Unser Deutschlandmärchen - Dinçer Güçyeter - E-Book

Unser Deutschlandmärchen E-Book

Dinçer Güçyeter

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Beschreibung

Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Unser Deutschlandmärchen ist eine Familiengeschichte in vielen Stimmen. Frauen mehrerer Generationen und der in Almanya geborene Sohn erinnern sich in poetischen, oft mythischen, kräftigen Bildern und in Monologen, Dialogen, Träumen, Gebeten, Chören. Dinçer Güçyeter erzählt vom Schicksal türkischer Griechen, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von der Herausforderung, als Gastarbeiterin und als deren Nachkomme in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.
Dieser vielstimmige Debütroman erstreckt sich sich vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis beinah in die Jetztzeit. Er lässt nichts aus, keine Vergewaltigung, kein Missverständnis, keinen Konflikt am Arbeitsplatz, ganz gleich ob in der Schuhfabrik, beim Bauern auf dem Feld oder in der eigenen Kneipe. Und dann ist da noch die Erwartung der Mutter an den heranwachsenden Sohn, der ihr als starker Mann zur Seite stehen soll, selbst jedoch eine gänzlich andere Vorstellung von einem erfüllten Leben hat …
„Ich kenne und liebe Dinçers Lyrik. Dass er nun einen Roman geschrieben hat, ist eine sehr gute Nachricht.“ Saša Stanišić
„Die erste Generation von Menschen, die als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, ist zuletzt verstärkt Thema der Gegenwartsliteratur gewesen. Doch stilistisch so facettenreich wie der 1979 in Nettetal geborene Schriftsteller und Verleger Dinçer Güçyeter sich der Geschichte seiner Eltern annimmt, dürfte man diesen Aspekt der bundesrepublikanischen Geschichte noch nicht zu lesen bekommen haben.“ SWR Bestenliste
„Eine Literatur der Klasse L. Dinçer Güçyeter, Gabelstaplerfahrer, Kind anatolischer Einwanderer, hat einen großartigen Roman über Herkunft und Familie geschrieben.“ Ronald Düker, Die Zeit
„Fabelhafter Roman.“ Paul Jandl, NZZ
„Ein Buch, das einen wie ein Blitzschlag trifft und einen mit einer anderen Sicht auf die Welt zurücklässt. Eine definitive Leseempfehlung.“ Denis Scheck, SWR Lesenswert
„Flirrender, eigenwilliger Debütroman.“ Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung
„Mit seiner urwüchsig wuchernden archaischen Bildsprache ein überzeugendes Buch.“ ekz Bibliotheksservice, Manfred Bosch
„Eine Geschichte vom Ankommen gegen alle Widerstände? Eine skeptische Bestandsaufnahme? Eine Liebeserklärung vielleicht, eine zornige Abrechnung oder eine sentimentale Familiengeschichte? Dinçer Güçyeter zieht allen Erwartungen den Teppich unter den Füßen weg und beschert einen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Roman.“ Julia Schröder, Deutschlandfunk / Büchermarkt

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Seitenzahl: 212

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Dinçer Güçyeter

Unser Deutschlandmärchen

Roman

ein mikrotext

ePub-Erstellung: bookdesigns.de

Cover: Inga Israel

Coverfoto: privat

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

Der Autor dankt der Kunststiftung NRW für das Projektstipendium und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen für die Förderung dieses Textes durch ein Arbeitsstipendium.

www.mikrotext.de

ISBN 978-3-948631-17-8

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2022, Berlin

Inhalt

Unser Deutschlandmärchen ist eine Familiengeschichte in vielen Stimmen. Frauen mehrerer Generationen und der in Almanya geborene Sohn erinnern sich in poetischen, oft mythischen, kräftigen Bildern und in Monologen, Dialogen, Träumen, Gebeten, Chören. Dinçer Güçyeter erzählt vom Schicksal türkischer Griechen, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von der Herausforderung, als Gastarbeiterin und als deren Nachkomme in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.

Mit vielen Fotografien aus dem Privatarchiv des Autors

Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023

Dinçer Güçyeter

Unser Deutschlandmärchen

Roman

Vater, Mutter, wohin jetzt mit mir

wohin mit dieser Geschichte

Das Lied der Nachtfalter / Hanife

Hanife ist mein Name. Ich bin die Tochter der Nomadin Ayşe und von Ömer Bey. Ömer Bey, der unter seinem Dach fünf Frauen für den Nachwuchs, für seinen Stamm sammelte. Ich werde euch kurz meine Geschichte erzählen, dann meine schwere Zunge meiner Tochter Fatma übergeben. Dinçer, mein Enkelsohn, er will es so. Ich war zunächst die Frau des Tabakschmugglers Osman. Seine Leiche wurde eines Morgens in den Hof getragen. Ich weiß nicht, warum er so plötzlich gestorben war. Manche sagten, sein Herz hätte aufgegeben, andere wiederum, man hätte ihn erschossen. Er war tot, und so war ich nicht mehr seine Frau, ich durfte seinen Körper nicht mehr anfassen, das wäre für mich als Witwe eine Sünde gewesen.

Hanife ist mein Name. Ich bin die Tochter der Nomadin Ayşe. Sie kam aus Griechenland, als viele Menschen auf einmal das Land verlassen sollten. Zusammen mit vielen anderen Frauen wurde sie auf einem Pferdekarren auf den Marktplatz des Dorfes gefahren. Es gibt in unserem Glauben eine Regel, die den Männerschwänzen dient: Ein obdachloses Weib zu behüten, ist die Pflicht eines jeden Mannes. Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen. Ömer Bey nahm meine Mutter auf. In der ersten Nacht bespritzte er sie mit seinem Samen. Ich wurde in ihrer Gebärmutter zu Hanife.

Ich war noch ein kleines Mädchen, da brachte Ömer Bey drei weitere Frauen in die Hütte. Meine Mutter hatte keinen Namen, sie war die Nomadin. Nomadin, koche die Wäsche … Nomadin, trage das Heu in den Stall … Nomadin, rupfe das Huhn ... Nomadin, zieh die Hose runter ... Meine hilflose Mutter lief von morgens bis abends im riesigen Haus treppauf und treppab. Ihr weißes Kopftuch rutschte immer vom Kopf auf die Schulter. Sie war eine Fremde unter allen, sie war die morsche Stufe der steilen Treppe.

Bald war ich selber reif, um das Schicksal meiner Mutter zu teilen. Osman Bey kam und nahm mich mit. Ich wurde sein Weib, sein Spucknapf, einfach so ... An einem kalten Morgen war ich auf dem Weg zum Dreschplatz. Die Nachbarin rief mir hinterher Hanifeeeeeeeee, deine Mutter soll schwer krank sein, sie soll nur noch liegen. Ich ließ alles fallen und rannte zum Elternhaus. Die zweite Frau des Hauses empfing mich am Tor, das zum Hof führt. Schön, dass du da bist, jetzt kannst du ihr bitte sehr den Hintern abputzen murmelte sie abwertend und spuckte mir vor die Füße. Ich habe das überhört, ich wollte nur meine Mutter sehen. Sie lag in ihrem Bett, die Frau, die mit ihrer großen Statur Berge versetzen konnte, lag wie ein abgestochenes Kalb auf dem Boden. Eilig kochte ich eine warme Suppe für sie. Sie konnte nur noch Tropfen schlucken, die Suppe rann von ihrem wunden Mund hinunter auf den Hals. Gegen Abend ging ich nach Hause, meine Tränen überfluteten den staubigen Weg. Im Treppenhaus wartete der Schwiegervater. Wo warst du den ganzen Tag, wer soll die ganze Arbeit am Dreschplatz erledigen, wenn nicht du! raunzte er mich an und schlug den Lehmkrug auf meinen Kopf. Das war sehr großzügig von ihm, die Tritte danach spürte ich nicht mehr. Mein Mann, Osman Bey, schlachtete das Schaf im Stall und wickelte mich in sein Fell. Ich war mit dem ersten Kind schwanger, das wussten alle. Gott ist groß, ihm ist nichts passiert, das war mein einziger Trost. Nach drei Tagen musste ich wieder mit aufs Feld, das Heu musste auf den Anhänger geladen werden. Ich hörte aus der Ferne wieder die Stimme der Nachbarin Hanifeeeeee, deine Mutter wurde in die Stadt zu einem Gesundheitszentrum gebracht, ihr soll es elend gehen. Ich lief zur Stadt, zu Fuß, drei Stunden. Ich ging die Treppen des Gesundheitszentrums hoch und fragte jeden nach ihr, der mir begegnete. Der Oberarzt sagte mit seinem arroganten Blick, dass meine Mutter sofort nach der Einweisung gestorben sei. Wo ist sie fragte ich mit zitternder Stimme. Sie hatte keine Geburtsurkunde, deshalb hat man sie auf einem der Friedhöfe begraben, auf welchem, das kann ich Ihnen aber jetzt nicht genau sagen. Meine Tränen überfluteten den eisigen Boden. Wenn man mir nur gesagt hätte, wo sie liegt. An ihrem Grab ein paar Suren aus dem Koran lesen, für sie beten, um Erlösung bitten, selbst diesen letzten Dienst hat man mir verweigert. Meine Mutter kam aus der Fremde. Wenn deine Wurzeln nicht derselben Erde angehören, bist du verdammt. Den Strick nimmt dir keiner mehr vom Hals, du musst ihn bis zu deinem Ende tragen. Du hast nicht einmal das Recht, am Grab deiner Mutter die Suren zu lesen. Die Suren, die ihren Geist erlösen sollen. Nicht einmal das darfst du.

Hanife Duymuş

Erstes Familienfoto.Oben links, zweite Frau mit einem Auge: Fatma, 1962

Das Lied Anatoliens

Es gab ferne Dörfer, das wusste ich vorher nicht. Von Nebelschleiern überwacht. Mit dem rechten Flügel hab ich sie berührt: Die Seele ist nun ein zügelloser Wind. Ich sah die Frauen dort, sehnsüchtig nach ihren Männern. Ich sah die Kinder, ihre Drachen vom Himmel geholt, bis zu den Knien im Schnee, im Matsch. Ich sah die Häuser, mit hängenden Köpfen, den abblätternden Kalk der Wände, die Häuser, Selbstbildnisse der Fremde, die verankerte Blässe eines Rosengartens auf Samt. Egal, welches Meer ich in mich verfrachte, das salzige Wasser kerbt die gleiche Wunde ein. Die Löcher des Siebs werden größer, Tag für Tag. Das rinnende Wasser schmeckt nach bitteren Disteln, vorm dürren Verstummen bleibt die Zunge der Wundenheiler!

Die verwehte Freude säte den letzten Samen, trotz verseuchter Erde hat er sich an ihr festgehalten. Jetzt, die Zypressen, so lang wie Storchenbeine, winken den Mühlen zu, das alte Blut verjüngt sich an einem Nachmittag, im milden Grasgeflüster. Zu drei Schichten hab ich die Zunge gefaltet: Istanbul, Izmir, Mardin ... So wie die Hoffnung in der eingestürzten Geschichte nach winzigen Luftporen sucht, so nagt der windelfrische Wille am hängenden Gewebe der Brüste. Der Wirbel im Bett, der Riss in der Wand, der Rost am durstigen Hahn: Zusammen liegen sie in der Maihitze, singen das Wiegenlied gegen die taubmachende Stille.

Hab es vorher nie erlebt: Können Spiegelungen wirklich den Glauben täuschen? Hätte es nie gedacht: Wie können die Berge die Flüsse entwurzeln? Es passiert. Du kannst Schicht auf Schicht Verheißungen in alle Ecken stellen, ein blinder Windschlag kann alles wieder zerstreuen. Es passiert wohl: Trotz der festen Netze kann die Seele haltlos werden, trotz der fehlenden Reife können die Mähdrescher die Ernte schlucken! Wie ich das alles sehen konnte? Ich, ein Grashüpfer, hatte mich zwischen Felsenriffen versteckt, trübe Flüsse mündeten an meine Zehen, die Wasser schlugen gegen das Schweigen der Welt, die scharfen Kanten des zerbrochenen Kruges ängstigten die scheuen Fische. Ich sah es, das Gesehene will dem Verstand sprachlos bleiben ...

Der Boden ist eiskalt / Fatma

Fatma ist mein Name. Ich bin die Tochter von Hanife und von Osman Bey. Ich war erst zehn Jahre alt, da haben wildfremde Männer seine Leiche in den Hof getragen. Ich war das liebste Kind meines Vaters, und er, er war meine Schutzmauer. Er brachte jeden Freitag Forellen mit, jeder bekam eine, ich durfte zwei essen ... Dann war er tot. Räumt auf! ruft meine Mutter räumt auf!Wir gehen in die Stadt. Ich werde euch nicht unter der lieblosen Gnade meines Vaterhauses großziehen. Keiner darf euch herabwürdigen. In der Stadt werden wir zusammen arbeiten und unser Brot verdienen. Mutter, ich und meine beiden Brüder Hasan und Mehmed Ali tragen die Betten, Kissen, Töpfe auf einen Ochsenwagen, fahren in einer Morgendämmerung in die Stadt.

Der Boden ist eiskalt, der Boden ist eiskalt, die Tür hat kein Schloss. Der Raum macht mir Angst. Habt keine Angst sagt Mutter ladet alles runter, rollt die Betten aus. Während ihr das erledigt, suche ich mir eine Arbeit. Zu später Abendstunde kehrt sie zurück, mit einem Ofenbrot unter dem Arm. Ich habe Arbeit gefunden, hier in der Nähe, werde Teppiche reinigen sagt sie. Und du, Mehmet Ali, du kannst zu deinem Onkel, er braucht für seine Schneiderei einen Lehrling, morgen früh gehst du mit mir raus.

Ich und Hasan bleiben zu Hause, Mutter und Mehmed Ali gehen. Der Boden ist eiskalt, der Boden ist eiskalt. Gegen Abend kommt eine Pferdekarre vor unsere Tür, beladen mit Strohmatten. Rollt sie aus, dann wird uns nicht mehr so kalt sein sagt Mutter, dieses Mal zwei Ofenbrote unter ihren beiden Armen, dazu Sesampastete, das Haus verwandelt sich in einen Festsaal. Mehmed Ali kommt rein, beide Wangen glimmen feuerrot, er weint, den Stoff hat er zu kurz geschnitten, der Onkel hat ihn geohrfeigt. Mutter knurrt wieso bist du so, Mehmed Ali, ach, Mehmed Ali, wieso bist du nur so. Der heilige Allah soll ihm die Arme brechen!Ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte weint Mehmed Ali. Mutter kennt ihren Sohn, sie schweigt. Als kleiner Junge hatte er sich eine Erbse ins Ohr gesteckt. Papa brachte ihn zum Arzt in die Stadt, der kriegte die Erbse zwar raus, zerfetzte aber dabei sein Ohr. Konnte nicht mehr richtig hören. Papa konnte bis zu seinem Tod nicht wahrhaben, dass sein Sohn taub geworden war. Wenn dieser seine Befehle nicht verstand, bescherte er ihm eine Tracht Prügel. Mit jedem Schlag wurde Mehmed Ali verwirrter, ängstlicher, vergaß alles, was man ihm sagte, und schon kamen die nächsten Prügel. Seitdem war Mehmed Ali auch nicht mehr so schnell beim Denken.

Mutter bringt abends Arbeit mit nach Hause, alte Kilims, die Fransen müssen gekürzt werden oder ganz abgeschnitten. Du bleibst zu Hause und machst diese Arbeit, ein junges Mädchen kann ich nicht mit zur Arbeit nehmen, da wimmelt es von sabbernden Wölfen. Auch die Strohmatten helfen nicht, der Boden ist eiskalt, der Boden ist eiskalt.

Der Winter hängt Eiszapfen an die Dachrinnen. Eines Morgens werden wir von Hasans Stöhnen wach. Auf dem eisigen Boden hat er sich zu einem zuckenden Haufen zusammengerollt. Sein rechter Fuß ist ohne Gefühl, er kann nicht stehen, Mama nimmt ihn auf den Rücken und läuft zum Arzt. Ankara sagt der Arzt nur in Ankara kann man ihm helfen. Mama läuft zu ihrem Chef in die Teppichreinigung. Gib mir ein wenig Vorschuss, ich werde Tag und Nacht arbeiten, das Geld zurückzahlen, der Junge muss nach Ankara, seine Beine sind taub, seine Beine sind taub ...

Mit dem Busfahrer schickt sie eine Nachricht ins Dorf, an meinen jüngeren Onkel, er solle sofort kommen. Er kommt, Mama drückt ihm das Geld in die Hand und schickt die beiden nach Ankara. Das Warten ist eine Hölle, das Warten ist eine Hölle. Eines Abends stehen die beiden vor der Tür. Wegen der Kälte ist es passiert hat der Arzt gesagt. Er hat so viel Betäubungsmittel gespritzt, dass das Bein noch mehr Schaden genommen hat, der Junge hinkt wie ein frischgeborenes Kalb oder, wie Mama es nennt, wie ein verkrüppelter Esel. Der Boden ist eiskalt, der Boden ist eiskalt. Die Zeit ist wie der Dreschplatz, die Ernte weht zügellos, von der Erde in den Himmel, vom Himmel auf die Erde.

Gnädiger Herr, mein Sohn Mehmed Ali ist ein wenig zurückgeblieben, taub ist er auch noch, kann er nicht bei mir bleiben fleht Mama den Beamten nach der Musterung zum Wehrdienst an. Laufen und hören braucht er nicht, Zwiebeln kann er doch bestimmt schälen, Toiletten reinigen auch, auch Krüppel braucht der Staat murmelt der Beamte. Mehmed Ali muss zum Wehrdienst.

Nach einigen Monaten, mitten im Frühling, bringt der Busfahrer die Nachricht aus dem Dorf. Es gibt einen Verehrer für Fatma, aus Deutschland, er kommt in ein paar Tagen vorbei. Mutter schimpft und faucht nein, jeder Hirte kann meine Tochter haben, aber kein Fremder. Am nächsten Tag schon steht der Verehrer mit meinem jüngeren Onkel vor unserer Tür, er hat einen riesigen Kopf und ein Fahrrad. Mein Gesicht brennt wie die Kohle im Ofen, ich kann niemandem ins Gesicht schauen. Ich bin hier, um Fatma mit nach Deutschland zu nehmen, ich will sie zur Frau haben sagt der Mann mit dem riesigen Kopf und dem Fahrrad. Nein sagt Mama, nein! Der Onkel aus dem Dorf unterbricht Mama Sei nicht so voreilig, deine beiden Söhne sind Krüppel, gib ihm Fatma, sie soll nach Deutschland. Wenn sie dort Anker wirft, haben die Jungs auch eine Chance, aus dieser Armut rauszukommen, ohne Brot ist die Heimat kein goldener Käfig, lass Fatma gehen, rette die Kinder aus diesem Elend. Mama wischt sich die Tränen mit der Spitze ihres Kopftuches ab und nickt. Es passiert, was der Onkel sagt. Der Boden ist eiskalt, der Boden ist eiskalt ...

Auf meinem Hals die Goldtaler, um die Taille der rote Brautschleier, der Beweis meiner Jungfräulichkeit, besteige ich das Pferd und verlasse das Elternhaus, folge als Braut meinem Mann mit dem riesigen Kopf nach Deutschland. Fremde flüstere ich, die Fremde, die uns seit drei Generationen hin- und herweht, von der Erde in den Himmel, vom Himmel auf die Erde. Es ist das Jahr 1965, mein neues Leben beginnt, in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Ich weiß nicht, so hat man es uns erzählt.

Einschulung, oben Mitte: Fatma 1957

Das Zittern der Gleise / Fatma

Ich stehe auf dem Bahnsteig. Unverständliche Stimmen klettern in meine Ohren, bauen dort ihr Gerüst auf. Zwischen meinen zitternden Beinen der Holzkoffer, in ihm sind Welten, Welten ... Wie klein die Welt doch ist. Yılmaz bringt mich in ein altes Haus, die Erde und der Himmel riechen nach Kohle. Ich zittere immer noch, mein Herz ist wie ein bedrohtes Taubennest. Unbekannte Männer betreten das Haus, nennen mich Schwester, unbekannte, ungepflegte Männer mit matten Augen. Weder ein Herd noch eine Kanne gibt es, ich kann den Gästen nichts anbieten. Unsere Frauen sind auch bald hier sagen die Männer, ihre Augen werden für einen kurzen Moment zu einer Kinoleinwand. Zu später Stunde sind sie wieder weg, in ein Arbeiterheim. Die Nacht ist unendlich lang, wer ist dieser Mann neben mir, ist es mein Mann? Er zeigt sich sehr freundlich, schmunzelt grundlos, das nervt ein wenig. Für den nächsten Tag hat er sich frei genommen. Zusammen gehen wir einkaufen. Kaufen ein paar Sachen für das leere Haus. Wir brauchen unbedingt eine Teekanne sage ich beschämt. Die Straßen sind so sauber, man kann fast vom Boden essen. Die Nachbarn haben eine Kommode und einen Marmortisch vor die Tür gestellt, Yılmaz fragt, ob wir die Sachen haben dürfen, aber natürlich antwortet die ältere Frau, sie trägt eine blumengemusterte Schürze, sie schenkt mir eine Vase und drei Rosen, die Nachbarn sind nett. Doch etwas fehlt. Etwas, das den Knoten in mir fester zieht. Wir finden keine Teekanne, keine Aubergine und auch keine Zucchini. In den Geschäften versucht Yılmaz, Deutsch zu reden. Ich verstehe zwar die Sprache nicht, höre aber, dass bei ihm auch nicht alles rund läuft. Er gackert, als ob er Kieselsteine im Mund kauen würde. Ich lache, lache noch mehr, meine Wangen glühen wie die Kohle im Ofen. Ich will nicht lachen, lache aber, kann mich nicht beherrschen, es liegt nicht in meiner Hand, ich lache ...

Erstes Passfoto: Yılmaz, 1965

Erstes Passfoto: Fatma, 1966

Gastarbeiterchor / Fatma

Ist das hier meine Heimat, meine Erde, mein Ort? Soll ich hier die Lücke einer Leere füllen?

Das Leben kann nicht in Truhen aufbewahrt werden, Fatma, hat man dir das nicht gesagt?

Ich soll arbeiten, ein Haus bauen, Kinder gebären, Pflichten erfüllen, mehr wusste keiner zu sagen.

Diese Lügen sind die ewigen Träger des Sargs, das weißt du hoffentlich? Die Zweige, das Laub wissen es, du wirst es auch lernen.

Weder einen Kampf noch einen Krieg will ich führen, woher hätte ich all das wissen können?

Schweigen, Hinnehmen, das ist die Kapitulation an der Front, Fatma, sei wach, sei wach ...

Wer schreibt das Schicksal, wer hält die Fäden in der Hand?

Schau in den Spiegel, in dein kaltes Bett, ins Dunkle der Nacht, du wirst ihn finden, Fatma!

Welche Rolle ist nun die meine? Bin ich Täter oder Opfer?

Du bist das junge Blatt einer Nelke, das Selbstbildnis deines Traums, erkennst du es nicht?

Aber es liegt doch nicht in meinen Händen, diese Besetzung ist nicht mein Wunsch.

Doch, sie ist es, du wirst den ersten Stein in den Brunnen werfen, du wirst vor deinem verschwommenen Gesicht nach Erkenntnis suchen.

Und wann finde ich sie?

Es hat jetzt erst angefangen, der Weg ist lang, die Fracht ist schwer.

Was ist, wenn ich sie nicht mehr tragen kann? Darf ich dann aufgeben?

Nein, die Schwäche bleibt ewig als Fleck auf der Stirn, du darfst sie niemandem zeigen.

Mehr wollt ihr mir nicht verraten?

Lerne zuerst, mit der Zunge die Suppe zu rühren, wir reden dann später, Fatma ...

wir reden später.

Der erste Brief / Yılmaz

Liebster Papa,

ich bin jetzt seit 2 Monaten in Deutschland, mir geht’s gut, die

Tarhana-Suppe und der frische Käse fehlen mir ein wenig. Habe jetzt einen

Arbeitsplatz in der Fabrik, werde gut verdienen und, wer weiß, vielleicht kann ich

mir sogar bald einen Mercedes kaufen. Ich lege einen 100-Mark-Schein mit in den

Umschlag. Kannst du bitte, wenn du wieder in die Stadt fährst, mit diesem Geld für

Mutter 5 Meter Seide kaufen. Sie soll sich ein neues Kleid schneidern lassen und

stolz damit durch das Dorf laufen, stolz wie ein Pfau.

Noch lebe ich in einer

Arbeiter-WG. Wenn ich meine eigene Wohnung habe,

schicke ich euch die Papiere

vom Amt, damit könnt ihr ein Visum beantragen.

In stiller Sehnsucht umarme ich

euch beide.

Yılmaz / Nettetal, 1966

Der Kokon / Fatma

Die Tage kommen und gehen. Die deutschen Nachbarn schenken uns noch mehr Möbel. Ich freue mich besonders über die Puppe. Ihr fehlt ein Bein, das finde ich aber nicht tragisch. Aus der alten Kissenhülle nähe ich ihr ein Kleidchen, so sieht sie wieder vollkommen aus. Yılmaz findet eine Porzellankanne. Ich setze Tee darin auf, der Tee hier schmeckt ein wenig bitter, egal, so langsam finde ich meine neue Heimat. Die Kanne schenkt mir eine Erde, auf der ich mich ausbreiten kann.

Yılmaz gibt mir 20 Deutsche Mark, damit ich mal allein einkaufen gehen kann. Ich überlege zuerst, was ich mit dem Geld alles für meine Familie in der Türkei kaufen könnte. Aber noch ist es zu früh. Ich nehme den Schein und gehe in einen Laden, schau gar nicht so richtig auf die Verpackungen. Hinter der Kasse steht ein Mann im weißen Kittel, trägt eine Brille; so verkleiden sich bei uns die Professoren. Er will mir was sagen. Nikkis, nikkis ... Ich werfe ein paar Packungen in den Korb, gebe dem Mann den Schein, er gibt mir zwei Münzen zurück. Vier Deutsche Mark habe ich noch in der Tasche, damit kaufe ich ein Brot von der Bäckerei und laufe stolz nach Hause. Yılmaz kommt von der Arbeit zurück, schaut sich die Sachen an und lacht lauthals. Seife statt Butter, Leberpastete statt Marmelade, Shampoo statt Öl habe ich gekauft. Er lacht wie ein Fohlen auf seiner Hochzeit. Gott soll dich bestrafen sage ich du machst mich zum Narren, du lachst mich aus! Er lacht lauter, die Pakete werfe ich ihm an seinen riesigen Kopf, er versteckt sich hinter der Tür, er lacht weiter. Yılmaz, der liebe Gott soll dich bestrafen.

Abends kommen die Männer, einige mittlerweile auch mit Frauen. Zwei bis drei Kannen Tee trinken wir bei jedem Treffen. Die Gesichter der Frauen sind wie bröckelnde Gartentore. Die Sehnsucht quält uns, die Sehnsucht nach Menschen, hier sieht man nur Maschinen jammern die meisten. Wir müssen mit unserem Schicksal klarkommen widerspreche ich wie ein Kommandant. Auch die Freude der Männer geht nach kurzer Zeit verloren. Nichts mehr mit billigem Wohnen im Arbeiterheim. Die Miete, die Verantwortung und eine wehleidige Frau. Die Freude am Ficken entschädigt nicht für alle Umstände, die Frauen werden schwanger und jammern noch mehr.

Yılmaz gibt mir 50 Deutsche Mark, ich soll mit den Frauen spazieren gehen und sie aufmuntern. Gut, die Parks sind die billigsten Orte. Bei jedem Treffen wundern wir uns, warum die Enten immer noch lebendig im See schwimmen, die müssten doch längst im Kochtopf sein. Egal, neues Land, neue Sitten. Bevor ich meine eigene Last loswerde, springe ich in die Rolle der erfahrenen Touristenführerin ha maşallah! Jedes Wochenende versammeln sich die Neuen bei uns. Wir geben unser Bestes, versuchen, aus Dorfweibern elegante Damen zu zaubern. Tragen Mini-Röcke, doch das Kopftuch bleibt, so ganz gottlos wollen wir ja doch nicht sein. Die türkische Sendung im WDR, die Stimme von Yüksel Pazarkaya, mahnt uns jeden Abend zur Vernunft bitte ihr Damen, geht nicht in euren Hausklamotten auf die Straße, gebt kein schlechtes Gastarbeiterbild ab. Was es auch heißen mag. Aber natürlich, wir sind gewohnt, das zu machen, was man uns sagt. Wir sind die freiwilligen Diener des Schicksals.

An der Grenze zu Holland soll es ein kleines Dorf geben, Lobberich, mit vielen Fabriken; Arbeiter werden gebraucht, die Chefs stehen mit großen Plakaten vor den Toren und stellen jeden umarmend ein. Yılmaz, mein fauler Lümmel, möchte nicht im Bergbau arbeiten und will sich das kleine Dorf anschauen. Wir haben hier unsere Wohnung, haben ein kleines Umfeld, lass uns bitte hier bleiben flehe ich ihn an, aber er überhört meine Bitte. Wir packen und fahren zu diesem kleinen Dorf, Lobberich. Yılmaz bekommt eine Stelle in der Gießerei. Ich warte auf ein Kind. Alles, was in meine Scheide fließt, soll keimen, das ist mein größter Wunsch, doch es bewegt sich nichts. Die Gebärmutter bleibt eine kahle Höhle, eine kleine Bühne für meine Monologe.

Aus dem Dorf kommt das erste Bild. Mama in der Mitte, rechts Hasan, links Mehmed Ali. Auf der Rückseite die Handschrift von Hasan. Eine leblose Erinnerung an die Schwester schreibt er. Leblos? Nein, Hasan, wieso leblos? In euren Gesichtern sehe ich, wie sich die ganze Welt dreht. Ich stelle das Bild auf den Nachttischschrank neben den Wecker. Wenn Yılmaz schläft, spreche ich mit diesem Bild, ich weine heimlich. Ja, auch ich habe Sehnsucht. Die Sehnsucht, die oft mehr Gewicht hat als das Schicksal.

Auch in den kommenden Monaten bleibt meine Gebärmutter ein unbearbeitetes Feld. Yılmaz, ich möchte arbeiten, finde eine Stelle für mich. Er findet eine Stelle in einer Schuhfabrik. Sevim, die am gleichen Band arbeitet, verrät mir, dass sie schwanger ist. Ich umarme Sevim. Nachher kommt mir die eigene, die fruchtlose Erde in den Sinn. Die Tränen fließen auf die Schuhe. Ich kann sie nicht stoppen. Der Abteilungsleiter Willi stellt sich zu mir und schreit mich an, ich verstehe ihn nicht. Er schreit, meine Lippen zittern. Er schreit, ich weine, er schreit, meine Lippen zittern. Er wird immer lauter. Die Schuhe werfe ich ihm an den Kopf, brülle aus vollem Hals Arschloch. Gott, vergib mir! Erschreckt zieht er sich zurück. So ist es hier also, du musst dich wie ein Hahn aufstellen, damit du deine Ruhe hast. Ich schließe mich in der Toilettenkabine ein, weine, bis die Leber austrocknet.

Abends läuft eine Serie im Fernsehen, HEIDI. Ein Mädchen ohne Eltern, das mit seinem Opa in den Bergen lebt, es ist immer fröhlich, läuft und tanzt barfuß. Wie genüsslich es die Ziegenmilch trinkt. Heidi mache ich mir zur Leidensgenossin. Mit ihr lache, mit ihr weine ich. Bringe ein paar Schuhe aus der Fabrik, die für die Tonne aussortiert wurden, die will ich ihr schicken, frage Willi, wie das möglich ist, er lacht mich aus. Arschloch! Keiner kann mir helfen. Ich denke an Heidi, sie wird sich noch erkälten, es muss doch eine Möglichkeit geben, ihr die Schuhe zu schicken, es muss!

Unsere Sippe wächst und gedeiht in Deutschland. Viele kommen als Touristen, bleiben einfach hier, finden Schwarzarbeit, auch meine Brüder. Bis sie ihre eigene Wohnung haben, nehmen wir sie alle bei uns auf. Wie ich schon gesagt habe, Yılmaz ist ein fauler Lümmel. Fremde Männer, die er in einer Kneipe kennengelernt hat, bringen ihn auf die Idee, aus Istanbul Webmaschinen zu importieren, die könne man hier zum vierfachen Preis verkaufen. Er kündigt seine Stelle und fliegt nach Istanbul. Wer nicht zurückkommt, ist Yılmaz. Ich gehe zur Bank, sage dem Mann am Schalter, dass er mir 100 Deutsche Mark geben soll. Er schüttelt den Kopf kann ich nicht sagt er Sie haben hier 20.000 Deutsche Mark Schulden. Ach, Yılmaz , was machst du da, was machst du ...

Yilmaz hat meine Unterschrift gefälscht, bei der Bank einen Kredit aufgenommen. Nach sechs Monaten kehrt er mit nacktem Hintern zurück. Natürlich hat man ihn betrogen. Eines Mittags klopfen fünf Männer an die Tür, die wollen Yılmaz sehen. Warum