Unruh - Lena Tietgen - E-Book

Unruh E-Book

Lena Tietgen

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In neun Kurzgeschichten streift Lena Tietgen durch die Leben von ganz unterschiedlichen Menschen, die durch die Entwicklungen unserer Welt, durch Klimaveränderungen, Pandemie, Obdachlosigkeit, Leistungsdruck Umbrüche erfahren, die sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit führen. Mal skurril, mal melancholisch, mal skizzenhaft, doch niemals zynisch beschreibt Lena Tietgen Menschen und ihr Ringen mit Ohnmacht und Vergeblichkeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lena Tietgen

UNRUH

   

Lena Tietgen: Unruh

© schruf & stipetic 2023

www.schruf-stipetic.de

© 2023 Lena Tietgen

Satz, Layout und Covergestaltung: JBC

Verwendete Illustration: Hardae, pixabay

ISBN 978-3-944359-89-2

Das Zitat auf S. 171 stammt aus Wilhelm Meisters Lehrjahre

von Johann Wolfgang Goethe

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der schruf & stipetic GbR

Inhalt

Verloren im Moment

Vor den Tränen

Zwischenwelten

Blackbox

Verbrauchte Zukunft

Ein Vers …

Alma

Gregor

Der falsche Ton

Über die Autorin

Verloren im Moment. Berlin 2019

Die Ampel schaltet. Von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot. An der Bordsteinkante Herr Müller inmitten schlotternd rutschender Stoffhosen, auf die graublaue oder lilableiche Jacken stoßen. Ab und an zuckelt ein beherzter Griff die Hose wieder in den Schritt, zieht den Gürtel nach. Herr Müller schaut ihnen zu, so wie er auch die anderen taxiert. Andere, die ihre Jeans fest am Körper tragen, dass sich Knochen oder Muskeln oder Fett abzeichnen. Die ihre Geschlechter und Hintern betonen, sich anbieten, und auch wieder nicht. Es sind Ikonen des Alltags, die Herrn Müllers Gesichtsfeld streifen.

Flink zieht eine Frau ihre Hose aus der Ritze, streicht sie glatt, schnell, denn Zeit ist kostbar. Schon springt die Ampel auf Grün, die Menge bricht auf. Prompt. Einprogrammierte Ziele ziehen die Körper auf die Straße, treiben sie zur anderen Seite, wo sie auseinanderstreben. Wo die einen zur nächsten Ampel biegen, sich hier sammeln und ausharren und dann weiterströmen. Wo die anderen die Treppe zur Hochbahn erklimmen, sich im Laufschritt mal rechts, mal links an den Entgegenkommenden vorbeischlängeln. Derweil, Herr Müller bleibt und steht und blickt ihnen hinterher. Sieht welche auf sich zukommen, sieht sie biegend, schaukelnd, staksend den Asphalt traktieren, dabei Taschen und Tüten schwenken, sieht ihre Mühen, schnell und elegant hinüberzukommen, ohne anzustoßen, ohne sich den Blicken der anderen zu nähern. Sieht Menschen einander ausweichen und meiden.

Nur nicht berühren.

Zu viel der Körper, zu viel. Zu harsch die Bewegung. Trotzig trampelnd tragen die Füße Wut und Trauer ohne Zeit. Im Fluss, im Fluss bleiben, im Fluss. Bleiben. Müssen. Das nächste Rot ist getaktet. Wer es nicht schafft, hat das Nachsehen. Hält alle auf, muss überholt, umgangen werden. Menschen strömen an Herrn Müller vorbei. Die einen von hinten, die anderen von vorne. Umschiffen ihn. Ihn, die Staue im Menschenmeer. Ein Hauch von Ausdünstung streift sein Gesicht. Ein wenig Sphäre, die, kaum wahrgenommen, schon wieder schwindet.

Nur nicht berühren.

Frau Schmidt genießt den Ausblick aus dem zweiten Stock, der ihr erlaubt, die Welt fein säuberlich zu sezieren. In sicherer Entfernung. Vor allem hat es ihr der Herr Müller angetan. Ja, ja, der Herr Müller. Wie immer. Er sehnt den Menschen nach. Erhaben und unablässig, als wartete er. Dort unten an der Bordsteinkante. Sie mag, wie er so aufrecht steht, die anderen überragt, wie ihn die Schulterklappen seines Trenchcoats stützen, der breite Gürtel ihn hält, wie er die abgestoßene Lederaktentasche fest an seine Brust drückt. Und wie sein Fasson-Schnitt allen zu verstehen gibt: Nicht berühren. Und seine glänzenden Schuhe im aufgewirbelten Staub des Gehwegs rufen: Aufpassen!

Selten, dass sie ihn im Treppenhaus bemerkt. Lautlos schleicht er runter, vorbei an ihrer Wohnungstür. Gibt ihr keine Chance, ihn abzufangen, einmal unverhofft die Tür zu öffnen und ihm einen Guten Tag zu wünschen. Dass dem so war, dessen war Frau Schmidt sich sicher. Sehr sicher. Dass Herr Müller aus der Haustür auf die Straße tritt, nimmt sie nicht wahr. Sie guckt geradeaus und wartet. Wartet am Fenster, bis sie ihn stehen sieht, unten an der Ampel. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

In letzter Zeit, da kommt er häufig nur verschwommen daher. Dann tränen ihre Augen und um sie herum wird alles Schicksal. Dann ist sie betrübt. Heute aber, da kann Frau Schmidt den Herrn Müller in all seinen Konturen nachzeichnen. Klar und eindeutig, aufgeregt und schwärmend.

Nur nicht berühren.

Vom Bahnsteig bohrt sich ein Quäken und ein Scheppern tief in ihr Ohr. Suchend hebt sie den Kopf. Die Ansage, ach ja, die Ansage, zermalmt durch breites Ächzen. Die Hochbahn, die einfährt und mit Getöse zum Stehen kommt, Menschen ausspuckt und andere einsaugt. Die, schwerfällig und in die Jahre gekommen, im fünf-Minuten-Takt um Aufmerksamkeit buhlt. Selten noch, dass Frau Schmidt der Attraktion nachgeht. Die Drehung im Kreuz macht ihr Mühe.

Doch heute ist sie wach. Erregt und auch nervös und lässt sich stören. Sie dreht sich um, damit ihr Blick dann auf dem Bahnsteig ruhen kann. Sie will zuschauen und mitfühlen, wie die Menschen ins Abteil drängeln und schieben und stoßen, kurz zucken, ein Sorry murmeln, ein Okay, wenn überhaupt. Wie sie Angst haben, denn die Plätze sind so rar. Nicht mitzukommen, gleicht einer Strafe.

Nur nicht berühren.

In dem Altbau direkt an der Kreuzung, zwei Stockwerke unter Herrn Müller, wohnt Frau Schmidt seit nunmehr vierzig Jahren. Die letzten davon oder mehr lebt sie allein mit ihrem Ohrensessel, einem Andenken an ihren Mann. Mein wertvollstes Stück, flüstert sie ein-, zweimal am Tag in des Sessels Ohren, während ihre Hand über die Rückenlehne streicht. Ach, will mich nicht beschweren, hatte ein ganz gutes Leben, seufzt sie hin und wieder gerne mal. Zunehmend rutscht ihr dabei ein Wir heraus. Wir hatten doch.

Ihr Streicheln und ihr Seufzen, meist nach dem Mittagessen, sind seit guter Zeit ein Ritual. Sobald sie das beendet hat, gräbt sich Frau Schmidt in den Sessel, schmiegt ihren Kopf an seine Ohren. Bespickt mit vielen großen, kleinen, bunten Kissen hat dieser seinen Platz am Fenster, das zur Hochbahn und zur Straße und zur Kreuzung geht. In aller Gewohnheit träumt dann Frau Schmidt, das Fenster geschlossen, die Gardine zur Seite, der Welt nach, die mit der Morgenluft kommt, wenn sie, die Fensterflügel geöffnet, sich auf ihr über Jahre geknetetes Kissen aus abgewetztem Samt gelehnt, Straßenluft einatmet. Stimmen hört, Autos, die Tram und die Hochbahn. Der Vormittag ist Weltzeit. Zeit, in der sie Wetter erkundet und Wolken zählt, den Sonnenstand fixiert, Regen bedauert. Es sind die Stunden, in denen sie dem Treiben auf der Straße folgt, Menschen zusieht, ihnen nachschaut und bemerkt, dass welche untereinander vertrauter werden, einander zu ähneln beginnen, und andere, die jünger, gewandter, lauter sind, sich gar nicht ähneln. Ihre privaten Studien. Es sind die Stunden, in denen sie Fremde wahrnimmt. Welche, die besonders anders aussehen und sich völlig anders bewegen, ganz andere Töne von sich geben. Fremde Gesten.

Heute, an diesem Morgen, noch vor dem Ritual, streift ihr Blick unruhig und neugierig umher, Kraft ziehend aus dem Moment, unbestimmt suchend nach dem einen Ereignis. Bis sie letzten Endes an den vielen ermüdet.

Die Ampel schaltet von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot. Autos bremsen. Scharf.

Nur nicht berühren.

Komm endlich. Unten vor der Haustür zischt Frau Nissen ihre fünfjährige Tochter an. Sie ist in Eile, gleich jedem Morgen. Wecker, aufstehen, duschen, anziehen, die Kleine wecken – die spielt schon – sie anziehen – Gequengel – Kaffee aufsetzen, Brote schmieren, Müsli, schnell essen – die Kleine würgt – sie mit den Händen vom Stuhl weisen, Zähne putzen – die Kleine speit – Gummistiefel, Protest, Füße reinquetschen, Arme in die Jacke stopfen – aua, du tust mir weh – selber Zähne putzen, Jacke und Schuhe, Tasche umhängen. Im Kinderzimmer sitzt die Kleine und schimpft mit ihrer Puppe. Komm jetzt.

Kaum draußen, lässt sie die Haustür fallen, wirft einen kurzen Blick nach oben. Immer nur die alte Schmidt, aus dem Fenster hängend und hinterherstierend, registriert Frau Nissen, schnell und lustlos, als wünschte sie sich etwas anderes. Diffus und unbestimmt. Harsch nimmt sie ihre Tochter bei der Hand, schon galoppieren sie den Fußweg entlang. Durch die anderen durch. Irgendwie. Zu Fuß geht schneller als die Hochbahn, zu knapp die Zeit, heute erst recht, egal. Egal, was ihre Tochter meint, und sie wird gleich meinen, trotzen, widersprechen, weiß Frau Nissen. Und so stiebt sie davon.

Die Füße der Tochter verhaspeln sich wie ihre Sprache, stolpern der Mutter eilend hinterher, bis sie abhebt, bis ihr Körper an ihrem Arm baumelt, der an der Hand hängt, die fest im Griff der Mutter ist. Die Mutter gibt nach, das Kind hat wieder Boden unter den Füßen, bis sie wieder und von vorn. Das Kind hechelt, irgendwie, bis zur nächsten Ecke, wo ihr Quengeln die Mutter zu quälen anfängt. Die Kleine wird den ganzen Weg betteln, jaulen, protestieren, zum Ende nur noch weinen. Hör auf! Mach dich nicht extra schwer. Keine Diskussion mehr. Du gehst zur Kita. Schluss! Aus! Ein Ruf, ein Zerren, die nächste Eskalationsstufe ist erreicht. Frau Nissen kennt diese Litanei nebst ihrer eigenen Antwort.

Und wieder hat sie sich provozieren lassen, ihren Zorn herausgebrüllt. Und wieder ist sie nicht dem Rat gefolgt, ihr Muster zu ändern. Wie die Familienhilfe ihr empfahl. Vor Wut beißt sie sich auf die Zunge und flucht im Stillen ihre Tochter an. Wie so oft.

Warum merkst du dir nicht den Ablauf, warum willst du immer was anderes. Du hast ja keine Ahnung von der Eile, der notwendigen, von der über alle Tage schleifenden Routine, von dem Austrocknen meiner Sprache, weil wir uns nicht unterhalten können. Was weißt du schon, auf was ich alles verzichte. Oh mein Gott, wie eingeschränkt du doch bist, und wie wenig bewusst dir das auch noch ist, dass ich dir nicht mal eine Einsicht abzwingen kann. So zürnt Frau Nissen sich stumm, bis ihr Verdruss und ihr Verstummen sie schmerzen. Wie so oft, mit jedem Tag ein bisschen mehr.

Nur nicht berühren.

Verdammt! Ob die Nissen mal was mitkriegt, mal guckt, was sie tut, irgendwann mal?! Gerade noch kann Herr Lingen den hohen, aus Massivholz gefertigten Flügel der Haustür abfangen, ein wenig benebelt von der abziehenden Parfümwolke, die er nicht als schlecht, aber als too much empfindet. Herr Lingen liebt das Ausgewählte, Nervöse, sensibel Dekadente, am besten in Kombination mit Präzision und produktiver Unruhe. Nicht immer passt es. Er zählt keine Stunden, er zählt, wie viel er tut. Den Tag, die Nacht, die Woche, den Monat, das Jahr. Und er schafft viel. Sehr viel und noch mehr.

Nur nicht berühren. Nur nicht.

Fluchend stößt er mit aller Kraft den Flügel auf, quetscht sich samt Rennrad über der Schulter durch das Portal. Flugs ist er draußen auf dem Gehweg, der hier schmal ist, die Ampel der Fußgänger steht auf Rot, die Fußgänger bilden einen Pulk, blockieren den Fahrradweg. Für einen Moment jonglieren, dann, eher flink als hastig, scannen seine Augen die Umgebung, schon ist er auf dem Rad.

Just in dem Moment dreht sich Herr Müller um und stolpert. So ganz aus Versehen, so ohne Absicht. Herr Lingen bremst. Rechtzeitig. Herr Müller stützt sich am Lenker ab und kann verhindern, dass sein Mantel in die Speichen gerät. Gerade noch. Plötzlich ist er mit Herrn Lingen konfrontiert. Unmittelbar und dicht, viel zu. Blicke, die ins Mark gehen, man kennt einander. Ein kurzes Nicken. Seitens Herrn Lingen stumme Wut. Herr Müller, mehr verdattert als erschrocken, richtet sich auf und zupft seinen Mantel zurecht. Wie war noch gleich Ihr Name? Da ist Herr Lingen schon weg. Er lässt sich nicht aufhalten. Von nichts und niemandem.

Nur nicht berühren.

Lingen, ruft Frau Schmidt aus dem zweiten Stock, das ist Herr Lingen. Herr Müller kreist irritiert seinen Kopf, dann bleiben seine Augen haften an dem Haus. Seinem Wohnhaus. Er schaut rauf und runter, rauf, will die Stimme orten, bemerkt zu guter Letzt die alte Frau am Fenster und fragt sich, ob sie gerufen habe. Dann lärmt sein Schädel. Der Lärm, der Lärm, ihm ist, als platzte sein Trommelfell, was mittlerweile oft vorkommt. Unmöglich, dass sie ihn hat verstehen können. Unmöglich, von da oben. Noch, dass er ihre Worte hat hören können. Ganz und gar unmöglich. Eigentlich. Ihn beschleicht ein bekanntes, ein unbequemes Gefühl. Der Lärm. Schwindel ergreift ihn. Herr Müller schwankt, dreht sich zur Straßenseite und …

Mensch, passen Sie doch auf, wütet eine junge Frau. Für einen Moment streift seine Hand ihren Busen, seine Wange ihre Haare. Kurz der Moment, zu kurz. Peinlich berührt zieht er zurück. In ihm steigt Röte auf, erhitzt sein Gesicht. Er schämt sich ihrer Wärme. Schnell verschwindet seine Hand in der Manteltasche.

Nur nicht berühren. Nur nicht.

Verwirrt sucht er Halt, findet keine Position, als sei das Stehen fremd geworden. Im Gleichmaß schaltet die Ampel von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot auf Grün.

Betäubt ob seiner Gefühle betritt Herr Müller halb taumelnd, halb festen Schritts die Straße.

Quietschende Bremsen, ein dumpfer Aufprall, der markerschütternde Schrei eines Kindes. Todesstille. Die Unmittelbaren bilden eine Traube um das Geschehen, als schirmten sie es ab. Handy, ein Handy, Feuerwehr, Rettungswagen, Polizei – hier ich – ich hier – hier – Tohuwabohu. Derweil setzen andere ihren Weg fort. Schnell. Nur nicht berühren.

Mittendrin Herr Müller, der zum Stehen kommt. Paralysiert. Lingen, bestätigt er sich tonlos, und die Frau im zweiten Stock heißt Schmidt. Tränen laufen über sein Gesicht, schmecken nach dem Salz der Stille. Aus großer Ferne dringt hysterisch wirres Zeug zu ihm durch.

Kita-Läuse, Kita-Läuse, die Hochbahn! Läuse, die Bahn. Sie wollte ausgucken, sie wollte. Nicht laufen, Mama, immer wieder. Das hat sie gesagt. Ich habe sie doch an der Hand. Der Hand, der. Frau Nissen schaut in ihre leeren Hände und bricht halb weinend, halb schreiend zusammen.

Drei Straßen weiter sendet Herr Lingen eine SMS: Komme etwas später. Verkehr liegt durch Unfall lahm. Bin am Auftrag interessiert. Gruß Tom.

Oben im zweiten Stock zieht Frau Schmidt die Gardinen zu.

Vor den Tränen

Versuchsanordnung in sechs Etappen

I

Als ich das Krankenzimmer betrete, sind ihre Augen verschlossen. Leise setze ich mich auf den Sessel neben der Tür. Will nicht stören. Mag nicht näher auf sie zugehen. Habe Angst, sie zu verletzen, Angst, sie werde mich zurückweisen, abstoßen. Die Arme unter der Decke liegt sie ruhig auf dem Rücken. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Leicht. Ihr Atem, erstaunlich ruhig. Fast schwebend liegt sie friedlich vor mir. Mich wundert mein Erstaunen und ich frage mich, was ich erwartet habe: Ein Monstergesicht, eine wutschnaubende Furie, Hysterie pur?

Gott sei Dank liege sie nun allein auf dem Zimmer, hallen die Worte der Schwester nach. Flüsternd. Bis eben noch habe eine Terminierte neben ihr gelegen. Die sei nun aber entlassen, und jetzt schlafe sie. Ich könne rein, solle aber vorsichtig sein, ihr mit Abstand begegnen, sie besser nicht anfassen. Vor allem brauche sie Ruhe. Nachher komme die Visite und dann werde man mir alles erzählen – Sie sind doch mit ihr verheiratet, oder?

Dann schließt sie die Tür.

II

Nun bin ich mit Hannah allein und Hannah mit mir. Endlich sind wir allein. Doch wir sind nicht mehr allein. Hannah ist nicht mehr allein. Mit sich. Mit mir. Auch in Zukunft werden wir nicht mehr allein sein. Nie wieder.

Ich sehe Hannah, sich aus ihrem Körper erhebend auf die Bettkante setzen, mir den Rücken zugewandt. Sperrige Zotteln zerzausten Haars, vom Kopf abstehend verklebte Locken hüpfen auf ihrer Schulter. Verloren. Sie drückt die Handballen fest in die Matratze, als sagte sie: Hier bin ich, du wirst dich meiner erinnern. Du wirst dich meiner im Nachthemd voll Garten erinnern. Wie ich mit Nachdruck entschieden die unentschieden blau-gelb-roten Blüten auf grasgrünem Grund durch den Raum trage. In dein Gedächtnis wird sich der Stoff aus feiner Baumwolle, verziert mit rosa Spitzen an Kragen und Stulpen einprägen. Ein Stoff, der formlos von meinen Schultern hängt. Stoff, in dem ich verschwinde. Der wird zu deiner Erinnerung. Der, genau der.

Vor mir sitzt eine Hannah, die unauslöschlich das Nachthemd von heute Morgen trägt. Als würde der Wecker erst noch klingeln und sie sich gleich umdrehen und ihn ausschalten. In ihrer schwerfällig ungelenken Art. Dann würde sie, schnell und schleppend zugleich, aus dem Bett steigen und sich, um mich nicht zu wecken, davonschleichen. Trotzdem würde ich ihre Schritte hören und wacher werden, denn sie würde nicht von ihrer Eigenart lassen, ihren rechten Fuß, ein wenig trotzig, hinterherzuschleppen. Ihr Rücken, unscharf in den Konturen, verschwand vor meinen halb geschlossenen Augen im Bad. Dort: Wasserrauschen, Stille, das helle Sägen ihrer elektrischen Zahnbürste, auf die sie bestanden hatte. Es gehe schneller und überhaupt. Noch über ihr Zähneputzen vorm Frühstück sinnierend, hörte ich das Schrammen der klemmenden Haustür.

Die Blutabnahme! schoss mir durch den Kopf, ach ja, das war es, und ich drehte mich um und schlief weiter.

Dann: Der Anruf und die trockenen Worte des Polizisten: Ihre Frau hat eine Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet und befindet sich in der Untersuchung. Anschließend kommt sie ins Krankenhaus Mariahilf, wo Sie sie besuchen können.

Schon wurde aufgelegt.

III

Warum hat sie nicht die Straße genommen? Warum durch den Park? Warum musste sie sich in Gefahr bringen, hat es darauf ankommen lassen? Warum, warum, warum. Die Strecke ist kürzer, aber hätte sie nicht früher aufstehen können? Immer verhuscht, in chaotischer Eile. Jeden Morgen. Dann hat sie sicher auch noch das kurze Lilane übergeworfen. Auf die Schnelle, ohne nachzudenken. Das Kleid für Niklas’ Party, seinen runden Geburtstag, den er so richtig groß feiern wollte. Extra! Gekauft.

Die Party, nicht nach meinem Geschmack, mit an die hundert Leuten, gemietetem Raum, DJ und allem Schnickschnack. Ich mag es ’ne Nummer kleiner. Aber Hannah fuhr völlig drauf ab. Tagelang kannte sie kein anderes Thema. Wie er den Raum gestaltet haben würde, welche Musik, welches Essen und welcher Wein. Welcher Wein! Als wäre sie eine Weinkennerin. Und natürlich, wen er noch eingeladen hatte.

Was die anziehen würden, vor allem die Frauen, und überhaupt die Stimmung. Immer wieder Thema. Zuletzt dann das lila Kleid.

Es stand ihr gut, verdammt stand es ihr gut. Ein echter Hingucker. Zuerst war ich ja noch nicht so, da dachte ich puh, ob sie darin aussieht, als sie mir am Handy lila sagte. Dein Ernst?, fragte ich. Ein kurzes Ja. Damals.

Ja, echot es in meinem Kopf. Noch einmal halte ich sie fest. Fest, wie jenen Abend, als mir das betörend dunkle Violett mit weit geöffneten Armen entgegensprang, als tiefgrüne Augen ein versteckt herausforderndes »na?« funkelten. Die Farbe bringt dein Gesicht frappierend zur Geltung, gab ich ihr hilflos zu verstehen. Trotz deiner aschblonden, chaotischen Haare. Sie drehte sich aus der Umarmung. Eine Pirouette, ein flatternder Rock. Gerade wegen der, warf sie mir hinterher.

Verschämt blieb ich stehen, denn es passte. Alles zusammen, die Farbe, der Schnitt, die Betonung ihrer kleinen handvollen Brüste, die Länge, nicht gerade kurz, aber doch, das Spiel um ihre Hüften. Einfach alles. Und endlich mal uni und nicht die üblichen Karos, Streifen, Punkte, wilden Muster oder Blumen. Keine Tapete. Ein Geschmack, den ich ihr nicht hatte austreiben können. Endlich uni und gleich violett und gleich packend. So yes. Ein Anfang hätte es sein können.

Warum nur, warum hat sie heute Morgen keine Tapete getragen. Dieses Kleid, das wird sie nie wieder anziehen. Nicht einmal mir zuliebe. Wie auch das Mirzuliebe vorbei ist. Stattdessen: Abwägen und Zögern, am Ende ein Nein. Kein Tanz, kein Dreh, vom Kleid geführt, kein Flattern, Beugen, Rutschen. Kein Versprechen. Vorsicht, nur Vorsicht. Verbrannt. Ja, es ist verbrannt! Ob du mir nun zuhörst oder nicht, Hannah, ob du mich überhaupt verstehen kannst oder nicht. Egal. Ich sage dir, du wirst es nie wieder anziehen, genauso wenig wie ich mit dir in diesem Kleid auf der Straße gehen werde. So ist es nun. So. Genau. So.

Eigentlich bist du alt genug, um zu wissen, dass man solch ein Kleid am Abend anzieht. Rein ins Taxi, raus zur Party und auch so wieder zurück. Verschärft gekleidet durch den Park geht gar nicht. Und kaum gekämmt, wie gerade aus dem Bett gekommen, warst du doch eine Einladung. Für jeden. So offensichtlich, das musste ja so kommen. Herr Gott, das weiß man doch als erwachsene Frau. Scheiße, du bist immer so unbedarft, furchtbar naiv, so nicht der Situation entsprechend. Willst du einen testen, oder was? Was willst du?

Was bist du schnell zu faszinieren. Die Szene, Events, neue Leute, immer neue Leute, das Rauschen der Masse. Der Anlass, egal. Die Uhrzeit, egal. Die Begleitung, egal. Und nun? Was wird nun? Was kommt jetzt? Gibt es noch eine Steigerung oder hast du deine Lektion gelernt? Und ich? Welche Rolle werde ich in diesem miesen Stück spielen. Zukünftig. Wird es das noch geben? So etwas wie Zukunft? Ich kann mich doch nicht schützend vor dich werfen, dein ständiger Begleiter werden. Kann ich nicht. Oh mein Gott. Aufs Land ziehen, oder in eine Kleinstadt. Dort, wo man sich kennt. Wo du … ach was.

IV

Umbringen. Ich möchte den Mann umbringen, töten, totmachen. Ich muss dieses Wort wiederholen. Totmachen. Deutlich. Immer und immer. Ich muss es wieder holen. Und immer und: mein Zorn. So sieht er aus. Diesem Mann sein Leben nehmen. Vollen Willens. So, wie er meins kaputt gemacht hat, wie er Hannahs zerstört hat.

Sie ist meine Frau. Meine! Hast du gehört da draußen, du irgendwer im irgendwo? Meine Frau. Sie gehört mir! Mir, mir. Verflucht seist du. Mit welchem Recht dringst du in uns ein? In unser Leben. Warum nimmst du denn nicht deins? Dein Leben, dein getriebenes. Wahrlich, zerhacke es. Ach.

Ich kann dich mir nicht vorstellen. Wie du aussiehst, was du anhast, wie du riechst. Wahrscheinlich stinkst du. Bist Raucher und Alkoholiker. Und deine Hände? Hände, die sich anderer bemächtigen, an ihnen fummeln, grabbeln, schmerzen, würgen. Du Arschloch, du absolutes Schwein. Nein, Schweine sind viel zu sensibel. Und selbst ein Arschloch hat noch seinen Wert. Du bekommst keinen Vergleich, keinen Namen.

Ich werde dich auslöschen. Dein Gesicht, deinen Körper. Ja, ich lösche dich. Du Etwas, das ich nicht kenne und das doch existiert. In allen Winkeln dieses Raums, in jedem Atemzug, im Körper meiner Frau, die Hannah heißt. Im Gegensatz zu dir hat sie einen Namen. Hör ihn dir an. Den Namen, der für alle Ewigkeit bleibt und mit ihm der Mensch: Hannah. Sie wird, sie soll präsent bleiben. Nicht du, das will ich nicht. Bevor ich dir ein Antlitz verleihe, schüttle ich mich lieber, wische dich von meinem Körper, von dem Stuhl, auf dem ich sitze, atme dich aus und putze die Luft. Ich kappe die hochschnellenden Bilder, die unweigerlichen, bevor ich dein Antlitz auslösche.

Denn auch das sei dir nicht gegönnt.

V