten, die dir nichts sagen, und die für mich einmal die Welt bedeuteten.

Ich bekomme an diesem späten Vormittag in meinem Auto einen regelrechten Nostalgieanfall. Ich belasse es nicht dabei, den Ort meiner Kindheit schnell über die Hauptstraße zu durchqueren und nach Hause zu fahren. Stattdessen biege ich in eine Nebenstraße ab und halte vor der Bäckerei. Dort sieht alles noch so aus wie früher. Nur die Auslage ist leerer. Aber das wichtigste Gebäck liegt da: Die Campingbrötchen. Solltest du jemals durch Dennhausen oder Dittershausen kommen, mach einen Abstecher zum örtlichen Bäcker und hoffe, dass er noch Campingbrötchen hat. Du wirst es nicht bereuen.

Wir kaufen ein paar Campingbrötchen, und ich erzähle meiner Tochter dabei, wie ich hier früher jeden Samstag unsere Frühstücksbrötchen geholt habe. Dann fahre ich noch einen kleinen Schlenker durch den Ort und zeige ihr, wo ich zum Kindergarten gegangen bin und wo die Grundschule war. Sie kennt bereits beides, denn meine Eltern wohnen noch hier, und wir sind regelmäßig dort. Nur sehe ich all das selten durch die Augen des kleinen Mädchens, das ich einst war. Und so zeige ich all die Orte wohl eher noch einmal mir selbst als ihr.

Selten gehe ich durch diesen Ort und sehe, fühle oder schmecke, was mir in meiner Kindheit Verbundenheit gegeben hat. Normalerweise fahre ich eher mit einem Schulterzucken durch, betrete mein Elternhaus, verlasse es, ohne nach links und rechts zu schauen, und fahre wieder weg.

Es ist nicht so, dass der Wohnort meiner Kindheit – mein Heimatort – eine Insel glückseliger Erinnerungen für mich ist. Im Gegenteil, manche Erinnerung ist schmerzhaft. Ich war wohl als Kind und erst recht als Jugendliche das, was man uncool nennt. Ich war klein, lange Zeit sehr kindlich, und obwohl ich eine große Klappe hatte, schon immer eher introvertiert. Zu allem Überfluss war mein Vater der Büroleiter der örtlichen Gemeindeverwaltung und Mitglied im Posaunenchor der Kirchengemeinde und ich somit bekannt wie eine bunte Hündin. Selbst wenn ich dort erwünscht gewesen wäre, hätte ich mich kaum mit Bier und Zigarette mit den anderen Jugendlichen auf der Treppe vor dem Supermarkt blicken lassen können. Ich blühte erst auf, als ich in die nächste größere Stadt zur Schule gehen konnte und hatte meinen Freundeskreis größtenteils dort. Kurzum – abgesehen von meinen Eltern verbindet mich heute eigentlich wenig mit meinem Heimatort.

Doch an diesem Tag merke ich, wie tief ich dort doch verwurzelt bin. Wie sehr mich die hubbelige Straße, die Treppe hoch zum Kindergarten, der Geruch der Grundschulturnhalle und der Bäcker mit seinen Campingbrötchen geprägt haben.

Natürlich sind es nicht die Campingbrötchen und nicht mal die schönen, hubbeligen Kurven für sich genommen, die dafür gesorgt haben, dass ich mich verwurzelt fühle. Für sich allein genommen hätten sie noch so schön sein können: Wurzeln gegeben hat mir der Ort, an den ich kam, nachdem wir die holprige Straße verlassen hatten. Der Ort, an dem ich meine nassen Badesachen aufhängen und die Campingbrötchen essen konnte. Der Ort, an dem es immer nach irgendetwas zu essen roch, und der Ort, an dem ich mich nicht vor den abschätzigen Kommentaren anderer Kinder oder dem Schrecken der Welt zu fürchten brauchte. Es war mein Zuhause. Dort wurde der Grundstein dafür gelegt, dass ich heute das Gute im Leben sehen kann. Dort habe ich nicht nur tief gewurzelt – dort habe ich auch alles mit ins Leben bekommen, um später auch anderswo neue Wurzeln schlagen zu können.

Nestwärme ist Autonomie und Verbundenheit

Doch was genau ist das, dieses „Alles“, das ich mit ins Leben nehmen musste, um stabile Wurzeln auszubilden, an neuen Orten dieser Welt immer wieder neu zu bilden und mich jeder Situation anzupassen, in die Gott mich bisher gestellt hat? Ich nenne es Nestwärme.

In ihrem Buch „Nestwärme, die Flügel verleiht“ beschreiben die Psychologinnen Stefanie Stahl und Julia Tomuschat, wie die Balance zwischen Bindung einerseits und Autonomie anderseits dafür sorgt, dass Menschen gut ins Leben wachsen. Wenn Kinder sicher an sie feinfühlig begleitende Erwachsene gebunden sind und ihnen zugleich zugetraut wird, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbständig zu entwickeln, entsteht ein stabiles Fundament, das auch im späteren Leben trägt.

Das Wort Nestwärme assoziieren wir oft eher mit Bindung als mit Autonomie. Das warme Gefühl eines Zuhauses scheint vor allem dort zu entstehen, wo wir Nähe und Geborgenheit erfahren haben. Da, wo immer jemand da war. Nestwärme ist dadurch entstanden, dass wir gesehen und gehalten wurden, dass uns jemand getröstet hat, wenn wir traurig waren, und Menschen da waren, die uns Sicherheit gaben, wenn die Welt uns bedrohlich erschien. Bis ins Erwachsenenalter hinein verbinden Menschen mit positiven Bindungserfahrungen ihr Elternhaus mit Sicherheit, Rückzug und Wärme.

Doch zur Nestwärme gehört genauso die Ermutigung, das Nest zu verlassen. Denn wenn wir zwar Sicherheit und Geborgenheit erfahren haben, aber gleichzeitig in unserer Autonomie gehemmt wurden, schwingt beim Gedanken an unser Elternhaus oft auch ein Druckgefühl mit. Vielleicht haben wir bis heute das Gefühl, dort zwar unfassbar geliebt zu werden und immer mit allem kommen zu können, aber gleichzeitig fällt es uns schwer, wieder wegzugehen. Menschen, die ihr Bedürfnis nach Autonomie in Kindheit und Jugend nur wenig ausleben dürfen, sind bis ins Erwachsenenalter häufig ängstlicher und weniger durchsetzungsstark.1

Als Menschen sind wir von Anfang an darauf angelegt, nach beiden Seiten zu streben: Wir wollen uns an jemanden binden, wir können tatsächlich auch gar nicht anders (mehr dazu im nächsten Kapitel), und gleichzeitig ist von Anfang an jeder Tag ein kleiner Entwicklungsschritt raus in die Welt und weg von unseren Bindungspersonen. Dies ist wichtig, denn Autonomie geht einher mit Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung. Wir müssen eigene Entscheidungen treffen und eigene Wege gehen können, um die Menschen zu werden, die wir sind. Die einzigartigen Persönlichkeiten, die Gott sich ausgedacht hat.

Wurzeln müssen wachsen können

Gerade wenn es darum geht, stabile Wurzeln auszubilden, ist es wichtig, dass wir nicht in unserem Wachstum gehemmt werden, sondern uns in die Richtungen entfalten können, in die wir gehen möchten, und die für uns bestimmt sind.

Es geht also immer um das Zusammenspiel von beidem: Bindung und Autonomie. Halten und Loslassen.

Eine Pflanze, die zwar fest in der Erde verwurzelt ist, aber oben stark beschnitten wird, wird keine Früchte tragen. Allerdings würde eine, die in alle Richtungen wild und üppig wachsen kann, aber in der Erde kaum Halt findet, beim ersten kleinen Windstoß umknicken.

Die eigenen Erfahrungen wirken nach

Irgendwann waren wir einmal diejenigen, die Wurzeln ausbilden und ins Leben wachsen durften. Der Blick zurück auf diese eigene Wachstumsphase ist wichtig, wenn wir darüber nachdenken, wie wir unsere eigenen Kinder begleiten.

Stefanie Stahl und Julia Tomuschat schreiben dazu: „Haben wir als Eltern das Ziel, unsere Kinder so zu erziehen, dass wir ihnen die nötige Geborgenheit und Bindung wie auch die nötige Freiheit und Autonomie geben, sollten wir als Erstes einen Blick auf unser Elternhaus und unsere Zeit als Kind werfen. Das gibt uns wertvolle Hinweise darauf, wie gut wir von Haus aus in Balance zwischen Bindung und Autonomie sind.“2

Denn nicht selten ist auch in unserer Prägung das Pendel in die eine oder andere Richtung zu sehr ausgeschlagen. Das wirkt sich auch auf die Art aus, wie wir als Eltern mit unseren Kindern umgehen. Es ist möglich, dass wir den selbst erlebten Bindungsstil kopieren. Wenn wir selbst zu wenig Autonomie leben durften, kann es sein, dass wir diesen Zustand als „normal“ und „richtig“ abgespeichert haben. Oben erwähnte Anzeichen dafür, dass wir vielleicht in unserer Entwicklung auch gehemmt wurden, nehmen wir zwar wahr, bringen sie aber nicht mit unserer eigenen Erziehung in Verbindung. Auch wir tun uns vielleicht schwer, unsere Kinder in den richtigen Augenblicken loszulassen.

Es kann aber auch sein, dass wir längst spüren, dass es in unserer Kindheit ein Zuviel an Nähe und Begleitung gab, und dass wir das Gefühl, förmlich erdrückt zu werden, abgespeichert haben. Dann schlägt das Pendel in der Elternschaft häufig ins Gegenteil aus: In unserem Bestreben, nicht überbehütend und erdrückend zu handeln, überfordern wir unsere Kinder und setzen zu viel Autonomie voraus.

Hier genau auf die eigene Prägung zu schauen und sich erlebte Muster bewusst zu machen, ist ein sehr wichtiger erster Schritt, um mit den eigenen Kindern ein gutes Gleichgewicht zu finden.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Nähe, die wir erlebt haben. Wenn unsere Bindungsperson wenig präsent und feinfühlig war oder wir mehr allein bewältigen mussten, als wir eigentlich konnten, hat das Spuren hinterlassen. Doch auch hier haben wir das nicht selten als normal abgespeichert. Erschwerend dazu kommt hier, dass ein wenig feinfühliger Umgang mit Kindern über viele Generationen als das richtige Maß in der Erziehung galt, alles, was dem nicht entsprach, hingegen als Verwöhnen. Viele Erwachsene haben dadurch die Haltung „Es hat mir ja auch nicht geschadet“ entwickelt und geben so viel ihres eigenen Erlebens unreflektiert weiter. Spuren solcher negativen Bindungs- und Beziehungserfahrungen nehmen wir, ähnlich wie bei der Autonomie, zwar an uns wahr, bringen sie aber nicht mit unserer gegenwärtigen Realität in den Zusammenhang.

Genauso kann auch der bewusste Wunsch, es anders zu machen, ins Extreme ausschlagen. Eltern können aus dem Wunsch heraus, ihren Kindern genügend Nähe und Sicherheit geben, übersehen, wann sie deren Freiheit einschränken und Entwicklungsschritte hemmen.

Das innere Kind

Wenn wir näher betrachten, was uns in unserer Kindheit geprägt und was sich auch heute in unser Erwachsenenleben als Muster eingebrannt hat, ist oft vom inneren Kind die Rede.

Das innere Kind ist der Teil unserer Persönlichkeit, in dem unsere Kindheitsprägungen Einfluss auf unser Wesen haben. Stefanie Stahl erklärt es folgendermaßen: „Das innere Kind ist sozusagen die Summe unserer kindlichen Prägungen – guter wie schlechter, die wir durch unsere Eltern und andere wichtige Bezugspersonen erfahren haben.“3 Die Psychotherapeutin Erika J. Chopich sieht in der Wahrnehmung unseres inneren Kindes eine wichtige Voraussetzung, um als heile und ganze Persönlichkeit zu leben.4 Tatsächlich zeigt sich, dass gerade negative Prägungen aus unserer Kindheit auch im Erwachsenenleben häufig zu Schwierigkeiten führen. Wie wir die Welt heute sehen, hat viel damit zu tun, wie wir selbst als Kind angesehen wurden. Auch unsere Selbstwahrnehmung und unser Selbstwertgefühl werden von den Stimmen aus unserer Kindheit beeinflusst.